7 Gruselkrimis für Spezialisten - W. A. Hary - E-Book

7 Gruselkrimis für Spezialisten E-Book

W. A. Hary

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Dieses Buch enthält folgende Romane: (4499) W.A.Hary: Die Straße ins Totenland W.A.Hary: In den Klauen des Geisterkönigs W.A.Hary: Viele Geister verderben den Fluch W.A.Hary: Lass dich nicht mit Toten ein W.A.Hary: Treffpunkt Jenseits W.A.Hary: Hexenkessel Lloyd Cooper: Moronthor und der Voodoo-Man Marie Colbert klammerte das Baby an ihre Brust und blickte angstvoll durch das Unterholz. Aus der Ferne konnte sie die Schreie ihrer Nachbarn - ihrer Freunde - hören. Der flackernde Feuerschein brennender Hütten erhellte den Dschungel und ließ die Bäume bizarre Schatten werfen. Marie unterdrückte ein Schluchzen. Sie wußte, daß sie nach ihr suchten. Das Baby regte sich in ihren Armen. Bitte schrei nicht, dachte Marie verzweifelt und begann, es sanft zu wiegen. Aber der erst sechs Monate alte Vincent war unruhig geworden. Flüsternd redete sie auf ihn ein, in Gedanken immer nur den einen Satz wiederholend: Bitte, bitte, schrei nicht. Das Baby regte sich heftiger, strampelte in der schützenden Umarmung. Und plötzlich begann es wie eine Sirene in tiefster Stille zu kreischen. Marie packte das Kind fester, wollte sich jetzt einen Weg durch das dichte Unterholz bahnen, aber im gleichen Moment fielen die Schatten über sie, riesig im Licht des Feuers. Die Zombies hatten sie gefunden!

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W. A. Hary, Lloyd Cooper

7 Gruselkrimis für Spezialisten

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Inhaltsverzeichnis

7 Gruselkrimis für Spezialisten

Copyright

Die Straße ins Totenland

In den Klauen des Geisterkönigs

Viele Geister verderben den Fluch

Lass dich nicht mit Toten ein

Treffpunkt: Jenseits

Hexenkessel

Moronthor und der ​Voodoo-Man

7 Gruselkrimis für Spezialisten

W.A.Hary, Lloyd Cooper

Dieses Buch enthält folgende Romane:

W.A.Hary: Die Straße ins Totenland

W.A.Hary: In den Klauen des Geisterkönigs

W.A.Hary: Viele Geister verderben den Fluch

W.A.Hary: Lass dich nicht mit Toten ein

W.A.Hary: Treffpunkt Jenseits

W.A.Hary: Hexenkessel

Lloyd Cooper: Moronthor und der Voodoo-Man

Marie Colbert klammerte das Baby an ihre Brust und blickte angstvoll durch das Unterholz. Aus der Ferne konnte sie die Schreie ihrer Nachbarn - ihrer Freunde - hören. Der flackernde Feuerschein brennender Hütten erhellte den Dschungel und ließ die Bäume bizarre Schatten werfen. Marie unterdrückte ein Schluchzen. Sie wußte, daß sie nach ihr suchten. Das Baby regte sich in ihren Armen. Bitte schrei nicht, dachte Marie verzweifelt und begann, es sanft zu wiegen. Aber der erst sechs Monate alte Vincent war unruhig geworden. Flüsternd redete sie auf ihn ein, in Gedanken immer nur den einen Satz wiederholend: Bitte, bitte, schrei nicht. Das Baby regte sich heftiger, strampelte in der schützenden Umarmung. Und plötzlich begann es wie eine Sirene in tiefster Stille zu kreischen. Marie packte das Kind fester, wollte sich jetzt einen Weg durch das dichte Unterholz bahnen, aber im gleichen Moment fielen die Schatten über sie, riesig im Licht des Feuers.

Die Zombies hatten sie gefunden!

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /

COVER A.PANADERO

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Alles rund um Belletristik!

Die Straße ins Totenland

von W. A. Hary

Der Umfang dieses Buchs entspricht 120 Taschenbuchseiten.

Die Ausfallstraße nach Norden war eine Hauptschlagader des Londoner Verkehrs und aus diesem Grunde schon ein heißes Pflaster. Aber seit geraumer Zeit verschwanden dort Autofahrer spurlos. Mit rechten Dingen ging das nicht zu.

Falls die Leute verunglückt waren, mussten doch wenigstens die Fahrzeuge zu finden sein.

Doch nicht einmal Blechleichen wurden entdeckt.

Da klemmte ich mich in meinen MG und machte mich auf den Weg.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alles rund um Belletristik!

1

„Verfahren!“, ächzte Fred Stillman. Angst flog ihn an. Seine schweißnassen Hände klammerten sich um das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Gehetzt schaute er umher.

Verdammt, ja, er hatte Angst. Das Grauen schüttelte ihn.

Wo war er plötzlich? Er war doch eben noch auf der Hauptstraße gefahren und dann …

Alles war anders, auf erschreckende, unerklärliche Weise.

Stillman fuhr mit hämmerndem Herzen weiter.

„Ich – ich muss umkehren!“, redete er sich ein, aber das ging nicht. Er konnte sich nur am Lenkrad festklammern und geradeaus fahren.

Da, ein Dorf!

Auf dem Ortseingangsschild stand das Wort „HELL“!

„Das bedeutet HÖLLE!“, murmelte Fred Stillman. Er bäumte sich gegen den Zwang auf, weiterzufahren. Er hatte furchtbare Angst vor diesem Dorf mit Namen Hölle – ein Dorf, das auf seinem Weg überhaupt nichts zu suchen hatte. Er hatte London im Norden verlassen – und jetzt dies.

„Nein!“, brüllte er.

Im Licht der Straßenlaternen sah er die Dörfler. Alles fröhliche Menschen, wie es schien.

Stillman schaffte es, langsamer zu fahren. Aber er schaffte es nicht, seinen Wagen anzuhalten. So rollte er in das Dorf hinein.

Die Dörfler gaben sich gut gelaunt. Drüben war eine Gruppe von Leuten. Sie lachten und scherzten.

Eine Szenerie, die Stillman keineswegs beruhigte. Das Ganze kam ihm vor wie eine – Falle!

Ein Hupen ließ Fred Stillman zusammenzucken: Ein Auto überholte ihn. Der Fahrer drohte wütend mit der Faust, anscheinend weil Stillman so langsam fuhr.

Fred Stillman flüchtete sich in Zorn. Er wollte seine Angst überwinden und einfach daran glauben, dass er keinen Grund dafür hatte. Deshalb drohte er zurück. Das war seine Art, sich gegen das Grauen zu wehren.

Doch dann schaute ihn der Mann an: Seine Augen waren wie Glas. Seine Stirn war bis zu den Augenbrauen gespalten. Die weit auseinanderklaffenden Ränder waren blutverschmiert. Der Kopf hatte überhaupt eine seltsame Haltung, als hätte der Mann das Genick gebrochen.

Fred Stillman schrie.

Er sah, dass es sich um einen Unfallwagen handelte, total verbeult. Ein Wunder, dass das Auto überhaupt noch fuhr.

„Der ist tot!“, schrie Fred Stillman entsetzt und trat voll auf die Bremse.

Jetzt endlich konnte er es!

Gleichzeitig krachte es am Heck. Stillman wurde tief ins Polster gepresst und wieder nach vorn geschleudert. Der Gurt verhinderte, dass er mit dem Kopf in die Scheibe schlug.

Im Rückspiegel sah er die Bescherung: Jemand war aufgefahren, weil er so abrupt gebremst hatte.

Seine Nerven machten nicht mehr mit, Fred Stillman war am Ende. Er sprang aus dem Wagen und rannte nach hinten.

Ein paar Dörfler näherten sich. Sie lächelten. Schadenfroh?

Zitternd betrachtete Fred Stillman den Schaden: Der Kofferraum war total eingedellt. Bei dem teuren Wagen kostete das mindestens tausend Pfund.

„Das werdet ihr mir büßen!“, brüllte Fred Stillman. Nein, er wollte sich nicht unterkriegen lassen. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm passiert war und wie er überhaupt in dieses Dorf gekommen war. Aber als knallharter Geschäftsmann hatte er schon ganz andere Kämpfe gewonnen.

Er ballte die Hände zu Fäusten und marschierte zur Fahrerseite des Unfallwagens.

Hinter dem Steuer saß überhaupt niemand!

Stillman schnappte nach Luft. Sein erster Gedanke: Fahrerflucht!

Die Dörfler grinsten ihn an.

„Wem gehört dieser Wagen?“, verlangte Stillman zu wissen.

„Miss Norma!“, gab ein älterer Mann Auskunft. Er schlurfte müde näher und verdrehte die Augen. „Schlimm, was?“

Stillmans Mut schwand wieder.

Einer rief lachend: „Kann man sich doch denken, Norma hat noch nie fahren können!“

Ja, das klang schadenfroh. Die ganze Gesellschaft schien sich über den Unfall zu freuen.

Weg hier, schnell weg hier!, hämmerten Stillmans Gedanken, während die Dörfler immer näher rückten. Sie hatten ihn jetzt total eingekreist.

Fred Stillman schwitzte, aber er hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Kragen zu öffnen. Seine Beine gehorchten ihm auch nicht. Er blieb stehen, wo er war, und murmelte: „Wo – wo ist die Fahrerin?“ Er holte tief Luft. „Wo ist sie hin?“

Fahrerflucht!, redete er sich wieder ein.

„Wieso?“, fragte der Alte. „Sitzt doch hinter dem Steuer!“

„Hinter dem …“ Stillman kniff fest die Augen zusammen und riss sie wieder auf: Der Platz hinter dem Steuer war und blieb leer.

Er riss die Fahrertür auf.

Die wollten ihn hereinlegen. Redeten ihm etwas ein, was gar nicht sein konnte.

Jetzt waren sie ihm so nahe auf die Pelle gerückt, dass es kein Ausweichen mehr gab. Er wurde noch näher an den Wagen gedrängt.

„Entschuldigen Sie bitte vielmals“, sagte in dem Moment eine weibliche Stimme. „Ich bin wirklich zu ungeschickt. Sie haben gebremst, und ich habe nicht schnell genug reagiert. Da ist es halt geschehen.“

Was war das für ein Spiel? Stillman hörte die Stimme, sah aber nichts.

