MeerZeit - Claus Beese - E-Book

MeerZeit E-Book

Claus Beese

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Beschreibung

Jeder von uns wünscht sich mehr Zeit für MeerZeit. Stunden, in denen wir vor dem Alltag fliehen können, in denen uns der Seewind den Kopf klarpustet, in denen wir dem Rauschen des Meeres und dem Geschrei der Möwen lauschen können, oder einfach nur auf einer Bank sitzen und auf die See hinausschauen, die in keinem Moment so ist, wie zuvor. Wenn die Sehnsucht zu groß wird, kann man sich auch ein Buch mit Geschichten von Küste und See nehmen, um sich beim Lesen der Abenteuer einfach ans Meer zu träumen. Mit 38 Geschichten vom Meer und einigen Versen und Gedichten unterstützt Sie der Autor dieses Buches gerne dabei. Er erzählt darin von den Wikingern, vom Klabautermann, von gruseligen Dingen und der Liebe. Grundlage für dieses Buch sind auch ein paar Geschichten aus seinem früheren Buch "Strandgut", dass es im Handel nicht mehr gibt. Der Autor wünscht allzeit eine Handbreit Sonne zwischen den Wolken, genügend Wasser unterm Kiel und gute Unterhaltung. Claus Beese, langjähriger Wassersportler aus Bremen und Autor vieler humorvoller Angler- und Bootsbücher ist mit bisher 21 Büchern aus dem Wassersport nicht mehr wegzudenken. Der 64jährige bezeichnet sich selbst als hoffnungslos meeressüchtig und mit Leib und Seele der Küste und dem Meer verfallen. Seine Geschichten sind voller Humor und Sehnsüchte, aber auch voller Spannung und tiefsinniger Trauer.

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Claus Beese

MeerZeit

Geschichten und Gedichte von Küste und See

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Titel

 

MeerZeit

 

 

Geschichten und Gedichte

von Küste und See

 

 

 

von

 

Claus Beese

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ELVEA

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Auf der Weser

Gedankenblasen

Seeglas

Große Fahrt

Weihnachten der Schiffe

Kein Raps

Die Brücke

Ein Kutter voller Narren

Der Leuchtturm

Drachenjäger

Éna nisí ellinikó – eine griechische Insel

Splitter

Kein Wasser

Rungholt

Der fliegende Leuchtturm

Dem Verschwörer auf der Spur

Kamarim – Mein Stolz

Das Mädchen mit den blonden Haaren

Njörd

Poesie der Meere

Der Ring

Erst wenn es Eier regnet

Nachtangeln – wie öde

Die Wundertüte

Der Pirat von Sønderborg

Träume

Strandkorb-Kobolde

Der Wikinger und das Einhorn

Dem Käpten seine Hühner

Santa Nikolas

Noch mehr Splitter

Das Zeitfenster

Die Möwe

Abschied

Das Drachenschiff

Der Auftrag

Dem Meer getrotzt

Hafen des Grauens

Der König ruft

Die Weihnachtshummer

Haithabu

Ein Bombenjob

Ich bin ein wenig spät

Weihnachten unter Palmen

Setz dich

 

 

 

Auf der Weser

Lange bevor ich meinen Fuß auf etwas setzen durfte, das auf den Wassern der Weser schwamm, war ich schon Bootsbesitzer. Wir waren gerade nach Bremen gezogen und ich sollte eingeschult werden. Mir war nicht ganz klar, wozu das gut sein sollte, denn es stand für mich fest, dass ich Kapitän werden wollte. Oder Fischer … oder Pirat. Jedenfalls musste es mit Wasser zu tun haben. Die Weser in Bremen zog mich magisch an, und wir Kinder liebten es, an ihren Ufern herumzuklettern. Nicht weit vom damaligen Liegeplatz des Segelschulschiffes Deutschland, fast mitten in der Stadt Bremen, fand ich eines Tages ein Boot. Oder zumindest das, was die Zeit davon übriggelassen hatte. Ein altes hölzernes Schiffchen mit einer Kajüte, ohne Motor und mit vielen Löchern im Rumpf. Doch hielt mich das nicht davon ab mit ihm die Weltmeere zu bereisen. Es ging auf Kabeljau- und Heringsfang in der Nordsee, als ›Claus von Bremen‹ stand ich dem berüchtigten Piraten Klaus Störtebeker auf seinen abenteuerlichen Kaperfahrten bei und als der Luxusdampfer ›Bremen‹ am stadtnahen Weserbahnhof anlegte, wurde ich Kreuzfahrtkapitän.

Erst ein paar Jahre später segelte ich mit einem Bekannten auf seinem Schiff mit, und es hatte so gar nichts mit dem gemütlichen Dahintreiben zu tun, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich wohnte nun im Bremer Norden, dort, wo eine Schiffswerft neben der anderen lag, wo einfache, aber nette Menschen wohnten und arbeiteten, die sich in ihrer Freizeit ihre Segelboote noch selber bauten und wo es keine Brücken mehr über den Fluss gab. Wer an das andere Ufer wollte, musste entweder schwimmen oder eine der Fähren benutzen. Über die Angelei war ich zu den Wassersportlern gekommen, die bei uns in Blumenthal einen Bootshafen hatten. Ich besaß bald ein eigenes kleines Ruderboot mit einem Außenbordmotor, und die Fische in der Weser schreckten zusammen und erblassten, wenn ich ihn startete. Es bedeutete regelmäßig das Ende für einige ihrer Artgenossen. Doch gab es kein Ende für mich, denn ich wusste, dass es weiter flussabwärts zwar ein Ende des Flusses gab, dafür aber dort das weite Meer begann. Mein Freund Kuddel konnte gut mit meinen Eltern und überredete sie, mich mit ihm auf Kaperfahrt gehen zu lassen. In Wirklichkeit wollte er am Wochenende einen Törn nach Bremerhaven machen, um einige Dinge zu testen, die er an seiner Takelage und den Segeln verbessert hatte.

