Zur Ehe gezwungen - Leila - E-Book

Zur Ehe gezwungen E-Book

Leila

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Beschreibung

Leila ist nicht ihr richtiger Name. Doch was die Muslimin erzählt, ist bittere Realität für tausende Frauen auf der ganzen Welt: In eine hoch angesehene Familie geboren, wird Leila mit 21 Jahren gegen ihren Willen verheiratet. Ihr Mann ist nicht nur beinahe doppelt so alt wie sie, sie hat ihn auch noch nie zuvor gesehen - und sie kann ihn nicht lieben. Dennoch muss sie sich ihrem Vater und der Tradition unterwerfen.
Die Ehe wird für die junge Frau zur Hölle. Jeden Tag ist sie körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt. Aber Leila gibt nicht auf und erkämpft sich schließlich, was in unserer westlichen Welt so selbstverständlich erscheint: ihre Freiheit.

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Seitenzahl: 369

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchTitelImpressumWidmungWo warst du?Mit wem soll ich reden?Eine FliegeDas Ende der Liebesgeschichten …Ein Ehemann?Die Sache mit dem FluchSo viel zum Thema GlückPrivatlebenMit VorsatzWie kann man von Liebe sprechen?Danksagungen

Über dieses Buch

Leila ist nicht ihr richtiger Name. Doch was die Muslimin erzählt, ist bittere Realität für tausende Frauen auf der ganzen Welt: In eine hoch angesehene Familie geboren, wird Leila mit 21 Jahren gegen ihren Willen verheiratet. Ihr Mann ist nicht nur beinahe doppelt so alt wie sie, sie hat ihn auch noch nie zuvor gesehen – und sie kann ihn nicht lieben. Dennoch muss sie sich ihrem Vater und der Tradition unterwerfen.

Die Ehe wird für die junge Frau zur Hölle. Jeden Tag ist sie körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt. Aber Leila gibt nicht auf und erkämpft sich schließlich, was in unserer westlichen Welt so selbstverständlich erscheint: ihre Freiheit.

Leila

Zur Ehe gezwungen

Unter Mitarbeit von Marie-Thérèse Cuny

Aus dem Französischen von Theresia Übelhör

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

© Copyright 2004 by Oh! Editions, France

Originalausgabe: »Mariée de force«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Odnolko

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5274-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Ryad – mein Sohn, mein geheimer Garten

Ein paar Stufen führen hinauf in eine Halle und vor ein Türschild mit der Aufschrift »Bürgermeisteramt«.

Ich heiße Leila und bin einundzwanzig Jahre alt, in Frankreich geboren, allerdings marokkanischer Herkunft. Diese Herkunft steht noch heute allmächtig neben mir: mein Vater.

Er ist weder ein religiöser Fanatiker noch ein böser Mensch, sondern ein ehrenhafter und angesehener Mann. Er schlägt seine Tochter, wenn sie ihm nicht gehorcht; so hat er mich erzogen, auf Gehorsam und Unterwürfigkeit dressiert. Er hat mich also geschlagen, damit ich den Mann heirate, der jetzt vor mir die Stufen hinaufsteigt.

Ich gehe vor der französischen Verwaltung die Ehe mit einem Mann ein, den ich nicht kenne. Es handelt sich demnach nicht um eine Trauung, sondern um eine erzwungene Formalität. Noch könnte ich mich retten, diese Treppe wieder hinunterrennen und um Hilfe schreien. Täte ich das, dann könnte ich trotzdem kein selbstbestimmtes Leben führen. Ein in dieser Tradition erzogenes Mädchen kann nicht ohne ihre Familie und den Schutz ihres Vaters leben, dessen Aufgabe es ist, dieses Mädchen einem anderen Beschützer zu übergeben: dem von ihm ausgesuchten Ehemann.

Ich bin in diesem Vorstadtviertel geboren, meine Geburt wurde in ebendieses Personenstandsregister in ebendiesem Rathaus eingetragen, angeblich habe ich Rechte, aber sie nützen mir überhaupt nichts. An wen soll ich mich wenden? An eine Sozialarbeiterin? Hier handelt es sich um eine Privatangelegenheit, und sie dürfte sich nicht einmischen. An die Polizei? Man würde mir antworten, dass ich volljährig sei und nur Nein zu sagen bräuchte. In einer Demokratie gibt es so etwas wie eine Zwangsheirat grundsätzlich nicht. Aber wenn ich vor dem Bürgermeister Nein sagen würde, wäre mir auch nicht geholfen, weil man mich in Marokko bereits offiziell verheiratet hat, und auch wenn diese Eheschließung in Frankreich nicht anerkannt wird, wäre ich für meinen Vater und die ganze Gemeinschaft unseres Vorstadtviertels eindeutig geächtet, ich würde als »ungehorsames Mädchen« abgestempelt und ausgestoßen werden, falls ich mich weigern würde, diese abschließende Formalität in Frankreich hinter mich zu bringen. Ich könnte nie mehr ungehindert nach Marokko reisen, mein »Ehemann« hätte das Recht, mich suchen zu lassen und mich dann zu verstoßen. Und in den Augen eines traditionsbewussten Vaters ist es die schlimmste Schande, die er sich vorstellen kann, wenn seine Tochter verstoßen wird.

Ich habe immer von einer Liebesheirat geträumt, davon, jenem jungen Mann zu begegnen, auf den alle Mädchen warten. Ich würde wie in den romantischen Liebesgeschichten ein schönes weißes Kleid und einen Blumenstrauß tragen, ich würde oben auf der Treppe stehen und lächeln, alle meine Freundinnen wären gekommen, um mich zu beglückwünschen und in die Arme zu schließen. Ich würde meine Familie verlassen, um in eine kleine Wohnung zu ziehen, nur wir beide, ich würde vor Rührung weinen, mich von meinem Vater, meiner Mutter und allen meinen Brüdern verabschieden, das Glück und die Freiheit vor Augen, die ich mir schon immer ersehnt habe.

Die Formalität dauerte gerade einmal zehn Minuten.

Jetzt hatte der Fremde, was er haben wollte, und das war nicht unbedingt ich, Leila. Ihm wäre jedes in Frankreich geborene Mädchen aus dem Maghreb recht gewesen, vorausgesetzt, sie ist Jungfrau und stammt aus gutem Hause. Mein Vater hat mich nicht einmal an diesen Mann »verkauft«, wie es gelegentlich vorkommt. Er glaubt einfach an die Tradition der zwischen Familien arrangierten Ehen, er hält offen und beharrlich daran fest, mich zum Gehorsam, zur Unterordnung zu zwingen, denn er könnte es nicht ertragen, wenn seine Tochter anders leben würde.