Atem war in seinem Gesicht, ganz deutlich.

Die Stimme aus dem Unsichtbaren: „Äh, Mister, könnte ich wohl aussteigen?“

Stillman prallte zurück. Unsichtbar schob sich jemand an ihm vorbei. Kleider raschelten.

„Das – das gibt es nicht!“, stammelte Stillman.

„Nur die Ruhe, Mister, ich werde selbstverständlich für den Schaden aufkommen, der Ihnen entstanden ist. Sie dürfen nur nichts der Polizei sagen. Die hat mich auf der Liste. Beim Geringsten ist der Führerschein weg. Sie sind doch so lieb und verpetzen mich nicht?“

Stillman konnte nichts mehr sagen. Er zitterte am ganzen Körper und schloss die Augen.

Ein Alptraum!, dachte er. Und er wünschte sich, daraus zu erwachen.

Aber es war kein Alptraum, sondern grausige Wirklichkeit. Er sah es, als er die Augen wieder öffnete.

„Die Werkstatt ist ganz in der Nähe“, mischte sich ein Mann in bäuerlicher Kleidung ein. „Sie müssen allerdings bis morgen früh warten.“

„Ich – ich muss dringend weiter!“, stammelte Fred Stillman. „Ich – ich habe mich nur verfahren und brauche nur zur Hauptstraße zurück, um …“

„Ach was!“ Aus dem Unsichtbaren hakte sich jemand unter. Stillman schaute in die leere Luft, aus der die Stimme erklang: „Ich stehe in Ihrer Schuld, Mr. Stillman. Sie sind in dieser Nacht mein Gast.“

„Sie – Sie kennen meinen Namen?“

„Jeder kennt ihn hier. Wir sind unter Freunden, nicht wahr?“ Das war für die Umstehenden bestimmt. Sie lachten hämisch.

„Ihr – Ihr Gast?“ Stillman wollte immer noch nicht aufgeben. Vielleicht hatte er eine Chance, wenn er zum Schein auf das Spiel einging?

„Ja, auf dem Friedhof. Dort feiern wir heute Nacht ein Fest. Haben Sie sich nicht gewundert, warum hier alles so festlich geschmückt ist?“

„Geschmückt?“ Stillman sah ein Dorf, wie es Dutzende in England gab, aber er sah nicht den geringsten Schmuck, genauso wenig jedenfalls wie diese Miss Norma. Er konnte nichts von alledem entdecken.

Und da kam ein Mann im Priestergewand.

Stillmans Herz blieb stehen. Dann schlug es voller Hoffnung weiter: Vielleicht die Rettung?

„Ja“, freute sich der Mann im Priestergewand, „heute ist doch die Gräbernacht.“

Ein echter Pfarrer!, dachte Stillman. Der wird mir gegen diesen Spuk helfen.

„Gräbernacht?“, echote Stillman.

„Ja. Früher haben wir das nicht so oft gefeiert. Aber inzwischen macht uns das soviel Spaß, dass wir gar nicht genug davon kriegen können. Und Sie sind dabei unser besonderer Gast, denn Sie sind der Gast von Miss Norma!“

Es klang geheimnisvoll, rätselhaft.

„Was – was ist das eigentlich für ein Fest?“, stotterte Fred Stillman. Seine Hoffnungen schwanden. Er glaubte nicht mehr daran, dass der Priester echt war. „Ich – ich meine: Was macht man dabei?“

„Na, wir graben unsere Toten aus!“, erklärte der Mann mit einem satanischen Grinsen.

Und Norma fügte hinzu: „Sie, Mr. Stillman, trifft dabei eine ganz besondere Ehre. Schließlich bin ich gegen Ihren Wagen gefahren und muss mich erkenntlich zeigen: Sie dürfen mich höchst persönlich ausgraben!“

2

Seit drei Tagen und drei Nächten war ich unterwegs. Genauer gesagt, seit der honorige Geschäftsmann Fred Stillman auf einer dringenden Geschäftsreise nach Schottland spurlos verschwand.

Es war nicht der erste Verschwundene!

Die polizeilichen Nachforschungen hatten ergeben, dass sich alle auf dem Weg nach Norden anscheinend in Luft aufgelöst hatten. Anders konnte man es nicht nennen.

Es war übrigens das einzige Ergebnis der polizeilichen Bemühungen.

Deshalb war ich eingeschaltet worden. Als Mitglied des Secret Service – des englischen Geheimdienstes – war ich sozusagen Agent für besondere Fälle. Ich hatte sogar meine eigene Spezialabteilung, nur verantwortlich dem höchsten Chef des Geheimdienstes Sir Horatio Matthewman.

Im Wesentlichen eine Einmannabteilung.

Und hier war ich unterwegs, weil ich einen besonderen Sinn für das Ungewöhnliche hatte. Ich nannte es die „Gabe“, obwohl es manchmal zu einer Art Fluch ausarten konnte. Vor allem dann, wenn sie mich in Situationen brachte, in denen ich mich mit den finstersten Geschöpfen der Hölle herumschlagen musste.

Ich spürte, dass ich auf der richtigen Fährte war und nur Geduld zu üben brauchte. Es war ein ungewisses, unbeschreibliches Gefühl, und doch wusste ich, dass darauf hundertprozentig Verlass war. Ich brauchte nur immer dieselbe Strecke zu fahren, auf der die Leute verschwunden waren. Selbst wenn das noch Wochen dauern sollte.

Ein Blick auf die Borduhr meines kleinen MG: Mitternacht.

Ein Kribbeln war in meinem Bauch. Mein Atem ging unwillkürlich schneller. Ich sah wieder nach vorn.

Verdammt, was war das? Irgendwie erschien die Umgebung verändert. Ich war nun schon so oft diese Strecke gefahren – nur unterbrochen von Schlafpausen am Tag –, dass ich mich gut auskannte. Jetzt war alles anders, auf eine unerklärliche Weise.

Angst beschlich mich. Die Gabe mahnte mich, sofort umzukehren. Und doch fuhr ich weiter.

Weiter vorn tauchte ein Dorf auf, das auf dieser Strecke überhaupt nichts verloren hatte.

Das Ortseingangsschild verriet den Namen: „HELL“.

„Hölle!“, murmelte ich vor mich hin. Ich war überzeugt davon, genau den Ort gefunden zu haben, wo all die anderen verschwunden waren.

Ein magischer Zwang brachte mich dazu, immer weiter zu fahren, in das Dorf hinein.

Meine Gabe machte mich nicht nur auf Gefahren aufmerksam, sondern ermöglichte es mir auch, mich bis zu einem gewissen Grad gegen Magie zur Wehr zu setzen. Ich steuerte den Wagen in einen schmalen Seitenweg und hielt an.

Sekundenlang blieb ich sitzen. Ich konzentrierte mich auf den stummen Befehl, der mich in das Dorf zwingen wollte.

Es gelang mir, ihn zu neutralisieren.

Ein Blick hinüber. Das Dorf war noch da. Aber ich wusste genau, dass es verschwinden würde, sobald ich ihm den Rücken kehrte.

Nachdenklich nagte ich an der Unterlippe.

Es war mir nicht möglich, jetzt zurückzufahren und Verstärkung anzufordern. Ich würde das Dorf sicherlich nie mehr finden.

„Es ist eine magische Falle, wie auch immer geartet. Ich muss das Geheimnis allein ergründen.“

Und wenn ich versuchte, per Funk Verstärkung anzufordern?

Ich hatte ein Handsprechgerät mit großer Reichweite bei mir. Die Techniker des Geheimdienstes hatten mir das mitgegeben – für alle Fälle.

Skeptisch betrachtete ich es. Ich schaltete es ein.

Keine Reaktion.

Ich überprüfte die Akkus. Nein, daran lag es nicht.

Es war, wie ich schon befürchtet hatte: Im Bereich des Dorfes funktionierte das Funkgerät nicht. Eine geheimnisvolle Macht verhinderte es. Dieselbe Macht, die für das plötzliche Erscheinen des Dorfes verantwortlich war?

Das Dorf namens Hölle!

Ich stieg aus und drückte die Tür ins Schloss.

Alles sträubte sich in mir zwar dagegen, aber ich hatte keine Wahl.

Natürlich betrat ich das Dorf nicht über die hellerleuchtete Hauptstraße, wie die unsichtbare Macht von mir verlangt hatte, sondern ging erst einmal außen herum.

Nichts geschah. Eigentlich wirkte das Dorf ganz normal, bis auf ein paar unbewohnte Häuser, die mehr aussahen wie Ruinen.

Ich näherte mich einem solchen Haus. Das blasse Mondlicht ließ mich einen rostigen Gartenzaun erkennen, der zum Teil eingestürzt war. Vorsichtig stieg ich über den Maschendraht, der unter meinen Füßen zu Roststaub zerkrümelte.

Sperrige Güter standen und lagen herum wie auf einem Müllplatz. Es stank gottserbärmlich.

Ich erreichte das Haus. Die Läden waren entweder geschlossen oder hingen windschief in den Angeln. Ein paar Fenster waren von innen zugenagelt.

Eine Ratte quietschte unter meinen Füßen. Sie suchte schnell das Weite, als ich nach ihr trat.

Ich konnte Ratten nicht ausstehen. Anscheinend waren sie die einzigen, die sich in der Nähe dieses Hauses wohl fühlten. Andere Tiere gab es keine.

Ich wollte in das Haus hinein, weil ich von innen besser die Straße beobachten konnte. Ich wollte wissen, was in diesem Dorf lief, das es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen.

Kurz rüttelte ich an der Tür.

Sie war abgeschlossen. Im nächsten Augenblick löste sie sich aus den Angeln und kam mir entgegen. Ich konnte sie gerade noch rechtzeitig abfangen und zu Boden gleiten lassen.

Im Haus war es stockfinster. Ich konnte nichts sehen.

Ich stieg über die Tür hinweg und betrat den dunklen Gang. In meinem Innern schrillte eine Art Alarm, aber ich hörte nicht darauf und tat noch einen Schritt weiter.

Tausende von schwarzen Käfern prasselten auf mich herab!

3

Das Vorgehen des Spezialagenten Mac Kieran vom britischen Secret Service war nicht unbeobachtet geblieben. Die Polizei fahndete noch immer nach den Verschwundenen, namentlich auch nach Fred Stillman, der ihnen offenbar ganz besonders am Herzen lag.

