Abenteuerroman - Gerhard Henschel - E-Book

Abenteuerroman E-Book

Gerhard Henschel

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Beschreibung

Martin Schlosser wird erwachsen. Und Kohl wird Kanzler. Abenteuerliches aus der alten Bundesrepublik. Endlich hat Martin Schlosser eine Freundin gefunden, und schon beginnen die zermürbenden Beziehungsdiskussionen. Es sind die frühen achtziger Jahre und Martin möchte nichts dringender, als der emsländischen Kleinstadt Meppen entfliehen. Dafür muss er aber erst einmal sein Abitur bestehen. Wird ihm das gelingen? Wird er sich danach wie geplant als Spülkraft in einem Hotel auf Norderney bewähren? Wird er Soldat oder doch Zivildienstleistender? Wie bekommen ihm seine Drogenexperimente? Wie wird ihm das Wohngemeinschaftsleben schmecken? Und kann er seine Beziehung durch die Zeiten retten? Martins Lebensweg führt ihn diesmal nach Brokdorf, Hamburg, Amsterdam, Osnabrück, Bielefeld, München, Venedig, Wien und Göttingen - und immer wieder zurück ins verhasste Meppen. Nach dem "Kindheitsroman", dem "Jugendroman" und "Liebesroman" folgt jetzt Henschels nächster Streich: Martin Schlosser bricht in die weite Welt zu großen Abenteuern auf.

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Seitenzahl: 762

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Gerhard Henschel

Abenteuerroman

Hoffmann und Campe

Abenteuerroman

Das erste Mal! Wir waren zu Heikes sturmfreier Bude gefahren und knutschten und rangelten eine ganze Weile auf der Matratze herum, in voller Montur, bis ich die Initiative ergriff und mich zum Knopf von Heikes Jeans vortastete und ihn öffnete und auch den Reißverschluß ein Stückchen herunterzog. Doch die Jeans saßen immer noch viel zu eng, und eine große Hilfe war Heike mir leider nicht.

»So wird das nix«, sagte sie und schob meine Hand weg. »Laß uns man besser erst eine rauchen …«

 

So wird das nix? Ja, wie denn sonst? In den einschlägigen Filmszenen hatte sich ab diesem Stadium der Paarung alles weitere von selbst ergeben. Humphrey Bogart, Cary Grant und Jean Gabin, die hatten’s mir doch vorgemacht – die Geliebte in die Arme schließen, ihr einen Kuß auf den Mund drücken, voller Leidenschaft, und dann …

Jedenfalls war noch von keiner einzigen der Filmpartnerinnen der Drehbuchsatz überliefert worden: »So wird das nix.«

 

Und wie lange hatte ich mich auf diese Nacht gespitzt! Jahre und Jahre des Rumhängens zwischen Plattenspieler und Bettgestell!

Jetzt saß ich mit Heike schweigend auf ihrer Matratzenkante und war am Rauchen.

I journey down the hundred steps,

but the street is still the very same …

Heike zupfte sich ein Tabaksfädchen von der Unterlippe, und mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können.

 

Beim zweiten Anlauf gingen wir ruhiger zur Sache, doch es kam wieder nichts Vernünftiges zustande.

»Irgendwie spukt mir auch immer noch Werner im Kopf rum«, sagte Heike. »Ich hab ja mit ihm Schluß gemacht, schon kurz nach Ostern, aber diese drei Jahre mit Werner, die kann ich nicht so einfach annullieren. Erst recht nicht nach dem, was er mir letzten Sonntag an den Kopf geknallt hat …«

»Wieso? Was war ’n das?«

»Naja – daß er mich immer lieben und immer auf mich warten wird, aber daß er sich auch vorstellen kann, sich umzubringen, wenn er mich mit ’nem anderen Freund sehen sollte.«

Ach du Scheiße. »Und was hast du dazu gesagt?«

»Nicht viel. Für Werner ist das schon ’n Schock gewesen, als ich vor ’nem halben Jahr die Pille abgesetzt hab, weil, ich wollte das nicht mehr, dieses dauernde Verfügbarsein, und außerdem, was in der Pille alles drin ist an Chemie, das muß ich mir als Frau nicht immer antun, find ich. Aber Werner hat das nicht verstanden, ey, der hat mir echt die Hölle heiß gemacht …«

Mit jeder neuen Mitteilung sank dieser Werner tiefer in meiner Achtung. Hatte der sie noch alle? Heike mit Selbstmord drohen? Sollte das etwa ein Liebesbeweis sein?

 

Heikes Eltern blieben die ganze Nacht über weg. Wir hatten viel Zeit und irgendwann auch wieder nichts mehr an, und Heike legte sich so hin, daß ich ihr bis in den siebenten Himmel kucken konnte.

»Komm doch mal dichter bei«, sagte sie.

Nichts leichter als das, hätte ich gedacht, wenn Heike ein Playmate gewesen wäre. Aber als sie vor mir lag, verließen mich die Kräfte.

Und das war nun mein erstes Mal.

Ihr mache das nichts aus, sagte sie. Wir müßten nichts überstürzen. »Und ’n sensibler Typ wie du ist mir sympathischer als ’ne alte Wildsau, die nur rammeln will und fertig.«

Da hatte ich was zum Nachdenken, als ich nachhausefuhr.

 

Rasenmähen war die drittblödeste Gartenarbeit, gleich nach Unkrautschöveln und Blätterharken. Wenn das mein eigener Rasen gewesen wäre, hätte ich ihn einfach seinem Schicksal überlassen und nur ab und zu den Schmetterlingen und den Hummeln zugesehen, wie sie sich im Garten amüsierten. Wozu die Mühe? Im Wald sah’s auch ohne menschliches Zutun gut aus. Und war so ’n Rasen etwa schöner als ’n Wald?

Ich mähte um die Birke rum, was schwierig war wegen der dicken Wurzeln, und auf einmal bollerte irgendwas von innen gegen das Rasenmähergehäuse: KLABONK!