Ich will nicht prahlen, mit einem Motorboot umgehen konnte ich, auf der Ostsee hatte ich auch schon einen Angelkutter ein ganzes Stück weit steuern dürfen, aber vom Segeln verstand ich nichts. Und schon gar nicht, wie man mit der Kraft des Windes zwischen den ganzen Dampfern und Schleppern hindurch manövrieren sollte. Kuddel war ein guter Segellehrer. Ein raumer Südwestwind trieb uns zusammen mit dem ablaufenden Wasser bei schneller Fahrt nach Norden, dem Meer entgegen. Bis zur Mündung der Hunte, die aus dem Oldenburgischen kam, kannte ich den Fluss wie meine Westentasche, doch als die alte Schifferstadt Brake in Sicht kam und ich die wirklich großen Seeschiffe sah, wurde mir doch mulmig. Die sonnigen Strände am Weserufer endeten, und die Hafenstadt zwischen Bremen und der Wesermündung zeigte ihr industriell geprägtes Gesicht mit Kaianlagen und Umschlagplätzen. Schlepper und eine Fähre wuselten hin und her, bahnten sich einen Weg durch die vielen Binnenschiffe, die den Strom hinauf und hinunter fuhren. Und wir unter Segel mittendrin.

Große Frachter lagen an der Midgardpier, einer unglaublich großen Umschlagsanlage in Nordenham. Riesige Tanker lagen ein Stück weiter weserabwärts in Blexen und löschten ihre Ladung in die ebenfalls riesigen Lagertanks an Land. Die Weser wurde breiter und breiter, und kurz vor Bremerhaven ankerten die Seeschiffe mitten im Fluss, die noch nicht an den Kais abgefertigt werden konnten. Sie lagen auf Blexen-Reede, einem Parkplatz für Schiffe. Dann passierten wir den Ochsenhals, eine berühmte Kurve im Fluss. Hier sprangen die Ufer weit auseinander, das Wasser schmeckte bereits sehr salzig und das Geschrei der unzähligen Möwen klang heiserer als bei uns. Der Wind fasste nun voll in die Segel und trieb uns trotz auflaufender Flut weiter hinaus, vorbei an den Hafenanlagen und der Columbuskaje, dem Bahnhof am Meer.

 

»Ab hier regieren Neptun und der Klabautermann«, meinte Kuddel und sah mich prüfend an. »Wollen wir noch weiter?«

Ich hatte bemerkt, dass er schon alles für eine Wende vorbereitet hatte, und sein Hinweis, dass wir nunmehr im Begriff waren, vom Fluss aufs offene Meer zu wechseln, ließ mich seinen Entschluss teilen.

»Ach, Kuddel«, willigte ich darum ein, »nach Tahiti und Samoa schaffen wir es heute doch nicht mehr und die Dusche auf Helgoland ist auch nicht so erstrebenswert. Also lass uns umdrehen und im Geestehafen übernachten. Die Weser ist auch ganz schön, und die Welt erkunden wir dann nächstes Wochenende.«

 

Gedankenblasen

Viel zu schnell vergeht die Zeit. War es nicht erst gestern, als ich von der Bank an der Promenade die Kinder am Strand spielen sah? In den Strandkörben am Südstrand brutzelten die Urlauber in der Mittagshitze vor sich hin, einige planschten in den Fluten der Ostsee, deren Wellen mit leisem Zischen auf den Strand aufliefen. Draußen, auf dem Blau der See, zogen Boote mit prall gefüllten weißen Segeln dahin, einige liefen mit Südkurs in Richtung Travemünde, andere hatten den Bug in Richtung Kiel-Ostsee-Weg gewandt, vorbei am Leuchtturm Staberhuk dem Abenteuer entgegen. Als ich seufzend auf der Bank saß und die am blauen hohen Himmel dahinziehenden weißen Schäfchenwolken betrachtete, die keine Ländergrenzen kennen und sich einfach von der lauen Brise treiben lassen, wünschte ich beinahe, ich könnte mit ihnen ziehen. Von der See her tönten die heiseren Schreie der Möwen an meine Ohren und ich sah, wie sie ohne Flügelschlag durch die Lüfte schwebten, der warme Sommerwind sie davontrug, in alle Richtungen, in die sie nur wollten.

Heute ist der Sandstreifen am Wasser leer, der Herbstwind bläst kühl von der See her aufs Land, die Bäume, gestern noch in sattem Grün, beginnen sich zu verfärben und herbstliches Gelb erinnert daran, dass der Sommer zu Ende ist. Ich gehe durch fallendes Laub, das der Wind an einigen Stellen zu kleinen Haufen zusammenweht, und ich fühle mich selbst wieder wie ein Kind, als ich mit den Füßen mitten hinein springe und die trockenen Blätter raschelnd nach allen Seiten davonstieben. Das Schreien der Möwen scheint noch ein wenig heiserer geworden zu sein, weiße Segel auf dem grauen Meer sind seltener geworden und nur der Fischkutter, der dicht vor der Küste mit leisem Tuckern unterwegs zu den Netzen ist, erregt die Neugier des Betrachters. Der Blick folgt ihm hinaus aufs Wasser, dessen Wellen ihn auf- und niedersteigen lassen.

Nur im Hafen des kleinen Ortes ist Betrieb. Die Freizeitkapitäne bereiten ihre Boote auf die Winterpause vor, Masten werden gelegt, die Boote zum Kran verholt, wo sie nacheinander aus dem Wasser gehievt und auf die Lagergestelle gesetzt werden, in denen sie die nächsten Monate, über die kalte Jahreszeit hin, ruhen werden. Mir fällt die Geschichte vom Weihnachten der Schiffe ein, die ich mir für meine damals noch kleine Tochter ausgedacht hatte, als sie mich fragte, ob Boote auch Weihnachten feierten.