Mein Kopf ist leer. Ich bin nicht bei der Sache, dieser Tag existiert nicht, ich habe ihn im Voraus aus meinem Gedächtnis gestrichen. Den Kopf in den Sand gesteckt wie ein Vogel Strauß und auf irgendein Eingreifen des Schicksals hoffend, das mich da noch herausholt – den Weltuntergang, ein Erdbeben, oder dass jemand aufsteht und ausruft: »Nach französischem Recht sind Zwangsehen verboten!«

Abgesehen von den beiden Trauzeugen war außer uns niemand in diesem Amtszimmer, und die Erde bebte nicht. Der Bürgermeister machte sich keine Gedanken, er hatte schon mehrere überstürzte Hochzeiten erlebt, bei denen keiner vor Freude jauchzte. Unter dem autoritären Blick meines Vaters sagte ich mit einer Stimme, die nicht die meine war, »Ja« und unterschrieb ein Papier, das ich gar nicht richtig sah, so verschwommen war alles, weil mir Tränen in den Augen standen. Beim geringsten Aufbegehren hätte mich mein Vater grün und blau geschlagen, mich nach Marokko geschickt oder auf die Straße geworfen.

Ich hätte in einem Mädchenhaus Zuflucht suchen müssen, einer Freiheit ausgesetzt, auf die er mich nie vorbereitet hat und die mir schreckliche Angst einjagt. Die Integration erfolgt über die Freiheit, Nein zu sagen. Die Tradition bedeutet die Unmöglichkeit, dieses Nein auszusprechen. Ich war nie frei genug, dieses ungeschriebene Gesetz zu brechen.

Wo warst du?

Ich war sieben oder acht Jahre alt, vielleicht jünger, als ich die Stimme meines Vaters beziehungsweise meiner Mutter bereits durch die Wohnung dröhnen hörte.

»Leila! Deck den Tisch! Leila, kümmere dich um deinen Bruder! Leila, wasch das Geschirr ab! Leila, bleib hier! Leila, was machst du da?«

Komm her! Geh nicht raus! Räum das Zimmer auf! Wann kommst du von der Schule heim? Räum deine Sachen hier weg! Hilf deiner Mutter! Rede nicht mit diesem Mädchen! Mit wem warst du unterwegs?

Befehle und Verbote drangen wie Nadeln in mein Gehirn ein. Ich gehörte mir nicht selbst, ich war ein Objekt, ein ferngesteuertes Werkzeug der Familie.

Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, sah ich niemanden. Ich war geboren worden, ich existierte mit Körper und Geist, mit Augen zum Sehen, einem Herzen zum Fühlen – aber ich konnte mich ihrer nicht bedienen. Ich wurde mitten in Frankreich nach marokkanischer Tradition erzogen und konnte doch nur in der Schule frei atmen. Im Klassenzimmer existierte ich, ich war ein richtiges Individuum, mein Gehirn konnte nützliches Wissen aufnehmen, in der Pause durfte ich herumtoben und wie die anderen lachen – ich liebte die Schule. Aber sobald ich heraustrat, schon auf dem Heimweg, war ich wieder ein Nichts.

»Trödle nicht herum und komm pünktlich heim! Kümmere dich um deine Brüder!«

Ich bin das einzige Mädchen unter einer ganzen Schar von Jungs. Jedes Mal, wenn meine Mutter schwanger war und zur Entbindung in die Klinik ging, wartete ich auf dem Krankenhausflur und hoffte inständig, jemand würde sagen: »Es ist ein Mädchen!«

Aber das Ritual war immer das gleiche. Zwei ältere Brüder, dann nach mir noch einer und noch einer, bis es schließlich zehn waren. Ich war schon sechzehn Jahre alt, als endlich meine kleine Schwester Sirinne geboren wurde.

Mit fünf oder sechs Jahren schrie ich mir diese Verzweiflung, in den Armen meiner Mutter nie ein Wesen zu sehen, das mir ähnlich war, einfach von der Seele. Meine ganze Kindheit und Jugend verbrachte ich damit, mir eine Schwester, dieses Geschenk des Himmels, zu wünschen. Ich empfand diesen Strom von Jungen, den der Körper meiner Mutter hervorbrachte, als persönliche Strafe, und meine eigene Geburt inmitten von ihnen war eine umso schlimmere Bestrafung.

Ali und Brahim, Karim und Miloud, Mohammed und Hassan, Mansour und Slimane, Idriss und Rachid … Meine Mutter brachte praktisch jedes Jahr ein Kind zur Welt, und so reihte sich ein Akteur meines Daseins an den anderen wie im Vorspann eines Films, und ich blieb allein, auf der Leinwand unsichtbar, aber mit sämtlichen häuslichen Aufgaben betraut. Bei Schulschluss beneidete ich meine Klassenkameradinnen: Ihre Mütter holten sie ab, nahmen sie in die Arme – mir kam es so vor, als wären sie in den Augen ihrer Mütter sehr viel wert. Meine Mutter mit ihrer Kinderschar hatte unentwegt zu arbeiten. Selbst nachts schrie immer ein Baby. Ihr Leben war die reinste Sklaverei.

Schon sehr früh wurde von mir also erwartet, im Haushalt zu helfen, aber ich weigerte mich hartnäckig, die Sklavin meiner zehn Brüder zu sein. Meine Mutter schlug mich und zog mich an den Haaren, trotzdem machte ich so gut wie nichts von dem, was sie von mir verlangte. Aber für sie war es das Normalste auf der Welt, dass ihr ihre einzige Tochter zur Hand ging, so war sie in ihrem Dorf erzogen worden, bevor sie nach Frankreich kam, wo sie keine Menschenseele kannte und die Sprache nicht verstand. Zu der Zeit, als ich geboren wurde, etwa vor fünfundzwanzig Jahren, lebten in unserem Vorstadtviertel erst sehr wenige Familien aus dem Maghreb. Und bei ihrer Ankunft aus ihrem marokkanischen Dorf gab es noch gar keine. Meine Mutter fand sich schließlich in einer Fünfzimmerwohnung eingesperrt, die nicht groß genug war, um darin elf Kinder zusammenzupferchen, in einer Gegend ohne Sonne und außerstande, diese Wohnung zu verlassen und die Einkäufe selbst zu erledigen. Mein Vater kümmerte sich um alles, was mit der Außenwelt zu tun hatte, er kaufte die Lebensmittel ein, und dafür ging sein gesamter Arbeitslohn drauf. Damals war von Geburtenkontrolle noch nicht die Rede, das Wort »Antibabypille« war noch unbekannt, und Gott schenkte ihm Söhne. Später fragte ich mich, ob die Tatsache, dass mein Vater Waise war, nicht vielleicht der Grund für diese unermüdliche Fortpflanzung war.

