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Otto von Manteuffel (1805–1882), preußischer Ministerpräsident von 1850 bis 1858, gilt wahlweise als blasser Bürokrat oder strenger Reaktionär im Schatten seines Nachnachfolgers Otto von Bismarck. Seine bewegte Amtszeit, die mit der sogenannten ‚Reaktionsära‘ zusammenfällt, war aber keine Phase des Stillstands oder gar des Rückschritts, sondern von vielfachen Innovationen und Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gekennzeichnet. In dieser Übergangsphase von der alten Welt vor der Revolution 1848/49 zum modernen Preußen wusste Manteuffel sich in einem vielschichtigen Kräftefeld zu behaupten und eigene politische Akzente zu setzen. Vor diesem Hintergrund gibt Michael Dominik Schaaff neue und erhellende Einblicke in das politische Denken und Handeln Otto von Manteuffels.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
ibidem-Verlag, Stuttgart
Für Claudia
Für Franziska, Maximilian, Benedikt, Konstantin
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Einleitung
1. Hintergrund
2. Forschungsstand
3. Erkenntnisinteresse und Herangehensweise
II. Regierung und Politik in Preußen vor 1850
1. Das vormärzliche Preußen
2. Die Revolution 1848/49 in Preußen
3. Staatsorganisation und Regierung seit 1848/49
4. Konstitutionalisierung und Einsetzung der Kammern
5. Monarchie und Staatsentwicklung
III. Politisches Denken und Handeln Manteuffels
1. Biographische Anmerkungen
2. Das politische Denken
2.1. Voraussetzungen und Prägekräfte
2.2. Das zeitgenössische politische Denken
3. Das politische Handeln im Inneren
3.1. Voraussetzungen und Handlungsspielräume
3.2. Ansätze und Beispiele politischer Praxis
3.2.1. Votum des Ministerpräsidenten zur Verfassungsfrage (Denkschrift I)
3.2.2. Denkschrift II
3.2.3. Wahlen
3.2.4. Bankenpolitik
4. Das politische Handeln im Auswärtigen
4.1. Voraussetzungen und Handlungsspielräume
4.2. Ansätze und Beispiele politischer Praxis
4.2.1. Punktation von Olmütz
4.2.2. Krimkrieg
IV. Schlussbetrachtungen
Dank
Quellen- und Literaturverzeichnis
Jedes Buch hat bekanntlich seine eigene Geschichte. Das vorliegende war anfangs gar nicht als eines geplant, und es ist in einem längeren iterativen Prozess entstanden. Einige Teile wurden vor mehreren Jahren im Zuge einer Masterarbeit am Historischen Institut der Fernuniversität in Hagen verfasst. Zwei Dinge gaben damals den Ausschlag für eine tiefergehende Beschäftigung mit Otto von Manteuffel: Zum einen kannte der Verfasser bis dahin kaum mehr als die Grundzüge der preußischen Geschichte und nur deren herausragende Protagonisten wie Friedrich der Große, Bismarck oder Wilhelm II. Ebenfalls fast unbekannt waren ihm die sogenannte Reaktionsära in Preußen der Jahre nach der Revolution 1848/49 und der damalige Ministerpräsident Otto von Manteuffel. Daraus entstand die Motivation, diese vergleichsweise unterbelichtete Periode als Gegenstand der zu schreibenden Abschlussarbeit zu wählen. Gelegentlich brandete etwas Angst vor der eigenen Courage auf, sich ob des eher abseitigen Themas vielleicht etwas viel vorgenommen zu haben. Am Ende war es jedoch eine spannende intellektuelle Erfahrung, die notabene ihren Zweck erfüllte.
Wegen des vorgegebenen Umfangs einer Qualifikationsarbeit musste damals vieles unberücksichtigt bleiben, das nach und nach in den nun vorliegenden, gegenüber seiner ursprünglichen Fassung stark überarbeiteten und erweiterten Text Eingang fand. Am Ende eines langen, eher verschlungenen denn geraden Weges liegt nun das Ergebnis in Buchform vor.
Wie die Sach- und Fachkundigen leicht feststellen werden, ist es nicht das Werk eines professionellen Historikers, sondern das eines interessierten Laien. Obgleich außerhalb des akademischen Betriebs verfasst, wird darin selbstverständlich versucht, den zunftmäßigen Gepflogenheiten möglichst genau zu folgen. Gleichzeitig kann es aber nur bedingt einem fachinternen state of the art genügen. Entsprechend gehört es keiner bestimmten wissenschaftlichen Schule an und folgt auch keinem der aktuellen akademischen Trends – was wohl schon sein Gegenstand belegt. Es ist also eine konventionell-unkonventionelle Schöpfung seines Verfassers.
Experten können aus fachlicher Sicht sicherlich vieles an dem vorliegenden Werk monieren, seien es der methodische Zugriff oder eine vielleicht zu schmale Quellenbasis. Es war aber gar nicht Ziel des Autors, die grundlegende Monographie zu Otto von Manteuffel – die weiterhin ein Desiderat der Forschung ist – zu schreiben. Dies war aus verschiedenen Gründen nicht möglich, und es war auch nicht beabsichtigt. Zeichnen heiße weglassen, soll der Maler Max Liebermann einmal gesagt haben.