Erinnerungen formen sich zu bunt schillernden Seifenblasen und steigen vor meinem geistigen Auge in mein Bewusstsein. Wie schön war der Sonnenaufgang am Meer, wie laut das Knattern der bunten Fahnen im Seewind, wie erfrischend das Lachen der Möwen am Strand von Großenbrode, wenn sie sich um einen Happen balgten.

Alles vorbei, zu Ende, Vergangenheit.

Doch halt. Nichts ist vorbei, denn was in meiner Erinnerung die Seele schwermütig werden lässt, ist gleichzeitig ein Versprechen, dass es im nächsten Jahr wieder so werden kann, so werden wird. Dann bin auch ich wieder hier und füge dem Vorrat meiner Gedankenblasen viele neue hinzu.

 

 

 

 

Seeglas

 

Seeglas – was für eine Bezeichnung für etwas, bei dem man in Erklärungsnot kommt, wenn es um seine Entstehung geht. Es ist überall an den Stränden der Nord- und Ostsee zu finden, doch woher stammt es? Es ist so schön, schimmert zwischen den nassen Sandkörnern so bunt und geheimnisvoll. Wie hat das Meer es wohl vollbracht, etwas so Wunderbares und Mystisches herzustellen, das aussieht wie kleine Edelsteine.

Ich erinnere mich noch an meine ersten Hochseeangelfahrten, als ich zwölf war. Heiligenhafen, Laboe, Maasholm und Kiel waren die Ausgangshäfen der Angelfahrten, die damals noch zum zollfreien Wareneinkauf genutzt werden konnten. Und auch daran, dass aller Müll von den Kuttern und Schiffen einfach über Bord geworfen wurde. Schnödes Altglas, von unzähligen Schiffscrews als leere Flaschen über die Reling entsorgt und vom Meer zu wunderbaren Gebilden geschliffen, auf dem Wege, wieder das zu werden, was es einst war: Sand.

Mittlerweile ist fast ein ganzes Menschenleben vergangen, und vielleicht ist das eine oder andere Stück Seeglas, das ich heute fand, Bruchstück einer leeren Flasche von damals, die achtlos in den Fluten der Ostsee versank.

Doch will man das seinen Kindern erzählen, wenn sie nach der Herkunft dieses bunten Minerals fragen? Nicht, dass man nicht zu den Untaten von damals stehen würde, aber diese Erklärung wäre einfach zu profan.

Für die einen ist es trübe geschliffener Umweltmüll, für die anderen sind diese Fragmente Edelsteine voller mystischer Magie und Kraft. Die Ostsee war und bleibt ein zauberhaftes Meer voller Geheimnisse und Rätsel, die niemals alle geklärt werden sollten.

Denn vielleicht ist Seeglas ja auch tatsächlich etwas ganz anderes. Nachlass der zahlreichen Feierlichkeiten im Meer, wenn Neptun eine seiner Töchter vermählte und die Feier außer Kontrolle geriet. Fragmente überschäumender Lebenslust, die sich durch Zertrümmern von Essgeschirr Bahn brach, wie es noch heute bei den Helenen Brauch ist. Auch Wogen und überraschend auftretende Unwetter können dafür gesorgt haben, dass das edle Tafelgeschirr des Meeresgottes zu Bruch ging und nun von der Gewalt der Strömungen durch die Ozeane getragen wird.

Möglich wäre es auch, dass es Überreste von edlen kristallenen Kelchen ist, die bei Schiffsuntergängen verlorengingen, am Meeresboden zerschellten und Zeugnis sind vom Leben an Bord vergangener Zeiten.

Vielleicht sind es aber auch Hinterlassenschaften von unterseeischen Vulkanen, deren Schlote Sand zu Glas schmolzen und es heute noch tun. Oder es sind die Überreste von ins Meer gestürzten Sternen, die in der Atmosphäre zu Glas verschmolzen und beim Aufprall auf die See in tausend Stücke zerbrachen. Man sollte vielleicht vorsichtig sein, mit Versprechen wie: »Ich hole dir die Sterne vom Himmel!«

Wer weiß es schon so genau? Schön sind sie allemal für die, die sich ihre Fantasie bewahrt haben und tausend abenteuerliche Geschichten durch das trübe Glas erkennen können, das seinen vollen Glanz nur in Verbindung mit dem Meer erhält.

Große Fahrt

In unserer Bahnhofsgaststätte in Bremen trafen sich Hafenarbeiter, Eisenbahner und Seeleute. Es war spannend, ihren Erzählungen zuzuhören, ihre Abenteuer zu verfolgen, ob sie die nun per Schiff, auf den Gleisen oder im Hafen erlebt hatten. So saßen eines Abends zwei Seeleute in stiller Eintracht nebeneinander an der Theke. Jeder hatte sein Bier und seinen Köm vor sich und eine Weile herrschte maritimes Schweigen. Seeleute sind von Natur aus nicht sehr gesprächig, doch die Unterhaltung, die sich dann irgendwann irgendwie ergab, blieb mir im Gedächtnis. Ohne sich zur Seite zu drehen, eröffnete der Größere der beiden das Gespräch.

»Auch Seemann?«

»Hm!«

»Als was fährste denn?«

»Wonach sieht es denn wohl aus?«, antwortete der Kleinere ein wenig knurrig.

Der andere drehte kurz den Kopf, schaute runter auf den Kurzen und meinte: »Klabautermann!«

»Bei Neptun, Kerl! Mach die Augen auf. Siehst du nicht die goldenen Streifen auf meiner Jacke?« Der Lange schaute wieder kurz runter auf den Kleinen.

»Doch, ganz hübsch! Hat deine Frau draufgestickt?«

»Das sind Offiziersstreifen. Ich bin Kapitän auf Kleiner Fahrt!«

Der Längere schaut wieder kurz runter. »Hätte man drauf kommen können! Passt!«, meinte er trocken.