Während ihrer ersten Jahre in Frankreich sah meine Mutter das Leben lediglich durch das Fenster der dritten Etage an sich vorbeiziehen, sie verließ das Haus nur, um zu entbinden, oder aber im Schlepptau meines Vaters, ihre vielen Söhne hinter sich herziehend. Wie meine Mutter war auch ich zu Hause eingesperrt. Meine Brüder dagegen durften, als sie größer wurden, ohne Aufsichtsperson draußen herumtoben, ich nicht. Wenn Freundinnen aus dem Viertel kamen, um mich zum Spielen abzuholen: »Wir machen unten Gummitwist, kommst du mit?«, dann antwortete ich: »Ich muss meinen Vater fragen, aber er erlaubt es mir sicher nicht. Fragt ihr ihn! Zu euch sagt er vielleicht Ja, aber mir erlaubt er es bestimmt nicht.«

Und die Antwort lautete tatsächlich immer gleich:

»Du willst frische Luft schnappen? Dann geh auf den Balkon!«

Das war dermaßen ungerecht! Ich wagte es nicht, ihn nach dem Warum zu fragen, ich versuchte nicht, es zu verstehen. Seine Antwort lautete Nein, und dabei blieb es. Und ich sehe mich noch heute auf dem Balkon stehen, dazu verdammt, den anderen Mädchen beim Spielen zuzuschauen – verurteilt nach einem mir nicht bekannten Gesetz. Ich war noch klein, noch in der Grundschule, und ich verstand es nicht. Worin konnte die Gefahr bestehen, unten vor dem Haus frische Luft zu schnappen?

Nach und nach waren immer mehr Familien aus dem Maghreb, dann auch aus Schwarzafrika, in unser Viertel gezogen. In der Schule saßen wir neben gebürtigen Französinnen, die ganze kleine Welt lebte in Harmonie zusammen, meine beste Freundin Souria machte mit den anderen Gummitwist. Farida, Joséphine, Sylvie, Malika … Alia oder Charlotte amüsierten sich ohne mich unten vor dem Haus. Warum?

Mein Vater erzog seine Kinder so, dass alle richtig Angst vor ihm hatten.

Wenn er uns Fragen stellte und wenn einer von uns ihm unglücklicherweise in die Augen schaute, dann setzte es gleich eine Ohrfeige.

»Halt gefälligst die Augen gesenkt!«

Nie ein zärtliches Wort, noch weniger eine beruhigende Geste. Ich kann mich nicht erinnern, meinem Vater auch nur ein einziges Mal in meinem Leben auf den Schoß geklettert zu sein, noch von ihm zur Begrüßung oder zum Abschied je einen Kuss bekommen zu haben. Die Diskrepanz zwischen seiner brutalen Autorität und dem, was ich von anderen Kindern hörte – ob sie nun französischer Herkunft oder Einwandererkinder waren –, schien gewaltig. Von frühester Kindheit an lehnte ich mich vehement gegen diesen Erziehungsstil auf. Ich erinnere mich an einen Landschulaufenthalt in der fünften Grundschulklasse. Bei mir hieß es von Anfang an »Nein«. Der Lehrer suchte meinen Vater auf und insistierte höflich:

»Es besteht keinerlei Gefahr für Ihre Tochter, die Mädchen sind auf der einen Seite des Gebäudes untergebracht, die Jungen auf der anderen …«

Doch es blieb beim Nein. Das Problem bestand darin, dass mein Vater trotz der Trennung von Jungs und Mädchen Kontakte fürchtete, zu denen es fern seiner Aufsicht ja immer kommen konnte.

Aber mit zehn Jahren ist man noch völlig unschuldig. Ich sah überhaupt nichts Verwerfliches darin, mit Jungen herumzutollen.

Zu Hause schlief ich im selben Zimmer wie ein Teil meiner Brüderschar … und das störte meinen Vater überhaupt nicht! Mich aber schon! Die Gefahren, denen ich in seiner eigenen Wohnung ausgesetzt war, ignorierte er einfach.

Er wusste nicht, dass mich einer dieser jungen Kerle, der um einiges älter war als ich, mich in einem Alter, in dem man noch mit Barbiepuppen spielt, so angeekelt und mir für immer den Spaß am Zusammensein der beiden Geschlechter verleidet hatte. Bei der Vorstellung, mit diesem Jungen in einem Zimmer eingesperrt zu sein, bekam ich panische Angst. Der Angreifer, der unbestraft blieb, wusste genau, dass ich aus Scham schweigen und niemals wagen würde, ihn als den Schuldigen anzuprangern. Er hatte Recht. Natürlich hatte er meine Jungfräulichkeit nicht angetastet, denn in einer moslemischen Familie ist die Jungfräulichkeit eines Mädchens heilig. Aber es gibt andere, ebenso schwer wiegende Möglichkeiten, ein Mädchen dieses Alters zu demütigen. Ich hielt wie alle missbrauchten Kinder den Mund. Ich schweige noch immer, aber dieses Gift verfolgt mich. Warum habe ich nicht um Hilfe geschrien? Warum habe ich klein beigegeben? Warum bin ich diejenige, die sich immer schuldig fühlt, während der Angreifer sein Leben ohne die geringsten Gewissensbisse führt? Er hat seine Sexualität einfach an mir ausgelebt, ich war nichts weiter als ein zur Verfügung stehendes Objekt. Ein Nichts. Ich wurde für eine mysteriöse Sünde bestraft, ich war ein Nichts, feige, beschmutzt, nur dazu da, in den Mülleimer geworfen zu werden. Deshalb zwang ich mich, diese verdammte Geschichte in meinem Kopf zu begraben.

Ich »flippte aus«, mir blieb gar keine andere Wahl.

Deshalb wurde ich aggressiv, aufmüpfig, labil, krank durch das mir aufgezwungene Schweigen, durch dieses Gefängnis, in dem nur die väterliche Autorität das Sagen hatte und den Jungen immer Recht gegeben wurde. Und aus diesem Grund schwor ich mir, in der Schule gut zu sein, einen Beruf zu erlernen, erst dann zu heiraten, wenn ich mich eines Tages dazu entschließen sollte, jedenfalls so spät wie irgend möglich, und keinesfalls eine Schar von Kindern in die Welt zu setzen. Aber davor musste ich zuerst demjenigen begegnen, der in meinen Augen Gnade finden und bei dem mich nicht die Lust überkommen würde, ihn für meine Kindheit bezahlen zu lassen.

Unterdessen träumte ich, die verstoßene und eingesperrte Prinzessin, auf meinem Balkon von einem charmanten Prinzen wie in den Fernsehserien. Und ich spielte meinen Klassenkameradinnen gegenüber den Clown und erzählte ihnen von den Prügeln, den Ohrfeigen und der »Dresche«, wie man bei uns im Viertel sagt, die ich mir regelmäßig als Strafe für meine offene Revolte einfing.

Ich wollte existieren, einfach ein bisschen Aufmerksamkeit und Zuneigung erfahren. Eigentlich verlangte ich nicht viel. Klamotten und Puppen ließen mich absolut kalt. Ich wollte, dass man mich liebt, dass man mir morgens und abends einen Kuss gibt, dass man mich von der Schule abholt. Aber da sich nichts dergleichen tat, fragte ich mich unablässig, ob ich wirklich die Tochter meines Vaters sei. Mir kam es so vor, als behandele er mich allein mit solcher Gleichgültigkeit. Zwar übte er auch meinen Brüdern gegenüber diese Autorität aus, doch ständig waren sie alle gegen mich, nie hatte ich Recht. Und meine Mutter stimmte ihnen auch noch zu. Wollte ich mit meinen Freundinnen fortgehen, in die Stadt oder zu einer von ihnen, um Musik zu hören und zu quasseln, dann war das immer ein Riesentheater.