Dennoch ist das Buch natürlich nicht ganz ohne Anspruch verfasst worden. Ausgezeichnet wäre es, wenn aus der Beschäftigung mit einer historischen Umbruchphase Orientierung für Gegenwart und Zukunft erwachsen würde, zudem ein Bewusstsein für historische Schattierungen von Begriffen und Personen in ihren Zeitumständen. Unsere heutigen Begriffe und Verhältnisse sind historisch entstanden, und es – dies ist eine Binse – verbietet sich eine simple Anwendung heutiger Perzeptionen und Wertungen auf historische Kontexte. Und sollte das vorliegende Werk schließlich nicht nur ein wenig das historische Wissen über eine im Schatten der Geschichtsschreibung stehende Persönlichkeit und ihre Zeit in zugänglicher Weise mehren, sondern darüber hinaus auch etwas von der Faszination der Geschichte und der Freude an ihrer Erforschung vermitteln können, so wäre sein Ziel mehr als erreicht.
Bei wörtlichen Zitaten vor allem aus den Quellen wurde bei offensichtlich zeitgenössischen und heute veralteten Schreibweisen („That“; „daß“) weitgehend auf das „[sic!]“ verzichtet. Ebenfalls wurden offensichtliche Druck- beziehungsweise Schreibfehler in Quellen und Literatur stillschweigend berichtigt.
Otto von Manteuffel ist heute trotz seiner achtjährigen Regierungszeit als preußischer Ministerpräsident weitgehend in Vergessenheit geraten und fast nur Experten ein Begriff. Angesichts der so ereignisreichen preußischen und deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert mag dies zunächst kaum verwunderlich sein, zumal seine Reputation als Staatsmann der sogenannten Reaktionsära auch nur mäßig ist. Stellvertretend für seine bereits zeitgenössische Unbeliebtheit sei eine bezeichnende Äußerung des liberalen Revolutionärs von 1848/49 Theodor Fontane (1819–1898) zitiert, nach dem Ende von dessen Tätigkeit als Redakteur im „Literarischen Cabinet“, einer Einrichtung der Regierung zur Beeinflussung und Überwachung der Presse: „[…] und verschwand für immer aus den heiligen Hallen, in denen ich 5 mal 4 Wochen Zeuge der Saucen-Bereitung gewesen war, mit welcher das Lit. Cabinet das ausgekochte Rindfleisch Manteuffelscher Politik tagtäglich zu übergießen hatte. Gott sei Dank kann ich mir nachträglich das Zeugnis ausstellen, daß von meiner Seite kein Salz-, Senf-, oder Pfefferkorn jemals zu der Schandbrühe beigesteuert worden ist.“1 An anderer Stelle bezeichnete Fontane die Politik Manteuffels als eine „feige, dumme und gemeine Sorte Politik“ und stellte fest, „[…] er verachte Kreaturen, die sich dazu hergeben, diesen Schwindel zu verteidigen und tagtäglich ausrufen: ‚Herr von Manteuffel ist ein Staatsmann‘“.2
Erst recht haben heute die Begriffe Reaktion und Reaktionär einen schlechten Ruf. Dennoch werden diese Beurteilungen den Leistungen und Wirkungen Manteuffels in historischer Sicht nicht in Gänze gerecht, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Um also dem Missverhältnis zwischen Bekanntheit und Wirkung abzuhelfen, wird in dieser Arbeit das politische Denken und Handeln des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel vornehmlich während seiner Amtszeit 1850 bis 1858 untersucht.
Im ersten Abschnitt wird zunächst ein kurzer historischer Überblick gegeben. Nach der Darstellung des Forschungsstands werden die Fragestellung dieser Arbeit und die methodische Vorgehensweise erläutert. Im zweiten Teil werden anschließend grundlegende Voraussetzungen und Hintergründe der Amtszeit Manteuffels dargelegt. Im Hauptteil der Arbeit wird dann das politische Denken und Handeln Manteuffels untersucht. Der Bereich der Innenpolitik wird mittels vier Quellen beziehungsweise Themenkomplexen – einer Stellungnahme zur Verfassungsfrage, einer Denkschrift zur Stellung der Minister, sowie Einlassungen zu Wahlen respektive der Wahlpraxis und zur Bankenpolitik – exemplifiziert. Der Bereich der Außenpolitik wird anhand zweier herausragender Ereignisse für Preußen in den Jahren 1850–1858 betrachtet: Der Punktation von Olmütz zum einen und dem Krimkrieg und der Rolle Preußens darin zum anderen. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und eine Wertung des politischen Denkens und Handelns Manteuffels vorgenommen.