Eine Weile schwiegen die beiden sich an, dann drehte der Lange wieder den Kopf, schaute auf den anderen herunter und meinte: »Wieso bloß Kleine Fahrt? Warum nicht Große Fahrt?«

Der Kapitän seufzte.

»Große Fahrt ist ab Eins neunzig! Ich bin nur Eins sechzig!«

»Versteh ich nicht! Wo ist denn da der Unterschied?«

»Na, Mann! In den dreißig Zentimetern.«

»Ach so!«

Wieder schwiegen die beiden Männer, dann wurde der Größere der beiden unruhig.

»Sach ma, was hat das denn mit der Größe zu tun?«, nahm er das Gespräch wieder auf.

»Na, ist doch ganz klar. Wenn du auf Große Fahrt willst, also, sagen wir mal übern Atlantik nach New York, dann musst du doch die Richtung peilen können, damit du nicht vom Kurs abkommst.«

»Hm, leuchtet ein!«, nickte der Lange. »Weiter!«

»Wenn ich auf der Brücke stehe, muss ich schon auf eine Kiste steigen, um überhaupt aus dem Ruderhaus gucken zu können. Was meinst du, wie soll ich denn dann bis über den Horizont schauen?«

»Nee, ist klar. Bleib man lieber bei deiner Kleinen Fahrt. Da sind die Häfen näher dran!«

Eine Weile war wieder Ruhe zwischen den beiden. Doch der Lange schien noch immer nicht so ganz zufrieden zu sein.

»Sach ma, haben die Amis da nicht so ´nen Leuchtturm gebaut? ´ne Frau mit ´ner Fackel, und die soll so hoch sein, dass auch kleinere Kapitäne den Weg finden …«

»Hast du den schon mal gesehen?«, fragte der Kapitän interessiert.

»Äh…, nee!«

»Wie groß bist du?«

»Eins achtzig!«

»Siehst du, ich sag doch: Große Fahrt ist ab Eins neunzig!«

 

 

Weihnachten der Schiffe

»Sag mal, Papa! Feiern Schiffe eigentlich auch Weihnachten?«

Erstaunt schaute ich herunter auf den kleinen Zwerg an meiner Seite, der eingemummelt in eine dick gefütterte Winterjacke, neben mir durch den Schnee stapfte. Schon lange hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, am Tag vor dem Heiligen Abend nochmals zu der Halle zu fahren, in welcher die Boote der Vereinsfreunde in stiller Winterruhe lagen. Es hatte etwas Besonderes, durch die stillen Gänge und Winkel zwischen den Booten zu schlendern, die kalten Leiber der Schiffe durch den Stoff der Handschuhe zu spüren und in Gedanken mit ihnen auf große Fahrt zu gehen.

»Weihnachten? Hm! Ja, sicher werden die Boote auch Weihnachten feiern. Allerdings ganz anders, als die Menschen!«

»Und wie machen die das? Die haben doch gar keinen Tannenbaum, und Plätzchen können sie auch nicht backen? Ich glaube nicht, dass das eine schöne Feier ist, Papa!«

Lachend schloss ich die Halle auf und wir schlüpften hinein in das stille Halbdunkel, in dem die Schiffe auf ihren Winterwagen lagen und auf die Ausfahrten der nächsten Saison warteten.

»Ach, Töchterlein! Woher willst du denn das wissen? Nur weil es anders ist, wird es nicht schlechter sein als unser Weihnachtsfest.«

»Und wie ist es? Hast du es schon mal erlebt?«

Ich hob den Zwerg hoch und stellte ihn auf das Deck unseres kleinen Kajütbootes. Wir krabbelten unter die Persenning und schauten hinaus. Wenn man die Augen schloss, konnte man noch die sanften Bewegungen des auf den Wellen schaukelnden Bootes spüren, obwohl es lange auf dem Trockenen lag. Claudia kuschelte sich an mich.

»Kommt hier etwa auch der Weihnachtsmann?«, wollte sie wissen. »Und was bringt der den Booten?«

»Vielleicht bringt er den Segelschiffen neue Segel, weil die alten im letzten Sturm zerrissen sind? Und die Motorboote kriegen eine neue Schraube oder einen neuen Luftfilter für den Motor? Ich weiß nicht, was Schiffe bekommen, Maus! Aber ich weiß, dass sie ein schönes Weihnachtsfest haben!«

»Und woher willst du das wissen?«

Ihre kindliche Neugier war geweckt und ihre wachen Augen blitzten mich auffordernd an.

»Na gut!«, seufzte ich. »Also pass auf! Es war vor langer Zeit, noch lange bevor du geboren wurdest. Da fuhr ich einmal an einem Heiligen Abend nachmittags hierher und setzte mich, genau wie wir beide das jetzt tun, auf unser Boot. Ich ließ meine Gedanken zurückgehen in das vergangene Jahr und dachte daran, wo ich überall gewesen war. Es war genau so kalt wie heute, und ich hatte mich in eine warme Decke eingewickelt. Sie war ganz weich und warm und weil ich in den letzten Tagen viel gearbeitet hatte, wurde ich schrecklich müde. Bevor ich mich versah, war ich eingeschlafen und träumte, wie unsere DODI mich bei herrlichem Sonnenschein sanft über die glatte See trug, wie die Möwen laut schreiend um mich herumflogen und die warmen Sonnenstrahlen mich streichelten.«

»Und dann, Papa? Was passierte dann?«

»Ich bin wohl von der Bank gefallen, denn als ich wach wurde, saß ich auf dem Fußboden, und um mich herum war es schon ganz dunkel geworden. Ich hatte ja am Nachmittag noch kein Licht gebraucht, und so musste ich mich jetzt in der Dunkelheit behutsam von Bord tasten. Vorsichtig kletterte ich also am Boot herab und stand etwas später auf dem Hallenboden zwischen den Schiffen. Doch was war das? Plötzlich hörte ich ein leises Wispern in der Halle, als flüsterten tausend Stimmen miteinander. Ich blieb ganz still stehen, wagte nicht, mich zu rühren. Und das Flüstern wurde lauter, und bald konnte ich einige Worte verstehen.