»Leila, du gehst am Mittwochnachmittag nicht weg! Du musst lernen, Brot zu backen und zu kochen. Dir ist das nicht klar, aber du wirst, wenn du heiratest, nicht mehr als eine Nacht mit deinem Mann verbringen, dann bist du am nächsten Morgen wieder hier, weil dein Mann dich verstoßen wird …«

Drohungen, die für mich keinerlei Sinn ergaben und aus einer anderen Epoche zu stammen schienen.

Und am Mittwochnachmittag empfand ich ein diebisches Vergnügen dabei, meine Mutter zur Weißglut zu bringen.

»Ach, du willst nicht, dass ich ausgehe? Mach dir keine Sorgen, ich gehe nicht.«

Und ich ließ mich vor dem Fernseher in den Sessel fallen. Mein Vater drohte mir, bevor er zur Arbeit aufbrach: »Ich warne dich, wenn mir deine Mutter heute Abend sagt, dass du nicht getan hast, worum sie dich gebeten hat, dann setzt es was!«

»Klar, ist schon gut!«

»Leila, ich rede mit dir! Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Nicht zum Fernseher!«

»Soll sich da noch einer auskennen! Wenn ich dich anschaue, dann heißt es, ich soll den Blick senken, wenn ich dich nicht anschaue, dann heißt es, ich soll dich anschauen?«

»Ich warne dich, du fängst noch eine, bevor ich gehe.«

»Einverstanden, Papa, ist gut, okay, kein Problem!« Für mich dachte ich: »Red du nur …«

»Leila, du musst ihnen das Essen bringen!«

Nichts machte mich so wütend wie die Pflicht, meinen Brüdern das Essen zu servieren, während sie in aller Ruhe vor dem Fernseher hockten. Sie brauchten gar nichts zu tun. Sie setzten sich an den Tisch und standen wieder auf, ohne einen Finger zu krümmen – immer musste ich das Geschirr abräumen.

Einmal zog ich mich, nachdem ich diese Pflicht erledigt hatte, an, um aus dem Haus zu gehen, und meine Mutter stellte sich mir in den Weg.

»Du spülst nicht ab?«

»Nö.«

»Leila! Ich schwör’s dir, dein Vater bringt dich um …«

»Sicher, red du nur …«

Und ich ging davon, knallte die Tür ins Schloss und hörte meine Mutter hinter mir herschimpfen. Ich wusste, dass ich wegen des Türenschlagens am Abend von meinem Vater »eine aufs Dach« bekommen würde. Meine Mutter verpasste mir Ohrfeigen oder zog mich an den Haaren, nichts Schlimmes also, und ich lachte darüber, aber bei meinem Vater war es etwas anderes: In unserem Viertel gab es zahlreiche verschämte Umschreibungen derselben Sache. Von seinem Vater »eine aufs Dach kriegen« und »Prügel kassieren« oder »Dresche beziehen«, das bedeutete, am nächsten Tag ein geschwollenes Gesicht zu haben, vom Rest ganz zu schweigen.

Einmal fesselte er mir die Beine und Hände, weil ich auf dem Heimweg von der Schule eine Zigarette geraucht hatte. Er hat mich wahrlich »verdroschen«. Wegen dieses Glimmstengels bezog ich ernsthaft »Prügel«. Brutale Schläge, die Spuren hinterlassen und sehr wehtun. Sogar den Arm hat er mir gebrochen. Aber niemanden hat das je beunruhigt. Allerdings bot mir ein Französischlehrer einmal Hilfe an.

»Leila, falls irgendwas nicht in Ordnung ist, du kannst jederzeit mit mir reden.«

Ich blickte ihn hochmütig an.

»Nein, was soll schon sein? Alles läuft bestens, ich bin beim Basketball hingefallen und habe mir den Unterarm verdreht …«

Ich hätte mich geschämt, von meinem Leben zu berichten. Trotzdem hatte ich ein solches nicht verdient.

Mussten meine Eltern aus dem Haus gehen, dann blieb ich vor dem Fernseher in dem Sessel sitzen, der normalerweise für meinen Vater reserviert war und von dem aus er nach seinen eigenen Regeln durch die Programme zappte: keine Liebesfilme, keine Küsse auf dem Bildschirm, nichts, was eine Jugendliche auf dumme Gedanken bringen könnte.

Der Fernseher war meine Zuflucht, der Traum, der meinem Leben fehlte; ich war nicht mehr die fünfzehn oder sechzehn Jahre alte Leila, gefangen in der dritten Etage, sondern die Heldin einer Fernsehserie! Und mein Vater konnte diese Art von Flucht nicht ausstehen, wenn ich einmal ausnahmsweise allein zu Hause war.

Meine Mutter sagte: »Leila, ich lass den Topf auf dem Herd, pass drauf auf, wir sind zum Abendessen zurück!« Mein Vater drohte mir: »Ich warne dich! Wenn mit dem Essen irgendwas nicht in Ordnung ist, dann setzt es was!«

»Ja, ist gut!«

Meine Mutter: »Leila, du gehst am Mittwochnachmittag nicht aus dem Haus!«

Und mein Vater insistierte:

»Wenn ich jemals jemanden ›über dich reden‹ höre … dann setzt es was …«

Ich kannte das alles auswendig: »Ich warne dich … falls jemals … wo warst du?«

Dieses »Wo warst du?« dröhnte mir Millionen Mal in den Ohren. Das Verbot, aus dem Haus zu gehen, das Verbot, Ball zu spielen, Seil zu springen – im Alter von acht bis zwölf Jahren fand ich es wahnsinnig gemein, auf diesem verdammten Balkon bleiben zu müssen, aber ich war mir meiner Situation als Gefangene noch nicht bewusst. Im Teenageralter sprach man nicht mehr von Verboten, sondern von »Schutz«. Leila ist aufmüpfig, wir müssen sie schützen, weil sie nur das tut, was ihr in den Kram passt. Und je mehr man mich »beschützte«, desto mehr rebellierte ich im Stillen oder mit Nervenzusammenbrüchen.

Ich war eine Mauer, meine Mutter konnte mir Befehle erteilen, mein Vater konnte sie wiederholen, ich sagte Ja, Ja, um sie zu beschwichtigen, und machte trotzdem nur das, was mir passte. In ihren Augen war ich nicht normal, weil ich mich nicht den feststehenden Regeln für Mädchen meiner »Art« beugte ….

Meine Art: in Frankreich geboren, französischer Nationalität, in der Schule der französischen Kultur angehörend, zu Hause jedoch maghrebinisch, also ohne Freiheit, ohne eigene Persönlichkeit und nur im Dienste der Familie stehend.