Wenn aus heutiger Sicht von der Reaktionsära – oder auch anderen Epochen – die Rede ist, so schwingt oft ein eher statisches Verständnis dieser Zeit mit. Die vorrangige Betrachtung von scheinbar festen Strukturen verstellt dabei oft den Blick auf das Handeln von Menschen, vor allem auch im politischen Bereich. Dabei ist es gerade ein Charakteristikum gerade der Moderne, dass Menschen sich aus überkommenen Verhältnissen emanzipieren und Politik und die politischen Verhältnisse als Individuen selbstständig zu gestalten suchen, wenngleich sie natürlich immer mehr oder weniger in strukturellen Zusammenhängen stehen und von diesen begrenzt werden können. Scheinbar fixierte und vermeintlich unabänderlich (vor-)gegebene Verhältnisse können dabei in Bewegung gebracht und verändert werden. Dies gilt auch für die hier betrachtete Zeit.
Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 war Preußen spätestens mit der Verfassung vom 31. Januar 1850 ein konstitutioneller Staat, was eine neue Epoche für das preußische Gemeinwesen einläutete. Allerdings kam es im Anschluss daran keinesfalls zu einer umfassenden politischen Liberalisierung, vielmehr trat in den folgenden Jahren mit der sogenannten „Reaktionsära“ eine den Bestrebungen der Revolution von 1848/49 gegenläufige Entwicklung in Preußen ein.3 Preußischer Ministerpräsident und Minister der auswärtigen Angelegenheiten wurde am 5. und definitiv am 19. Dezember 1850 Otto Theodor Freiherr von Manteuffel (1805–1882), der zuvor bereits preußischer Innenminister war. Sein Name ist heute mit der gegenrevolutionären Politik in Preußen in den 1850er Jahren verknüpft, nicht zuletzt wegen seines berühmten Ausspruches: „Es soll entschieden mit der Revolution gebrochen werden!“, wobei sich dieser Satz damals primär auf die auswärtige beziehungsweise deutschlandpolitische Lage nach der Olmützer Punktation bezog.4
Dennoch hatte der Vertrag von Olmütz, mit dem Preußen seine deutschlandpolitischen Verfassungspläne begraben musste, auch weitreichende innenpolitische Folgen, was die Ergebnisse der revolutionären Ereignisse betraf. Schon die Zeitgenossen sprachen von einem „System Manteuffel“, das mit diesem „Wendepunkt“ preußischer Politik einherging.5 Nach der gescheiterten Revolution hatten sich in Preußen wieder „reaktionäre“ Kräfte durchgesetzt und dominierten die Politik.6 Viele Reformen der Jahre zuvor wurden zurückgedreht, zum Beispiel durch die erneute Einführung von Zensurmaßnahmen und Presselenkung. Insgesamt waren diese Maßnahmen keineswegs populär. Manteuffel war nicht der Einzige, der eine gegenüber den liberalen Wünschen konservative Politik anstrebte, jedoch sah er sich noch weit konservativeren Kräften gegenüber, wie den Mitgliedern der sogenannten Kamarilla um den preußischen König Friedrich Wilhelm IV.7 In einer klassischen Beschreibung schlug Manteuffel als Ministerpräsident die „Richtung eines bürokratisch-autoritären Etatismus“ ein.8 Auch der Monarch selbst blieb, trotz seines geleisteten Eides auf die Verfassung von 1850, einem vormodernen Verständnis verhaftet, nach dem das Königtum, das Militär und die Verwaltung außerhalb der Verfassung bleiben sollten.9 Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang, dass die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 keine Volkssouveränität definierte und gleichzeitig den König bis auf einen zu leistenden Verfassungseid außen vor ließ, was dessen „vorkonstitutionelle Stellung“ unterstrich.10 Zudem gab es nicht nur seitens des Königs, sondern auch bei anderen führenden Persönlichkeiten diverse Überlegungen, den preußischen Konstitutionalismus in Teilen oder vollständig zu revidieren.11
Otto von Manteuffel, laut Christopher Clark ein „standhafter und unaufgeregter Karrierebeamter“, wollte dagegen nicht hinter den Konstitutionalismus zurück.12 Auch gab es ohnehin kein Zurück zu vormärzlichen Verhältnissen, nicht zuletzt da die Verfassung Preußen der Konzeption nach „nach vorne“ aus der Revolution führen sollte, womit eine bloße Gegenrevolution ausgeschlossen war.13 Schon in seiner Zeit als Innenminister im Kabinett des Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg von 1848 bis 1850 stand er, seine ursprünglich ablehnende Haltung hinter sich lassend, für einen „dritten Weg“ eines liberal-konservativen Kompromisses.14
Als Ministerpräsident bewegte sich Manteuffel in einer Art politischem Fünfeck aus Parlamentarismus, Konstitutionalismus, Monarchie sowie Liberalismus und Konservatismus. Dabei gelang es ihm, die Interessenlagen der verschiedenen Gruppen moderierend auszutarieren, obwohl er sich vielerlei Kritik ausgesetzt sah.15 Seine Amtszeit lässt sich somit zunächst als eine Art Zwischenzeit erfassen, die von Wechselwirkungen sowie teilweisen Parallelitäten von alten, vormodernen Verhältnissen und neuen, disruptiven Entwicklungen gekennzeichnet war, die ein politisches Spannungsfeld in Preußen schufen.