Sie waren nicht über die Tatsache informiert, dass der Geheimdienst eingeschaltet war. Es war nicht üblich, das den Polizisten mitzuteilen. Deshalb meldeten sie Mac Kieran als einen Verdächtigen: „Mit dem stimmt etwas nicht. Der fährt immer auf und ab. Wir haben ihn gestern schon gesehen!“

Beide Polizisten waren in Zivil: Ein Sergeant, der die Meldung über Funk gemacht hatte, und ein Inspektor, der ausnahmsweise hinter dem Steuer saß, weil es ihm als Beifahrer langweilig geworden war.

Die Funkleitstelle gab keine Antwort. Anhand des Kennzeichens wurde jetzt erst einmal der Name des Fahrzeughalters ermittelt. Dann würde man weitersehen.

In der Zwischenzeit wurde der kleine MG verfolgt. Wenn Mac Kieran es gewollt hätte, wäre er einfach schneller gefahren und hätte die beiden Polizisten abgehängt, aber der Geheimagent hatte zu diesem Zeitpunkt anderes im Kopf, als auf etwaige Verfolger zu achten.

„He!“, rief der Sergeant aus und deutete nach vorn.

Mit kaum verminderter Geschwindigkeit bog der Flitzer des Agenten in einen dunklen Seitenweg ab und tauchte zwischen den dicht stehenden Waldbäumen unter.

„So schnell hängst du uns nicht ab, Freund!“, schwor der Inspektor und riss das Steuer herum. Er folgte dem Flitzer, während der Sergeant per Funk meldete: „Jetzt versucht er, uns abzuhängen!“

Die Leitstelle gab zurück: „Name des Halters inzwischen festgestellt: Mac Kieran! Beruf: Regierungsbeamter!“

„Regierungsbeamter?“, wunderte sich der Inspektor. Aber er verfolgte weiter. Und er hatte auch eine Erklärung: „Sitzt wahrscheinlich gar nicht selber hinter dem Steuer. Vielleicht hat man ihm das Auto geklaut?“

Der Sergeant fragte per Funk.

„Nichts bekannt!“, gab die Leitstelle zurück. „Außerdem: Warum sollte der Dieb denn die ganze Zeit über diese Strecke auf und ab fahren? Damit er besonders auffällt?“

Und da fiel dem Inspektor noch eine Erklärung ein, die ihm prompt eine Gänsehaut bescherte: „Vielleicht ist dieser Mac Kieran einer der Verschwundenen, und die Kidnapper haben sein Auto …“

Er brach ab, denn die Konsequenz seines Gedankens war: Das Auto fuhr auf und ab, um die Polizei ebenfalls in die Falle zu locken.

Schon stand der Inspektor auf der Bremse. Aber da leuchteten auch die Bremslichter des MG auf. Er war nur zehn Yards vor ihnen, höchstens fünfzehn.

Der musste doch die Verfolger sehen, oder?

Der MG bog in einen weiteren Seitenweg ab, offensichtlich um dort zu parken.

Die Polizisten wussten nicht, was sie tun sollten. Sie saßen stocksteif in ihrem Auto und stierten in die Nacht.

Die Scheinwerfer des Dienstfahrzeugs stachen ins Leere. Da war nur Wald, der sich weiter vorn zu einer großen Lichtung verbreiterte. Dieser Seitenweg hier wurde nicht oft benutzt, denn teilweise hatte ihn Unkraut überwuchert.

Der Sergeant bewies bessere Nerven als sein Streifenführer. Er griff an dem Inspektor vorbei und löschte das Licht.

Es dauerte Sekunden, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

Jemand verließ den MG, nachdem auch dort das Licht gelöscht worden war.

Die runde Scheibe des Vollmondes hing über dem Wald. Ein wenig von seinem blassen Licht kam zu ihnen herunter. So sahen sie den Schatten des Mannes, der die Stelle verließ, wo der MG stand, sich kurz orientierte und sich dann in die Büsche schlug.

„Der tut gerade so, als wären wir Luft!“, murmelte der Sergeant.

„Vielleicht eine Aufforderung, ihm zu folgen?“, vermutete der Inspektor. „In die eigentliche Falle?“

Sie starrten in die Nacht.

Entschlossen drückte der Sergeant den Rufknopf des Funkgerätes, auch wenn dadurch die Kontrollleuchte glomm und sie in der Dunkelheit verriet.

„Leitstelle von Sondereinsatz, bitte kommen!“

Das Funkgerät blieb tot.

Der Sergeant löste die Rauschsperre.

Nicht einmal das vertraute Rauschen klang auf. Aber die Kontrolllampe brannte. Also war das Funkgerät in Ordnung. Irgend etwas verhinderte die Verbindung mit der Leitstelle.

Irgend etwas?

Die beiden bekamen eine dicke Gänsehaut. Die Hände des Inspektors schwitzten. Er umklammerte das Lenkrad wie einen Rettungsanker.

„Besser, wir verschwinden schleunigst von hier!“, schlug der Sergeant mit zittriger Stimme vor.

„Und was erzählen wir den anderen? Dass wir Angst gehabt haben?“, hielt ihm der Inspektor vor.

„Wenn‘s doch stimmt!“

Aber der Sergeant wusste genauso gut wie sein Schichtführer, dass es ein Unding war. Sie waren Polizisten und einer wichtigen Sache auf der Spur. Ob nun die Funkverbindung klappte oder nicht, das durfte sie nicht schrecken.

Und weil sie im Spezialeinsatz waren, hatten sie auch Waffen dabei.

Der Inspektor zog seine Pistole und stieg aus. Der Sergeant folgte nach kurzem Zögern.

Sie lauschten in die Nacht.

Nicht weit von ihnen entfernt bahnte sich der Unbekannte einen Weg durch den Wald. Er tat es so geschickt, dass man bald nichts mehr von ihm hörte.

Die beiden Beamten folgten ihm nicht direkt, sondern schritten rechts und links des vergammelten Weges entlang, aufmerksam die Umgebung beobachtend. Inzwischen hatten sich ihre Augen genügend an das dürftige Mondlicht gewöhnt. Ihnen entging nichts mehr.

Wind rauschte in den Bäumen, Laub raschelte zu ihren Füßen. Das war alles. Sonst war nichts zu hören.

Sie gingen weiter.

Und da tauchte praktisch aus dem Nichts eine Gestalt auf, mitten auf dem Weg, mehr ein dunkler Schatten, der sich wie zum Sprung duckte.

Der Sergeant verlor die Nerven und schoss.

Die Kugel ging einfach durch die Gestalt hindurch, wirkungslos. Oder hatte er nur vorbei gezielt?

„Inspektor!“, ächzte der Sergeant, aber den konnte er nicht mehr sehen. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Die Gestalt lachte heiser, richtete sich auf und schlurfte näher, müde wie ein alter Mann.

Der Sergeant zielte jetzt ganz genau.

„Halt, stehenbleiben!“

Die Gestalt kicherte schadenfroh. Ein verirrter Lichtstrahl erhellte kurz ihr Gesicht. Die Augen fehlten. An ihrer Stelle klafften zwei leere Löcher.

Die Gestalt warf den Kopf in den Nacken und lachte schaurig. Der Mund war ebenfalls nur ein rundes, schwarzes Loch.

Der Sergeant schrie voller Grauen und leerte sein ganzes Magazin.

Es nutzte ihm nichts. Die Gestalt trat auf ihn zu und nahm ihn in ihre eisigen Arme.

4

Ich brachte mich mit einem Satz in Sicherheit. Im Nu hatten mich die schwarzen Käfer bedeckt, krabbelten auf mir herum und suchten nach nackter Haut, um zuzubeißen.

Ich klopfte sie mit beiden Händen von mir ab und wich weiter von dem unheimlichen Haus zurück.

Sobald die Käfer von mir abfielen, flohen sie ins Haus.

Das war auch mein Glück. Hätten sie mich weiterhin angegriffen, hätte ich gegen ihre Übermacht keine Chance gehabt.

Ich schüttelte mich angewidert, ordnete meine Kleider und ging zur Hausecke. Dort war eine breite Ausfahrt. Wenn ich schon das Haus nicht betreten konnte, dann musste ich auf diese Weise versuchen, die Straße vor dem Haus zu beobachten.

Bevor ich die Ausfahrt betrat, warf ich noch einen letzten Blick zurück.

Es war im Mondlicht deutlich zu sehen, dass die Hintertür wieder zu war! Obwohl ich sie aus den Angeln gerissen und zu Boden gelassen hatte!

Ich schluckte schwer und ging rasch weiter.

Die Straße lag im hellen Licht. Ich blieb im Schatten der Ausfahrt und riskierte einen Blick.

Zwei Mädchen, modern gekleidet, fröhlich miteinander plaudernd. Sie kamen genau auf mich zu, über den Bürgersteig, und sie passten in diese unheimliche Umgebung wie die berühmte Faust auf das Auge.

Die beiden hatten Miniröcke an, wie sie kürzer gar nicht mehr hätten sein dürfen. Sonst wären sie keine Röcke mehr gewesen.

Ich war so überrascht, dass ich vergaß, mich sofort wieder zurückzuziehen. Deshalb entdeckten sie mich.

Die beiden lachten über meinen verdutzten Gesichtsausdruck.

Zwei wirklich entzückende Geschöpfe.

Sie erreichten mich, lachten mich an, in ihrer fröhlichen, ausgelassenen Art, und gingen weiter. Sofort steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten über mich. Das schien sehr lustig zu sein, denn sie lachten darüber noch lauter.

Verärgert richtete ich mich auf.

Ein Auto kam vorbei. Der Fahrer beachtete mich nicht. Er hatte nur Augen für die beiden Mädchen. Sie winkten ihm zu. Er winkte zurück.

Ich strich mir über die Stirn, weil ich nicht glauben wollte, was ich soeben erlebt hatte. Es passte absolut nicht ins Bild. Und deshalb steckte mich die ausgelassene Fröhlichkeit auch keineswegs an, sondern erzeugte im Gegenteil in mir ein Gefühl des Grauens.

Und auch meine Gabe sagte mir, dass ich mich in höchster Gefahr befand, auch wenn es im Augenblick nicht so erschien.

Noch ein Auto kam vorbei, gerade als ich die Deckung verließ. Aber der Fahrer achtete nicht auf mich. Mit starrer Miene fuhr er vorbei.

