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Ueli Steck

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Beschreibung

»Swiss Machine«, »Der schnellste Mann am Berg«, »Gipfelstürmer«… Wenn es um die Leistungen des Schweizer Bergsteigers Ueli Steck geht, überschlagen sich die Beobachter in Superlativen. Zuletzt eröffnete er dank seiner in den Alpen erprobten Speedklettertechnik eine neue Dimension des Bergsteigens im Himalaja. Wie verlief sein Weg vom Speedkletterer zum kompletten Höhenbergsteiger? Was sind die letzten großen Herausforderungen an den Achttausendern, nachdem kein Gipfel mehr unbestiegen ist? Wie begegnet er als Profialpinist dem Druck von Sponsoren und Medien, ohne zum Getriebenen zu werden? Neben packenden Expeditionsschilderungen stehen diese Fragen im Zentrum von Ueli Stecks lange erwartetem ersten großen Himalajabuch.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Ueli Steck mit Karin Steinbach

Mit 43 Fotosund einer Karte

ISBN 978-3-492-95819-6

November 2016

© 2012 Piper Verlag GmbH, München

Fotos: Ueli Steck, mit Ausnahme von Bild Nr. 5 bis 8: Robert Bösch und Bild Nr. 20: Mikey Schaefer

Lithografie: Lorenz & Zeller, Inning a. A.

Karte: Eckehard Radehose, Schliersee

Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Umschlagabbildung: Ueli Steck

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

1

DIE MACHT DER VERNUNFT

Entscheidung am Everest

Mein linker Fuß fühlt sich hölzern an. Ich bewege die Zehen und meine, die Zehenspitzen noch spüren zu können. Oder bilde ich mir das nur ein? Beim nächsten Schritt bewege ich sie noch einmal. Doch, ich habe noch etwas Gefühl in ihnen. Der rechte Fuß macht einen besseren Eindruck, ich nehme den Druck auf der Schuhsohle wahr, wenn ich ihn aufsetze.

Die Spur ist schmal. Sie führt praktisch horizontal am Grat entlang. Der Höhenmesser zeigt 8540 Meter an. Es ist immer noch dunkel, die Stirnlampe beleuchtet mir den Weg. Ich befinde mich in der kleinen Welt ihres Lichtkegels, alles andere scheint nicht zu existieren.

Ich atme sehr schnell – so schnell, dass mir die eingesogene eiskalte Luft im Rachen brennt. Wieder mache ich einen Schritt, setze den Fuß präzise an der beabsichtigten Stelle auf. Danach vergeht der Bruchteil einer Sekunde, bevor ich ihn belaste. Ich nehme bewusst wahr, wie ich mein Gewicht auf das Bein verlagere. Meine Bewegungen sind langsam, ich habe Zeit, mich dabei selbst zu beobachten. Bei jedem Schritt ziehe ich im Schuh die Zehen an und strecke sie wieder, und wenn ich den Fuß absetze, gebe ich bewusst Druck auf die Sohle.

Wenn meine Zehen nur etwas wärmer würden! Um meine Füße mache ich mir ernsthaft Sorgen. Wie weit kann ich den Aufstieg noch riskieren, ohne Gefahr zu laufen, dass mir die Zehen abfrieren? Eigentlich bin ich erstaunt, wie wachsam ich bin, ohne künstlichen Sauerstoff auf mehr als 8500 Metern Höhe. Ich fühle mich den Umständen entsprechend sehr gut – die Beine sind zwar etwas schwer, aber es geht problemlos vorwärts. Meine Hände sind warm.

Die Gratkante liegt links oberhalb von mir. Der Weg verläuft überwiegend unterhalb des Grates, auf seiner nördlichen Seite, wo Bänder und Absätze einen problemlosen Aufstieg ermöglichen. Manchmal geht es über kleinere Steilstufen aufwärts auf das nächste Band. Ich folge einem mehr oder weniger breiten Weg.

Die Skistöcke, die mir helfen, das Gleichgewicht zu halten, habe ich fest umklammert. Den oberen halte ich 20 Zentimeter unter dem eigentlichen Griff, sodass meine Hände links und rechts auf etwa der gleichen Höhe sind und ich mich trotz der Hanglage symmetrisch abstützen kann. Gleichzeitig setze ich beide Stöcke nach oben in den gefrorenen Schutt. Die Spitzen dringen ausreichend in den Boden ein, um nicht abzurutschen. Indem ich mein Gewicht mit den Armen auf die Stöcke ziehe, kann ich meine Oberschenkel entlasten. Der nächste Schritt.

Ich komme recht zügig vorwärts, obwohl ich schon lange in dieser Kälte und in der sauerstoffarmen Luft aufsteige. Immer noch ist es dunkel. Ist man in der Nacht unterwegs, verliert man völlig das Zeitgefühl. Um 23 Uhr bin ich losgegangen – normalerweise geht man um diese Zeit ins Bett, ich bin seither schon einige Stunden in Bewegung. Eigentlich müsste es doch schon Tag sein. Wann kommt endlich der Second Step? Wie steil wird er sein? Und wie anstrengend?

Mir wird bewusst, dass meine Gedanken zu weit in die Zukunft schweifen. Ich schaue wieder stur in den Lichtkegel vor mir. Im Grunde genommen ist es herrlich: Ich bin am Everest und praktisch allein für mich. Die ersten Seilschaften habe ich überholt. Die nächsten Stirnlampen sehe ich ein Stück weiter vorn. Sie müssen schon oberhalb des Second Step sein. Wenn ich anderen Bergsteigern begegne, läuft das relativ anonym ab, da sich alle hinter Skibrillen und Sauerstoffmasken verstecken.

Ich will so schnell wie möglich da hoch! Weiter. Ich ziehe meinen Jackenkragen etwas nach unten, sodass ich besser atmen kann. Habe ich den Kragen direkt vor der Nase, erschwert das zusätzlich das Atmen. Zudem wird der Stoff durch die Atemluft feucht, und diese Feuchtigkeit gefriert im nächsten Augenblick zu Eis. Ein unangenehmes Gefühl, wenn die Eisschicht meine Haut berührt.

Das weiße Fixseil vor mir am Boden ist die Linie, der ich folge, wie einem Kreidestrich auf einer Asphaltstraße. Auch ohne an dem Seil gesichert zu sein, ist es hilfreich. Ich muss mich in der Dunkelheit nicht ständig orientieren, wo die Route durchgeht, ich kann einfach auf den Boden schauen und dieser Linie folgen. Sie wird mich bis zum Gipfel führen.

Wenn es nur endlich zu dämmern anfangen und die Sonne aufgehen würde! Etwas Wärme könnte mir nicht schaden. Aber ich bin zu träge, mir die Handschuhe auszuziehen und auf die Uhr zu schauen; bei der Kälte und mit all der Kleidung ist mir der Aufwand zu groß. Es wird hell, wenn’s hell wird.

Jetzt zieht das Fixseil steil nach oben. Fast senkrecht hängt es vor mir. Das muss der Beginn des Second Step sein. Oben sehe ich einen Lichtschein über die Kante verschwinden, ein Bergsteiger hat gerade das obere Ende des Felsaufschwungs erreicht und geht weiter. Kein Mensch weit und breit. Ich bin froh, dass ich nicht warten muss und die Steilstufe direkt in Angriff nehmen kann. Bis dorthin, wo kurz zuvor das Licht verschwand, muss ich mehr oder weniger senkrecht hochsteigen. Es sieht relativ kurz aus, ich habe mir das viel höher vorgestellt. Vielleicht ist es gar nicht der Second Step?