Die Quellenlage für den Untersuchungsgegenstand und -zeitraum ist sehr gut. Das umfangreiche Quellenmaterial wird überwiegend im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin aufbewahrt. Zu nennen sind hier zunächst die Akten des Preußischen Staatsministeriums (Signatur GStA PK, I. HA Rep. 90 A Staatsministerium, jüngere Registratur 1714–1945, 1956). Darin findet sich auch eine Denkschrift von Manteuffel zur Verfassungsfrage aus dem Jahr 1853 (Signatur GStA PK, Rep. 90a A VIII 1c Nr. 1 Bd. II, Bl. 119-139).16 Ebenfalls im GStA PK wird der handschriftliche Nachlass des Ministerpräsidenten Freiherr Otto von Manteuffel (Signatur GStA PK, I. HA Rep. 178, Nr. 1085 Bd. I) verwahrt. Manteuffel hat, soweit bekannt, darüber hinaus keine eigenständigen politischen oder autobiographischen Schriften wie Memoiren oder Ähnliches verfasst.
Eine vollständige Edition der Akten des Staatsministeriums liegt zwar nicht vor, jedoch sind die Protokolle des Staatsministeriums in Form von Regesten-Bänden erschlossen worden.17 Quellenwert kommt auch einer dreibändigen Sammlung von verschiedenen Dokumenten Otto von Manteuffels zu, die von Heinrich von Poschinger herausgegeben wurde und aus der in der bisherigen Forschung oft zitiert wurde.18 In deren dritten Band ist eine weitere Denkschrift von Otto von Manteuffel zur Innenpolitik und zur Verfassung Preußens abgedruckt, die um den Jahreswechsel 1855/56 entstand.19
Die preußische auswärtige Politik der Zeit Otto von Manteuffels wurde ebenfalls von Heinrich von Poschinger in einer dreibändigen Edition zugänglich gemacht.20 Darüber hinaus wurde das preußische Schriftgut zum Krimkrieg in einer sehr umfangreichen Aktenedition, die sich auf alle beteiligten Staaten erstreckt, von Winfried Baumgart ediert und herausgegeben.21 Instruktiv sind darin auch die einführenden Anmerkungen zur preußischen Außenpolitik in der Einleitung.
Im Verhältnis zum Quellenbestand ist die Literaturlage zum gewählten Untersuchungsgegenstand weniger umfassend. Die Ära Manteuffel steht traditionell sowohl im Schatten der ihr vorhergehenden Ereignisse als auch der ihr nachfolgenden. Über der deutschen und preußischen Geschichte der Zeit von 1851 bis 1857/58 lag bis vor Kurzem, wie Wolfram Siemann feststellte, „ein Schleier des Stillschweigens“; dies ist insofern verblüffend, als dass in dieser Periode des vorvergangenen Jahrhunderts die „Macht bürokratischer exekutiver Staatstätigkeit nach innen am durchdringendsten war […]“, was aber in der älteren deutschen Geschichtswissenschaft, die ansonsten den Staat als bedeutend behandelte, keinen Niederschlag fand.22 Jedoch kann längst nicht mehr von einer „terra incognita“, so Günther Grünthal zu Beginn der 1980er Jahre, gesprochen werden.23 Allerdings gab es bis vor ganz kurzer Zeit keine aktuelle wissenschaftliche Monographie zur Reaktionsära 1850–1858 in Preußen. Diese Lücke hat erst 2019 Anna Ross mit ihrem wegweisenden Buch Beyond the Barricades. Government and State-Building in Post-Revolutionary Prussia, 1848–1858 geschlossen.24 Ross zeichnet in ihrem quellensatten Werk die Veränderungen von einem noch feudal strukturierten Gemeinwesen hin zu einem konstitutionell-bürokratisch geprägten Staat nach. Aufgrund dessen nennt sie diese Periode eine „zweite Reformära“ in Preußen.25 Dieser Befund ist stark mit dem Wirken Otto von Manteuffels als preußischem Ministerpräsidenten verknüpft, der nach Ross’ Meinung „unzweifelhaft ein interessanter Politiker“ war.26
Ebenso liegen weder eine Geschichte des Preußischen Staatsministeriums und des preußischen Außenministeriums noch eine aktuelle Biographie des Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel vor. Zu nennen sind hier lediglich ältere Arbeiten von Karl Enax: Otto von Manteuffel und die Reaktion in Preußen, Dresden 1907 (Diss. Univ. Leipzig 1907), sowie Hans Walter: Die innere Politik des Ministers v. Manteuffel und der Ursprung der Reaktion in Preußen, Berlin 1910 (Berlin, Phil. Diss. 1910). Beide Werke fußen allerdings nicht auf extensivem Quellenstudium, sind weniger analytisch denn deskriptiver Art und entsprechen nicht dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Sie können mitunter aber einen zutreffenden und authentischen Eindruck der politischen Verhältnisse geben und darüber hinaus auch Auskunft über die Forschungsgeschichte zur Ära Manteuffel. Vor allem bei Enax finden sich verschiedene instruktive Hinweise zum politischen Denken und Handeln Manteuffels.