Mein Blick fiel auf das Kennzeichen: London!

Einer der Verschwundenen?

Meine Hand fuhr schon zum Notizblock in der Innentasche meines Jacketts, aber ich ließ sie stoppen.

Nein, ich würde der Richtung folgen, in die anscheinend alle gingen.

Die Mädchen hatten einigen Abstand zu mir gewonnen. Sie schienen sich jetzt zu beeilen.

Für Sekundenbruchteile spürte ich ein schmerzhaftes Tasten in meinem Schädel. Gleichzeitig ging ein eisiger Hauch durch die Straße.

Automatisch blockte ich das Tasten ab.

Es half. Es verschwand augenblicklich.

Erbleichend sah ich mich um. Viele Menschen strömten die Straße entlang. Sie kamen auf mich zu, fröhlich und ausgelassen wie die Minimädchen. Worüber freuten sie sich? Und spürten sie nicht auch den eisigen Hauch, der durch die Straße wehte?

Ich schüttelte den Alpdruck ab und knirschte mit den Zähnen. Dann schritt ich weiter.

Noch einmal war das Tasten da, aber nur als flüchtige Berührung. Als würde es nach etwas suchen, was es nicht fand. Ich schien das Gesuchte nicht zu sein. Oder schützte mich meine Gabe?

Jetzt war ich überzeugt davon, dass es sich um die unbekannte Macht handelte, die dieses Dorf hier beherrschte.

Hatte sie gar das Dorf erst geschaffen?

Weiter vorn befand sich eine Sargschreinerei. Die vielen Menschen in meinem Rücken machten mich nervös. Es würde besser sein, sie an mir vorübergehen zu lassen.

Deshalb blieb ich bei der Sargschreinerei stehen.

Man fertigte auch Kleinmöbel an, die ich im winzigen Schaufenster bewundern konnte. Der Sarg, der mit geöffnetem Deckel danebenstand, wirkte in Bezug auf die Möbel deplatziert.

Der Hintergrund des Ladens befand sich im Dunkeln. Ich konnte nichts sehen, auch nicht, ob mich jemand von dort beobachtete.

Ein unangenehmes Gefühl. Ich ging zur schmalen Einfahrt und trat ein.

Jetzt war es besser. Jetzt konnten auch die ganzen Menschen an mir vorbei.

Sie kamen, lärmend, lachend … Immer wieder fiel ein bestimmtes Wort: „Gräberfest!“

Was bedeutete es?

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Die Leuchtziffern der Rolex waren deutlich zu sehen.

„Erst eine Minute nach zwölf!“, murmelte ich vor mich hin. „Das ist doch nicht möglich!“

Ich lauschte an der Uhr.

Sie tickte ganz normal. Und doch schien etwas die Zeiger anzuhalten.

Ich ließ den Arm sinken. Die Menschen waren vorbei. Ich wagte einen Blick. Weiter unten kamen noch vereinzelt Nachzügler. Auch noch ein Auto.

In der Einfahrt stand ebenfalls ein Wagen: ein Leichentransporter, schwarz wie die Nacht, mit feierlichen Symbolen versehen. Im sauber geputzten Chrom spiegelte sich das Straßenlicht.

Ich lauschte.

Hinter dem Haus wurde anscheinend fleißig gearbeitet. Um diese Zeit noch?

Ich ging tiefer in die Einfahrt hinein. Hinter dem Haus war Licht.

Ein kleiner Hof, trübe beleuchtet. Ein paar Gerätschaften lagen wahllos herum, als würden sie nicht mehr gebraucht werden.

Die Werkstatt befand sich anschließend. Die Tür stand einen Spalt offen. Von drinnen kamen die Geräusche und die Stimmen. Es wurde gehämmert, gesägt und gehobelt.

Sprachfetzen wurden deutlicher, als ich näher kam: „… heute Nacht … Gräberfest …“ Schon wieder dieses Wort! „… für die neuen Toten … Seelenschmaus …“

Eine Maschine wurde eingeschaltet, und jetzt war überhaupt nichts mehr zu verstehen, obwohl man lauter redete.

Ich ging von der Tür weg und neben das Werkstattgebäude. Dort befanden sich drei von innen total zugestaubte Fenster.

Ich drückte gegen einen Fensterflügel, ganz vorsichtig, und hatte Glück. Er öffnete sich leicht.

Ich spähte durch den entstanden Spalt in das Innere der Werkstatt.

Die drei Schreinergesellen, die sich über „Kunden“ unterhielten, die sicherlich erst in dieser Nacht anfielen, beim Gräberfest nämlich, wo es wieder willkommene Gäste gab … Die drei Burschen wirkten eigentlich ganz normal, wie sie so arbeiteten und sich lauthals unterhielten.

Im Hintergrund sah ich eine Frau. Sie wandte mir den Rücken zu. War gerade dabei, einen offenen Sarg auszukleiden. Dabei ging sie sehr geschickt vor.

Jetzt wandte sie sich um, so dass ich ihr Gesicht sehen konnte.

Es fehlte die Hälfte!

5

Plötzlich sah sich der Inspektor auf dem nächtlichen Waldweg allein – von einem Augenblick zum anderen.

Erschrocken blieb er stehen. Er wandte den Kopf.

Sogar ihr Dienstfahrzeug konnte er nicht mehr sehen. Dafür lag ein gespenstisches Leuchten in der Luft, das alles gut beschien.

Er blickte wieder geradeaus.

Ein Dorf! Er wollte es nicht glauben und doch war es so.

Die Waffe krampfhaft in der rechten Faust, tappte er auf das Dorf zu. Als hätte ihn eine unsichtbare Macht in eine andere Welt versetzt. Er erreichte das Ortseingangsschild. Es glühte. Oder war es nur der Widerschein des gespenstischen Leuchtens?

„HELL“ stand in großen Buchstaben darauf.

Ein Dorf mit Namen Hölle?

Der Inspektor schluckte schwer. Er blieb mit schlotternden Gliedern stehen.

Die Angst hockte in ihm wie ein Dämon. Er kam einfach nicht dagegen an. Kein Wunder!

Er ging weiter, an dem Ortseingangsschild vorbei, in das Dorf hinein, geradewegs über die Hauptstraße.

„Willkommen!“, krächzte jemand.

Er fuhr herum.

Da stand ein Mann in Zivil. Er hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Sergeanten.

Er grinste. „Sie sind überrascht, Inspektor?“

„Wer – wer …“, stammelte der Inspektor.

„Ich bin der Bruder Ihres Sergeanten. Hat er Ihnen nicht von mir erzählt? Wir stammen beide aus diesem Dorf.“ Er lachte auf. „Logisch, wenn wir Brüder sind, nicht wahr?“

„Brüder?“, murmelte der Inspektor ungläubig. Misstrauen erwachte in ihm.

Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen, zugegeben, aber trotzdem … Die Umgebung war unwirklich, geheimnisvoll, beängstigend …

Der Inspektor schaute sich rasch um.

Jetzt wirkte das Licht nicht mehr gespenstisch, sondern ganz normal: Straßenlaternen!

„Sie sind spät dran, Inspektor, sehr spät!“

„Wieso?“, entfuhr es ihm.

Der Mann deutete die Straße entlang. „Wir warten alle schon auf Sie.“

„Auf mich? Wer denn?“

„Na, alle! Wir fangen mit dem Gräberfest nicht eher an, bis Sie da sind.“

Der Inspektor wollte sich erinnern, wieso er hier war, wieso er überhaupt eine Waffe in der Faust hielt. Es klappte nicht. Aber die Waffe blieb. Er hielt sie ganz fest, den Finger stets am Abzug. Ein Rest von Misstrauen war noch in ihm wach.

Hier stimmt was nicht!, hämmerten seine Gedanken. Auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, was überhaupt passiert war.

Der Mann setzte sich in Bewegung.

„Sie trauen mir nicht?“ Er lächelte entwaffnend. „Also gut, ich gehe voraus. Mein Bruder wartet ebenfalls.“

„Auf was?“

„Na, das sagte ich doch schon, Inspektor. Was ist bloß los mit Ihnen? Was ist mit Ihrem Gedächtnis? Sie haben doch sonst so einen scharfen Verstand, nicht wahr?“

Ihn schwindelte. Er fuhr sich kurz über die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er die Straße hinunter eine Frau. Sie stand da mit hängenden Armen und schaute herüber. Irgendwie wirkte sie verloren.

Die ist ja splitternackt!, dachte der Inspektor und blinzelte.

Nein!, berichtigte er sich sogleich, die hat nur ein enges Trikot an. Wie beim Ballett.

„Norma“, sagte der Mann, der so gut dem Sergeanten glich. „Oh, sie hat gut und gern getanzt, unsere Norma. Vielleicht wäre sie eines Tages eine große Ballerina geworden?“

„Was – was ist mit ihr?“, fragte der Inspektor brüchig, immer noch die Waffe im Anschlag.

„Sie ist tot. Damit ist es aus mit der Karriere.“

„Tot?“, rief der Inspektor ungläubig, denn diese Norma begann, ihnen zuzuwinken. Jetzt drehte sie sich ab und ging voraus.

„Kommen Sie endlich, Inspektor. Oder wollen Sie die anderen noch länger warten lassen?“

„Was für ein Gräberfest?“, fragte der Inspektor stur und blieb stehen.

„Norma zu Ehren!“, erklärte der Mann und grinste schief. „Uns allen dabei zur Freude.“

Der Inspektor ahnte, dass die Freude nicht auf seiner Seite sein würde.

„Ich gehe jetzt wieder!“, sagte er fest.

„Sie wollen uns einen Korb geben?“, fragte der Fremde ungläubig.

Jetzt war der Inspektor überzeugt davon, seinen Sergeanten persönlich vor sich zu haben. Was war mit dem Kerl los? Wieso benahm er sich so komisch?

Eine Falle!, schoss es ihm durch den Kopf.

Er warf einen gehetzten Blick in die Runde.

Schon kamen sie auf ihn zu: Mehrere Männer und Frauen. Sie lächelten zwar freundlich, aber dabei streckten sie die Arme vor, als wollten sie ihn in Stücke reißen.

„Ich – ich muss funken“, stammelte der Inspektor. „Ich – ich muss Alarm schlagen, muss allen Bescheid sagen …“

„Das tun wir schon für Sie“, sagte der Sergeant beruhigend.