»Was werden die Leute sagen, wenn man dich zu oft draußen sieht? Du wirst einen schlechten Ruf bekommen!«

Der Ruf …

Als ich auf die Welt kam, gab es in unserem Viertel nur wenige Familien aus dem Maghreb, aber seit meiner Kindheit und Jugend sind wir von ihnen umringt, von Familien, Kindern und Regeln, die man einhalten muss und die für die ganze Gemeinschaft gelten. Meine Eltern mussten mir also wie die anderen auch diese allgemeinen Regeln einbläuen. Aber es gab überhaupt keine Erklärungen, nur jene brutale Autorität, die Konflikte heraufbeschwört.

In der Mittelstufe war ich eine ziemlich gute Schülerin und zählte zu den Klassenbesten. Im Gymnasium schrammte ich an einer Katastrophe vorbei. Denn je älter ich wurde, umso strenger wurden die Regeln.

Ich musste ständig zu Hause bleiben, meinen Eltern und Brüdern zur Verfügung stehen, den Haushalt versorgen, kochen und den Babys, die nach mir geboren wurden, die Windeln wechseln. Ich war Mutter, lange bevor ich es wirklich wurde. Man erwartete von mir, heranzuwachsen und dennoch blind zu gehorchen. Und da ich dafür nicht geschaffen war, machte es mich kaputt! Ich nahm es der ganzen Welt übel, dass ich die Tochter des Hauses war.

Schon frühmorgens den Haushalt zu versorgen, während die Brüder noch schliefen! Wenn ich sie ruhig schlummern sah, während ich den Boden putzte, verwünschte ich sie. Ich war ihnen gegenüber sogar brutal. Anstatt freundlich zu sagen: »Steh auf, ich wische durch«, brüllte ich:

»Los, aufstehen! Glaubst du, ich hätte nichts anderes zu tun? Ich bin nicht dein Kindermädchen …«

Sie waren aber auch äußerst unhöflich, wenn sie etwas von mir wollten.

»Bügle mir das! Ich brauche es zum Ausgehen!«

Kein »Bitte, Leila« oder »Sei so nett, Leila«, dann hätte ich es ja gern für sie getan. Aber nie gab es ein »Bitte« und noch weniger ein »Danke«. Einen Bruder oder zwei, vielleicht auch vier, hätte ich ertragen können, aber wenn sie alle mit ihren Hemden, ihren Hosen, die gebügelt werden mussten, oder mit ihren Schuhen kamen, die geputzt werden sollten …

Als Teenager hatte ich bereits acht Brüder zwischen sechs und zwanzig Jahren am Hals. Das ganze Sortiment an jungen männlichen Wesen, von denen die kleinsten noch angezogen werden mussten, die Jugendlichen, die ihre Sportschuhe und ihre Socken im Zimmer herumliegen ließen, und die Großen, die ihre Hemden und ihre Jeans forderten.

Umsorgte Jungen, deren Sklavin ich war. Wenn ich mich weigerte, das Gewünschte zu tun, dann kassierte ich von irgendeinem von ihnen eine Ohrfeige.

Am Anfang konnten sie mit mir machen, was sie wollten, ich reagierte nicht. Dann aber bin ich explodiert. Es war mir egal, ob ich Prügel bezog, denn der andere kam auch nicht ohne Blessuren davon. Mit etwa dreizehn Jahren fing ich an, Schläge auszuteilen. Da rannten meine Brüder zu meinem Vater, und am Ende war ich diejenige, die beschuldigt wurde:

»Sie hat mich geschlagen! Weißt du, wie alt sie ist? Wenn sie jetzt auf mich einschlägt, was macht sie dann später?«

»Nein, ich hab nicht angefangen, er war’s, ich hab mich bloß gewehrt.«

Selbstverständlich stellt man die Aussage eines Sohnes nicht in Frage. Stets wurde ich für schuldig erklärt.

Da ich mir in jedem Fall Prügel einhandelte, wenn ich meine Brüder auch nur zurückstieß, hielt mich nichts davon ab, Schläge auszuteilen. Selbst wenn ich gegen Miloud oder einen anderen nicht gewann, zumindest hatte ich ihn geschlagen. Von nun an entwickelte ich meine persönliche Strategie, mich gegen die Sklaverei zur Wehr zu setzen. Am Morgen musste ich für die anderen das Frühstück zubereiten, noch bevor ich selbst frühstücken konnte. Deshalb stand ich erst in letzter Minute auf, sodass mir gerade noch Zeit blieb, mich zu waschen, anzuziehen und auf den Schulweg zu machen, und ich rief ihnen triumphierend zu:

»Ich habe keine Zeit mehr für das Frühstück!«

Und sie standen in der Küche und schimpften hinter mir her – eine wahre Freude.

Als die Tür erst einmal hinter mir ins Schloss gefallen war, konnte ich endlich das »wahre Leben« genießen.

Denn meine einzige Verschnaufpause, das war die Schule. Aber auch dort war ich allen gegenüber aggressiv geworden. Ich stritt mich mit den anderen, und wenn der Lehrer mir etwas sagte, weigerte ich mich, ihm zuzuhören. Ständig fühlte ich mich zugleich angegriffen und übergangen und unwohl in meiner Haut.

Ich tat also alles, um zu leben, wie ich konnte, das heißt schlecht. Und weil es wie alles andere verboten war, fing ich später trotz der Hiebe, die ich dafür kassierte, an, hin und wieder heimlich zu rauchen, und lernte, mich nicht »erwischen« zu lassen. Da ich meinem Vater oder einem meiner Brüder beim »Kippentest« in die Nase hauchen musste, machte ich es wie meine Freundinnen: Ich bewaffnete mich im Voraus mit Pfefferminzbonbons und ging listig vor. Im Tabakladen blickte ich mich, bevor ich eine Packung Zigaretten verlangte, kurz um, um sicherzugehen, dass auch kein Freund meines Vaters, keiner meiner Brüder oder Cousins oder aber Freunde von Freunden im Laden waren. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr verlangte ich eine Briefmarke für drei Francs. Im Laufe der Zeit konnte ich mir die Hilfe der Verkäuferin sichern – schließlich hatte ich nicht genügend Geld, um unnötige Briefmarken zu horten. Wenn ich eine Briefmarke verlangte, wusste sie, was zu tun war: Sie legte die Zigarettenpackung auf die Seite, bis ich zurückkam und sie gegen die Briefmarke eintauschte.