Von der neueren Literatur ist zunächst ein Handbuchartikel von Hagen Schulze zu nennen, der unter anderem die „Ära Manteuffel“ behandelt.27 Zum preußischen Staatsministerium wurden bisher lediglich kleinere Arbeiten veröffentlicht.28 Neben der Schrift von Anna Ross ist als bedeutendste Monographie zur politischen Geschichte Preußens 1848–1858 das Werk Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58 von Günther Grünthal aus dem Jahr 1982 zu nennen. Umfassend aus den Quellen gearbeitet, beinhaltet dieses Buch mehr als nur die Geschichte des Parlamentarismus, vielmehr stellt es ausführlich die politischen Strukturen und Verhältnisse vor dem Hintergrund von Monarchie, Verfassung und ideenpolitischen Konstellationen in dieser Zeit dar. Daneben sind aber das Regierungssystem, der Zwei-Kammer-Parlamentarismus und die politische Kultur im Allgemeinen dieser Zeit bislang kaum erforscht worden. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass das 19. Jahrhundert insgesamt ja vor allem unter den Rubra von vielgestaltigen, fortschrittsgetriebenen Emanzipations-, Partizipations- und Innovationsprozessen beschrieben wird, so zum Beispiel anhand des Aufstiegs und der Blüte des (Wirtschafts-)Bürgertums und des Konstitutionalismus.29
Jedoch war es, wie nachfolgend zu sehen sein wird, gleichzeitig auch ein Zeitalter, in dem die Monarchie, wenn auch unter veränderten Vorzeichen im Vergleich zum Ancien Régime, weiter eine essentielle Bedeutung hatte, vor allem hinsichtlich der Nationalstaatsbildung, wobei es häufig zu einem „Bündnis zwischen Thron und Nation“ kam.30 Dazu trugen vor allem vielfältige Anpassungs- und Legitimierungsstrategien der europäischen Monarchien entscheidend bei.31
Der historische Zugriff auf diese Zeit ist bislang hauptsächlich biographisch mit Blick auf einflussreiche Personen dieser Epoche erfolgt.32 Eine gewisse Ausnahme bildet der Abschnitt zur preußischen Verfassung von 1850 im dritten Band der Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789 von Ernst Rudolf Huber.33 In verfassungsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet Huber dort auch die Verfassungswirklichkeit und liefert damit ein Bild auch der politischen Verhältnisse und Strukturen wie beispielsweise der Fraktionen beziehungsweise Parteien in den beiden Kammern.
Zu Otto von Manteuffel selbst gibt es in jüngerer Zeit nur die knappe biographische Skizze Im Schatten Bismarcks – Der preußische Ministerpräsident Otto Freiherr von Manteuffel (1805–1882), ebenfalls von Günther Grünthal.34 Diese geht dabei relativ umfassend auf die politischen Ansichten und Erfolge Manteuffels ein. Sie charakterisiert ihn aber eher als einen Beamten, der als Ministerpräsident – eben im „Schatten Bismarcks“ – politisch weitgehend erfolglos blieb.35 Insgesamt wird aus diesen wenigen Beiträgen zwar die Bedeutung Otto von Manteuffels unzweifelhaft klar, allerdings bleiben viele Dinge im Ungefähren. Dies gilt einerseits für Manteuffels Haltung zum Konservativismus und dessen verschiedene Fraktionen, andererseits seine eigene Perzeption politischer Möglichkeiten. Damit zusammenhängend findet sich auch kaum etwas zu möglichen eigenen politischen Ideen und Interessen Manteuffels.
In seinem Buch Preußen im Krimkrieg (1853–1856) aus dem Jahr 1930 liefert Kurt Borries einen Überblick über „Manteuffel und seine Mitarbeiter“ in außenpolitischer Perspektive.36 Borries beschreibt die politischen Verhältnisse in Preußen anhand einer parteilich-ideellen Dreiteilung, zwischen denen sich die preußische Politik abspielte: erstens die Brüder Gerlach mit ihrer reaktionären Politik; die liberal-konservative Partei Moritz August von Bethmann-Hollwegs und schließlich Otto von Manteuffel als „dritte Schattierung des preußischen Konservativismus“.37 Manteuffel wird dabei als ein „kühler und sachlicher“ Karrierebeamter beschrieben, der sich stets und unbedingt loyal zum König verhielt, aber selbst keine Gestaltungsinitiative zeigte, was ihm aber laut Borries zugutekam: „Der Mangel an eigenen Ideen diente dazu, dem Ministerpräsidenten seine schwierige Stellung zu erleichtern; durch seine anpassungsfähige Klugheit und zielbewußte Energie wußte Manteuffel allmählich alle Fäden in seiner Hand zu vereinigen und trotz der Fehlgriffe Friedrich Wilhelms IV. nach allen Seiten das Gefühl zu verbreiten, daß in Preußen ernsthaft ehrlich regiert würde.“38
Eine 1915 erschienene Studie von Günther von Richthofen mit dem Titel Die Politik Bismarcks und Manteuffels in den Jahren 1851–1858 widmet sich vergleichend und mit spürbarer Bewunderung für den politischen Genius Bismarcks den außenpolitischen Aktivitäten der beiden Protagonisten.39 Die Einleitungen zu den beiden von Winfried Baumgart herausgegebenen Bänden Preußische[r] Akten zu Geschichte des Krimkriegs enthalten wie erwähnt einen quellennahen und instruktiven Überblick zur preußischen Politik in diesem Konflikt. Hervorzuheben ist dabei die Vorstellung der verschiedenen außenpolitischen Akteure – darunter auch Manteuffel als Außenminister – und deren verschiedener Perspektiven und Absichten.40
Breit und gut erforscht sind das Leben und Wirken des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., dem zahlreiche Biographien und Aufsätze gewidmet wurden. Zu nennen sind hier die Biographien von Walther Bußmann und David E. Barclay. Insbesondere Barclays Werk geht dabei deutlich über den eigentlichen biographischen Gegenstand hinaus und beleuchtet die Existenz und Entwicklung der preußischen Monarchie vor allem angesichts der großen Veränderungen dieser Zeit wie Industrialisierung und Konstitutionalisierung. Außerdem stellt es die verschiedenen Gruppen und Persönlichkeiten in der preußischen Politik dar, deren differenzierte Haltungen die zeitgenössischen Verhältnisse prägten. Bußmanns Werk ist demgegenüber traditioneller angelegt und beleuchtet stärker die außenpolitischen Begebenheiten.