„Sie lügen!“

„Nicht doch, Inspektor.“

„Was habt ihr mit mir vor?“

„Sie sind unser Gast, genauso wie die anderen.“

Wie die Verschwundenen!, dachte der Inspektor. Und auf einmal konnte er sich erinnern.

Und er schoss!

Die erste Kugel traf den Sergeanten genau in die Brust. Der Inspektor sah das kleine Loch.

Der Sergeant stöhnte laut und griff sich an die Wunde. Er sank in die Knie.

Ein Schatten senkte sich über die Szene, als der Inspektor zum zweiten Mal abdrückte.

Als hätte jemand die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet.

Der Inspektor hob den Kopf, hielt nach den anderen Menschen Ausschau.

Da war niemand mehr. Er stand mit dem Sergeant auf der Lichtung.

„Inspektor“, murmelte der Sergeant und schaute ungläubig auf das Blut in seiner Hand. „Warum – warum haben Sie denn das getan?“

„Nein!“, brüllte der Inspektor entsetzt.

Der Sergeant fiel vornüber, auf das Gesicht. Der Inspektor drehte ihn herum und starrte in die toten Augen.

„Nein!“, brüllte der Inspektor erneut.

Da griffen die eisigen, unerbittlichen Hände des Todes aus dem Unsichtbaren auch nach ihm.

6

Ich hörte Schüsse, während ich in das grauenvolle Gesicht schaute. Als wäre irgendwo im Dorf eine wilde Schießerei im Gang. Oder waren das nur Fehlzündungen?

Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden.

Ja, es fehlte die Hälfte des Gesichtes. Als wäre die Frau in die Kreissäge gefallen, die einen Schritt von ihr entfernt sirrte.

Gerade setzte der Geselle dort ein Brett an. Das Sägeblatt fraß sich gierig hinein.

Das halbe Gesicht der Frau war blutleer. Doch die Frau tat so, als würde sie das in keiner Weise behindern.

Sie nahm sich frischen Stoff und Polstermasse und setzte ihre kunstvolle Arbeit wieder fort.

Zwar war sie mit ihren Händen äußerst geschickt, aber nicht so sehr mit ihren Füßen. Außerdem war sie unordentlich und ließ den Abfall einfach auf den Boden fallen.

So kam es, dass sie stolperte, als sie sich von ihrem Arbeitsplatz wegbewegte.

„Pass doch auf!“, herrschte sie der Geselle an der Kreissäge an. „Willst wohl wieder mit dem Gesicht in die Säge fallen, wie?“

Da hatte ich meine Bestätigung.

Es war grauenvoll.

Die ist tot!, dachte ich bestürzt. Ja, anders konnte es nicht sein. Kein Mensch konnte eine so schreckliche Verletzung überleben.

Und die Gesellen?

Endlich konnte ich den Blick von ihr lösen.

Die Burschen wirkten völlig normal. Jetzt ein wenig mürrisch. Aber das konnte auch daher rühren, dass sie mitten in der Nacht noch schwer arbeiten mussten.

Ich zog mich würgend zurück.

Das Gesicht ging mir einfach nicht aus dem Sinn. Ich hatte schon viel erlebt und gesehen, hatte eigentlich gedacht, abgebrüht zu sein. Und jetzt war mir speiübel.

Ich taumelte davon, vorn an der Tür vorbei, die einen Spaltbreit offenstand.

Die Frau ist tot! Das ging mir nicht mehr aus dem Schädel, genauso wenig wie der grausige Anblick.

Ich lief weiter, an dem Leichenwagen vorbei.

Kurz zögerte ich.

Ein Blick in den Wagen hinein.

Durch die Scheibe sah ich einen Sarg. Er war so gestellt, dass daneben noch für einen weiteren Sarg Platz blieb.

Insgesamt gingen also zwei normale Särge nebeneinander hinein. Einen hatten die in der Werkstatt schon fertig und in den Wagen gestellt. Der zweite würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Mit hämmerndem Herzen öffnete ich die hintere Tür und griff nach dem Sarg.

Ich schöpfte erst mal tief Luft. Dann hob ich den Deckel an.

Er war nicht festgeschraubt. Es ging einwandfrei. Ich überwand mich und warf einen Blick in den Sarg.

Noch war er leer!

Ja, noch!, dachte ich bestürzt, schloss Sarg und Wagen wieder und trat auf die Straße hinaus.

Der Betrieb hatte abgenommen. Es gab nur noch vereinzelt Menschen, die die Straße entlanghasteten, einem mir unbekannten Ziel entgegen.

Ich folgte ihnen mit kurzem Abstand.

Die Menschen begrüßten sich gutgelaunt. Sie lachten und scherzten miteinander. Auf mich achtete dabei überhaupt niemand.

Da spürte ich wieder das eigenartige Tasten in meinem Kopf. Wie von einem Blinden, der sich orientieren wollte. Ich blockte sofort mit meiner Gabe ab. Das war, als würde ich dem Tasten ausweichen.

Selbst die Menschen, die mir ganz nahe kamen, taten so, als wäre ich nicht vorhanden.

Seltsam. Ich musste ihnen ausweichen, sonst rempelten sie mich über den Haufen, weil sie mich nicht sahen. Ihre Blicke gingen einfach durch mich hindurch.

Ich gelangte zum Dorfplatz. Und dort traf ich jemanden, den ich kannte.

Nicht, dass ich ihm schon mal persönlich begegnet wäre: Ich hatte ihn in der Vermisstenkartei gesehen.

Es handelte sich um niemand anderen als um den zuletzt Verschwundenen: Fred Stillman!

Unwillkürlich eilte ich auf ihn zu.

Aber auch sein Blick ging durch mich hindurch. Er redete zu jemandem, obwohl ich niemanden bei ihm sah. Anscheinend eine angenehme Plauderei, aber ich hörte nur seine eigene Stimme, sonst keine.

Als wäre Fred Stillman wahnsinnig geworden.

So wahnsinnig wie das ganze Dorf?

Ich hielt mich vorsorglich zurück und zückte meinen Notizblock. Der Dorfplatz war vollgestellt mit Fahrzeugen. Ihre Kennzeichen interessierten mich.

Tatsächlich, hier hatte ich sie fast alle: Die verschwundenen Autos! Der Vergleich mit den notierten Kennzeichen in meinem Notizblock brachte den Beweis.

Ich steckte den Block wieder weg.

Auch viele der Verschwundenen waren da. Ich sah sie zwischen den anderen Menschen, die über den Dorfplatz strömten, in eine bestimmte Richtung.

Wo lag ihr gemeinsames Ziel?

Ich konnte mir die Frage selbst beantworten: Ein Fest wird vorbereitet und durchgeführt. Alle nehmen teil.

Das sogenannte Gräberfest, und es hatte etwas mit Toten zu tun. Soviel wusste ich bereits.

Ich hielt nach Kindern Ausschau.

Keine. Wenigstens nicht hier auf der Straße. Waren sie vom Gräberfest ausgeschlossen? Gab es hier überhaupt – Kinder?

Ich spürte eine Gänsehaut. Es folgte das seltsame Kribbeln der Bauchdecke. Irgendwie hatte ich den Drang, das nächstbeste Haus zu betreten.

Ich wusste auf einmal, dass mich das der Lösung des Rätsels ein Stückchen näherbringen würde.

Ich öffnete die Haustür. Das Innere lag in totaler Finsternis. Ich konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Das Licht, das von draußen hereinfiel, genügte gerade, um zwei Schritte weit etwas zu erkennen: gekachelter Boden, gekachelte Wände. Links führte eine Treppe in den ersten Stock. Ich sah die untersten beiden Stufen.

Verdammt, was ging in diesem Dorf vor?

Ich hatte eine unbestimmbare Angst. Sie hockte in meinem Innern wie eine lauernde Bestie, die jederzeit zuschnappen konnte.

Es war die Angst vor etwas, was ich nicht kannte. Es war die Angst vorm Bösen, das dieses Dorf beherrschte. Und vor seiner Macht.

Dabei musste ich immer wieder an das unangenehme Tasten denken, das ich in meinem Kopf verspürt hatte. Ich suchte nach einem Lichtschalter. Ergebnislos. Als gab es gar keinen. Mit vorgestreckten Armen und viel Mut ging ich in die Finsternis hinein. Ich hatte einmal bereits schlechte Erfahrungen gemacht, als ich einfach ein Haus betreten hatte. Die Sache mit den Käfern steckte mir noch in den Knochen.

Knarrend schwang die Tür hinter mir ins Schloss, wie von Geisterhand bewegt. Sie schlug dumpf zu.

Ich stand in der absoluten Finsternis. Kein Geräusch drang an mein Ohr, außer meinem eigenen Atem. Meine Hände tasteten umher. Als wäre das Innere des Hauses nur mit Leere angefüllt, mit sonst nichts. Meine Hände stießen gegen keinen Widerstand.

Dennoch machte ich noch einen Schritt voran.

Etwas stieß gegen mein Gesicht, das von oben herabbaumelte.

Ich begriff es mit beiden Händen, befühlte, was es war: Die Füße eines Menschen!

7

Alle Rufe der Funkleitstelle waren erfolglos geblieben. Der zuständige Konstabler wartete nicht mehr lange: Er gab Alarm.

In England hatte die Polizei von jeher einen Sonderstatus. Es war das einzige Land, wo die uniformierten Polizisten unbewaffnet herumliefen. In anderen Ländern wäre das gar nicht denkbar gewesen. Waffen wurden nur auf Sondereinsätzen ausgeteilt.

Wie zum Beispiel jetzt.

Vor allem, weil etwas gegen Polizisten vorgefallen war. Das war offensichtlich. Denn sonst hätten sich die beiden gewiss wieder gemeldet.

Parallel zur Alarmaktion, zu der auch die Bereitschaftspolizei hinzugezogen wurde, überprüfte man noch einmal die Person Mac Kieran. Denn das einzig Konkrete, das die beiden Beamten vor ihrem Verschwinden gemeldet hatten, das war das Kennzeichen seines Wagens.

Seltsam, man kam mit den Ermittlungen nicht weit. Als wären die Informationen über die Person Mac Kieran blockiert.