Die anderen Mädchen aus dem Maghreb waren wie ich, sie lernten, clever vorzugehen, zu lügen und zu schweigen. Schlau zu sein, um sich außerhalb der Schule mit anderen Mädchen treffen zu können, bezüglich der Unterrichtsstunden zu lügen und den Bruder ausfindig zu machen, der als »Spitzel«, als »Überwacher«, fungierte und mit Vergnügen die geringsten Vergehen der großen Schwester den Eltern petzte. Denn bis zu einem gewissen Alter waren die Vergehen ja nur Lappalien. Wie zum Beispiel eine Viertelstunde Plauderei unter Mädchen über absolut belanglose Themen. Ich war weder eitel noch abenteuerlustig. Erst später, mit sechzehn oder achtzehn, schminkten sich manche von uns heimlich im Treppenhaus der Wohnblocks oder zogen sich verbotene Klamotten an … Ich gehörte nicht dazu, da ich kein Interesse daran hatte, mir das Leben unnötig schwer zu machen. Ich war vernünftig, ich wollte nichts von den Jungs wissen, ich hütete mich sogar vor ihnen wie vor der Pest, da ich überzeugt war, mir meinen Ruf – und meine Jungfräulichkeit – bewahren zu müssen. Im Alter der ersten Flirts war ich noch nicht so weit wie manche meiner Freundinnen, die taten, was sie wollten, ohne dass ihre Eltern einen großen Skandal daraus machten. Mit einem Jungen auszugehen, mit ihm Händchen zu halten, ein paar Küsse auszutauschen, das war mit sechzehn nichts für mich.

Damals hatte ich ein paar afrikanische Freundinnen, deren Leben noch härter war als meines. Ich weiß, dass einige jahrelang Inzest ertrugen und nicht darüber redeten. Man stellte sich keine schmerzhaften Fragen, jede lebte ihr Leben und schwieg. Lieber lachten wir, erzählten uns Witze, machten uns über uns selbst und andere lustig. Es ging ums Überleben.

Im Laufe der Jahre hatte das Familiengefängnis aus mir ein junges Mädchen gemacht, das mir gar nicht mehr ähnlich war. Weil man mich gewaltsam unterwarf, setzte ich mich aufmüpfig zur Wehr wie eine Fliege, die in einem Glas gefangen ist. Das Leben draußen und die Freiheit waren in unmittelbarer Reichweite, aber ich rannte unentwegt gegen unsichtbare Wände an.

Ich führte im Kopf mein geheimes Tagebuch. Hätte ich es tatsächlich geführt, dann hätte man es mir weggenommen. Da ich gezwungen war, mir selbst alle Fragen zu stellen, ohne je die richtigen Antworten zu finden, wäre ich beinahe verrückt geworden und entkam dem Tod nur um Haaresbreite. Ich war eine von Schwindelgefühlen geplagte Seiltänzerin und balancierte auf einem Seil über einem tiefen Abgrund. Auf der einen Seite Leila, die Marokkanerin, auf der anderen Leila, die Französin. Auf der einen Seite die Gefangene ihrer Familie, auf der anderen eine Ausreißerin.

Ich hatte zwei Gesichter, zwei Persönlichkeiten, eine, die ihr Leiden stumm ertrug, eine andere, die schrie und tobte. Mit dreizehn Jahren unternahm ich einen »Selbstmordversuch«. Ich hatte mich im Badezimmer eingeschlossen und getan, als nähme ich ein Bad. Ich wollte wirklich sterben und sagte mir, dass es dort, wo ich hinkäme, sicher nicht schlimmer sein könne als auf Erden. Ich glaubte an Gott, stellte mir vor, dass ich ins Paradies eingehen würde, weil er mir, obwohl Selbstmord eine Sünde war, verzeihen würde. Das war nach einem meiner Ausreißversuche, und ich hatte bei meiner Rückkehr solche Prügel bezogen, dass mir das Leben nicht mehr der Mühe wert vorkam …

Die Schulbeauftragte für Disziplinarfragen hatte mich in ihr Büro mitgenommen und mir acht Ohrfeigen hintereinander verpasst. Ich blutete, aber aufsässig protestierte ich:

»Sie haben kein Recht, mich zu schlagen, ich werde es meinem Vater erzählen.«

»Ich warne dich im Voraus, das ist nur eine Kostprobe, zu Hause erwartet dich noch ganz anderes. Dein Vater hat mir persönlich die Erlaubnis erteilt, dich zu züchtigen, stell dir das mal vor!«

Keiner hatte herauszubekommen versucht, warum ich den Unterricht geschwänzt hatte. Aber ich hätte ohnehin keine klare Antwort gewusst. Mit diesem Fernbleiben vom Unterricht wollte ich meinen Vater leiden lassen und erreichen, dass er sich Sorgen machte. Er beschützte mich nicht, ich interessierte ihn nicht, das war meine Art und Weise, seine Aufmerksamkeit zu erregen, seine Liebe einzufordern. Auszureißen, das bedeutete, ihm Angst einzujagen. Deshalb hatte ich mich mit Freunden und Freundinnen aus dem Staub gemacht, echten Franzosen, Marokkanern, Algeriern, Tunesiern und Schwarzafrikanern, eine kleine multikulturelle Gruppe von einem Dutzend Ausreißern, eine echte Schulschwänzertruppe auf dem Lande. Vier Tage Ferien im Frühling mit einer organisierten Bande. Jeder von uns tat so, als ginge er zur Schule und käme nachmittags vom Unterricht nach Hause, sodass die Eltern keinerlei Verdacht schöpften, und wir fuhren hinaus aufs Land, weit weg von unserem Vorstadtviertel und seinen Wohnblocks. Voll bekleidet sprangen wir in den Fluss, rollten uns im Gras und kugelten uns vor Lachen. Ich war auf einem anderen Planeten, befreit. Einmal, als wir bis auf die Haut durchnässt waren, gingen wir Mädchen zu einer von uns, einer Französin, die uns trockene Kleider leihen konnte. Jeans und Pulli sehen immer sehr ähnlich aus, und die Eltern beachten die Kleidung ihrer Töchter nicht, wenn es nicht gerade um einen zu kurzen Rock oder ein zu enges T-Shirt geht … der Rest ist austauschbar. Die Jungen sahen zu, wie sie selbst zurechtkamen. Während dieser vier ausgelassenen Tage unternahmen wir sogar eine Fahrt ins Zentrum von Paris. Jeder hatte behauptet, an einem obligatorischen Museumsbesuch teilnehmen zu müssen, den wir auch in unserem Heft für die Elterninformationen vermerkten. Meine Eltern hatten das, was ich selbst geschrieben hatte, unterzeichnet: »Obligatorischer Besuch des Louvre … Kosten 50 Francs …«

»Fünfzig Francs, das ist aber teuer«, hatte mein Vater gesagt.

»Na ja, so ist das eben. Hier steht, wie du siehst, ›obligatorisch‹.«

Wie große Abenteurer fuhren wir mit unseren fünfzig Francs nach Paris hinein und kamen am Gare de Lyon an. Dort blieben wir, weil keiner wusste, was wir unternehmen oder wohin wir gehen konnten, zumal wir um fünf Uhr, bei Schulschluss, wieder zurück sein mussten. Es war also besser, wir blieben an Ort und Stelle und hingen wie Penner herum, dabei kicherten wir wie die Verrückten. Den ganzen Tag in einem Bahnhof! Wir waren schon seltsame Abenteurer! Jedenfalls erwarteten wir uns nichts, wir wollten lediglich die großen Ausreißer spielen. Weg sein von zu Hause, vom Vorstadtviertel, von der Schule, den Wohnblocks, wo jeder jeden kennt und überwacht.