Volker behauptete, daß ich absichtlich über einen Stein gefahren sei: »Du betreibst hier Sabotage, damit dich Papa für zu doof zum Rasenmähen hält und nur noch mich dazu einteilt!«

Ich hätte aber lieber noch zehn Stunden lang rasengemäht, als schuld daran zu sein, daß die Klinge hinüber war.

 

Mama meldete sich für eine Operation im Reinhard-Nieter-Krankenhaus in Wilhelmshaven an, für Mitte Juli, wegen einer Sache, über die sie sich nicht näher äußerte. Ich wollte auch nichts Näheres darüber wissen.

 

Bei einem Tagesausflug nach Hamburg, den Heikes Eltern unternahmen, durfte ich mitkommen und im Auto hinten neben Heike sitzen.

»In Hamburg machen wir dann unser eigenes Programm …«

Ich fand es sehr angenehm, daß ihre Eltern mir keine Fragen stellten. Heikes Daddy machte irgendwas mit Versicherungen, und die Mutter war Hausfrau.

 

Wir ließen uns am Hafen absetzen, wo Schiffe in verschiedenen Formaten ankerten, und dann wollte Heike die Reeperbahn sehen. Dort befand sich ein anrüchiges Lokal neben dem anderen. Vor manchen Eingängen standen Koberer, die uns anquatschten: Ob wir nicht mal was Besonderes erleben wollten, wir zwei Hübschen?

»Nee«, sagte Heike zu einem von denen. »Wir haben schon alles hinter uns!«

 

Zum Essen gingen wir in ein Fischrestaurant. Kutterscholle, das hörte sich sehr gut an, aber mit den Gräten hatten wir viel Ungemach.

Ein Fremder setzte sich auf einen freien Stuhl an unserem Tisch, bestellte sich »ein kühles Blondes« und richtete das Wort an uns: »Dürfte ich vielleicht an Ihrem Aschenbecher partizipieren?«

Ein echter Hanseat.

 

Wir liefen danach zu Fuß durch den Regen, und Heike erzählte mir von ihrer Beziehung zu ihrem Freund Henrik. Von ihrer Seite aus sei das ein rein platonisches Verhältnis. »Ich hab ihm klargemacht, wo für mich die Grenze liegt, und das hat er auch irgendwie akzeptiert, aber wenn er wüßte, was jetzt zwischen dir und mir so läuft, dann würde ihn das verletzen. Ist das für dich nachvollziehbar?«

Nachvollziehbar schon.

»Und deshalb hab ich mir gedacht, wir tun erstmal so, nach außen hin, als ob da nichts am Laufen wäre.«

Apropos Laufen: Durch die gleichen Straßen waren kurz vor meiner Geburt die Beatles gelaufen. Die hatten ja in mehreren Tanzschuppen an der Reeperbahn gespielt.

 

Auf der Rückfahrt hielten wir Händchen, heimlich, unter einer über unsere Beine gebreiteten Decke, so daß Heikes Eltern nichts davon sehen konnten.

 

Im Dritten wurden Ausschnitte aus einer vierzig Jahre alten Wochenschau gezeigt. Der Führer, vom Jubel umbrandet, kurz nach dem siegreichen Frankreichfeldzug. Papa und ich sahen uns das an, und als Mama dazukam, sagte sie: »Ihr ollen Kriegsfanatiker!«

Dabei saßen wir ganz friedlich auf dem Sofa, ohne einen Funken Fanatismus.

 

Von Oma Jever hatte Mama gehört, daß der Dellbrügge, mit dem Tante Gisela zusammenwohnte, immer unausstehlicher werde. Der Dellbrügge, das war ein Mensch, von dem die Sage ging, daß er im Geld schwimme und für die Apartheid sei. An Tante Giselas Stelle hätte ich mich mit so jemandem gar nicht erst eingelassen.

 

Der nächste Versuch war schon etwas ergiebiger. Doch was machte man, wenn man Schamhaare in den Hals kriegte und husten mußte und den Handlungsablauf trotzdem nicht unterbrechen wollte? Darauf war man in Sexualkunde nicht vorbereitet worden.

Ab sofort ging ich jedenfalls nicht mehr als Unberührter durchs Leben.

 

Am Montagnachmittag erschien Hermann Gerdes in der Redaktion der Schülerzeitung und hämmerte einen Artikel über das Emsland im Dritten Reich in die Schreibmaschine, mit allen möglichen Informationen über die Konzentrationslager in Neusustrum, Börgermoor und Esterwegen und einer ausführlichen Schilderung der Reichskristallnacht in Meppen: Gegen vier Uhr morgens hatte den Meppener SA-Standartenführer Ernst T. telefonisch der Befehl der Osnabrücker SA-Brigade 64 erreicht, die Synagogen des Standartenbereiches anzuzünden und alle männlichen Juden in »Schutzhaft« zu nehmen, und dann hatten die Meppener SA-Führer sich eine Kanne Benzin vom staatlichen Bauhof geholt und die Synagoge in Brand gesteckt. Das hatte Hermann aus einem Buch von Holger Lemmermann über die Geschichte der Juden in Meppen.

Unterdessen hatten sich verschiedene Trupps von SA-Leuten bzw. Polizisten gebildet, die in den verschiedenen Bezirken der Stadt in die Häuser der Juden eindrangen, Fensterscheiben zerschlugen, Geschäftseinrichtungen und Hausrat zerstörten und männliche Juden jeden Alters sowie auch einige Frauen aufgriffen, sie völlig unzureichend bekleidet unter Beschimpfungen, Bedrohungen, Schlägen und Stößen teilweise zunächst zum Gerichtsgefängnis und dann zum Haus der SA-Standarte, teilweise direkt zu diesem Hause trieben. Dort mußten sie durch eine enge Gasse von SA-Männern, die auf sie einschlugen, in den Hausflur gehen, von wo sie mit einem Fußtritt die Kellertreppe hinuntergestoßen wurden. Im Keller mußten sie zum Teil über Glasscherben umherkriechen, Lieder singen und auf die Frage, was sie seien, entweder antworten: »Wir sind die Mörder vom Rath« oder »Wir sind Saujuden«. Dabei wurden sie mit Flaschen, Stöcken und Stangen teilweise blutig geschlagen. Als einer von ihnen trinken wollte, wurde sein Kopf so lange in einen Eimer mit Wasser gedrückt, bis er Wasser in die Lunge bekam. Die Mißhandlung wurde zwischendurch an einigen Juden im Hof fortgesetzt. U.a. wurden sie gezwungen, in einem Loch stehend »Üb immer Treu und Redlichkeit« zu singen …