Ich hänge den Karabiner meiner Selbstsicherungsschlinge – sie ist bereits in den Klettergurt eingeschlauft – aus der Materialschlaufe des Klettergurts aus und in das Fixseil ein. Als Sicherung nur einen Karabiner einzuhängen ist zwar nicht ideal, andererseits ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich hier abstürze, relativ klein.

Ich klettere los. Sofort schießen Puls und Atemfrequenz in die Höhe. Klettern ist viel anstrengender als normales Gehen! Beim Gehen schlägt man einen individuellen Rhythmus an, der es ermöglicht, sich gleichmäßig fortzubewegen, ohne dass man ständig nach Luft schnappen muss. Beim Klettern ist das unmöglich. Keuchend ziehe ich mich über eine senkrechte Stelle hinauf. Allerdings vermisse ich die Leiter, die es hier geben soll – ist das wirklich nicht der Second Step? Über zum Teil senkrechte Felsstufen klettere ich rund 20 Meter nach oben. Dann stehe ich auf einem kleinen Felsband und kann mich wieder aufrichten. Ich klettere, mich rechts haltend, weiter, die Felsstrukturen leiten mich, und das Fixseil führt ebenfalls in diese Richtung. Rechts oben sehe ich nun auch die Leiter, eine Aluminiumleiter, die senkrecht an der Wand zu kleben scheint. Freude, dass ich doch bereits am Second Step bin, durchströmt mich.

Kletterten die Briten George Mallory und Andrew Irvine 1924 über diese Stelle? Das ist eines der großen Rätsel in der Geschichte des Everest. Ich stelle mir die Passage ohne Leiter vor, die beiden Bergsteiger mit ihren schweren Sauerstoffgeräten. Auch für mich, ohne Rucksack und mit viel besserer Ausrüstung, wird es anstrengend hier, und ich habe die Leiter … Doch dann denke ich nicht weiter darüber nach, was damals war, ich konzentriere mich auf die Gegenwart. Die Antwort haben Mallory und Irvine mit in ihr eisiges Grab genommen.

Am Fuß der Leiter muss ich meine Schlinge in das nächste Fixseil umhängen. Auch hier benutze ich keine Steigklemme, sondern ziehe nur den Karabiner der Sicherungsschlinge hinter mir her. Würde ich auf der Leiter das Gleichgewicht verlieren, wäre meine Fallhöhe unter Umständen sehr groß, weil mich die Sicherungsschlinge erst am nächsten Punkt, an dem das Seil am Fels fixiert ist, auffangen würde. Die sicherere Alternative, eine Steigklemme, die direkt am Seil bremst, müsste ich immer mit einer Hand hochschieben – das ist mir zu mühsam. Außerdem fühle ich mich sicher und gehe nicht davon aus, dass ich von der Leiter stürzen könnte.

Mit der rechten Hand greife ich die erste Sprosse der Aluleiter. Ich rüttle ein wenig an ihr, um mich zu vergewissern, dass sie stabil ist. Die Leiter scheint solide befestigt zu sein, und auch die Sprosse bewegt sich nicht. Mit der zweiten Hand greife ich die nächste Sprosse. Dann muss ich meine Füße auf die unterste Sprosse stellen. Ich setze sie mit der Mitte der Sohle auf, sodass die Sprosse zwischen zwei Zackenpaaren der Steigeisen aufliegt. Bei jedem weiteren Schritt, den ich nun mache, muss ich darauf achten, dass sich die Zacken meiner Steigeisen nicht an den Sprossen verfangen, damit ich nicht ins Stolpern gerate. Kontrolliert und möglichst kraftsparend steige ich die Leiter hoch. Trotzdem versuche ich, mich so schnell wie möglich zu bewegen, um mich durch die Anstrengung etwas aufzuwärmen. Am Körper ist die Kälte erträglich, da isoliert der dicke Daunenanzug ausreichend. Wegen der eiskalten Metallsprossen bekomme ich aber schnell kalte Hände – doch es hilft nichts, ich muss die Sprossen fest umklammern, wenn ich mich an ihnen hochziehe. Meine Füße spüre ich inzwischen kaum noch.

Als ich am Ende der Leiter angekommen bin, hat es angefangen zu dämmern. Ich kann meine Stirnlampe ausschalten. Und ich muss unbedingt schauen, wie spät es ist, denn ab jetzt wird es kritisch für meine Zehen. Ich überwinde mich und ziehe kurz den dicken Handschuh aus, um auf die Uhr an meinem Handgelenk zu schauen. Wenn es innerhalb der nächsten Stunden nicht besser wird, werde ich absteigen müssen. Trotz der Heizung in meinen Schuhen fühlen sich die Füße jetzt wie leblose Klötze an. Wenn ich sie aufsetze, habe ich das seltsame Gefühl, auf Stelzen zu stehen.

Ich ärgere mich über mich selbst. Immer habe ich kalte Füße oder Hände. Ich bin einfach ein Weichei. Verdammt, ich will auf den Gipfel!

*

Es gibt Berge auf der Welt, an denen kommt kein Alpinist vorbei, und zu ihnen gehört der Everest. Es mag Leute geben, die denken: Wieso muss der Steck auf den Everest, auf der Normalroute, das ist doch für einen Kletterprofi kein Ziel? Doch, für mich ist der Everest ein Ziel. Ich möchte einmal auf dem höchsten Punkt der Erde stehen.

Ich hatte es mir gut überlegt, ob ich den Everest noch versuchen wollte oder nicht. Schon nach dem ersten Achttausender dieser Saison hätte ich nach Hause fahren können – die Expedition zum Shisha Pangma war erfolgreich gewesen, das Ziel erreicht worden. Würde ich einen weiteren Gipfel angehen, bestünde wieder die Möglichkeit, an ihm zu scheitern. Doch mein eigentliches Wunschziel war, alle drei von Tibet aus erreichbaren Achttausender in einer Saison zu besteigen, deshalb war ich weiter zum Cho Oyu gereist, dessen Gipfel ich ebenfalls erreicht hatte. Nach zwei Achttausendern war mein Körper bestens akklimatisiert.

Ich freute mich, am Everest zu sein. Vielleicht hätte ich es besser niemandem gesagt, dass ich an den Everest gehen würde – aber irgendwann habe ich entschieden, nur noch das zu tun, wozu ich Lust habe, und mich nicht zu sehr von anderen leiten zu lassen. Ich mache, was ich machen möchte: den höchsten Berg der Erde besteigen, der auch 50 Jahre nach seiner Erstbesteigung durch Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay noch ein Mythos ist. Es ist mir bewusst, dass das für einen Profialpinisten im Grunde genommen nichts Besonderes ist, mittlerweile gab es schon weit mehr als hundert Besteigungen ohne Sauerstoff. Aber ich gehe eben nicht nur bergsteigen, um einen neuen Rekord aufzustellen oder eine unglaublich steile Wand zu klettern. Ich gehe bergsteigen, um meine Freude zu haben.