Natürlich gaben wir unsere fünfzig Kröten aus, schließlich mussten wir gut essen, und dann blieb uns nichts mehr für die Rückfahrt. Wir beteten, dass wir nicht kontrolliert würden, denn eine Geldbuße hätte die Benachrichtigung der Eltern, also eine ordentliche Tracht Prügel bedeutet.

Den letzten Tag verbrachten wir damit, uns in ein nahes Gymnasium einzuschleichen, wieder um »die Großen« zu spielen. Die Realschule war etwas für die »Kleinen«. Das Abenteuer bestand darin, in die Schule einzudringen, sich unter die Gymnasiasten zu mischen, mit ihnen zu reden und so zu tun, als sei man in dieser oder jener Klasse; in die Cafeteria zu gehen und sich so gut es ging aufzuspielen. Die Gittertore des Gymnasiums waren verschlossen, aber wir gelangten dennoch hinein, und keiner fragte uns, wer wir waren.

Die Gruppe hatte den Unterricht von Dienstag bis Freitag geschwänzt, und die anderen gingen ab Montag wieder zur Schule, ich jedoch nicht. Ich gönnte mir noch einen weiteren Vormittag echter Ruhe. Die hatte ich dringend nötig. In meinem Alltagsleben gab es diese Ruhe nie, und ich brauchte diesen stillen Vormittag, um nachzudenken, denn ich wusste, was mich erwartete.

Während der vier Tage hatte ich morgens beim Verlassen der Wohnung das Telefon abgestellt und erst kurz vor der Rückkehr meines Vaters wieder eingestöpselt. Meine Eltern waren also telefonisch nicht erreichbar gewesen, und ein Brief würde zwangsläufig am Vormittag ankommen. Ich betrachtete den Fluss, die Wiese, den Tau, ich genoss jede Minute dieser letzten gestohlenen Freiheit, die ich sehr teuer bezahlen sollte.

Am Nachmittag stellte ich mich der Situation. Eigentlich wollte ich bei meiner Ankunft am Tor der Realschule die Lässige mimen, aber ich hatte gar keine Zeit dazu. Ich wurde an den Haaren gepackt, ins Direktionsbüro geschleppt, mit der Genehmigung meines Vaters wie wild geohrfeigt, bis ich blutete, und den Rest kassierte ich dann wie versprochen zu Hause. Mein Vater schlug mich mit den Händen, trat mit den Füßen, den Absätzen nach mir und prügelte mich mit allem, was ihm in die Hände fiel. Aber er schlug einen Körper, der nichts spürte. Er konnte mich zerschmettern, solange er mir nicht das Gehirn herausriss, ließ mich das kalt. Weder er noch meine Mutter konnten dieses Unbehagen verstehen, das mich quälte. Dieses Schweigen, das mich fast umbrachte. Immer war alles meine Schuld. Ich wollte, dass er mich lieb hatte, mir Fragen stellte, herauszubekommen versuchte, was mir so zusetzte, und mich tröstete. Aber er prügelte nur auf mich ein. Deshalb schloss ich mich ins Badezimmer ein, um sämtliche Tabletten zu schlucken, die ich im Medizinschrank fand. Ich schlief wie ein Murmeltier und wankte am Morgen in halb komatösem Zustand in die Schule. Schließlich brach ich im Klassenzimmer zusammen, und die Sanitäter holten mich ab. In einem schmalen Krankenhausbett kam ich wieder zu mir, ich hatte eine Mordswut im Bauch und war auf die ganze Welt sauer, auf meinen Vater, auf Gott: »Ich will sterben, warum willst du mich nicht sterben lassen?«

An Stelle meines abwesenden Vaters und von Gott, der mir nicht antwortete, schickte man mir einen Psychologen.

»Ich bin da, um mit dir zu reden, Leila …«

Totale Blockade. Ich fühlte mich noch einsamer, denn ich brauchte keinen Psychologen, sondern meinen Vater, den ich vor mir sehen und mich fragen hören wollte: »Was ist denn los? Warum? Geht es dir nicht gut? Was fehlt dir? Sag mir alles, ich beschütze dich, du bist meine Tochter, ich hab dich lieb …« Es war seine Stimme, die ich hören wollte, nicht diesen professionellen und so teilnahmsvollen Ton dieses Seelenklempners.

»Du kommst hier nicht raus, solange du nicht redest. Ich bin da, um dir zuzuhören.«

Am ersten Tag machte ich den Mund nicht auf; am zweiten besann ich mich, weil ich keine Lust hatte, hierzubleiben, und deshalb tat ich so, als habe es sich um einen leichten Anflug von Niedergeschlagenheit gehandelt, der jetzt vorbei sei, mir gehe es wieder gut … Mein Vater hatte mich nicht besucht.

Der Psychologe kaufte mir die Lüge ab. Er erklärte meinen Eltern, dass ich eine Pubertätskrise durchmache. Ich blieb drei Tage im Bett, zermarterte mir das Gehirn, war auf die ganze Welt, einschließlich mich selbst, sauer, weil ich nicht einmal zu sterben verstand, um endlich frei zu sein. Ich hatte begriffen, dass ich dieses tiefe Schuldgefühl niemals in Worte würde fassen können, dieses Gefühl, für immer gefangen zu sein. Und wenn jemand es herauszubekommen versuchte, dann log ich. Ich zog es vor, meinen Freundinnen gegenüber den Clown zu spielen. Das beherrschte ich perfekt: Eine wahnsinnig erniedrigende familiäre Situation wie im Theater in eine Kleinkunstbühne zu verwandeln. Für diese Art von Darstellung war ich sehr begabt. Noch heute bin ich manchmal ein trauriger Clown, der verzweifelt versucht, sein Publikum zum Lachen zu bringen, um nicht vor Angst zu sterben. Den Rest behielt ich wohlweislich für mich.

An dem Tag, als ich zum ersten Mal meine Regel bekam, veranstaltete ich ein Affentheater, weil mir weder meine Mutter noch sonst irgendeine Frau jemals etwas »davon« erzählt hatte. Eines Morgens erwachte ich und flippte angesichts der Katastrophe total aus: »Ich bringe mich um, ich bringe mich um! Meine Mutter glaubt sicher, mich hätte einer angerührt!«

War meine Jungfräulichkeit ohne jede Vorwarnung dahin?