Hermann war auf hundertachtzig, als er das abtippte. Was das für Schweine gewesen seien, die ihren Mitmenschen so etwas angetan hätten. Und nicht etwa irgendwo im Orient, sondern hier, im schönen Emsland: »Hier, hier, hier!«

 

Mama stellte mich zur Rede. Was denn das für ’ne Geschichte sei mit mir und diesem Mädchen da.

»Wieso?«

»Na, man wird ja wohl noch fragen dürfen! Als ich in deinem Alter war, da hätten meine Eltern mir schön was gehustet, wenn ich so mir nichts, dir nichts mit irgend ’nem Kerl nach Hamburg gefahren wäre! Rück doch mal raus mit der Sprache!«

»Was willst du denn hören?«

»Zum Beispiel, ob ihr euch darüber im klaren seid, daß so ein Zusammensein auch Folgen haben kann …«

»Da gibt’s ja heutzutage Mittel und Wege«, sagte ich.

Und Mama sagte: »Na, dein Gottvertrauen möchte ich haben!«

Und das war das Ende der Diskussion.

 

Im Spiegel stand, daß im Iran in den vergangenen zwei Monaten mehr als einhundertdreißig Rauschgifthändler hingerichtet worden seien. Was hatte da der Staatspräsident Banisadr eigentlich noch zu sagen?

Und dann Großbritannien: 21,9 % Inflation. Arme Tante Therese!

 

Manche Platten, die man auf Kassette überspielen wollte, konnte man sich vom Buddrich leihen, auch wenn der sonst nicht viel auf dem Kasten hatte. Mir borgte er eine LP von Ougenweide.

Wol mich der stunde, daz ich sie erkande,

diu mir den lîp und den muot hat betwungen …

Dabei mußte ich an Heike denken.

Daz ich gescheiden von ir niht enkan,

daz hât ir schoene und ir güete gemachet,

und ir rôter munt, der sô lieplîchen lachet.

Heikes Lippen durfte ich aber nicht einfach so berühren. Da war sie empfindlich.

 

In der Fernsehsendung Panorama seiberte der Kommentator Winfried Scharlau, und Mama sagte: »Der mit seinem feuerroten Blubbskopf!«

Und der hatte wirklich einen feuerroten Blubbskopf. Über Mamas Bemerkung mußte ich noch lachen, als ich schon halb eingeschlafen war: »Der mit seinem feuerroten Blubbskopf …«

 

»Freakadellen und Bulletten« hieß das neue Buch von Gerhard Seyfried. Das hatte irgendwer der Schülerzeitungsredaktion geschenkt oder da vergessen. Ich fand den geschirrspülenden Freak am lustigsten und den Mao-Bibel-fressenden Chinesen. Eine Mao-Bibel hatte ich noch nicht in die Finger gekriegt, und darauf konnte ich auch verzichten. Wenn ich in China gelebt und mich einer dazu vergattert hätte, ein Mao-Porträt durch die Straßen zu tragen, wäre ich ausgeflippt. Etwa so, wie wenn ich ein Transparent mit dem Kürbis von Konrad Adenauer quer durch Meppen hätte asten sollen.

 

Am Mittwoch fuhr Mama mit mir in die Stadt, zu Leffers, ’ne neue Hose kaufen. Kotz. Wie ich das haßte! Sich bis auf die Unterhose ausziehen, hinter einem schlabbrigen Vorhang, und dann auf die Schnelle irgendwie ’ne Büxe ausprobieren …

Dann radelte ich zu Heike, aber da war es auch wieder schwierig.

»Wenn du mich so unvermittelt anfaßt, dann fühl ich mich unter Druck gesetzt«, sagte sie. »Dann mach ich zu! Weiß ich auch nicht, aber das ist nun mal so.«

An Heike durfte man sich nur ganz behutsam heranmachen. Am besten war’s, wenn man so tat, als ob man gar nichts von ihr wollte, außer Schmusen, denn sonst machte sie gleich wieder »zu«.

 

Als ihre Eltern einmal nicht da waren, ging Heike nackt ins Bad, und ich rief ihr nach: »Dir hängt da was raus!«

Denn ihr hing da so ein blauer Faden zwischen den Beinen raus.

Sie kringelte sich über meine Dämlichkeit. Aber woher hätte ich wissen sollen, daß solche Fäden dazugehörten, wenn eine Frau ihre Tage hatte?

 

Scheibenhonig – beim Zusammenlegen der neuen Schülerzeitung stellte ich fest, daß ich vergessen hatte, die Rubbelbuchstaben über dem Interview mit der FDP-Politikerin Helga Pohlschröder-Brunn zu korrigieren, und jetzt stand da:

Fragen an Helga Pohlsenröder-Brunn

»Das wird ’ne lange Nacht für dich«, sagte Hermann. »Dir ist doch wohl klar, daß du das jetzt fünfhundertmal von Hand verbessern mußt!«

Nicht im Traum. Und schon gar nicht für Frau Pohlschröder-Brunn von der FDP.

 

Am Freitag lag ein Brief meines alten Bundesgenossen Michael Gerlach auf der Treppe, abgesandt aus Vallendar bei Koblenz, wonach ich immer noch Heimweh hatte, obwohl der Umzug schon fünf Jahre her war.