Zur Verfassungsentwicklung Preußens vor dem Hintergrund der Revolution von 1848/49 gibt es – wie zur preußischen Verfassungsgeschichte insgesamt – vielfältige Literatur in großer Fülle. Einen guten Überblick bietet auch hier die entsprechende Darstellung von Ernst Rudolf Huber.41 Auch zum zeitgenössischen politischen Denken beziehungsweise zur herrschenden Staatsrechtslehre liegen diverse Untersuchungen vor.42
Zur Außenpolitik und den auswärtigen Beziehungen Preußens in den Jahren 1850–1858 gibt es mehrere Untersuchungen, wenngleich auch hier eine umfassende wissenschaftliche Monographie zur Außenpolitik Preußens sowohl für den hier in Rede stehenden Zeitraum als auch für das 19. Jahrhundert insgesamt fehlt. Zu nennen ist hier zunächst ebenfalls der entsprechende Abschnitt in Hagen Schulzes Beitrag im Handbuch der preußischen Geschichte.43 Ebenfalls hilfreich sind die entsprechenden Abschnitte in Ernst Rudolf Hubers Verfassungsgeschichte.44 Die Olmützer Punktation und Manteuffels Rolle dabei hat Magda Lena-Hacker in ihrem Werk Der Ministerpräsident Freiherr Otto von Manteuffel und die Affäre von Olmütz untersucht.45 In dieser kurzen Studie weist Lena-Hacker durchaus mit Sympathie für Manteuffel auf dessen Möglichkeiten und Spielräume hin. Hans-Julius Schoeps hat in seinen Werk Von Olmütz nach Dresden 1850/51. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformen am Deutschen Bund die Ereignisgeschichte konzise dargestellt.46 Die in politischen Auseinandersetzungen nach 1850 häufig genutzte Charakterisierung der Ereignisse als „Schmach von Olmütz“ hat Wolfgang Frischbier einer Revision unterzogen.47 Die Außenpolitik Friedrich Wilhelms IV. insbesondere mit Blick auf die „orientalische Frage“ hat Winfried Baumgart beleuchtet.48 Das europäische Umfeld der preußischen Außenpolitik wurde vom selben Verfasser in einer Monographie zur Geschichte der internationalen Beziehungen 1830 bis 1878 dargestellt.49
Extensiv ist die Forschung zum Krimkrieg, die zu diesem internationalen Konflikt eine kaum zu übersehende Menge an Literatur hervorgebracht hat. Die Implikationen für Deutschland hat Franz Eckhart in seinem Buch Die deutsche Frage und der Krimkrieg, Königsberg 1930, erforscht, aus preußischer Sicht hat Kurt Borries den Konflikt ereignisgeschichtlich beleuchtet.50 Die jüngste allgemeine und umfassende in deutscher Sprache verfügbare Darstellung des Krimkriegs stammt aus der Feder von Orlando Figes: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug, Berlin 2011, die aber vor allem die aktiven Kriegsparteien in den Blick nimmt. In englischer Sprache wurde jüngst von Winfried Baumgart als Überblick mit einem Schwerpunkt auf der Diplomatiegeschichte das Buch The Crimean War: 1853–1856 in erweiterter Auflage vorgelegt.51
Abschließend sei ein aktueller Band zur preußischen Geschichte genannt, der auf eigene Weise unter der leitenden Fragestellung der Staatsbildung eine Darstellung der preußischen Geschichte mit neueren Forschungen verbindet. Hartwin Spenkuch hat mit Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947 kürzlich ein Buch zur preußischen Geschichte vorgelegt, das zwar weder als synthetisierende Gesamtdarstellung noch als Handbuch angelegt ist, aber ein aktuelles, umfassendes und gleichzeitig differenziertes und kritisches Bild Preußens und seiner Erforschung gibt.52
In seinem Buch über Friedrich Wilhelm IV. charakterisiert Barclay dessen Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel als „findige[n] und schonungslose[n] politische[n] Taktiker“ und als einen „recht begabte[n] und oft skrupellose[n] Teilnehmer des politischen Spiels“, der auch um die Macht der Presse wusste und der sogar versuchte, diese zu seinen Gunsten zu manipulieren.53 Andererseits unterstellt Barclay Manteuffel eine fatalistische und gleichzeitig sture Grundhaltung, die ihn trotz vielfältiger Widrigkeiten an seinem Amt als Ministerpräsident festhalten ließ.54