Als der Schweizer Maler Hans Erni sagte, dass man sich immer weiterentwickeln müsse, war er fast 103 Jahre alt. Eine Journalistin fragte ihn, wieso er sich mit 95 Jahren noch ein neues Haus gebaut habe, und er antwortete: »Weil es mir Freude machte, ein Haus zu bauen.« Mich faszinieren die dünne Luft und der Mythos Mount Everest. Zum Bergsteigen gehört, sich an neue Abenteuer zu wagen. Für mich war der Everest etwas Neues, ich war noch nie hier gewesen, und ich wollte diesen Berg mit eigenen Augen sehen. Aus diesem Grund war ich hier. Und weil ich wieder einmal an meine Grenzen kommen wollte – war es möglich, drei Achttausender nacheinander zu besteigen, innerhalb eines Monats?

*

Elf Tage zuvor war ich mit meinem Seilpartner Don Bowie in Zhangmu angekommen. Die feuchte, sauerstoffreiche Luft in dem 120 Kilometer nördlich von Kathmandu liegenden Grenzort zwischen Tibet und Nepal empfanden wir nach den Tagen am Shisha Pangma und am Cho Oyu als sehr erholsam. Wir spürten regelrecht, wie die Energie in unsere Körper zurückkehrte. Eigentlich wären wir nach der erfolgreichen Besteigung des 8188 Meter hohen Cho Oyu gern nach Lhasa gefahren, um uns dort zu erholen, aber wir hatten von den Chinesen so kurzfristig keine Bewilligung dafür bekommen. Wir durften uns nur auf der vorgegebenen Route bewegen, konnten also entweder zurück zur Grenze oder direkt ins Everest-Basislager. Wir trösteten uns damit, dass wir unsere Lungen in dem auf rund 2300 Metern gelegenen Zhangmu mit seinem milden Klima besser mit Sauerstoff füllen konnten als auf fast 3500 Metern in Lhasa.

Auf der Fahrt nach Zhangmu stachen mir Unmengen von chinesischen Fahnen an den Häusern ins Auge. Irgendetwas musste da im Gange gewesen sein. Unser Verbindungsoffizier erzählte uns, dass die Straße zum Everest für drei Tage gesperrt gewesen war – warum, das wusste niemand.

Mit Dorje von unserer Agentur vereinbarten wir, dass wir am 14. Mai Richtung Everest reisen würden. Er versprach uns für die Fahrt einen Land Cruiser. Die fünfstündige Fahrt kostete uns 450 Dollar extra. Für das Hotel bezahlten wir inklusive der Vollpension je 70 Dollar pro Nacht. Aber die Ausgaben lohnten sich, ich war jeden Morgen überrascht, wie tief und fest ich geschlafen hatte. Erst wenn man sich wieder in tieferen Lagen befindet, realisiert man, um wie viel erholsamer dort der Schlaf ist.

Tagsüber hatten wir viel Zeit; Zhangmu bot nicht viel Abwechslung, und so verbrachten wir täglich einige Stunden im Internetcafé. In erster Linie beschäftigten wir uns mit dem Wetterbericht und versuchten, Informationen aus dem Basislager zu bekommen. Von der Südseite des Everest gab es schon Gipfelerfolge zu vermelden, allerdings alle mit zusätzlichem Sauerstoff. Kari Kobler, der eine kommerzielle Expedition auf der Nordseite führte, warnte mich davor, nervös zu werden. Die Winde seien noch zu stark, ohne künstlichen Sauerstoff sei eine Besteigung noch nicht zu schaffen. Don und ich lasen in den Everest-Statistiken nach. In den Jahren von 1978 bis 2009 hatten den Gipfel genau 127 Personen ohne Flaschensauerstoff erreicht. Auf den langen Zeitraum gesehen, waren das gar nicht so viele. Die Zahl öffnete uns ein wenig die Augen und deutete darauf hin, welche Herausforderung vor uns lag. Obwohl ich mich auf den Everest freute, bereitete ich mich mental darauf vor, dass es genauso gut sein konnte, dass es nicht klappen würde.

Mittlerweile war ich schon fast zweieinhalb Monate auf Expedition, und ich begann langsam, mich nach den gewohnten Lebensumständen zu Hause zu sehnen. Ich brauchte etwas Zeit, um den Kopf frei für den Everest zu bekommen. Nach ein paar entspannten Tagen in Zhangmu kam die Motivation zurück. Don erwies sich dabei aufs Neue als idealer Partner, wir kamen gut miteinander aus und fanden viele gemeinsame Gesprächsthemen. Zwischendurch beobachteten wir gern die indischen Pilger. Sie kamen aus dem Süden, um den im Hinduismus wie im Buddhismus heiligen Berg Kailash aufzusuchen. Oft waren sie nicht gerade schlank, und sie hüllten sich meist in rote Daunenmäntel, weil sie die kühlen Temperaturen nicht gewöhnt waren. Dass es für die Gläubigen sehr wichtig ist, einmal im Leben den Kailash zu umrunden, ermöglicht den Chinesen ein gutes Geschäft. Für uns war es zumindest eine unterhaltsame Abwechslung, den Pilgern zuzuschauen, und vermutlich musterten sie uns beide ähnlich fasziniert wie wir sie.

Schließlich waren wir nicht nur gut erholt, sondern hatten auch reichlich Reserven zugelegt; daran sollte es also nicht scheitern. Dreimal am Tag gab es zu essen – und endlich etwas anderes als Reis! Es machte mir keine Mühe, mich Don anzupassen, der zwar in Kanada geboren wurde, aber in Kalifornien lebt. Wir ernährten uns sehr amerikanisch, begannen den Tag mit Rührei und hielten uns ansonsten an Yaksteak und Pommes Frites. Dann wurden wir langsam ungeduldig. Es wurde Zeit, uns auf den Weg zum Everest zu machen.

*

Die britische Armee-Expedition von Francis Younghusband war sicherlich um einiges weniger gut versorgt als wir. Sie bahnte sich 1904 gewaltsam einen Weg durch Tibet, um das Land zur Öffnung seiner Grenzen und zur Gewährung von Handelsprivilegien zu zwingen. Dabei machte John Claude White aus etwa 150 Kilometern Entfernung, von Kampa Dzong aus, die erste detaillierte Fotografie der Ostflanke des Everest. Bei den späteren Erkundungs- und Besteigungsexpeditionen wurde hingegen versucht, eine Genehmigung durch den damaligen Dalai Lama zu erhalten. Es dauerte bis 1921, ehe er der Royal Geographical Society diese Erlaubnis erteilte. Sie entsandte daraufhin in den Jahren 1921, 1922 und 1924 Expeditionen.

Die erste britische Erkundungsexpedition reiste 1921 in die Gegend des Everest. Damals ging es noch nicht primär um die Besteigung des Berges, sondern vor allem um geologische Vermessungen, die Kartierung des Gebiets und um ein erstes Auskundschaften möglicher Aufstiegsrouten. Die Vermessung von 31 000 Quadratkilometern konnte abgeschlossen werden, und George Mallory entdeckte vom Pass Lhakpa La aus eine begehbar aussehende Route zum Gipfel, die heutige Standardroute von Norden durch das Tal des Östlichen Rongbukgletschers auf den Nordsattel. Ein kurzfristig angegangener Besteigungsversuch scheiterte auf diesem Sattel, in 7066 Metern Höhe, am einsetzenden Monsun.

Während der Expeditionen von 1922 und 1924 wurden jeweils mehrere Besteigungsversuche unternommen, die in erster Linie mit dem Namen Mallory verbunden sind. Beim dritten Versuch im Jahr 1922 löste sich am 7.  Juni während des Aufstiegs unterhalb des Nordsattels eine Lawine und riss sieben Träger in den Tod. Die Anläufe vom Mai und Juni 1924 mussten wegen schlechten Wetters aufgegeben werden.