Es hat lang gedauert, doch nun bin ich wieder da. Gestern und vorgestern war ich so fertig, daß ich keinen Füller mehr halten konnte. Jeweils acht Stunden Tücherpacken bei Kleenex hatten mich geschafft. Heute geht’s wieder, denn erstens hab ich mich inzwischen dran gewöhnt, und zweitens haben wir heute sowieso nur rumgestanden, weil der Nachschub an zu verpackenden Tüchern ausblieb. In dieser Woche arbeite ich von 6 bis 14 Uhr, nächste von 14 bis 22 Uhr, übernächste wieder von 6 bis 14 Uhr usw. Schwer ist die Arbeit ja nicht gerade, aber sowas von eintönig hab ich noch nie zuvor erlebt, und das will was heißen. Schließlich bin ich einer der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Eintönigkeit und der Langeweile. Glaub’s mir, im Vergleich mit Kleenex ist die Schule der reinste Kirmesplatz. Acht Stunden am Tag immer die gleichen Handbewegungen, das ist doch Wahnsinn.

Dem Holger geht’s beim Barras natürlich noch dreckiger. Er kommt nach Schwarzenborn (Blackborn City), überall berühmt-berüchtigt für seine Abgeschiedenheit und die Kommißköppe, die da den Ton angeben. Holger wird Panzergrenadier. Das sind die Leute, die vor oder hinter den Panzern durch das Eingemachte rennen. Stoppelhopser, die sich mehr unterirdisch fortbewegen als über der Erde, wenn sie durch den Matsch robben. Außerdem müssen sie jedes Manöver mitmachen und werden auch nach der Grundausbildung weiter auf Trab gehalten. Also, ich mache alles, damit ich bloß nicht zum Bund muß. Übers Wochenende war Holger hier. Er erzählt die schlimmsten Dinge, wenn er mal nicht mit entsetzt stierem Blick dasitzt und schweigt.

Davon abgesehen ist hier gar nichts los. Deswegen habe ich auch so lange nicht geschrieben. Ich dachte zwar, daß etwas zu berichten wäre, wenn ich mit der Arbeit angefangen habe, aber was kann man schon groß übers Tücherverpacken berichten? Sehr wenig. Außer daß einem die Beine vom langen Stehen wehtun und der Rücken vom dauernden Bücken. Nebenbei hat man durchgewetzte Fingerkuppen, weil die in Plastikfolie eingeschweißten Packen noch heiß sind. Der Kartonleim wirkt sich dann auch nicht eben schmerzlindernd aus. Der Kopf dröhnt einem von dem Krach überall, und man sieht, wenn man wieder zuhause ist, nichts als Tücher, Tücher, Tücher. Wie kann man das nur jahrelang ertragen?

So, ich mach Schluß, damit Dein Brief bald kommt. Der wird mein Leben wenigstens wieder etwas ereignisreicher machen.

 

Im Jugendzentrum in der Königstraße lief ein Film über zwei Anarchisten, an denen in den USA ein Justizmord begangen worden war. Sacco & Vanzetti. Ein langhaariger Typ namens Hoppy, der in die elfte Klasse ging, war hinterher total fertig. »Da darf man ja gar nicht drüber nachdenken, wenn man nicht durchdrehen will …«

Über die Klassenjustiz in Amerika hatte ich mich schon längst keinen Illusionen mehr hingegeben.

 

Heike hatte mich zum Kuchenessen eingeladen, und da saß ich dann mit ihr und ihren Eltern auf deren Terrasse und war am Kirschkuchenfuttern und Kaffeesaufen. Heikes Mutter hatte eine Fliegenpatsche parat und gab damit den Wespen Saures. Platsch! Auch mitten auf den eigenen Kuchenteller, so daß die Sahne nach allen Seiten spritzte. Nach einer dieser Attacken blieb eine Wespe am Tellerrand liegen, und Heikes Vater trennte ihr mit der Kuchengabel den Kopf ab.

Und schon wieder kreisten drei Wespen über dem Terrassentisch und machten Miene, uns die Sahne wegzuspachteln.

Der Kuchen sei ihr »zu wehrig«, sagte Heikes Mutter. Ins Hochdeutsche übersetzt: zu kalorienreich.

 

Mit seiner roten Ente holte Henrik Heike und mich ab und brachte uns zu Mike’s Pub, wo wir uns bei drei Gläsern Erdbeerbier über Bob Dylan unterhielten. Der sei zum Christentum übergetreten und jetzt als Prediger unterwegs, sagte Henrik. »Trauriger Fall!«

Ich mochte das gar nicht glauben.

Heike brachte das Gespräch auf die Sommerferien. Ob wir da nicht zusammen verreisen wollten? Zu dritt? Nach Ameland? Das sei ’ne holländische Nordseeinsel.

»Und was machen wir da?« fragte Henrik.

»Fröhlichsein«, sagte Heike, und der Fall war geritzt.

 

Als Henrik gegangen war, steckte Heike mir, daß es besser sei, wenn er auch im Urlaub nichts von unserer Beziehung mitkriege.

Einen Knacks habe ihre Freundschaft mit Henrik bekommen, weil er einmal irgendwelche eingefangenen Spatzen in einen Sack gesteckt und mit dem Luftgewehr darauf geschossen habe.

 

Im Wohnzimmer lag Mama mit einem Glas Sherry in der Hand auf dem Sofa. Der Fernseher war aus. Das Programm sei zu schlecht gewesen, sagte sie, und ich beging den Fehler, mich dazuzusetzen. Ein Wort gab das andere, und binnen kurzem landeten wir beim Krieg und bei Opa Jevers Verstrickung in die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Ihr Vater, sagte Mama, habe damals in die NSDAP eintreten müssen. »Sonst hätte er seinen Job verloren!«

Aha. »Und was ist mit Bertolt Brecht? Der ist ins Exil gegangen!«

»Du Witzbold! Dann geh du doch selbst mal ins Exil als Schullehrer mit fünf halbwüchsigen Töchtern an der Backe, und dann sprechen wir uns wieder! Was du dir so vorstellst! Womit hätte der denn bitteschön seine Familie ernähren sollen im Ausland? Du bildest dir anscheinend ein, daß mein Vater da mit Handkuß empfangen worden wäre, als Habenichts, und dann noch mit Kind und Kegel! Und daß man ihm ’n roten Teppich ausgerollt hätte! Da bist du aber ganz schön naiv, mein Lieber. Für die Engländer waren wir Deutsche doch der letzte Dreck in der Nazizeit und auch lange danach noch!« Das habe sie da als Dienstmädchen zu spüren bekommen. »Und ich kann dir eins versichern: Mein Vater war kein Nazi!«

Sondern nur ein ganz ordinärer Parteigenosse, so wie Millionen andere. Ein Mitläufer. Oder, genauer gesagt, ein Arschkriecher, ein mieser.