Für ein paar Übereifrige bei der Kripo ein eindeutiger Beweis dafür, dass Mac Kieran etwas mit den Verschwundenen zu tun hatte. Einer versteifte sich in die Ansicht: „Dieser Mac Kieran, sicherlich ein falscher Name, denn bei der Regierung ist er nicht bekannt, also stimmt die Berufsbezeichnung ebenfalls nicht … Also, dieser Mac Kieran ist eine Art Lockvogel. Er lockt die Opfer in die Falle. Und zufällig sind unsere beiden Polizisten darauf gestoßen. Er hat bemerkt, dass man ihn verfolgte. Deshalb hat er die beiden ebenfalls in die Falle gelockt.“

„Und warum die anderen?“, hielt man ihm entgegen. „Es waren stets Einzelreisende, die verschwanden. Ausnahmslos. Stillman war der reichste unter ihnen. Aber es gibt keine Lösegeldforderungen, nichts. Das Ganze ist ohne Motiv, mein Lieber. Das ist es, was mich stört.“

Auch beim Geheimdienst hörte man natürlich von der Sache. Es drang vor bis zu Sir Horatio Matthewman.

Er wusste dadurch, sein Spezialagent war in höchster Gefahr, denn von ihm fehlte genauso jede Spur wie von den beiden Polizisten.

Er überlegte, ob er weitere Agenten auf den Fall ansetzen sollte.

Nachdenklich strich er über seinen sorgfältig gepflegten Schnurrbart.

Mit einer entschlossenen Bewegung rückte er die Brille zurecht. Er hatte sich entschieden, sich erst einmal aus dem Fall herauszuhalten. Denn auf seinen Mac Kieran war Verlass. Das wusste er. Es war nicht sein erster ungewöhnlicher Fall. Außerdem waren in dieser Nacht schon viele Leute unterwegs. Vor allem Polizisten. Zusätzlich noch Geheimagenten? Nein, das würde eher die Verwirrung vergrößern, aber für Mac Kieran keinerlei Vorteil bringen.

Sir Horatio Matthewman lehnte sich zurück. Aber er konnte sich nicht entspannen.

Er blieb auch in seinem Büro. Diese Nacht machte er sozusagen freiwillig Nachtschicht, denn er sorgte sich sehr um den Spezialagenten Mac Kieran.

Sir Horatio Matthewman war ein erfahrener Mann. Er wusste, wann die Gefahr für seine Leute am größten war.

Und er dachte an die Polizei, die im Moment eine Großaktion startete. Überall schwärmten Streifenwagen aus. Sie fuhren die Hauptstraße nach Norden hinauf.

Ein paar fanden die Stelle, wo der kleine MG abgebogen war. Hier waren auch der Inspektor und sein Sergeant abgebogen. Die Beschreibung passte hundertprozentig.

Die mit Waffen ausgerüsteten Beamten gingen sehr vorsichtig zu Werk. Sie fuhren von der Hauptstraße ab. Erst einmal ein Mannschaftswagen. Seine Scheinwerfer stachen in die Nacht.

Da, ein Auto!

Es war eindeutig der verlassene Streifenwagen der beiden verschwundenen Polizisten. Beide Türen standen offen. Als wären die beiden Männer eben erst ausgestiegen.

Die anderen Wagen, vollbesetzt mit nervösen Polizisten, folgten. Sie schwärmten aus, durchkämmten das Gelände.

Auf Anhieb fanden sie den MG. Er war ebenfalls verlassen. Auf dem Fahrersitz lag ein Funkgerät, eingeschaltet. Einer der Beamten betätigte die Sprechtaste.

Nichts geschah. Das Gerät schien defekt zu sein.

Bald fanden sie heraus, dass auch das Funkgerät im Streifenwagen nicht funktionierte.

Von den Verschwundenen fehlte jegliche Spur. Und jeder der Polizisten spürte die Angst in seinem Innern hämmern.

Keiner von ihnen hätte es jemals zugegeben. Deshalb blieb es beim Bericht auch unerwähnt.

Dort hieß es lediglich, dass sich die Verschwundenen anscheinend in Luft aufgelöst hatten.

Keiner mochte mehr daran glauben, dass der Regierungsbeamte Mac Kieran mit der Sache zu tun hatte. Man nahm vielmehr an, dass er genauso Opfer geworden war wie die anderen Verschwunden auch.

Die Polizisten behaupteten, alles sorgfältig durchsucht zu haben. Aber ganz stimmte es nicht. Denn sie waren froh, als sie der Sache den Rücken kehren konnten.

Sogar die beiden Fahrzeuge wollten sie stehenlassen.

Der Einsatzleiter kam darauf, dass das nicht ging. Er sorgte dafür, dass wenigstens zwei seiner Polizisten das Dienstfahrzeug übernahmen.

Einer sagte zum anderen: „Ein Geisterfahrzeug!“

„Bist du verrückt?“, herrschte ihn der andere an. „Mich so zu erschrecken!“

Aber er spürte es selber: Hier lauerte etwas. Es war besser, schleunigst zu verschwinden.

Das Abrücken der Polizei kam einer Flucht gleich.

Sir Horatio Matthewman erfuhr davon.

Es befreite ihn keineswegs von seinen Sorgen, dass man den MG gefunden hatte.

Der große Mann vom britischen Geheimdienst, der normalerweise überhaupt keine Zeit hatte, sich um das Schicksal eines einzelnen Agenten im Einsatz zu kümmern, murmelte vor sich hin: „Viel Glück, Mac Kieran!“

Es hörte niemand – leider!

8

Ein Erhängter!

Licht flammte auf und stach mir schmerzhaft in die weit aufgerissenen Augen.

Ich schreckte zurück und kniff fest die Augen zu.

Tausend Sterne tanzten vor mir einen Höllenreigen. Ich war total geblendet.

Als ich die Augen wieder aufriss, sah ich nur den Schatten des Erhängten. Er schwang leicht hin und her. Das Seil knarrte.

Ein weiterer Schatten näherte sich. Eine Frau, denn ihre Kleider raschelten.

Sie trug etwas in beiden Händen.

Eine Waffe, um nach mir zu schlagen?

Ich wich noch einen Schritt zurück, blinzelte ein paarmal.

Endlich gewöhnten sich meine Augen an die ungewohnte Helligkeit. Die Frau hatte einen Stuhl in beiden Händen. Sie stellte ihn zu den Füßen des Erhängten nieder und kletterte ungeschickt darauf. Dann griff sie in ihren Mantel und zog ein scharfes, langes Küchenmesser.

„Das haben wir gleich“, murmelte sie mit kratziger Stimme, wie eine Gießkanne. „Nur Geduld. Ich schneide dich ab.“

Das Gesicht des Gehenkten war verzerrt. Die Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Die Zunge hing heraus. Ein grauenvoller Anblick. Dabei schienen mich die toten Augen die ganze Zeit schon zu beobachten.

Die Frau drehte den Gehenkten so, dass sie mit dem Messer gut an den Strick herankam.

Der Strick war an einem Haken befestigt. Früher musste an diesem Haken eine schwere Lampe gehangen haben. Jetzt gab es eine Neonröhre daneben.

War der Mann ein Selbstmörder? Wie hatte er es gemacht? Ebenfalls mit dem Stuhl? Wie lange war er schon tot?

Die Frau schien mich gar nicht zu bemerken, obwohl ich nur zwei Schritte entfernt stand. Sie tat ganz so, als wäre sie mit dem Toten allein.

Sie säbelte an dem Strick herum.

„Herrje, ist das Zeug zäh. Hättest auch einen anderen Strick nehmen können. Ich habe einfach nicht mehr so die Kraft. Warum machst du mir solche Umstände?“

Ja, die Frau wirkte irgendwie krank, näher betrachtet. Ihr Blick war leer, ihre Gesichtszüge streng, das Gesicht bleich und eingefallen.

Endlich hatte sie es geschafft. Der Strick barst, die Leiche fiel herab, gegen den Stuhl und gegen die Beine der Frau.

Der Stuhl kippte um.

Ich wollte hinzu springen, um die Frau aufzufangen, aber ich war zu langsam. Die Frau fiel ebenfalls zu Boden.

Eigentlich hätte sie sich bei diesem Sturz mindestens einen Arm brechen müssen, aber sie stand sofort wieder auf und widmete sich dem Toten. Erst einmal nahm sie den Strick von seinem Hals.

„Na, komm schon, steh auf! Oder soll ich dich vielleicht zum Friedhof tragen? Mich trägt auch keiner, und ich bin schließlich genauso tot wie du!“

Ich schluckte unwillkürlich.

Was war das gewesen? War denn die Frau nicht mehr bei Verstand? Ja, so benahm sie sich. Anscheinend machte es ihr überhaupt nichts aus, dass ihr Mann sich erhängt hatte.

„Los, los!“, schimpfte sie wieder mit ihm und rüttelte an der Schulter des Toten.

Er grunzte laut vernehmlich und bewegte ein wenig den Kopf: Es krachte laut in seinem Genick. Deshalb stoppte er die Bewegung.

„Endlich!“, rief die Frau aus und lachte erfreut.

Sie trat zurück.

Der Tote bewegte sich ungelenk. Er stand auf.

„Sind wir schon spät?“, grollte er.

Die Frau krächzte: „Gewiss! Wie immer. Du musst ja immer der letzte sein. So warst du als Lebender und so bist du als Toter!“

Sie hängte sich bei ihm ein. Die beiden gingen genau auf mich zu.

Das personifizierte Grauen.

Ich drückte mich fest an die Gangwand.

Kurz war mir, als würden sie mich erstaunt mustern, aber sie zeigten kein Erkennen und verließen das Haus. Das Licht blieb brennen.

Draußen unterhielten sie sich lautstark miteinander. Ihre Laune wurde von Sekunde zu Sekunde besser.

Ich fühlte mich wie betäubt. Sollte ich ihnen folgen?

Ich beschloss etwas anderes: Ich stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock. Meine Knie waren butterweich.

Ich hatte schon viel erlebt, aber das hier …

Auch oben brannte das Licht. Die tote Frau hatte offenbar den Zentralschalter betätigt – für das ganze Treppenhaus.

Die Wände waren fleckig. Sie hätten einen neuen Anstrich gebraucht. Auf dem Gang stand ein Spielzeugauto. Ein Rad fehlte. Der Kipper bestand aus zwei noch lose zusammenhängenden Teilen. Am Ende des Ganges lagen ein Haufen Papierschnipsel und eine bunte Kollektion von Malstiften.