»Holland! So, so meine Beste! In Holland waren Sie ganz. Ist das nicht ein bisschen weit für so ein kleines Schiff?«

»Wie, kleines Schiff? Sie sind man knapp zwei Meter länger als ich, Gnädigste, und dafür ist ihre Taille etwas voller als bei mir. Und wo sind Sie gewesen?«

»Unverschämtheit! Ich bin ja auch ein Dickschiff. Und ein seegängiges Segelschiff dazu. Ich brauche nicht durch die Kanäle nach Holland zu fahren. Ich kann richtig auf die See hinaus. Bis nach Helgoland, wenn es sein muss!«

»Wenn es sein muss! Habt ihr das gehört? Wenn es sein muss! Hahaha! Sie sind wohl nur in der Wesermündung rumgekreuzt, wie? Immer um Rote Sand herum, was?«

»Darf ich auch mal was sagen?«, meldete sich eine ganz kleine Jolle zu Wort, und als alle anderen erstaunt schwiegen, räusperte sie sich und sprudelte dann hervor: »Also ich war an der Ostsee und bin bis zum Kieler Leuchtturm gesegelt. Ist das nicht toll?«

»Toll? Was ist daran toll?«, wollte ein nobler Kajütkreuzer wissen. »Die paar Seemeilen reiße ich vorm Frühstück ab. Du hättest ruhig die paar Meilen bis Dänemark auch noch machen können, Feigling!«

»Vielleicht wachse ich ja noch, und dann fahre ich mit dir um die Wette, du Snob! Und dann hast du nichts zu lachen! Versprochen!«, schnaubte die Jolle empört.

»Pst! Seid mal ruhig! Habt ihr das auch gehört? Da ist doch was!«

Ich hielt die Luft an und wagte nicht mich zu bewegen. Was würde geschehen, wenn sie mich bemerkten? Es war jetzt so still, dass man hätte hören können, wie eine Feder zu Boden fällt.

Da war plötzlich ein leises Seufzen zu hören, welches ganz hinten aus der letzten Ecke der Halle kam. Dort hinten lag ein ziemlich altes Schiff, der Leib nicht aus modernem Kunststoff, sondern aus altem, verbeultem Stahl. Die Masten waren nicht aus hochwertigem Aluminium, sondern aus Holz und schon an einigen Ecken ganz abgesplittert und rau. Alles in allem, und darüber war sich die Schar der Boote einig, mehr ein Fall für die Abwrackwerft, als für den Segelsport.

»Ich sage euch, ihr wisst nichts!«, seufzte der alte Segler und ließ gehörig seine Spanten knacken. »Kieler Leuchtturm, Rote Sand, Helgoland! Ganz schön, das alles! Aber habt ihr schon mal das glasklare Wasser der Karibik gesehen? Gefühlt, wie Delphine unter euch dahinflitzen und mit ihren Flossen eure Bäuche kitzeln? Habt ihr unter euch noch in zwanzig Metern Tiefe die majestätischen Rochen gesehen, wie sie durch das Wasser schweben? Habt ihr schon mal, weit draußen auf dem Atlantik in sternenklarer Nacht dem Gesang der Wale gelauscht? Nein? Dann wisst ihr nichts!«

»Frido!«, flüsterte die kleine Jolle. »Hast du schon einmal das Kreuz des Südens gesehen?«

Wieder seufzte der alte, rostige Kasten in seiner Ecke.

»Das habe ich, weiß Gott! Das habe ich!«

»Und?«, wollte die kleine Jolle aufgeregt wissen. »Wie sieht es aus?«

»Diamanten! Leuchtende, funkelnde Diamanten auf einem blauschwarzen Samtkissen! Warte, ich werde es dir zeigen!«

An der Hallendecke erschien plötzlich ein leuchtender Nebelfleck, das Dach schien zur Seite zu gleiten und gewährte den Blick hinauf zu den Sternen. Doch es waren nicht die Sterne, wie man sie von hier aus sieht. Es waren die Sterne, die über dem Äquator standen, und sie leuchteten in einer Pracht, dass ich geblendet die Augen schloss. Ein Sternbild kam ganz nah heran und ein Raunen und Flüstern ging durch die Halle.

 

Das Kreuz des Südens, Inbegriff aller Sehnsüchte der Menschheit. Traum aller Seefahrer und vielleicht auch aller Schiffe.

»Und jetzt zeige ich euch noch etwas! Etwas ganz großartiges!«, knirschte der rostige Frido. Und der Sternenhimmel wechselte sein Bild. Ein einzelner, strahlend heller Stern schwebte heran. Der Polarstern! Gleißend hell strahlte sein Licht in die Dunkelheit der Halle hinein, um nach einer Weile ganz langsam zu verblassen.

Es war wieder dunkel in der riesigen, kalten Lagerhalle, in der die Boote vom Sommer träumten, und ich tastete mich durch die Finsternis zur Tür. Was für ein Abend!«

Claudia wickelte sich aufgeregt aus der Decke, die ich uns während der Geschichte umgeschlungen hatte. Ihre Wangen glühten.

»Und was ist aus Frido geworden? Hier liegt doch gar kein Schiff, das so aussieht!«

»Frido und sein Kapitän sind im nächsten Jahr ausgelaufen. Man sagt, sie wollten über den Atlantik nach Mittelamerika. Niemand hat sie je wieder gesehen oder von Ihnen gehört!«

Wir krabbelten aus dem Schiff und kletterten von Bord. Draußen empfing uns eine weiße Winterlandschaft, und am frostklaren Himmel stand ein gleißend heller Stern, der sein Licht in voller Pracht durch die Dunkelheit erstrahlen ließ.