George Mallory, der 1924 bereits zum dritten Mal sein Glück am Everest versuchte, war von dessen Besteigung regelrecht besessen. Seine Antwort auf die Frage, wieso er den höchsten Berg der Erde besteigen wolle, ist so einfach wie legendär: »Weil er da ist.« Die Expedition von 1924 musste immer wieder Rückschläge wegstecken.

Zunächst erkrankte General Geoffrey Bruce beim Zustieg an Malaria und musste die Leitung an Edward Norton abgeben, dann hatten die Teilnehmer am Berg mit Stürmen und der Versorgung der Lagerkette zu kämpfen. Doch immerhin gelang es Norton Anfang Juni, ohne künstlichen Sauerstoff bis auf 8572 Meter aufzusteigen – ein Rekord, der erst 54 Jahre später gebrochen wurde.

Am 8. Juni 1924 brachen Mallory und Irvine vom Lager VI zu ihrem Gipfelversuch auf. Noel Odell stieg an diesem Tag ins Lager VI. Das Wetter war am Morgen gut, später kamen wie üblich Wolken auf. Odell sah die zwei Bergsteiger am Grat unterhalb einer großen Felsstufe – vermutlich handelte es sich um den First Step – und beobachtete, wie einer der beiden den höchsten Punkt der Stufe erreichte. Danach schloss sich der Wolkenvorhang wieder. Es war das letzte Mal, dass Mallory und Irvine lebend gesehen wurden. Im Lager VI fand Odell etliche Ausrüstungsgegenstände, darunter auch Teile der Sauerstoffgeräte, aber keine Notiz. Es begann zu schneien. Als es zwei Stunden später wieder aufklarte, konnte er weder die beiden noch irgendwelche Spuren am Gipfelgrat entdecken. Er stieg wieder zum Nordsattel ab und hielt die ganze Nacht Ausschau nach Lichtern am Berg. Nichts war zu sehen, und als er nach zwei Tagen nochmals ins Lager VI aufstieg, fand er es unverändert vor. Mallory und Irvine blieben verschwunden.

George Mallorys Leiche wurde 1999 gefunden, doch nachdem seine Kamera nicht auftauchte, gibt es keinen Beweis für eine Gipfelbesteigung. Andrew Irvine, dessen Eispickel bereits 1933 entdeckt wurde, ist nach wie vor verschollen. Bereits zahlreiche Expeditionen versuchten, das Geheimnis zu lüften, ob die beiden den Gipfel erreicht hatten; die Funde, die bisher gemacht wurden, reichen für ein eindeutiges Ergebnis nicht aus. Theorien dazu gibt es viele, und das Rätselraten geht weiter.

Auch in den Dreißigerjahren versuchten sich mehrere britische Expeditionen an der Erstbesteigung des Mount Everest. Von 1939 bis 1949 waren die Bemühungen auf Eis gelegt; in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und danach hatte man in Europa andere Probleme zu lösen. Lediglich 1947 strengte der Kanadier E. Denman einen illegalen Versuch an, an dem erstmals der nepalesische Sherpa Tenzing Norgay als Träger teilnahm.

Anfang der 1950er-Jahre entwickelte sich ein Wettlauf zweier Nationen um den Gipfel. Infolge der chinesischen Okkupation war Tibet für Ausländer nicht mehr zugänglich, doch das Königreich Nepal, das zwischen 1815 und 1945 Ausländern die Einreise und damit die Erkundung des Himalaja verwehrt hatte, hatte inzwischen seine Blockadehaltung aufgegeben und genehmigte einzelne Expeditionen. Von Südwesten her war der Everest kaum bekannt – Mallory hatte zwar 1921 vom Lho La aus einen Blick auf die Südseite und in das Hochtal Western Cwm werfen können, aber ob von dort aus der Berg besteigbar oder zumindest der Südsattel erreichbar war, blieb unklar. 1951 erkundete eine britische Expedition diesen Zugangsweg. Für das Jahr darauf wurden zwei Schweizer Expeditionen genehmigt.

Am 26. Mai 1952 erreichten vier Teilnehmer der Frühjahrsexpedition – Raymond Lambert, René Aubert, Léon Flory und Tenzing Norgay – den Südsattel auf rund 7900 Metern. Er war schneefrei geblasen und mit Eis und Schuttsplittern bedeckt. Bei heftigem Wind benötigten sie zwei Stunden, um ihre Zelte aufzustellen, und sie mussten sie im Innern mit Steinen beschweren, damit sie nicht davonflogen. Am nächsten Tag stiegen sie zu viert fast auf die Höhe des Nachbargipfels Lhotse auf, auf 8400 Meter. Weil sie nur ein Zelt mitgenommen hatten, beschlossen Flory und Aubert, wieder in den Südsattel zurückzukehren, während Lambert und Tenzing blieben. Ihnen stand – ohne Schlafsäcke – eine bitterkalte Nacht bei minus 30 Grad bevor. Ihre Verpflegung beschränkte sich auf ein Würstchen und etwas Käse; um Schnee zu schmelzen, hatten sie nur eine Kerze. Die ganze Nacht massierten sie sich gegenseitig, an Schlafen war nicht zu denken. Als es endlich Tag wurde, waren die beiden schnell abmarschbereit – sie hatten weder zu essen noch zu trinken, brauchten nur die Steigeisen anzuziehen und die Sauerstoffgeräte zu schultern. Auf der tibetischen Seite war es noch wolkenlos, am Nuptse jedoch hingen bereits Wolken, und bald kam Sturm auf. Auf 8600 Metern mussten Lambert und Tenzing aufgeben. Für 200 Höhenmeter hatten sie fünfeinhalb Stunden benötigt, also pro Stunde nur etwa 35 Höhenmeter zurückgelegt. Unter Einsatz ihrer letzten Kräfte schleppten sie sich noch am selben Tag zum Südsattel.

Angesichts des langen Aufenthalts in extremer Höhe und der viel zu geringen Flüssigkeitsaufnahme erstaunt es, dass auf dieser Expedition keine körperlichen Schäden auftraten. Heute wird davon ausgegangen, dass ein Höhenbergsteiger sechs bis sieben Liter pro Tag trinken sollte – man kann sich vorstellen, wie viel Wasser man zubereiten kann, wenn man mit einer Kerze Schnee schmelzen muss. Zudem waren die Sauerstoffgeräte keine große Hilfe, denn es war nicht möglich, während des Aufsteigens Sauerstoff zu atmen, nur in den Pausen. Dennoch war die Frühjahrsexpedition 1952 eine bedeutende Pioniertat, denn durch die Erschließung der Anstiegsroute von Süden über den Khumbu-Eisfall hinaus bereitete sie den Erstbesteigern von 1953 den Weg.

Vorerst gaben die Schweizer noch nicht auf. Bereits bei ihrer Rückkehr aus Nepal wurde eine weitere Expedition für den Herbst vorbereitet. Doch die starken Höhenwinde und die eisigen Temperaturen ließen die Bemühungen wieder scheitern. Raymond Lambert, Ernst Reiss und Tenzing Norgay kamen nur 100 Meter über den Südsattel hinaus.