Diesem deutlichen Urteil steht die Beschreibung Grünthals zur Seite, nach der Manteuffel „[…] ein schwer durchschaubarer, offensichtlich völlig indifferenter, nur seinem Beamteneid verpflichteter Bürokrat […]“ gewesen sei, der aber über die Fähigkeit verfügte, „[…] aus den sich häufig genug widersprechenden Regieanweisungen vor und hinter den politische Kulissen in Potsdam und Berlin die Diagonale möglichen Handelns, Verzögerns oder auch Verhinderns zu ziehen […]“.55 Der preußische Staat nahm dabei die zentrale Rolle bei Manteuffels Handeln als Ministerpräsident ein.56
Obwohl Manteuffel in seiner Funktion als Ministerpräsident gemäß Verfassung vor allem administrativ-bürokratische Aufgaben oblagen, lässt sich seine Position keinesfalls als unpolitisch denken. Zu fragen ist daher, ob er als Ministerpräsident mehr der bloße preußische Staatsdiener – wie ihn Grünthal sieht – oder – wie Barclay annimmt – nicht auch in gewissem Maß Politiker war. In dieser Arbeit soll daher, ausgehend von den zu klärenden Bedingungen und Handlungsspielräumen, herausgearbeitet werden, inwieweit Manteuffel als Ministerpräsident bei seiner Amtsführung politisch dachte und handelte, ob er also eigene politische Vorstellungen und Interessen hatte und wie er diese gegebenenfalls zu verwirklichen suchte.
Der inhaltliche Schwerpunkt soll zunächst auf der Innenpolitik liegen, wenngleich dies bedeutet, im ersten Moment die an manchen Stellen vorhandenen Zusammenhänge mit außen- beziehungsweise „deutschlandpolitischen“ Zielen nicht ausreichend zu beleuchten. Auch mag es zunächst ungewöhnlich erscheinen, nicht dem vielzitierten „Primat der Außenpolitik“ im europäischen Staatensystem des 19. Jahrhunderts zufolge die Außenpolitik zuerst zu behandeln. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der König laut preußischer Verfassung von 1850 in Fragen der Außenpolitik nahezu unbeschränkt agieren konnte und damit dem Ministerpräsidenten auf diesem Feld nur wenig Spielraum zur Verfügung stand.
Damit verbunden ist auch die Klärung der Fragen nach den ideellen Grundlagen und vorhandenen Handlungsspielräumen, die Manteuffels politisches Denken und Handeln bestimmten. Schließlich soll beleuchtet werden, welche Umsetzungsmöglichkeiten sich für Manteuffels eigene Ideen boten und welchen praktischen Niederschlag diese fanden.
Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rahmenbedingungen wird dabei von einem weiten Politikbegriff im Sinne von Lösungsvorschlägen – beziehungsweise deren Suche – für konkrete und latent vorhandene Probleme des Gemeinwesens ausgegangen, hier also vor allem des preußischen Staats. Das heutige Verständnis politischer Willensbildung und Entscheidungsprozesse kann bei diesem politischen Handeln freilich nicht vorausgesetzt werden, weshalb auch die Art und Weise der zeitgenössischen Politikformulierung und deren Rezeption, also des kommunikativen Handelns, berücksichtigt werden muss. Die Befunde sollen im Lichte der verschiedenen Dimensionen von Politik – polity, policy, politics – betrachtet und analysiert werden.57 Insgesamt wird bei der Untersuchung eine Verbindung von Politikgeschichte und biographischer Forschung angestrebt, die dabei relevante soziale, kulturelle und wirtschaftliche Aspekte der Epoche angemessen miteinbezieht.
Wegen der eher spärlichen Literaturlage wird dabei vor allem auch auf Erkenntnisse zu Zeitgenossen und allgemeiner Lage zurückgegriffen werden. Der Umfang des vorhandenen Materials macht eine Konzentration auf ausgewählte Teile des Quellenbestandes notwendig. Eine wie auch immer geartete Stichprobe beziehungsweise eine Art Querschnitt aus dem Quellenmaterial scheint allerdings nicht sinnvoll. Deshalb wird hier eine andere Vorgehensweise gewählt, nämlich das bewusste Heranziehen nur weniger ausgewählter Quellen, die mit Blick auf die gewählte Fragestellung besondere Antworten versprechen. Daher werden die beiden in der Literatur erwähnten Denkschriften Manteuffels als Hauptquellen der Untersuchung verwendet, da hier in kompakter Form politische Themen und Probleme enthalten sind. Weiterhin werden die Wahlpolitik und die Versuche zur Verabschiedung eines geplanten Bankengesetzes untersucht, die bislang kaum berücksichtigt wurden, aber gleichfalls – wie zu zeigen sein wird – Auskunft über die politische Haltung Otto von Manteuffels geben können.