Den Weg ins Exil hatte Opa Jever doch keine Sekunde lang in Betracht gezogen.

 

Papa fuhr mit Mama nach Wilhelmshaven zum Reinhard-Nieter-Krankenhaus, wo sie nun operiert werden sollte.

 

Beim Verkauf der neuen Schülerzeitung saßen Hermann und ich in der Eingangshalle beisammen. Die et cetera Numero sechs war ein Verkaufsschlager, obwohl kein Schweinkram drinnestand.

»Ich komm mir hier fast schon vor wie so’n betrügerischer Dealer, der statt Heroin nur Dash verkauft«, sagte Hermann.

 

In der Stadtschänke begossen wir nach Schulschluß den Erfolg unserer Verkaufsaktion.

»Und nun mal ehrlich, alter Junge – du hast doch was mit Heike Schmitz, oder irre ich mich?« fragte Hermann.

Ich sagte, daß das noch nicht spruchreif sei und daß er sich besser zurückhalten solle, vor allem gegenüber Henrik Osterlohe.

»Schon klar«, sagte Hermann. »Schon klar.«

Auf ihn war Verlaß.

 

Mit der Post waren neue Rezensionsexemplare eingetroffen. In einem davon, das in einem linken Kleinverlag erschienen war, ging es um den Tod Ulrike Meinhofs. Hatte die sich in ihrer Zelle wirklich selbst erhängt? Zu den Autopsiebefunden, so stand es in dem Buch, hätten schwerer Blutandrang in den äußeren Geschlechtsteilen, Quetschungen an beiden Waden, eine Quetschung im rechten Hüftbereich und eine mit geronnenem Blut bedeckte Abschürfung an der linken Hinterbacke gehört. Gefehlt hätten aber die für einen Erhängungstod typischen Symptome, nämlich Blutungen in der Schädelschwarte, in den Augenbindehäuten, in der Gesichtshaut und der Rachenschleimhaut, in den Gaumenmandeln, in den Lymphknoten und im Trommelfell, und die Strangulationsfurchen hätten auch an der frischen Leiche erzeugt werden können. Außerdem sei die Halsschlinge mit einer Länge von 80 bis 82 Zentimetern und einem Kreisdurchmesser von 26 Zentimetern für den Tod durch Erhängen zu groß gewesen:

Eine Aufhängung der Leiche kann nur dann in solch einer Schlaufe erfolgen, wenn dazu die Totenstarre benutzt wird.

Außerdem hätte der aus einem Gefängnishandtuch hergestellte Strick einer ruckartigen Belastung gar nicht standhalten können.

Sollte man daraus nun folgern, daß Ulrike Meinhof umgebracht worden war? Von den Schergen der Bullenrepublik Deutschland?

 

Eins der anderen Rezensionsexemplare hieß »Das neue Schwarzbuch Franz-Josef Strauß«. Was der so alles ausgeklügelt hatte bei seinen undurchsichtigen, skandalumwitterten Geschäften mit der Firma Lockheed, der Aktiengesellschaft FIBAG, einem gewissen »Onkel Aloys« und dem »Ochsensepp«. »Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfaulen!« hatte Strauß als junger Abgeordneter verkündet und ein paar Jahre später als Verteidigungsminister nach Atombomben gegiert. Von den Starfightern, die er als erster geordert hatte, waren inzwischen 209 abgestürzt, wobei 92 Menschen den Tod gefunden hatten.

Und wie Strauß das Parlament und die Nation 1962 in der Spiegel-Affäre angelogen hatte. »Ich habe mit der Sache nichts, im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu tun!« Und dabei war er der Drahtzieher gewesen. Und in der kritischsten Nacht der Kuba-Krise, die um ein Haar zum Dritten Weltkrieg geführt hätte, war Strauß als Oberbefehlshaber der bundesdeutschen Streitkräfte stockbesoffen gewesen und hatte über einen SPD-Abgeordneten gesagt: »So etwas gehört eigentlich aufgehängt!« In der Morgendämmerung war Strauß dann aus einem Parkgebüsch geborgen worden, das er vollgereihert hatte.

Der als Bundeskanzler?

Und dann noch seine Liebedienerei gegenüber faschistischen Diktatoren wie dem Schah von Persien oder Pinochet und die engen Kontakte zu rechtsextremistischen Sekten in aller Welt und die Bezeichnung politischer Gegner als »Ratten und Schmeißfliegen« …

In der Schülerzeitung würde ich ein paar klare Worte dazu sagen.

 

Der Anwalt der Omi, die mich mit ihrem Auto im Juni übergemangelt hatte, erhob sich auf die Hinterbeine und behauptete frech, daß der Unfall von mir selbst verschuldet worden sei. Nach der Darstellung dieses Menschen sei ich plötzlich auf meinem Rad hinter parkenden Autos hervorgeschossen und hätte dann die Fahrtrichtung gewechselt.

Um dem was entgegenzusetzen, stellte Onkel Rudi, der ja selber Rechtsanwalt war, beim Polizeirevier Meppen schriftlich einen Strafantrag gegen die Alte.

Auf einen groben Klotz ein grober Keil.

 

Papa telefonierte mit Mama. Die liege jetzt in einem Dreibettzimmer und dürfe nur auf dem Rücken schlafen.