1953 reiste zum neunten Mal eine britische Expedition zum Mount Everest, diesmal unter der Leitung von John Hunt. Das Empire stand unter Erfolgsdruck, denn die Schweiz und Frankreich planten für das Jahr darauf weitere Erstbesteigungsversuche. Nach dem Aufbau einer Hochlagerkette bis zum Südsattel wurden zwei Gipfelseilschaften gebildet, um den Erfolg sicherzustellen. Die erste sollte einen Schnellschuss direkt zum Gipfel wagen; würde sie scheitern, sollte die zweite von einem noch höher gelegenen letzten Hochlager aus starten. Die erste Seilschaft, Tom Bourdillon und Charles Evans, erreichte am 26. Mai den 8750 Meter hohen Südgipfel, musste aber aufgeben, weil ihr von Bourdillon und dessen Vater entwickeltes geschlossenes Sauerstoffsystem, bei dem das ausgeatmete Gas aufgefangen und wieder nutzbar gemacht wurde, infolge Vereisung versagte. Das Enteisen kostete so viel Zeit, dass ein weiterer Aufstieg eine sichere Rückkehr verunmöglicht hätte. Die zweite Seilschaft, der Neuseeländer Edmund Hillary und Tenzing Norgay, verwendete ein traditionelles offenes Sauerstoffsystem, das zwar weniger sparsam, aber wesentlich weiter entwickelt und zuverlässiger war. Ein weiterer Sherpa, Ang Nyima, begleitete die beiden am 28. Mai zum Südostgrat, half ihnen, in einer Höhe von 8510 Metern ein weiteres Lager aufzubauen, und stieg danach wieder ab. Hillary und Tenzing brachen am 29. Mai um 6.30 Uhr Richtung Gipfel auf. Bereits um neun Uhr erreichten sie den Südgipfel, gegen zehn Uhr eine Felsstufe, die das letzte bergsteigerische Hindernis darstellte – später wurde sie Hillary Step genannt. Gegen 11.30 Uhr standen sie auf dem Gipfel.

Der Nordgrat von der tibetischen Seite wurde erst 1960 bezwungen. Die Chinesen Wang Fuzhou und Qu Yinhua sowie der Tibeter Gongbu erreichten nach einem 19-stündigen Aufstieg morgens um 2.20 Uhr den Gipfel. Dieser zweiten Route am Everest folgten weitere: 1963 begingen die Amerikaner Tom Hornbein und Willi Unsoeld den Westgrat und kletterten über die in der Folge Hornbeincouloir genannte Rinne zum höchsten Punkt. Nach mehreren erfolglosen Expeditionen gelang 1975 einer britischen Gruppe unter der Leitung von Chris Bonington die Erstdurchsteigung der riesigen Südwestwand.

Bei allen diesen Besteigungen wurde der Gipfel unter Zuhilfenahme von künstlichem Sauerstoff erreicht, und man war allgemein überzeugt davon, dass für den menschlichen Organismus die extreme Höhe von 8850 Metern anders nicht zu verkraften sei. Der Südtiroler Reinhold Messner nahm die Herausforderung an, den höchsten Berg der Erde ohne zusätzlichen Sauerstoff zu besteigen. Nach einem Selbsttest im Flugzeug kam er zur Überzeugung, dass es auch auf dem Everest möglich sein musste, ausreichend zu atmen. Mit seinem Seilpartner Peter Habeler aus Österreich schloss er sich im Frühjahr 1978 einer österreichischen Expedition auf der Südseite an. Bereits in der Nacht auf dem Südsattel, in deren Verlauf Sturm aufkam, machte sich der Sauerstoffmangel bemerkbar. Die beiden schliefen kaum, Habelers Füße wurden nicht warm. Um drei Uhr morgens begannen sie, Tee zu kochen, fest entschlossen, einen Gipfelversuch zu unternehmen. Um halb sechs krochen sie aus dem Zelt – die Steigeisen hatten sie bereits im Zelt angelegt –, wo sie heftiger Südwestwind empfing. Bei diesen Wetterverhältnissen schien ein Versuch aussichtslos, Habeler zögerte. Messner hingegen rückte nicht von seiner Entscheidung ab und ging los.

Peter Habeler folgte etwas später. Er beschrieb den durch den Sauerstoffmangel sehr anstrengenden Aufstieg als völlig fokussiert, konzentriert auf das Höherkommen: »Von erhabenen Gedanken und Gefühlen konnte allerdings keine Rede sein. Mein Gesichtskreis war ganz eng, beschränkte sich auf das Allernotwendigste. Ich sah nur meine Füße, nur die nächsten Schritte und Griffe, und bewegte mich wie ein Automat. Ich schaltete völlig ab und dachte nur noch an die nächsten fünf Meter vor mir. Ich dachte nicht an den Everest, nicht an unser Ziel. Nur dass ich die nächsten fünf Meter hinter mich brachte, war wichtig, sonst nichts.« Nach einer Trinkpause spurte Habeler über den Südostgrat voraus, am Südgipfel seilten sie sich an und führten abwechselnd. Die letzten Meter zum Gipfel legten sie gemeinsam zurück, mehr kriechend als aufrecht gehend. Sie waren die ersten Menschen, die den Gipfel ohne Flaschensauerstoff erreichten. Ihre historische Tat bewies, dass es möglich war, selbst den höchsten Berg der Welt »by fair means« zu besteigen – und sie war, wenn man diese Kriterien anlegt, die eigentliche Erstbesteigung des Everest.

*

Die Fahrt von Zhangmu ins Basislager führte hinter Tingri zunächst auf derselben Straße wie zum Cho Oyu weiter. Nach einer Viertelstunde bog der Fahrer nach links ab. Jetzt befanden wir uns endgültig auf dem Weg zum Everest. Die Landschaft zeigte sich karg. Weite Täler, überall Steine, Steine – eine endlose Steinwüste. Vor dem Basislager passierten wir zum wiederholten Mal einen Kontrollposten des Militärs, was eine Weile dauerte und kompliziert wurde, denn unsere Namen standen auf dem Permit von Asian Trekking, die restlichen Teilnehmer waren aber bereits im Basislager eingetroffen. Der chinesische Soldat musste Don und mich unserer Gruppe zuordnen und blätterte Seite für Seite sein dickes Buch durch, ohne das Gesuchte zu finden. Er stand auf und ging hinaus. Irgendwann kam er zurück und blätterte noch einmal durch das ganze Buch. Wir versuchten ihn davon zu überzeugen, er solle uns einfach eintragen, denn wir würden ja auch nicht alle zusammen wieder abreisen. Unsere Bemühungen blieben aber erfolglos, und wir konnten ihm auch nicht beim Suchen helfen, da die Listen in chinesischer Schrift geschrieben waren. Schließlich fand er doch noch die richtige Seite oder tat zumindest so, jedenfalls durften wir endlich die Schranke passieren.

Das Basislager machte in gewisser Weise einen surrealen Eindruck auf mich. Inmitten eines Felds aus Steinen stach mir eine gelbe Kuppel ins Auge, das Mannschaftszelt von Kari Kobler. Unser Essenszelt war nicht halb so beeindruckend, aber wir bekamen trotzdem ein gutes Abendessen serviert, eine willkommene Abwechslung zum zuletzt doch etwas einseitigen Essen in Zhangmu. Die Stimmung im Zelt empfand ich als sehr laut. Ich fühlte mich in meinen Vorstellungen, die ich mir vom Everest gemacht hatte, bestätigt. Hier schien ich es mit anderen Charakteren zu tun zu haben als zuvor am Cho Oyu. Es wurde intensiv über das Wetter diskutiert. Jeder hatte seine eigene Theorie, passte sie dann aber im Verlauf des Gesprächs den anderen an, und mir kam es so vor, als habe keiner wirklich eine Meinung. Außerdem waren die Chinesen ein häufiges Thema. Anscheinend gab es ein Problem mit den Fixseilen, sie waren noch nicht bis zum Gipfel verlegt. Jeder Teilnehmer hatte 250 Dollar für diesen Service bezahlt, nun war langsam ein Schönwetterfenster zu erwarten, und die Arbeiten waren noch nicht erledigt. Ich spürte eine gewisse Empörung, die Sorge, dass dieses Wetterfenster vorübergehen würde und niemand den Gipfel angehen könnte, weil die fixen Seile nicht weit genug reichten. Ich merkte sofort, dass hier andere Gesetze herrschten, als ich gewohnt war.