 

 

Kein Raps

Es war nicht ganz leicht, mich zu überreden, anstatt in ein Auto zu steigen und ans Meer zu fahren, in ein Flugzeug zu klettern um irgendwo in einem fremden Land meinen Urlaub zu verbringen. Als es mit Geduld nicht klappte, fielen meiner mir Angetrauten noch einige sehr erstaunliche andere Varianten der Überredungskunst ein, was mich schließlich auch dazu brachte, ihren sehr seltsamen Urlaubsplänen zuzustimmen.

»Sie setzen sich jetzt sofort wieder auf ihren Sitz!« Die Stimme der Flugbegleiterin klang sehr energisch. Ich drehte kurz den Kopf in ihre Richtung, deutete aus dem winzigen Flugzeugfenster und stammelte: »Aber…, aber…, da unten sind Rapsfelder!«

Ganz genau hatte ich das Leuchten der rechteckigen Felder tief unten am Boden gesehen, und das von meinem Mittelsitz in der Reihe aus. Der Typ, der mir den Fensterplatz streitig gemacht hatte, keuchte und lief blau an. Selber schuld. Hätte er freiwillig mit mir getauscht, würde er jetzt Luft bekommen. Meine Nase drückte sich an die Scheibe im Flieger, und mit großen sehnsüchtigen Kinderaugen sah ich hinaus und erblickte das sattgelbe Leuchten weit unter mir auf der Erde. Das konnte nur Raps sein, so, wie ich ihn aus meiner Lieblings-Urlaubsgegend in Deutschland kannte. Wir aber waren irgendwo zwischen Belgrad und Sarajevo, noch weit von der griechischen Küste entfernt. Hier und daheim blühte der Raps in seiner ganzen gelben Pracht. Sein Leuchten dringt selbst durch geschlossene Augenlider bis tief hinein in die Seelen der Menschen, sein süßer Duft liegt schwer in der Luft, und verbreitet den Geruch von jungem Sommer. Seine Farbe, die von der Erde bis hier hinauf strahlte, verursachte eine tiefe Sehnsucht in mir.

»Sie setzen sich sofort wieder hin und schnallen sich an!« Die Flugbegleiterin hatte ihrer Ansage noch eine Nuance an Schärfe hinzugefügt und der Kerl unter mir auf ‚meinem‘ Fensterplatz faltete die Hände.

»Ja, bitte!«, keuchte er. »Tun Sie, was die nette Frau von Ihnen verlangt!«

Irgendjemand fing an, an meinem Hosenbund zu zerren und eine energische Stimme in meinem Rücken zischte: »Musst du hier so einen Aufstand machen? Setz dich endlich vernünftig hin, die Leute gucken schon alle.«

»Aber der Raps…!«, widersprach ich. Die Flugbegleiterin eilte davon, um dem Piloten Meldung zu machen.

Mürrisch und sehr widerwillig setzte ich mich hin und mein holdes Weib fummelte an meinem Sicherheitsgurt herum. Mit leisem Klick schloss sich die Schnalle.

»Worum geht es hier?«, fragte der Flugkapitän, der sich breitschultrig und drohend durch die Sitzreihen heranschob. Ich deutete auf den Kerl neben mir am Fenster.

»Der hat Schuld, der lässt mich nicht aus dem Fenster gucken!«

»Warum? Was gibt es denn da zu sehen?«

»Rapsfelder!«

»Oh!« Der Pilot machte einen langen Hals, um ebenfalls einen Blick nach unten erhaschen zu können. »Sie meinen, dieses leuchtende Gelb ist Raps?«

»Genau!«

»Sieht wirklich toll aus!«

Endlich einer, der mich verstand.

»Dieses Gelb, dazu weißer Sand, dunkelblaues Meer und hellblauer Himmel, an dem weiße Wolken ziehen«, schwärmte ich. »Und ich muss ausgerechnet jetzt nach Griechenland auf eine trostlose Insel in der Ägäis.«

»Sagt wer?«, wollte der Pilot fassungslos wissen. Ich deutete auf die Person zu meiner Rechten.

»Die da!«

»Oh!« Der Flugkapitän musterte die Frau neben mir, als hätte er eine Außerirdische vor sich. »Ihre Frau?«

»Ja!«

»Oh!«

Einen Moment lang war Schweigen. Dann schüttelte der Mann in der Fliegeruniform den Kopf.

»Auf den Inseln gibt es zwar dunkelblaues Meer, weißen Sand und der Himmel ist meistens auch hellblau, aber dieses Gelb nicht. Dort gibt es keinen Raps«, stellte er fest. Er musterte missbilligend die Personen neben mir, zuerst die männliche.

»Es wäre ein Akt menschlicher Nächstenliebe gewesen, diesem Herrn den Fensterplatz zu überlassen«, tadelte er. Dann wandte er sich der Frau an meiner anderen Seite zu.

»Und Sie sollten zu dieser Jahreszeit nicht in die Ägäis fliegen! Fahren Sie doch woanders hin!«

Meine mir Angeheiratete schaute ihn fassungslos an und auf ihrer Stirn bildete sich die Falte, die stets ein heraufziehendes Donnerwetter anzeigt.

»So?«, fragte sie spitz. »Und wohin dann?«

»An die Ostsee!«, ertönte es wie aus einem Mund von mir und dem Flugkapitän.

 

 

Die Brücke

Ich schlenderte über die Kurpromenade des kleinen Hafenstädtchens an der Ostsee und genoss die noch warmen Strahlen der untergehenden Sonne. Sie ließen die Segel draußen auf dem Meer in einem weichen Orangegelb leuchten. Die Boote zogen gemächlich ihre Bahnen, denn der Seewind war fast eingeschlafen. In dem weichen Licht der Abendsonne strebten sie ihren Liegeplätzen in den beiden Yachthäfen entgegen, die in der geschützten Bucht lagen. Der Tag war fast vorüber. Die Urlauber, die sich noch vor wenigen Stunden am Strand und auf der Promenade gesonnt hatten, waren fort.