Im Kontext der historischen Analyse politischer Zusammenhänge im Deutschland des 19. Jahrhunderts spielen einige Begriffe als eine zentrale Rolle. Dies sind, um die wichtigsten zu nennen, Konstitutionalisierung, konstitutionelle Monarchie, monarchischer Konstitutionalismus und schließlich Parlamentarisierung. Ein Problem ist, dass diese Begriffe in der Forschung teilweise unterschiedlich definiert und verwendet werden. Dennoch beziehungsweise gerade deshalb sollen hier knappe Arbeitsdefinitionen dieser Begriffe gegeben werden.
Unter Konstitutionalisierung wird der Übergang zum Verfassungsstaat verstanden, in Verbindung mit der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten politischen Idee, die (oft unbeschränkte) Herrschaft des Souveräns – in der Regel eines Monarchen – durch eine geschriebene, Grund- und politische Partizipationsrechte des Volkes und grundsätzlich eine Gewaltenteilung garantierende Verfassung einzuhegen und die Herrschaftsausübung so zu legitimieren.58 In der konstitutionellen Monarchie sind entsprechend die Kompetenzen und Befugnisse von Monarch und Volksvertretung etc. hinsichtlich der Staatsgewalt durch eine Verfassung kodifiziert und binden diese insbesondere hinsichtlich der Gesetzgebung.59
Unter monarchischem Konstitutionalismus lässt sich zunächst eine „Verfassung mit machtpolitischem Übergewicht des Monarchen“ verstehen, wobei ein „rechtlicher und machtpolitischer Dualismus zwischen Monarch und Parlament zumindest im Bereich der Legislative oder Exekutive […]“ besteht.60 Bei dieser Herrschaftsform blieben also verschiedene Prärogativen und weitere, auch informelle Machtmittel des Monarchen erhalten, wodurch er der am Ende maßgebliche Akteur im Staatsgefüge blieb.
Im Gegensatz dazu meint Parlamentarisierung eine Entwicklung, bei der das Parlament als Volksvertretung letztlich der wesentliche Akteur in der politischen Entscheidungsfindung wird, der durch seine Gesetzgebungsbefugnis, das Budgetrecht und insbesondere die Ministerverantwortlichkeit auch die Exekutive weitgehend bindet und diese kontrollieren kann.61
Zu fragen ist, wie politisches Denken beziehungsweise politisches Handeln gemäß der Fragestellung zu definieren ist. Aus dem Altgriechischen von politiká abgeleitet, bezeichnet der Begriff Politik in der griechischen Antike die auf die Polis bezogenen öffentlichen Angelegenheiten, die für die Bürger maßgeblich respektive verpflichtend waren.62 Seitdem unterlag der Politikbegriff in seiner Geschichte einem steten und vielfältigen Wandel.63 Dies steht nicht zuletzt in Zusammenhang mit der historischen Normativität des Politikbegriffs, und in der Moderne bleibt der Politikbegriff umstritten beziehungsweise offen.64
Politisches Handeln wird hier nach Max Webers Definition von „politischer Orientierung“ in § 17 der Soziologischen Grundbegriffe bestimmt. Dort heißt es: „‚Politisch orientiert‘ soll ein soziales Handeln, insbesondere auch ein Verbandshandeln, dann und insoweit heißen, als es die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, insbesondere die Appropriation oder Expropriation oder Neuverteilung oder Zuweisung von Regierungsgewalten, [auf nicht gewaltsame Weise […]] bezweckt.“65 Ein Vorteil dieser klassischen Definition liegt mit Blick auf den hier betrachteten Untersuchungszeitraum auch darin, dass Webers Bestimmung zeitlich und damit auch inhaltlich nicht weit vom Untersuchungszeitraum entfernt ist.
Für effektives politisches Handeln wird unabdingbar ein notwendiges Maß an Macht benötigt. Max Weber definiert Macht dabei wie folgt: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“66
Dementsprechend benötigte auch Manteuffel persönliche Macht, da er ohne diese kaum Chancen gehabt hätte, seine Vorstellungen und Ideen durchzusetzen. Daher wird im Folgenden zu klären sein, ob und inwieweit Manteuffels Vorstellungen und Ideen politisch waren und über welche Machtressourcen und Möglichkeiten er zu ihrer Durchsetzung verfügte.
1 Zit. n. Jolles, Charlotte: Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes, Berlin/Weimar 1983, S. 87 f.
2 Zit. n. ebd., S. 88; bemerkenswert ist, dass Fontane trotz dieser scharfen Kritik nahezu die ganze Regierungszeit Manteuffels auf der Gehaltsliste der Regierung stand, wenn er auch lange Zeit davon als Korrespondent in England tätig war; Jolles bemerkt dazu: „Für den Dichter Fontane lag die Bedeutung dieser Jahre, so arm sie für ihn an künstlerischer Gestaltung waren, darin, daß sie ihm erst innerlich des Weg bereitet haben“, ebd., S. 140.
3 Vgl. Clark, Christopher: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2007, S. 573.
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