Don und ich gingen am nächsten Tag sofort weiter. Die 25 Kilometer lange Strecke zum Vorgeschobenen Basislager mussten wir in zwei Etappen bewältigen, weil der Weg für die Yaks mit unserem Gepäck in einem Tag zu weit gewesen wäre. Nach den vier Tagen in Zhangmu und der langen Autofahrt war ich froh, mir die Füße vertreten zu können. Eine endlose Moräne zog sich das Tal hoch. Im Gegensatz zum letzten Mal gab es eine richtige Pfadspur; am Cho Oyu war es viel mühsamer gewesen, einen Weg durch die Steine zu finden. Es ging auch nicht sonderlich steil aufwärts, sodass ich das Ganze als gemütlichen Spaziergang empfand. Drei Stunden später erreichten wir das Middle Camp, das Zwischenlager vor dem Vorgeschobenen Basislager: ein Küchenzelt, ein Essenszelt und ein paar kleine Zelte zum Schlafen. Das Essenszelt gefiel mir besonders. Sein Boden war mit Schaumstoff ausgelegt, darauf lag ein Teppich, und der äußere Rand war mit Matten bedeckt, auf denen man sitzen konnte. Sofort servierte uns der Koch Tee. Wir lagen auf diesen Matten und tranken heißen Tee. Das Wasser schmeckte zwar etwas nach Yakmist, dem Brennstoff der Tibeter, aber wir verwendeten sowieso Micropur, um das Wasser zu entkeimen und einer Infektion vorzubeugen, und das neutralisierte auch etwas den Yakgeschmack. Über manches muss man im Himalaja eben auch einfach hinwegsehen und akzeptieren, dass es nicht so ist wie zu Hause. Im Basislager hatten sich einige Teilnehmer darüber ausgelassen, wie schlecht das Zwischenlager sei. Ich hingegen fand es sehr komfortabel und bequemer als daheim: Dort bringt mir meine Frau nicht die ganze Zeit Tee, Kaffee und Essen, während ich faul im Wohnzimmer liege … 

Am 17. Mai erreichten wir das Vorgeschobene Basislager. Was für eine Zeltstadt! Wir hatten Glück und kamen gerade zur rechten Zeit bei der Expeditionsgruppe von Kari Kobler vorbei. Eine halbe Stunde später gab es Mittagessen, und Kari lud uns dazu ein. Zu seinem Service gehört, dass viele Lebensmittel aus der Schweiz importiert werden. Das Essen kam mir einzigartig vor – es gab sogar aufgesprudeltes Wasser dazu. Bei aller Sympathie für das Land, in dem ich mich befand, genoss ich es, wieder einmal so zu essen, wie ich es gewöhnt war. Ich fühlte mich in die Schweiz versetzt, und ich hatte mich schon lange darauf gefreut, mal wieder Wasser mit Kohlensäure zu trinken, jetzt tat ich das auf mehr als 6000 Metern! Wir verweilten noch einen Moment. Ich erhoffte mir von Kari Informationen darüber, wie die Situation am Berg aussah, außerdem besprachen wir die bestmögliche Taktik. Kari betonte, wie wichtig es war, dass Don und ich, da wir ohne künstlichen Sauerstoff aufstiegen, oben am Berg nicht in einen Stau gerieten. Er würde im Basislager bleiben, um seine Gruppe zu koordinieren. Ich nutzte die Gelegenheit und fragte ihn, ob er mir warme Handschuhe leihen könne, denn mit meinen eigenen war ich am Cho Oyu mit der Kälte ans Limit gekommen, und ich wusste, dass es am Everest kalt werden würde. Er gab mir ein Paar dick mit Daunen gefüllte Handschuhe. Sie glichen zwar mehr Box- als Bergsteigerhandschuhen, und viel mehr als meine Skistöcke halten würde ich mit ihnen nicht können, aber das reichte völlig aus, und sie waren wunderbar warm. Ich war erleichtert, dass ich das Problem gelöst und die wärmsten Handschuhe zur Verfügung hatte, um den Everest anzugehen. Ein weiterer Mosaikstein hatte sich eingefügt.

Schnell teilte sich mit, wie nervös die Bergsteiger im Lager waren. Sie saßen schon seit Wochen auf 6400 Metern und warteten auf gutes Wetter. Die meisten waren bereits zur Akklimatisierung an den Everest gegangen. Fünf bis sechs Wochen benötigt der Organismus, um sich an die Höhe zu gewöhnen, und so verbrachten sie insgesamt fast zwei Monate am Berg. Wir dagegen waren gerade erst angekommen und nahmen es relativ gelassen. Ich machte mir sowieso keinen Druck, da ich nicht genau einschätzen konnte, wie sich mein Körper von den letzten beiden Achttausendern erholt hatte. Es war durchaus möglich, dass ich zu ausgebrannt war, aber versuchen wollte ich es auf jeden Fall, und seit ich endlich den Berg aus der Nähe gesehen hatte, war meine Motivation höher als je zuvor.

Für den 21. Mai zeichnete sich ein Schönwetterfenster ab. Wir brauchten einen Plan und trafen uns am nächsten Tag wie vereinbart noch einmal mit Kari. Er hatte mittlerweile so viele kommerzielle Expeditionen am Everest durchgeführt, dass wir uns auf seine Erfahrung verließen. Im Jahr 2006 war ich mit Kari auf der Nordseite des Gasherbrum II gewesen, und damals hatte mich stark beeindruckt, wie er die Expedition leitete. Ich werde nie vergessen, wie er, als uns dort im Vorgeschobenen Basislager das Gas ausging, eigenhändig mit einer 25 Kilo schweren Gasflasche über die 20 Kilometer lange Moräne zu uns aufstieg.

Da wir am Everest keinen zusätzlichen Sauerstoff benutzen wollten, würden wir im Grunde an einem anderen Berg unterwegs sein als die meisten anderen, die mit Sauerstoffflaschen aufstiegen. Wir durften uns von ihnen nicht beeinflussen lassen, denn wir würden viel stärker mit der Kälte zu kämpfen haben. Der geringe Luftdruck in der Höhe und die trockene Luft lassen das Blut eindicken und führen zu einer schlechteren Durchblutung der Extremitäten, damit schneller zu Kälteschäden. Atmet man künstlichen Sauerstoff, stellt sich dieses Problem weniger. Überwiegend wird ab einer Höhe von 7700 Metern zusätzlicher Sauerstoff zu Hilfe genommen, zum Teil aber auch schon ab dem Nordsattel, also 700 Meter tiefer. Die Menge variiert zwischen einem und vier Liter pro Minute. Atmet man Flaschensauerstoff ein, hat das einen ähnlichen Einfluss wie das Hormon EPO, allerdings mit noch effizienterer Wirkung. Man wird viel leistungsfähiger – das heißt nichts anderes, als dass man gedopt ist. Auf 7700 Metern beträgt die Sauerstoffsättigung noch 78 Prozent; Don und ich würden also mehr als 20 Prozent weniger Sauerstoff zur Verfügung haben. Auf 8500 Metern würde unser Sauerstoffdefizit auf bis zu 33 Prozent steigen. Zudem hat der Sauerstoffmangel einen negativen Einfluss auf die Erholung und den Schlaf: In den Lagern auf mehr als 7000 Metern ist der Appetit stark beeinträchtigt, man kann kaum etwas essen und die verbrauchten Energien nicht ersetzen, nachts erwacht man alle zwei bis drei Stunden. Im Vergleich erholt man sich viel besser, wenn man künstlichen Sauerstoff atmet.