 

Zweien hatte Wiebke in ihren Zeugnissen meist nur in Fächern, die nicht richtig zählten. Kunst und Nadelarbeit.

Mein eigenes Zeugnis war so mittel.

 

Am frühen Nachmittag verduftete Wiebke per Zug nach Bonn, mit einem randvollen Koffer, einer vollgepremmsten Tasche und noch zwei Plastiktüten, und ich freute mich auf Heike, die mich an unserem ersten Sommerferientag besuchen kommen wollte. Ich legte was von Leonard Cohen auf.

Oh sometimes I see her undressing for me

she’s the soft naked lady love meant her to be …

In meinem Zimmer gelang es mir, mit den Fingern unter Heikes Oberteil bis zu den Brüsten vorzudringen, aber dann brüllte Papa nach mir, und ich mußte in die Kellerwerkstatt flitzen und ihm eine Dreiviertelstunde lang an seiner verfluchten Hobelmaschine zur Hand gehen, und als ich wieder nach oben kam, hatte Heike sich auf meinem Bett zurechtgesetzt und sagte: »Ich glaube, ich geh mal besser. Irgendwie is’ das hier nix für mich.«

Und weg war sie.

 

Morgens holte ich mir ’ne Tasse Kaffee und vier nutellabestrichene Brötchenhälften hoch, und nach dieser Freßorgie haute ich mich noch einmal aufs Ohr, doch das war nicht so ganz das Wahre.

Wer nie im Bett gefrühstückt hat, weiß nicht, wie Krümel pieken.

 

In den USA stellten die Republikaner einen abgehalfterten B-Film-Schauspieler als Präsidentschaftskandidaten auf, Ronald Reagan, dessen Losung lautete: »Let’s make America great again!«

Na dann! Welch prächtiges politisches Programm!

Dieser Reagan war eine Marionette des Großkapitals.

 

Hermann wollte nach Hannover trampen. Am Wochenende einfach drauflosfahren und nach einem besetzten Haus zum Übernachten suchen. Why not?

Wir kamen noch vor Ladenschluß an und schmissen unsere Mäuse für eine Flasche Appelkorn zusammen. Und wie sollte es weitergehen?

In der Passerelle, der Subway-Flaniermeile unter der Bahnhofsstraße, hockten ein paar Bänkelsänger herum. Denen boten wir einen Schluck aus unserer Pulle an.

Einer der Typen, der eine mannshohe Topfpflanze dabeihatte, langte gut zu und fragte nach unserm Woher und Wohin. »Wenn ihr mir beim Tragen helft«, sagte er, »dann könnt ihr bei mir pennen …«

Es waren nur fünf oder sechs Stationen mit der Straßenbahn. Wir fuhren schwarz.

ÜSTRA: Überlandwerke und Straßenbahnen Hannover AG.

Mitsamt der Scheißriesenpflanze wackelten wir anschließend hinter diesem Typen her zu seiner Altbauwohnung in der zweiten Etage und sahen ihm dabei zu, wie er die Tür mit einer Küchengabel öffnete, die er einer seiner Jackentaschen entnommen hatte.

»Das sag ich euch gleich – die Tür hier, näh, die kriegt ihr mit ’ner Gabel ganz leicht auf. Immer ’ne Gabel mitnehmen! Kapiert?«

Es wohnten dort noch zwei weitere Halunken. Der eine nannte sich »Rübezahl« und der andere »Professor Atomschnauze«. Innen an der Klotür hing ein Poster, das Frank Zappa beim Kacken zeigte.

Der Pflanzenwilli führte uns zu dem Zimmer, in dem wir schlafen durften. Dort lagen zwei stockfleckige Matratzen, und die waren, wie wir fanden, gut genug für uns.

 

»Glaubst du«, fragte Hermann mich, als er in später in seinen Schlafsack stieg, »daß wir es besser hätten erwischen können?«

»Nein.«

»Na also.«

»Na also was?«

»Na also nix.«

 

Einmal mußte ich nachts pullern gehen, und ich nahm aus einem der Regale ein Taschenbuch mit, den dtv-Lexikon-Band 7, »Frau–Gold«:

Die in den Eierstöcken (’ Eierstock) gebildeten Eizellen werden durch die Ausführgänge (die ’ Eileiter) in die ’ Gebärmutter geleitet, die durch die Scheide mit den äußeren G., der Scham, verbunden ist. Diese bestehen aus den großen und kleinen Schamlippen und dem Kitzler (Klitoris). Die kleinen Schamlippen umgrenzen den Scheidenvorhof, in den außer Scheide auch die Harnröhre und die ’ Bartholinschen Drüsen einmünden …

Von den Bartholinschen Drüsen hatte Heike mir noch nichts erzählt.

 

So gegen zehn Uhr vormittags taperten wir in die Küche. Alle anderen waren noch am Pofen.

Hermann öffnete die Klappe des Backofens, spähte hinein und sagte: »Herd für Bazillus!«

Ungut wirkten auch die Türme abgegessener Teller auf dem Eßtisch und in der Spüle. Aus einem offenen Marmeladenglas auf dem Kühlschrank – Schwartau Extra – wuchsen graue Schimmelpilze heraus.

»Faß bloß nichts an«, rief Hermann. »Hier lauern Cholera und Beri-Beri!«

Nahrung wollten wir lieber irgendwo in der Stadt aufnehmen. Auf dem Weg zur Wohnungstür kam uns Professor Atomschnauze entgegen, in Unterhosen, und ermahnte uns, keinen Menschen reinzulassen. »Wenn’s hier schellt, dann isses der Vermieter, und dem schulden wir noch drei oder vier Monatsmieten oder watt. Alles klar?«

 

Ich zeigte Hermann den Maschsee und von außen das NDR-Funkhaus. Wir gingen auch noch mal zur Passerelle, in der Hoffnung, dort seriösere Gestalten anzutreffen als unsere Gastgeber, aber an der Stelle, wo wir den Pflanzenwilli kennengelernt hatten, kauerte nur ein über und über tätowiertes und offenkundig sturzbetrunkenes Pärchen, das sich stritt.