Meine Mutter schimpfte vor der Tür zum Badezimmer: »Was brauchst du denn so lange? Komm raus!«

Ich stammelte: »Also, ich …«

»Mach die Tür auf!«

»Nein, ich kann nicht, das geht nicht.«

In der Schule unterhielt man sich unter Mädchen nicht über die Menstruation. Hätte ich eine große Schwester gehabt, dann hätte sie mich wahrscheinlich vorbereitet. Aber ich war richtig in Panik geraten. Meine Mutter öffnete die Tür schließlich mit einem kleinen Löffel und brach in Gelächter aus, aber sie beruhigte mich nicht wirklich.

»Das ist nichts Schlimmes, mach dir keine Sorgen, ich bringe dir, was du brauchst … aber jetzt musst du auf dich aufpassen, meine Liebe! Du wirst das jetzt jeden Monat kriegen, so ist das nun einmal!«

Worauf sollte ich jetzt noch zusätzlich Acht geben? Später nahm der Lehrer im Biologieunterricht den menschlichen Körper durch, und ich verstand endlich, was mit mir geschehen war, aber im Augenblick behielt ich nur zwei Dinge im Gedächtnis: »Jeden Monat« und »Acht geben«.

Selbstverständlich wurde mein Vater sofort informiert – dem Protokoll für eine Tochter entsprechend, die es nun zu überwachen galt. Und der Dialog hatte sich kaum geändert:

»Gib im Viertel Acht! Ich warne dich …«

»Was? Es ist alles in Ordnung, ich habe nichts getan!«

»Ich warne dich: Es ist eine Schande, wenn ein Mädchen bei seiner Hochzeit nicht mehr Jungfrau ist, pass auf …« Keiner von uns hatte ein eigenes Zimmer. Wir waren jeweils zu dritt oder viert in einem Raum zusammengepfercht. Die Jungenschar durfte auf gar keinen Fall etwas von meinen Damenbinden mitbekommen. Das musste absolut geheim gehalten werden.

Und ein wenig später, als es darum ging, dass ich BHs brauchte, herrschte wieder die gleiche Heimlichtuerei. Ich konnte nicht sagen: »Mama, ich bin jetzt in einem Alter, in dem man einen BH trägt.« Für sie existierte so etwas gar nicht, glaube ich, und ich nehme an, dass sie niemals einen getragen hat.

Ich musste mich also selbst mit meiner neuen Weiblichkeit zurechtfinden, außerdem war an mir ein Junge verloren gegangen, und ich war mehr an Stockschläge gewöhnt als an altersgemäße Unterwäsche.

Es war eine französische Freundin, die mir ihre BHs vererbte. Ich lebte in den 1990er-Jahren in Frankreich wie im Mittelalter – im Gegensatz zu den anderen Mädchen meines Alters, die einen anderen sozialen und kulturellen Hintergrund hatten und deren Eltern nicht die gleichen Prinzipien anwendeten wie meine. Ich suchte vergeblich nach meiner Identität.

Während der wie gewohnt »zu Hause« in Marokko verbrachten Ferien erfuhr ich nach und nach einiges über die Herkunft meiner Eltern. Aber anstatt die Frage nach der persönlichen Identität zu klären, wurde diese noch komplizierter. Als ich noch klein war, wurde ich hin und wieder gefragt: »Bist du Berberin oder Araberin?«

Meine Mutter ist Araberin, mein Vater Berber, ich bin Französin. Was gibt es da zu wählen? Ich fühle mich aus dem guten Grund eher arabisch als berberisch, weil mein Vater uns nur die arabische Sprache beigebracht hat. Aber ich spreche aus einem hervorragenden Grund lieber Französisch als Arabisch, nämlich weil ich hier geboren bin und in der Schule Französisch gelernt habe. Trotzdem würde ich mich lieber als Berberin fühlen, weil die Frauen bei den Berbern zwar auch unterdrückt werden, aber dennoch freier sind. Bei Festen und Hochzeiten tanzen sie mit den Männern, sie sind nicht verschleiert und genießen in ihrer Gemeinschaft mehr Respekt.

Meine Mutter ging bis zum Alter von acht oder neun Jahren in die Schule, dann wurde sie auf Beschluss ihrer eigenen Mutter zu Hause eingesperrt, die der Meinung war, sie wäre inzwischen zu hübsch, als dass man sie in ihrem Bergdorf frei herumlaufen lassen könne.

Meine Mutter musste den Beruf der Hausfrau erlernen. Sie durfte das Haus nicht mehr verlassen, auch nicht an Familienfesten teilnehmen.

Ihr wurde verboten, mit irgendjemandem zu reden, sie durfte nicht einmal zum Brunnen gehen, um Wasser zu holen.

Es wurde bereits um ihre Hand angehalten! Mit acht oder neun Jahren! Als sie mir das erzählte, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass so etwas überhaupt möglich sein könnte. Und sie konnte sich kein anderes Leben als das in ihren vier Wänden vorstellen.

Oft sagte sie: »Ich bin meiner Mutter dankbar, denn wenn sie nicht so streng gewesen wäre, wäre ich keine so gute Ehefrau geworden.«

Ich fühlte mich außer Stande, ein solches Leben zu führen.

Bis zu einem bestimmten Alter kannte ich nur das Dorf meiner Mutter, ein paar zwischen Olivenbäumen versteckt stehende Häuser, eine wunderschöne Landschaft, aber ohne fließendes Wasser und Elektrizität. Das Leben ist dort unten noch heute sehr hart. Meine Mutter verbrachte die Zeit damit, Getreide zu mahlen, Oliven zu pressen, das Essen zuzubereiten und auf allen vieren das Haus sauber zu halten – es gab keinen Besen mit Stiel, man musste in die Knie gehen und eine Art Handfeger benutzen! Das habe ich auch ein paar Mal getan und die Arbeit jedes Mal mit schmerzendem Rücken aufgegeben.

Meiner Mutter fehlte es in materieller Hinsicht an nichts, ihre Familie galt als reich. Sie war gut gekleidet, besaß Schmuck, aber auch sie war als einzige Tochter zwischen lauter Jungen die Haushaltssklavin. Im Dorf sprach jeder von ihrer Schönheit, und ihr Vater betrachtete sie als einen kostbaren Schatz. Sie ging niemals aus dem Haus.

Mein Vater versuchte herauszubekommen, wer diese geheimnisvolle Schöne war. Er versteckte sich wie die anderen jungen Männer in den Bäumen bei der Quelle und lauerte ihr in der Hoffnung auf, sie zu sehen, wenn sie Wasser holt. Aber leider durfte sie nicht einmal das tun. Eines Tages, als eine Hochzeit stattfand, flehte meine Mutter, damals fünfzehn Jahre alt, meine Großmutter an, mitgehen zu dürfen.

Meine Großmutter gab nach, betete ihr aber eine Litanei von Verhaltensregeln vor:

»Ich will, dass du hinten im Saal bleibst, abseits der anderen. Ich will nicht, dass du dein Gesicht zeigst! Ich warne dich, wenn ich hören sollte, dass du in die Nähe der Musiker oder der Männer gegangen bist; wenn ich irgendwas über dich hören sollte, dann bringe ich dich um, das schwöre ich dir!«