Wir beschlossen, von Lager 2 auf 7700 Metern zu starten. Höher oben zu schlafen erschien uns nicht sinnvoll, das hätte uns nur Energie gekostet. Kari bot uns an, seine Infrastruktur zu benutzen. Ein Glücksfall für uns: Indem wir die Zelte und Kocher seiner Gruppe verwendeten, konnten wir jeder zwei Kilo Gewicht im Rucksack einsparen. Wir würden einen Tag später als seine Kunden starten und immer ein Lager tiefer übernachten als sie. Am Gipfeltag würden wir entsprechend auf 7700 Metern aufbrechen, sie auf 8300 Metern, so kämen wir uns nicht in die Quere. Kari, der den Gipfel selbst schon fünfmal erreicht hatte und wusste, auf was es ankam, gab uns noch einige wichtige Ratschläge. Wir mussten unbedingt vermeiden, von einem Stau aufgehalten zu werden, deshalb vereinbarten wir, um 23 Uhr loszugehen. Einen Pickel brauchten wir an diesem Berg, an dem vom Einstieg bis zum Gipfel ein ununterbrochenes Fixseil führt, nicht. Lediglich Steigeisen und als Gehhilfe Skistöcke. Ich hatte mich für ein Paar leichte Karbonstöcke entschieden, die ich mir auf die genaue Länge hatte zurechtschneiden lassen.

Ich freute mich auf den Berg. Für mich war er etwas Neues; Verhältnisse wie am Mount Everest hatte ich noch nie gesehen. Reinhold Messner bezeichnet so etwas zu Recht als Pistenalpinismus. Der Berg ist von unten bis oben versichert. Sherpas richten komfortable Lager ein, tragen Material und Sauerstoff nach oben. Der Everest war eine andere Welt für mich, eine Welt, die offensichtlich nichts mit dem Alpinismus in seiner klassischen Form zu tun hatte. Trotzdem genoss ich es, wieder unter Leuten zu sein und jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Im Vorgeschobenen Basislager kam ich mir vor wie in einem kleinen Dorf, die einzelnen Essenszelte übernahmen die Funktion der Dorfbeiz. Ich fühlte mich gut. Die Höhe machte mir keine Probleme. Ich war nicht erkältet, hatte keine Infektion erwischt und sah dem Gipfelversuch zuversichtlich entgegen.

Am 19. Mai stiegen Don und ich ins Lager 1 auf dem Nordsattel auf. Zunächst überwanden wir ein Schneefeld, dann ging es im Zickzack zwischen Gletscherspalten hindurch, bevor wir die erste steile Passage kurz unter dem Sattel erreichten. Auf einer Aluminiumleiter als Brücke überquerten wir eine tiefe Spalte am Fuß des Steilhangs. Nach 50 Metern querte die Spur in ein Schneecouloir und führte durch dieses zum Lager. Meine Skistöcke erwiesen sich als sehr praktisch, daher wunderte ich mich, dass die anderen Bergsteiger ihre Stöcke unter dem Nordsattel deponierten. Da steckten sicherlich gegen 100 Stöcke im Schnee – es sah aus wie vor einem Restaurant an der Skipiste. Ich beschloss, meine mitzunehmen, und zwar bis zum Gipfel. Wir hielten Ausschau nach unserem Zelt. Als Erstes fiel mir das Toilettenzelt auf, das Kari Kobler installiert hatte. Er beabsichtigte, in Zukunft in allen Lagern solche Zelte aufzubauen, um Krankheitsfälle durch Wasser zu vermeiden, das aus verunreinigtem Schnee geschmolzen wurde. Die Exkremente werden in einem Behälter gesammelt und nach Abschluss der Expedition nach unten transportiert. An einem Berg, an dem sich so viele Leute aufhalten, wird die Hygiene zu einem Problem. Ich finde es erfreulich, wenn kommerzielle Anbieter von Expeditionen Verantwortung übernehmen und sich um eine Lösung bemühen – wenn das schon der Verband vor Ort, die China Tibet Mountaineering Association (CTMA), nicht tut. Diese staatliche Organisation kontrolliert alles, was in Tibet mit dem Bergsteigen zu tun hat, sie erteilt die Bewilligungen und bestimmt die Preise, ob für das Permit, für das Hotel, für die Yaks. Um den Berg allerdings kümmert sie sich herzlich wenig. Die CTMA hat ein Monopol, und wir sind angewiesen auf sie; sie bestimmt die Regeln, sie entscheidet, welche Gipfel bestiegen werden dürfen und welche nicht. Wer aus dem Westen kommt, kann das nur schwer nachvollziehen, aber in einem Land wie China ist das die Realität. Wenn man etwas erreichen will, ist es besser, sich mit der CTMA zu verstehen und sich anzupassen.

Am nächsten Tag schliefen Don und ich aus und frühstückten ausgiebig, bevor wir weiter ins Lager 2 auf 7700 Metern stiegen. Die Spur zog vom Nordsattel über einen Schneerücken zu den Felsen hoch, wo sich das Lager befand. Die gelben Zelte konnte ich schon von unten erkennen. Ich versuchte, nicht ständig hinaufzuschauen, um zu sehen, wie weit es noch war, denn die Zelte kamen nur langsam näher. Es war ein strahlend sonniger Tag. Umso irritierender empfand ich die anderen Bergsteiger, die dick in farbige Daunenanzüge eingehüllt waren und ihre Gesichter hinter Skibrillen und Sauerstoffmasken verbargen. Das hatte etwas Gespenstisches. Ich wunderte mich, wie sie das aushielten; es war relativ warm, und wir stiegen beide nur in Power-Stretch-Hosen und einer Jacke auf. Don hatte sich von mir zum »Euro Style« verleiten lassen, in seinen Augen äußerst uncool – weite Hosen sind in Amerika deutlich mehr im Trend. Mir war das egal: In den engen Hosen würden wir sicher keinen Schönheitspreis gewinnen, aber praktisch waren sie allemal. Außerdem stehe ich zu meinen O-Beinen, ich kann sie auch unter weiten Hosen nicht verstecken.

Nurbu, am Berg der Chef in Kari Koblers Gruppe, hatte wieder das Zelt markiert, in dem wir ausruhen und schlafen durften. Mir wurde bewusst, wie komfortabel es ist, wenn die Zelte bereits vor Ort sind. Normalerweise ist man mindestens eine Stunde damit beschäftigt, den Liegeplatz vorzubereiten und das Zelt aufzustellen, eine umso anstrengendere Arbeit, je höher man sich befindet. Wir hingegen konnten einfach unsere Schlafsäcke ausrollen und uns hineinlegen. Das Zelt war blitzsauber, Nurbu hatte es sicherlich am Morgen noch in Ordnung gebracht.