Hermann war dafür, in einem Supermarkt Koteletts und Bier einzukaufen, ins Quartier zurückzukehren und ein Dinner einzunehmen, das sich gewaschen habe.

 

Die Tür öffneten wir mit der Gabel, und dann wollten wir die Koteletts in die Pfanne hauen, aber dafür mußten wir erstmal eine finden und sie aus dem zugemüllten Waschbecken bergen und einer gründlichen Reinigung unterziehen.

»Kannst du hier irgendwas im Stil von Palmolive erblicken?« fragte Hermann.

Dreckiges Geschirr gab’s zur Genüge, aber kein Spüli.

Hermann schrubbte wie ein Irrer an dem Pfannenboden herum, ohne jedoch die Relikte alter Mahlzeiten rückstandslos beseitigen zu können. In Ermangelung unverschimmelter Butter brieten wir die Koteletts in einer Pfütze Sonnenblumenöl aus einer Flasche, die ich in einem Karton unter dem Waschbecken aufgestöbert hatte, und weil es nirgendwo saubere Teller und Besteck gab, fraßen wir alles mit der Hand aus der Pfanne, wie die Troglodyten.

»O Jesus«, sagte Hermann und nahm einen enormen Zug aus seiner Bierflasche. »Jetzt müßten uns mal unsere Eltern sehen!«

Als bedenklich erachtete er auch die Tatsache, daß im Badezimmerregal ein Mittel gegen Krätzmilben herumstand.

Den Abend schlugen wir uns in einer Bierstube um die Ohren, wo Rumsbumsmusik lief.

 

Beim Frühstück – Toast mit Margarine und Streichkäse – hatte Professor Atomschnauze eine dralle Blondine auf dem Schoß sitzen. Ich hatte mir nach dem Aufstehen die Zähne geputzt und rauchte dann am Küchentisch ’ne selbstgedrehte Zigarette.

»Puh«, sagte die Blondine. »Hier stinkt’s nach Zahnpasta!«

Die war echt unterbelichtet.

Eine angebrannte Scheibe Toast schmiß Rübezahl aus dem Fenster.

Irgendwie, das ließ er uns später wissen, sei es Professor Atomschnauze gelungen, die Mietkaution zu versaubeuteln.

 

Ich rief Tante Dagmar an. »Ich bin hier mit ’nem guten Freund in Hannover, und wir wohnen bei dessen Schwester, und ich wollte mal fragen, ob wir im Funkhaus vorbeikommen können?«

Das durften wir. In der Kantine gab uns Tante Dagmar eine Cola und eine Fanta aus und erzählte uns, daß sie an diesem Tisch mal mit dem Fernsehansager Dénes Törzs zusammengetroffen sei. »Kann ich hier Platz nehmen?« habe sie ihn gefragt. »Oder ist das der Prominententisch?« Und darauf habe Törzs erwidert: »Entschuldigen Sie, ich wußte nicht, daß Sie prominent sind!«

Wir glaubten ja gar nicht, sagte sie, wer einem hier alles über den Weg laufe. Oder von wem man so Post bekomme. Von dem Schriftsteller Walter Kempowski zum Beispiel. Das sei ein ganz schräger Vogel. Dessen Briefkopf sollten wir mal sehen: »Da steht als Absender: Krempowski, Klimbimsky, Kompotzki und lauter solcher Quatsch …«

Oder Rolf Hochhuth, eine Primadonna vor dem Herrn!

Wir staubten eine Menge Bücher ab, unter anderem Lieder und Hymnen von Friedrich Hölderlin und eine »Deutsche Geschichte« von einem Professor aus der DDR. Der schrieb nicht »700 v. Chr.«, sondern »700 v.u.Z.«, also »vor unserer Zeitrechnung«, was ich albern fand.

»Kuck doch mal nach«, sagte Hermann, als wir uns mit all den Büchern auf einer Bank am Maschsee niedergelassen hatten, »was der Typ über den Mauerbau schreibt.«

Blätter, blätter, blätter …

Am 13. August wurde in einer gemeinsamen und koordinierten Aktion der Staaten des Warschauer Paktes die bis dahin offene Staatsgrenze der DDR nach Westberlin unter Kontrolle gestellt und befestigt.

Und Ende. So als wäre das eine ganz normale Angelegenheit gewesen. Und als wäre kein Mensch verzweifelt aus dem Fenster gesprungen. Die Literaturliste in diesem Buch fing mit den Werken von Erich Honecker an.

Dessen Visage finde er unerträglich, sagte Hermann. »Pinochet, okay, der sieht schlimmer aus, aber Honecker? Und es ist doch schwachsinnig, daß die Historiker in der DDR so tun müssen, als ob der jemals irgendeinen Beitrag zur Erforschung der deutschen Geschichte erbracht hätte. Der Honecker, der hockt in seinem drögen Politbüro und hält da die Fäden zusammen …«

 

Wir stromerten durch die Stadt. Den Zweitausendeinsladen an der Lister Meile hätten wir gern leergeklaut, aber dazu langte unsere Traute nicht. Und man klaute ja auch nicht bei Genossen.

Ich traf eine telefonische Verabredung mit meiner Kusine Kirstin, der jüngsten Tochter von Onkel Rudi, und die wünschte sich als Mitbringsel Spezereien von Mövenpick.

Hermann verweigerte sich diesem Ansinnen. »Was hast ’n du für ’ne Kusine? Spinnt die? Was stellt ’n die sich vor? Daß wir hier als Ölscheichs unterwegs sind? Mövenpick, das ist das Teuerste vom Teuersten!« Ein paar Stücke Bienenstich würden genügen.

Damit rückten wir an und dampften rasch wieder ab. Zwischen Kirstin und den versammelten Schnepfen aus ihrem Freundeskreis einerseits und Hermann und mir andererseits hatte sich beim Kuchenverzehr nichts ergeben, worauf man hätte bauen können.