Das deutete einwandfrei auf Kinder hin.

Ich öffnete die erste Tür, leise, um niemanden zu wecken. Falls überhaupt jemand da war.

Hoffentlich Lebende!, dachte ich zerknirscht.

Zwei Leichen hatten auf eigenen Beinen das Haus verlassen. Ich war Zeuge davon geworden, wie die Frau ihren erhängten Mann abgeschnitten hatte, wie er zu einem unnatürlichen Leben erwacht war.

Hier musste ich mit allem rechnen!

Es fiel zu wenig Licht in den Raum dahinter, um genug erkennen zu können. Ich suchte den Lichtschalter.

Diesmal fand ich ihn auf Anhieb. Ich ließ das Licht aufflammen.

Das hätte ich besser nicht getan!

Die beiden Kinder lebten nicht mehr: grausam im Schlaf ermordet!

9

Zwei ermordete Kinder, ja, und die ebenfalls toten Eltern waren auf dem Weg zum Friedhof, um das Gräberfest zu feiern. Noch makaberer war es kaum denkbar.

Wer hatte dies hier getan? Es war ein so gräulicher Anblick, dass es mir den Magen hob.

Der Vater selbst, ehe er sich erhängte? War die Frau als erste gestorben? Hatte der Mann keinen anderen Ausweg mehr gewusst?

Meine Gedanken jagten, dass es mir schwindelte.

Und da schlug eines der Kinder die Augen auf. Tote Augen! Es lächelte mich an. Aber das war eher eine starre Horrormaske.

Ich konnte es nicht mehr ertragen und schlug die Tür zu.

Sekundenlang stand ich im Treppenhaus. Ich hatte Mühe, meine Gedanken zu ordnen. Ich hatte keine Angst vor den beiden, aber ich befürchtete, sie noch einmal sehen zu müssen. Vielleicht standen sie auf und kamen heraus?

Der Schlüssel steckte von außen. Ich drehte ihn zweimal im Schloss, um ganz sicher zu gehen.

Drinnen tat sich nichts mehr.

Doch, jetzt knackte der Lichtschalter! Drinnen wurde es wieder dunkel. Kein weiteres Geräusch.

Mit hämmerndem Herzen ging ich zur nächsten Tür und riss sie auf. Das kostete mich viel Überwindung.

Es war nur die Besenkammer.

Noch eine Tür: Das Elternschlafzimmer. Die Betten waren zerwühlt. Medikamente überfüllten den einen Nachttisch so, dass sie teilweise auf den Boden gefallen waren.

Eindeutig die Lagerstätte einer Todkranken.

Also lag ich mit meiner Theorie über die Vorgänge in diesem Haus richtig?

Ein Einzelfall in diesem wahrhaft höllischen Dorf?

Ich hatte hier nichts mehr verloren. Deshalb stieg ich die Treppe hinunter und verließ das Haus.

Auf dem Dorfplatz war es ruhig geworden. Es fehlten auch ein paar Autos, als hätten nicht alle den Weg zum Friedhof zu Fuß gemacht.

Ich würde jetzt ebenfalls zum Friedhof gehen.

Als ich den Dorfplatz überquerte, hörte ich Schritte hinter mir. Ich schaute zurück – niemand zu sehen.

Ich ging weiter, aber da waren die Schritte wieder. Ein Unsichtbarer!

Ich ging schneller. Doch das nutzte mir nichts. Einmal war mir, als würde ich eisigen Atem in meinem Nacken spüren.

Doch ich erreichte unbehelligt den im blassen Mondschein liegenden Friedhof.

Dort fand genau das Gegenteil von einer ordentlichen Beerdigung statt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bei einer ordentlichen Beerdigung verharrte die Gemeinde in stummer Trauer. Es werden sogar Tränen vergossen. Der verehrte Leichnam wird in die Erde hinabgelassen.

Hier war es umgekehrt. Alles lief haargenau anders: Eine laute, fröhliche, ausgelassene Menschenherde ersetzte die Trauergemeinde. Außerdem wurde der verehrte Leichnam nicht etwa begraben, sondern im Gegenteil ausgebuddelt!

Ich sah es mit eigenen Augen. Die Totengräber schaufelten, bis der Sarg freigelegt war. Ein alter Sarg. Sie mussten vorsichtig sein, damit das verfaulte Holz nicht brach und Erde in das Innere gelangte.

Mit vereinten Kräften hoben sie den Sarg mitsamt Inhalt herauf. Viele hilfreiche Hände machten die Arbeit leicht. Sie stellten den Sarg neben das geöffnete Grab.

Es war ähnlich wie bei einer Exhumierung, wenn sie von den Leuten vom Gericht vorgenommen wurde. Nur ging es bei denen nicht so fröhlich zu.

Der Deckel wurde entfernt.

Lachen und Scherzen. Einer erzählte einen deftigen Witz.

Mir stellten sich dabei unwillkürlich die Nackenhaare auf. Es war die grausigste Szene, die ich jemals erlebt hatte.

Der Tote lachte jetzt auch. Grollend drang es aus dem geöffneten Sarg. Er richtete sich in seinem Sarg auf.

Ein grauenvoller Anblick, denn dieser Tote hatte gewiss schon einige Jahre unter der Erde gelegen. Außerdem stank es gottserbärmlich.

Abermals das grollende Lachen.

Die Dörfler quittierten das mit einem begeisterten Applaus.

Es war das erste Mal seit meinem Hiersein, dass ich nach dem Talisman griff, den ich mir vorsorglich eingesteckt hatte, das eiserne keltische Henkelkreuz, weil Sir Horatio immer noch meinen Krif von unseren Laborknechten untersuchen ließ.

Bis jetzt hatte es keinen direkten Grund gegeben, das Kreuz aus der Tasche zu holen. Ich war niemals direkt angegriffen worden, außer von den Käfern.

Aber jetzt war es mit meiner Beherrschung vorbei. Ich würde dieses Spiel nicht mehr länger mitspielen. Ich würde etwas dagegen tun.

Das Henkelkreuz war uralt und äußerst wirkungsvoll in der Magie, vor allem, wenn man gelernt hatte, damit umzugehen. Ich hatte es gelernt! Fest umklammerte ich den eisernen Gegenstand mit der linken Hand. Ich betrachtete ihn kurz und konzentrierte mich auf die magischen Formeln, die vielleicht dazu passten.

Es waren Formeln aus der längst vergangen Sprache der Druiden. Man sagte den Druiden nach, dass sie einst das Böse völlig verbannt hatten. Aber dann verschwanden sie selbst, und das Böse konnte nach und nach wieder zurückkehren.

Ich war bereit und löste mich aus der Deckung. Langsam ging ich auf die wahnsinnige Feiergemeinde zu.

Der Leichnam war vollends seinem Sarg entstiegen. Die anderen umringten ihn und fragten verdrehterweise nach seinem „Wohlbefinden“.

Angeblich hatte er sich noch niemals besser gefühlt!

Gleich war ich bei ihm. Ich hatte mir vorgenommen, ihn die äußerst unangenehme Bekanntschaft mit dem Kreuz machen zu lassen.

Erst als ich den Ring um den vermoderten Toten erreichte, wurde man aufmerksam auf mich. Sie machten mir bereitwillig Platz.

Das hätte mir eine Warnung sein müssen. Aber für mich gab es kein Zurück mehr.

Ich erreichte den Toten und sagte die mächtigen Formeln auf. Sie wirkten gegen das Böse. Ich wusste es aus guter Erfahrung.

Ich hielt dem Untoten auch das Kreuz entgegen.

Grollend betrachtete er es. Er schien sich zu wundern, sofern man in einem halbverfaulten Gesicht lesen konnte.

Grollend griff er danach.

Freiwillig!

Meine Beschwörungsformeln ignorierte er einfach.

Er grunzte zufrieden, als er das Henkelkreuz in der Hand hielt. Von allen Seiten betrachtete er es.

Abermals das widerliche Grunzen.

Der Ring der Umstehenden schloss sich wieder.

Ich warf mich herum.

Lauter lachende, hämisch lachende Gesichter.

Schwer legte sich die Hand des Toten auf meine Schulter.

10

„Danke!“, grollte es hinter mir. „Du bist der einzige, der mir so ein schönes Geschenk zur Wiedererweckung brachte!“

Das war der absolute Wahnsinn. Ich hatte mit dem Henkelkreuz den Untoten erledigen wollen, und er hielt es seinerseits für ein brüderliches Geschenk.

Der Talisman hatte nicht die geringste Wirkung auf ihn! Genauso wenig wie die Beschwörungen.

Die Umstehenden brachen in einen unbeschreiblichen Jubel aus. Sie feierten mich wie einen besonderen Gönner.

Unter ihnen sah ich auch den Erhängten mit seiner toten Frau. Ich gesellte mich zu ihnen. Niemand hatte etwas dagegen.

„Was ist mit euren Kindern?“, fragte ich zerknirscht.

Die Frau lächelte verklärt. Sie schaute zu ihrem Mann auf, der mit verrenktem Genick neben ihr stand.

„Es geht ihnen gut, seit er sie vom Leben befreite.“ Das Krächzen ihrer Stimme ging mir durch und durch. „Uns allen hier geht es gut, nicht wahr?“

Der Erhängte brummte zustimmend. Seine hervorquellenden Augen stierten in meine Richtung.

Tote Augen, wie Glasmurmeln, nicht die Augen eines lebenden Menschen!

Ich wich unwillkürlich zurück.

Da bewegte sich die Erde unter meinem Fuß. Etwas brach aus dem Boden herauf, und ich behinderte es.

Schleunigst zog ich den Fuß zurück.

Dieses Etwas grub sich aus, wie ein Maulwurf, der zur Oberfläche stieß.

Aber es war kein Maulwurf, sondern eine – menschliche Hand! Sie war halb verwest.

„Ah!“, riefen die Umstehenden erfreut und sahen der halb verwesten Hand zu. Sie grub emsig.

Zwei Totengräber eilten hinzu und halfen der Hand, indem sie die Erde beiseite schaufelten.

Bald hatten sie den Arm befreit. Ein dumpfer Laut drang aus dem Boden.

Sie befreiten den Rumpf des Leichnams.

Der Kopf fehlte! Und das dumpfe Rufen kam von weiter unterhalb.

Die Totengräber taten ihr Bestes und fanden auch den Kopf.