Mein Blick folgte dem eintönigen Verlauf der kleinen Flutmauer, und ich schaute auf, als in ihr unerwartet eine Lücke klaffte. Ich zögerte. Ignorieren? Einfach weitergehen und dem neu beginnenden Mauerverlauf folgen? Oder doch nach links schwenken und vom exakten Muster der grauen Gehwegplatten auf die leicht federnde, hölzerne Konstruktion, die hier begann, überwechseln? Vor mir lag die Seebrücke, deren Belag sich weit ins Meer erstreckte. Wenige Meter über dem Wasser überspannten ihre Bohlen den flachen Bereich des Badestrandes. Ich betrachtete den hölzernen Pfad, der sich schnurgerade bis ins offene Wasser zog, wo es nicht mehr grünlich schimmerte, sondern bereits das satte Marineblau der Tiefe besaß. Dort draußen konnten auch größere Schiffe anlegen, allerdings fuhren die Bäderdampfer nur in der Sommersaison.

Wasser hat eine nahezu magische Anziehungskraft und die Menschen folgen überall seinem Lockruf und streben dem nassen Element zu, denn Wasser ist Leben. So änderte ich meine Richtung und blieb für einen Moment stehen. Eine Brücke verbindet in der Regel die gegenüberliegenden Ufer eines Gewässers oder einer Schlucht, eines Grabens oder unwegsamen Geländes. Was verband dieses Bauwerk? Eine Brücke zwischen Wasser und Land? Was für ein unsinniges Projekt!

Beinahe automatisch setzten sich meine Füße in Bewegung, trugen mich hinaus auf den hölzernen Weg. Fast glaubte ich, das Schaukeln der Meereswellen würde sich auf die Planken übertragen, und ich griff vorsichtshalber nach dem stabilen Geländer. Es war die Erfahrung, die uns lehrt, dass alles, was sich auf dem Wasser befindet auch schaukelt. Doch hier bewegte sich nichts. Die Brücke war fest und sicher, und langsam entfernte ich mich immer weiter vom Festland. Unter mir plätscherten bereits kleine Wellen an die Pfähle, und als ich mich über das Geländer beugte, sah ich im flachen Wasser die Kinderstube des Meeres. Ein unübersehbarer Schwarm kleiner und kleinster Fische wogte im flachen Wasser vor dem Strand und genoss die Wärme, welche ihm die Sonne am Tag geschenkt hatte.

Langsam näherte ich mich einem Pärchen, das weltvergessen am Geländer lehnte und leise miteinander sprach.

»Unser letzter gemeinsamer Abend«, sagte der Junge. »Lass uns nicht streiten. Morgen fährst du zurück an deine Universität.«

»Abe das haben wi beide gewusst! I have to go back. Meine Semester beginnt next week.«

»Ja! Ja, ich weiß! Aber trotzdem will ich nicht, dass du gehst! Verstehst du? Ich möchte, dass du bleibst! Hier, bei mir!«

»Aber ick kann wiederkommen, in the next holidays! Or you come with me to Aberdeen.«

»Ich kann hier nicht weg, verstehst du? Vater braucht mich auf dem Kutter!«

»Und ick muss meine Studium fertig maken. Maybe, after that I can find a job here in Germany!«

»Warum musst du nur studieren?«, seufzte der Junge und streichelte die Wangen des Mädchens. »Arbeit hättest du doch hier auch so. Deine Tante würde dich liebend gern im Restaurant behalten und nicht nur für den Semesterjob.«

Beide schwiegen, hingen den eigenen Gedanken nach und suchten nach Worten, die den Anderen überzeugen konnten. Traurig schauten sie hinaus auf die Wellen.

Ich ließ die beiden allein, ging an ihnen vorüber und schlenderte gemächlich weiter. Der Warnruf eines Mannes ließ mich stoppen. Fast wäre ich über die Gerätschaften des alten Anglers gestolpert, der seine Ruten etwas nachlässig am Geländer postiert hatte. Ich blickte in die Augen des Mannes, die mich freundlich anblitzten.

»Man sollte beim Laufen nicht denken! Zumindest nicht an andere Sachen«, lachte er. Auf meine Frage, ob er schon etwas gefangen habe, präsentierte er mir einige große Hornhechte. Die langen Fische mit dem schlangenartigen, silbernen Leib und dem hornigen, schnabelartig verlängerten Maul, welches gespickt war mit kleinen spitzen Zähnen, machten noch jetzt, da sie tot waren, den Eindruck mutiger und starker Kämpfer.

Stolz blitzte in den Augen des Anglers, als ich ihm zu seinem Fang mit einem ehrlichen Petri-Gruß gratulierte. Der Alte dankte, dann wanderte sein Blick an mir vorbei zu dem Mann, der seine Angelruten ein Stück weiter auf der Brücke stehen hatte. Neugierig war der näher gekommen und hatte den Fang des Alten aus respektvollem Abstand bewundert. Jetzt hob er die Hand mit dem nach oben gerichteten Daumen.

»Gutt Fisch! Karaschow!«, lobte er während seine Augen traurig auf die wunderschönen Fische schauten.

»Ah! Russki«, murmelte der alte Mann, und es klang wenig erfreut.

»Njet! Nix Russki! Deutsch-Russki«, entgegnete der andere, wandte sich ab und ging zurück zu seinen Angelruten.

»Der ist noch nicht lange hier im Westen! Steht schon den ganzen Nachmittag da und hat nicht einen Fisch gefangen«, raunte der alte Mann mir zu. »Benutzt auch vollkommen unbrauchbare Köder.«

Ich deutete auf die Schachtel, in der mein Gegenüber seine aus Heringsfleisch geschnittenen Köder aufbewahrte. Er hatte mehr als er heute brauchen würde.