Die Sonne schien intensiv, und uns wurde im Zelt fast zu heiß. Nach einer Ruhepause war es Zeit, Schnee zu schmelzen, um unseren Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Wir mussten so viel wie möglich trinken. Don und ich verloren nie ein Wort darüber, wer zum Schneeschmelzen an der Reihe war. Es ergab sich, wie sich eigentlich alles zwischen uns einfach ergab. Wir verstanden uns prächtig, es gab während der ganzen Expedition nie eine Auseinandersetzung. Oft sind es ja gerade die Kleinigkeiten, die zu Spannungen führen. Über Monate hinweg lebt man eng aufeinander. Steht der eine nachts auf, weil er sich erleichtern muss, lässt sich nicht verhindern, dass der andere auch aufwacht. Man teilt einfach alles miteinander, selbst die stinkenden Socken, denn auch wenn den einen der Geruch stört, kann er trotzdem nicht die Socken des anderen aus dem Zelt werfen. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie sehr man sich über die Eigenheiten eines anderen aufregen kann, wenn es kein Entkommen gibt.

Im Verlauf des Tages verschlechterte sich das Wetter zunehmend. Schließlich fing es an zu stürmen. Wir waren irritiert, das entsprach nicht dem üblichen Wetterverlauf im Tagesgang, und der Wetterbericht hatte nichts davon vorhergesagt. Es musste eine dieser lokalen Gewitterzellen sein, die man nur sehr schlecht prognostizieren kann. Sie führen auf dem Grat zu hohen Windstärken, können sehr gefährlich werden und schnell zu einer aussichtslosen Situation führen. Weil sie sich frühestens kurz nach Mittag bilden, sind sie der wichtigste Grund für die Regel, dass man den Gipfel vor dem Mittag erreicht haben sollte. Eine ähnliche Situation war 1996 eingetreten, als es zu der großen Katastrophe am Everest kam, bei der acht Bergsteiger ihr Leben verloren und etliche schwere Erfrierungen erlitten. Sie alle waren noch in Gipfelnähe, als der Höhensturm eintraf.

Ich war froh, dass wir bereits im Zelt saßen. Wir verköstigten uns mit Käse, Salami und Kräckern. Dons Streichkäse schmeckte in der Höhe besonders gut, der Block wurde sehr schnell kleiner. Zu Hause hätte ich so etwas nie gegessen, er bestand mehr oder weniger aus reinem Fett und war das Billigste, was es an Käse gab, aber dort oben mussten wir uns zusammennehmen, um nicht das ganze Stück auf einmal zu essen. Dazu tranken wir Pfefferminztee. Von Zeit zu Zeit öffneten wir den Reißverschluss, um zu prüfen, ob das Wetter sich beruhigte, schlossen ihn aber meistens sofort wieder, um nicht allzu viel Schnee ins Zelt wehen zu lassen. Das schlechte Wetter hielt an.

Langsam begann es zu dämmern. Beide lagen wir unruhig im Schlafsack. Bei diesem Wind konnten wir auf keinen Fall starten, die Gefahr von Erfrierungen wäre zu groß gewesen. Was sollten wir tun? Unsere Euphorie hatte sich in den vergangenen Stunden gelegt. Um 21 Uhr schaltete ich das Funkgerät ein. Ich erfuhr, dass Karis Gruppe in Lager 3 starten würde. Daraufhin erklärte ich Don, dass wir es zumindest probieren sollten. Wenn auf 8300 Metern alle zum Gipfel aufbrachen, konnte der Wind dort oben zumindest nicht stärker sein, schloss ich aus den abgehörten Funkgesprächen der anderen Gruppen. Don blieb zunächst skeptisch. Ich war überzeugt davon, dass wir es zumindest versuchen sollten – jetzt, da wir schon so weit oben waren. Wir hatten ein sicheres Zelt in Lager 2 und konnten jederzeit umdrehen. Schließlich willigte er ein und versicherte mir, dass er alles daransetzen würde, auf den Gipfel zu kommen: »If I commit, I’ll go for it!«

Es war kurz nach 23 Uhr, als ich aus dem Zelt kroch und meine Schuhe anzog. Don machte sich noch im Zelt bereit. Weit oben sah ich die Lichtkegel der Stirnlampen von mehreren Bergsteigern, die von Lager 3 aus gestartet waren. Ich wartete eine endlose Viertelstunde, bis auch Don das Zelt verließ – wie ein Raubtier ging ich auf und ab, um mich warm zu halten. Einer musste immer in den sauren Apfel beißen und zuerst hinaus in die Kälte, weil es im Zelt so eng war, dass sich nicht beide gleichzeitig bereit machen konnten; diesmal war ich es.

Endlich ging es los. Die Niederschläge waren nicht ergiebig gewesen, mehr Wind als Schnee, das war zumindest eine gute Ausgangslage. Unsere Stirnlampen beleuchteten die Tritte der deutlich zu erkennenden Spur. Dank unserer guten Akklimatisation bereitete uns das Gehen auf fast 8000 Metern Höhe keine großen Schwierigkeiten. Einzig der Wind und die Kälte waren unangenehm. Wir achteten darauf, nicht zu schnell zu gehen, um unsere Kräfte für weiter oben zu sparen. Don und ich hatten das gut im Griff, keiner musste dem anderen etwas beweisen, wir hielten einen guten Rhythmus. Wir wussten genau, wie fit der andere war.

Nach einiger Zeit rief mir Don, der rund 100 Meter zurückgefallen war, etwas zu. Ich verstand nur, dass ihm das Wetter nicht sympathisch sei. Im Süden waren Gewitter zu erkennen. Ich antwortete ihm, dass wir innerhalb kürzester Zeit zurück im Lager seien, falls es sich verschlechtern würde, und stieg weiter. Dieses Wetterleuchten hatte ich schon ein paarmal erlebt. Solange es nicht näher kam, war das kein Problem. Im Gegenteil: In der letzten Stunde hatte der Wind mehr und mehr die Wolken vertrieben, das Wetterleuchten hatte sich entfernt.

Mittlerweile war ich auf 8150 Metern angelangt, 150 Meter höher als Don. Ich hielt an, um zu sehen, wo er blieb. Auf meinen Zuruf schrie er etwas zurück, was ich aber nicht verstand. Ich rief noch einmal und erklärte ihm, dass ich wegen des Wetters keine Bedenken hätte, es sei zuletzt immer besser geworden. Seine Antwort hörte ich immer noch nicht. Ich sah aber, dass er sich umdrehte und abzusteigen begann. Ich schrie ihm zu, dass er weiter aufsteigen solle. Diesmal verstand ich seine Antwort: »Cold feet, not good.« Meine Ermunterungen halfen nichts; ich konnte nicht fühlen, wie kalt seine Zehen waren, das musste er für sich selbst entscheiden. Die Kälte war das eigentliche Problem ohne künstlichen Sauerstoff. Wir hatten das im Vorfeld genau besprochen und alle möglichen Szenarios diskutiert. Sollte der Partner sehr müde und eventuell sogar höhenkrank sein, würden wir uns nicht im Stich lassen und gemeinsam absteigen. Wegen kalter Füße bräuchten wir gegenseitig keine Unterstützung, sollten sie auftreten, könnte jeder von uns allein absteigen.

Ende der Leseprobe