Bevor der Leichnam sein feuchtes Grab verließ, nahm er den Kopf in beide Hände und setzte ihn sich selbst auf.

Das Volk klatschte anerkennend. Man zog den vermoderten Leichnam ganz ins Freie.

Dies alles war erst der Anfang. Auch andere hatten sich mit Werkzeug bewaffnet und begannen jetzt zu graben. Sie gruben ihre Toten aus. Das war ihr Gräberfest. Und sie sangen fröhliche Lieder dabei. Einige tanzten ausgelassen zwischen den geöffneten Gräbern herum.

Ich betrachtete all diese fröhlichen Menschen.

Waren es denn wirklich – Menschen? Waren es nicht vielmehr auch – Untote?

Tote, zu unnatürlichem Leben erwacht?

Ihr Lachen war maskenhaft. Einige waren darunter, die grausige Verletzungen aufwiesen. Wie die Frau aus der Sargschreinerei.

Ein Paradies der Untoten, aber für jeden Lebenden die reinste Hölle. Alle Verschwundenen waren von der unheimlichen Macht hergelockt worden. Diese Macht inszenierte dies alles.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass auch nur ein einziger der Verschwundenen das Spiel der Untoten überlebt hatte. Ich schaffte das auch nur, weil ich meine Gabe einsetzte. Auf mich wirkte das Grauen an sich, aber nicht die unheimliche Macht, die hinter allem steckte. Es war ihr nicht gelungen, Gewalt über mich zu erhalten. Bis jetzt jedenfalls nicht.

Wäre ich jetzt einfach davongelaufen, hätte das niemandem etwas genutzt. Das war mir klar. Das Dorf wäre hinter mir verschwunden, und in der Zukunft wären noch weitere Unschuldige in diese grauenvolle Falle gelockt worden.

Immer nur Einzelpersonen, wie ich wusste.

Ich schüttelte erschüttert den Kopf.

Immer mehr Leichen hatte man inzwischen ausgegraben. Die Leichen waren selber sehr aktiv, denn sie halfen ihren Befreiern.

Eine hatte schon ziemlich lange unter der Erde gelegen, wie mir schien. Man fand nur Einzelteile, und damit hatte man einige Mühe. Das eine passte nicht so recht zum anderen.

Immer wieder beratschlagten die Totengräber.

Endlich fanden sie den Kopf, und der konnte ihnen die entscheidenden Ratschläge geben …

Das war der Zeitpunkt, an dem ich sozusagen durchdrehte. Anders kann man es nicht mehr nennen. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass die Macht auf mich bis jetzt keinen Einfluss ausübte. Auf der anderen Seite jedoch hatte ich genauso wenig eine Chance, etwas gegen das zu tun, was hier vorging.

Eine Pattsituation, ein Unentschieden.

Ich würde alles erleben, was in diesem Dorf vorging, aber ich konnte überhaupt nichts dagegen tun. Die Gefahr würde bestehen bleiben, ob ich nun dabei war oder nicht.

Deshalb wollte ich es zwingen!

Mit lauter Stimme betete ich eine lateinische Litanei, geschickt verwoben mit gnostischen Begriffen des Guten. Ich wollte das Böse, das hier offensichtlich wirkte, ganz direkt bekämpfen, mitten unter den Untoten, den geöffneten Gräbern und den schaurigsten Szenen, die sich ein Mensch denken konnte.

Es war die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb.

Ich lief umher und brüllte den Untoten Formeln in die Fratzen.

Einer der Untoten stellte sich vor mich hin und machte: „Na, na!“ Er drohte mit dem sauber von Würmern abgenagten Zeigefinger und tadelte: „Wer wird sich denn so schlecht benehmen?“

Ich stand vor ihm, mit hängenden Schultern, schwankend wie ein Schilfhalm im Wind.

Der helle Wahnsinn, das war das hier. Jetzt würde es mich genauso erwischen wie all die anderen. Ich glaubte es nicht, sondern ich wusste es! Meine Gabe sagte es mir.

Ich hatte den Bogen überspannt und war daher aus meiner Neutralität entlassen.

Schließlich hatte ich alles dafür getan. Jetzt bekam ich die Quittung präsentiert.

Ich stierte auf den halbfertigen Untoten, an dem sie immer noch verschiedene faulige Einzelteile anprobierten.

„Na, na!“, tadelte auch dieser mit erhobenem Zeigefinger. Der löste sich prompt und fiel zu Boden.

Einer der Totengräber schüttelte den Kopf. „Er hat ganz recht, Fremder: Du störst! Merkst du das eigentlich nicht selber? Der arme Kerl hat lange genug unter der Erde gelegen. Schließlich wollen wir alle zusammen noch feiern, wie?“

Ringsum stimmte man ihm zu.

Eine Frau schrie schrill: „Immer diese Lebenden. Die reinsten Spielverderber. Sie verstehen es einfach nicht, die Feste zu feiern, wie sie kommen. Ein Gräuel ist es mit ihnen.“

Einem anderen kam anscheinend die Erleuchtung: „Man könnte dem sehr rasch abhelfen!“

„Abhelfen?“, fragten sie ihn im Chor.

Ich ahnte, was gemeint war, und schaute mich mit gespreiztem Nackenhaar um.

Nicht, dass sie jetzt eine drohende Front gegen mich gebildet hätten. Ganz im Gegenteil, sie gaben sich überaus nett, freundlich, lachten mich an, auch wenn manchmal Augen und Zähne fehlten …

Sie freuten sich auf mich, wie auf jemanden, den man lange entbehrt hatte und der jetzt endlich zu ihnen gehören würde.

Ja, als einer der Ihrigen.

Als ein Toter nämlich!

Mir stockte der Atem.

Sie rückten näher. Einer hatte lange Fingernägel, die er jetzt wie Krallen wirken ließ. Er fletschte die scharfen Zähne.

„Richtig“, knurrte er. „Machen wir eben aus einem ängstlichen Lebenden einen fröhlichen Toten, nicht wahr?“

Alle schrien begeistert.

Ich und ängstlich? Ganz im Gegenteil. Das nackte Grauen hockte mir im Nacken!

„Auf ihn!“, grollte der Tote, der immer noch nicht „fertig“ war.

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen.

Ich sprintete los, einfach mitten hinein in die Menge, schlug wie ein Wahnsinniger um mich, traf mit den Fäusten verfaulte Gesichter, hieb sie beiseite …

Eine Lücke entstand. Tatsächlich! Ich rannte hindurch.

Anscheinend war der Überraschungseffekt ganz auf meiner Seite?

Schon glaubte ich mich erfolgreich, noch bevor die Hatz auf mich überhaupt begonnen hatte.

Das Lachen und Grölen der Menge hätte mich stutzig machen sollen. Denn sie dirigierten meine Richtung, ohne dass ich es zunächst merkte. Sie ließen mich freiwillig hindurch, und ich tappte haargenau in ihre Falle.

Als ich schon glaubte, den stinkenden Haufen hinter mir zu haben, fiel ich haargenau in ein frisch geschaufeltes Grab.

Das hieß, eigentlich war es ein altes, das man wieder geöffnet hatte.

Der Leichnam war noch da. Er hockte in seinem zusammengebrochenen Sarg und befreite sich vorsichtig von Erdkrumen, die seine Wurmlöcher verstopften.

Ich fiel auf ihn drauf.

Kameradschaftlich grollend nahm er mich in seine modrigen Arme und drückte mich mit aller Kraft an seine tote Brust.

11

Ich wollte mich gegen die tödliche Umarmung wehren und strampelte verzweifelt.

Der Untote hatte übermenschliche Kräfte. Dagegen konnte ich nicht das Geringste ausrichten.

Mein Gesicht war an seinem Gesicht. Sterne tanzten vor meinen Augen. Die Luft ging mir aus.

Das war ein Griff wie ein riesiger Schraubstock. Mir wurde rabenschwarz vor den Augen.

Es war aus mit mir. Daran zweifelte ich nicht mehr.

Und dann war der Druck weg, von einem Augenblick zum anderen.

Der Tote grollte enttäuscht. Seine Arme glitten von mir ab.

Was war geschehen?

Es dauerte Sekunden, bis ich die Situation begriff – und was mich gerettet hatte.

Tief saugte ich die Luft in meine Lungen. Ich sprang auf. Alles drehte sich um mich.

Der Tote hockte vor mir. Beide Arme hatten sich aus den Schultergelenken gelöst. Er war schon viel zu lange tot gewesen. Diese Anstrengung hatte er nicht mehr verkraften können.

Mein Glück.

Wenn man überhaupt von Glück reden konnte, so umringt von lauter Untoten, denen es ein Vergnügen bereitete, mich zu ihresgleichen zu befördern, nämlich vom Leben zum Tode!

Aber ich hatte jetzt wirklich den Überraschungseffekt auf meiner Seite. Mit einer solchen Wende hatte niemand gerechnet.

Einer hatte Erbarmen mit dem Untoten und passte ihm wieder die abgerissenen Arme an. Beruhigend tätschelte er die vermoderten Schultern. Das hätte er allerdings besser nicht getan, denn es löste sich dabei ein Stück.

Ich bekam das nur am Rande mit, denn mit einem einzigen Satz hechtete ich aus dem Grab, das beinahe das meinige geworden wäre, und hetzte davon.

Viele Hände griffen nach mir, um mich doch noch aufzuhalten. Aber sie schafften es nicht. Ich war schneller als sie.

Und dann hatte ich die ganze Menge hinter mir.

Sie schrien begeistert durcheinander. Jetzt vergaßen sie sogar ihr Gräberfest, denn sie schrien nach meinem Blut und nach meinem Leben. Es bereitete ihnen unbändiges Vergnügen, auf mich Jagd zu machen.

Ich rannte buchstäblich um mein Leben. Die Meute war sehr dicht hinter mir.

Ich stolperte und wäre beinahe hingefallen.

Im letzten Moment fing ich mich.

Schon waren sie heran und griffen nach mir.

Knapp entschlüpfte ich ihnen und rannte weiter.

Über die Dorfstraße ging die Jagd.

Eine Seitenstraße. Ich bog ab.

Die Meute johlte laut. Sie teilte sich.

Es waren genügend. Sie konnten es sich leisten, sich zu teilen und zu versuchen, mich in die Zange zu nehmen.

Noch eine Seitenstraße. Ich bog abermals ab.