 

»Warum geben Sie ihm nicht davon ab?«, fragte ich ihn.

»Die haben uns damals in Sibirien auch nichts abgegeben«, antwortete er voller Bitterkeit. Er drehte sich abrupt um und widmete sich wortlos wieder seinen Angelruten. Unser Gespräch schien beendet, doch noch zögerte ich einen Moment lang. Schließlich wandte ich mich um, denn es zog mich weiter in Richtung See. Als ich kurz den Kopf drehte, sah ich den alten Angler unschlüssig mit seiner Köderschachtel in der Hand auf dem Steg stehen. Ein Ruck ging durch den Mann, schleppend ging er die wenigen Schritte zu dem glücklosen Angler hinüber und hielt ihm auffordernd die Büchse hin.

Am Kopf der Seebrücke dümpelten zwei Boote in der leichten Dünung und einige signalrot gekleidete Männer und Frauen kletterten darauf herum. Man bestaunte die technische Ausrüstung des jeweils anderen Schiffes, und die Hände wiesen und zeigten auf dies und das, gestikulierende Arme bekräftigten, was Worte nur unzureichend erklären konnten. DLRG stand in großen Lettern an dem kleineren, offenen Motorboot, welches zur Patrouillenfahrt vor dem Badestrand eingesetzt wurde. DGzRS stand an dem anderen, seetüchtig und unsinkbar gebauten Boot, welches jedoch wiederum nur ein Tochterboot jenes mächtigen Seenotrettungskreuzers war, der im Hafen auf Station lag.

»Es war sehr mutig von euch, trotz des aufgewühlten Wassers zu dem abtreibenden Schwimmer hinaus zu fahren!«, stellte der Vormann des Rettungskreuzers fest. »Allerdings war euer altes Boot für so einen Einsatz nicht gebaut. Dieses hier, das neue, ist kentersicher.«

»Wenn ihr nicht gekommen wärt, hätte es anstelle von einem drei Tote gegeben«, antwortete ihm einer der Rettungsschwimmer. »Das Boot kippte in einer Welle, als wir den Ertrinkenden hineinziehen wollten. So ist es gerade noch einmal gut gegangen. Euer Tochterboot war schnell zur Stelle. Danke!«

»Sind wir nicht alle dafür da, schnell zur Stelle zu sein?«, meinte der Vormann und schüttelte die ihm dargebotene Hand.

»Papi! Papi! Jetzt mache ich einen Kopfsprung!«, rief der Junge seinem Vater im Wasser zu, der gerade vom Geländer der Seebrücke mit einem Hechtsprung in die Fluten der Ostsee eingetaucht war. Der Bengel kletterte auf die hölzerne Brüstung und verhielt dort. In seinen weit aufgerissenen Augen stand die Angst, in seinem Gesicht die Entschlossenheit, es seinem Vater gleichtun zu wollen.

»Wenn du das machst, gehen wir gleich noch ein großes Eis essen«, lockte der Ältere den Jüngeren, versuchte ihm so die Angst vor dem Sprung zu nehmen. Zitternd vor Aufregung schnappte der Junge nach Luft, dann sprang er. Kopfüber stürzte er in die Fluten, es planschte ordentlich, und das Wasser spritzte nach allen Seiten als er eintauchte.

»Junior, das war Klasse«, lobte der Vater voller Begeisterung und Freude über den ersten Kopfsprung des Jungen, als der neben ihm den Kopf aus dem Wasser streckte.

»Los, Papa!«, prustete der. »Jetzt wir beide zusammen! Wer zuerst an der Leiter ist!«

Ich ging den Weg über die Brücke zurück und lächelte. Die allerletzten Sonnenstrahlen schienen mir direkt ins Gesicht und ich spürte das Feuer und die Kraft unseres Sterns. Die beiden Angler standen jetzt dicht beieinander und freuten sich gemeinsam über einen prächtigen Hornhecht, den der russischstämmige Petrijünger gerade aus der See gezogen hatte.

»Wladimir! Er heißt Wladimir!«, rief der alte Angler mir zu. »Und er kann doch angeln!«

»Waldemar! Ichch cheißen Waldemar«, lachte der »Deutsch-Russki« und hielt mir voller Stolz seinen Fang entgegen, den ich mit Applaus bedachte, bevor ich weiter ging.

Noch immer stand das Pärchen am Brückengeländer, eng aneinander geschmiegt in zärtlicher Umarmung, hoffend, eine Lösung für das Problem zu finden.

»Come on«, flüsterte sie leise und zog ihn von der Brücke in Richtung Strandpromenade. »Sei nicht traurig. In unsere letzte Nacht ick will nicht, dass du bist traurig! I will make you happy, my dear! Morgen ist eine andere Tag und we will see, what tomorrow brings!«

Arm in Arm verließen sie die Brücke und gingen einer Nacht voller Liebe und Hoffnung entgegen.

Eine blonde Frau in einer weißen Windjacke kam mir im feurig-roten Schein der versinkenden Sonne von Land her entgegen. Sie wich mir nicht aus, kam direkt auf mich zu und blieb vor mir stehen.

»Warum bist du allein weggegangen?«, fragte sie mit leichtem Vorwurf in der Stimme.

»Ich musste nachdenken, meinen Kopf vom Wind klar pusten lassen«, sagte ich leise.

»Bist du noch böse wegen unseres Streits?«, wollte sie wissen.

»Nein! Vermutlich hattest du mit allem Recht, und ich war nur starrköpfig. Ich glaube, die Sache war eine Auseinandersetzung nicht wert.«

Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und ging mit ihr den Weg über die Seebrücke zurück an Land, eine Brücke die nichts miteinander verbindet, ein ganz und gar sinnloses Bauwerk.