 

Am Maschsee spielte jemand Simultanschach gegen mehr als ein Dutzend Gegner, und man durfte ihn herausfordern. Wir dachten uns: Wir sind zu zweit und können jeden Zug in Ruhe ausbaldowern, während dieser Großmeister noch eine Masse anderer Partien im Kopf hat. Aber schon nach sieben Zügen hatten wir einen Springer eingebüßt und nach dem dreizehnten drei Bauern, einen Turm und die Dame.

»Der ist uns über«, sagte Hermann. »Definitiv.«

Unser König hatte sich bereits in diesem frühen Stadium des Spiels in eine prekäre Stellung verrannt, und wir übersahen beide den entscheidenden Läuferzug, mit dem wir schachmattgesetzt wurden.

Das Schachspielen werde er hinfort den Experten überlassen, sagte Hermann. »Ich geb’s auf! Für immer!«

 

In der menschenleeren Bude brieten wir uns Schnitzel und legten eine Platte von den Doors auf:

Come on, baby, light my fire,

Try to set the night on fire.

Dazu tanzten wir auch, und da schrillte die Klingel.

Urrgh! Wenn das jetzt der Vermieter war?

Hermann hechtete zum Plattenspieler und drehte ihm den Saft ab.

Die Stille, die daraufhin eintrat, wurde mehrmals unterbrochen von dem Klingelschrillen und dann auch von Faustschlägen und Rufen: »Aufmachen! Ihr Saubande! Ich krieg euch dran!«

Wir standen starr. Ich sah Hermann an, und Hermann sah mich an.

»Aufmachen!« Und BONG und DONG und GONG.

Aber wir machten nicht auf.

Hermann flüsterte mir zu: »Der weiß, daß wir hier drin sind!«

Der Mann trat noch ein paarmal gegen die Tür und stieß einige üble Kraftausdrücke aus, und dann zog er ab.

 

Den größten Teil der Rückfahrt brachten wir hinten in einem VW-Bus zu, der bis Lingen fuhr.

Am merkwürdigsten, sagte Hermann, sei ihm unser Freund Rübezahl vorgekommen, mit seiner Passion für schlechte Zeichentrickfilme und seiner Angewohnheit, Flachmänner auszuschlotzen, in einem Zug. »Und dann hat mich Professor Atomschnauze ja noch um meine Adresse gebeten, für den Fall, daß er seinen Handel mit weichen Drogen irgendwann ins Emsland verlegen werde, aber diesen Zettel hab ich nachher doch lieber verschwinden lassen …«

Eine seltsame Wohngemeinschaft war das. Genaugenommen bestand sie aus drei zwar gastfreundlichen, aber arbeitsscheuen und kleinkriminellen Dreckflegeln.

 

Von seiner Visite an Mamas Krankenlager in Wilhelmshaven kam Papa am Sonntagabend mufflig zurück und verschwand treppab im Keller.

 

Hölderlin hatte seine Gedichte in eigenwilliger Rechtschreibung verfaßt.

Noch kehrt in mich der süße Früling wieder,

Noch altert nicht mein kindischfrölich Herz,

Noch rinnt vom Auge mir der Thau der Liebe nieder,

Noch lebt in mir der Hofnung Lust und Schmerz.

Das hatte er, wie dem Buch aus dem Funkhaus zu entnehmen war, im März 1794 geschrieben, und ein Jahr später hatte er trauernd der »goldnen Tage« gedacht …

Wenn der Sturm mit seinen Wetterwoogen

Mir vorüber durch die Berge fuhr

Und des Himmels Flammen mich umflogen,

Da erschienst du, Seele der Natur!

So wie damals, als Michael Gerlach und ich uns oben in den Birken vom Sturmwind hatten herumschaukeln lassen. Unvergeßlich. Oder wenn ich daran dachte, wie wir auf der Schlüsselblumenwiese gepicknickt hatten, Renate und Volker und ich, vor einer Million Jahren im Horchheimer Wald …

Seid geseegnet, goldne Kinderträume,

Ihr verbargt des Lebens Armuth mir,

Ihr erzogt des Herzens gute Keime,

Was ich nie erringe, schenktet ihr!

Auch das konnte ich unterschreiben. Was war denn das ganze Leben in Meppen in den letzten fünf Jahren im Vergleich mit einem einzigen meiner Kindertage auf der Horchheimer Höhe!

Todt ist nun, die mich erzog und stillte,

Todt ist nun die jugendliche Welt,

Diese Brust, die einst ein Himmel füllte,

Todt und dürftig wie ein Stoppelfeld …

Das hätte mir mal Ende ’75 einer zu lesen geben sollen. Da hätte ich aber Augen gemacht! Gerade so, wie Hölderlin das hier beschrieb, hatte ich mich gefühlt. Da stimmte alles.

Meines Herzens Frühling ist verblüht.

So war’s. Ein böses Erwachen – eben noch im Paradies gewesen, und auf einmal, abrakadabra: in Meppen. Ohne Rückfahrkarte.

Ewig muß die liebste Liebe darben,

Was wir lieben, ist ein Schatten nur,

Da der Jugend goldne Träume starben,

Starb für mich die freundliche Natur;

Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen,

Daß so ferne dir die Heimath liegt,

Armes Herz, du wirst sie nie erfragen,

Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.

Und dabei hatte Hölderlin noch gar nichts von der Schlüsselblumenwiese wissen können.

 

Mir beziehungsweise uns zuliebe hatte Heike sich die Pille verschreiben lassen. (Das hätte ja auch noch gefehlt – ich mit ’nem Baby im Arm! Noch vor dem Abi!)

Von der Pille, sagte Heike, kriege sie leider einen »Atombusen«. Die Brüste blähten sich davon irgendwie auf.

Ja, wenn’s weiter nichts ist, dachte ich, dann kann ich damit leben. Aber wer wußte schon, was sonst noch alles drin war in diesem chemischen Cocktail?

 

Heikes Eltern waren ausgeflogen, es herrschte eine brüllende Hitze, und wir zogen uns aus, auf Heikes Matratze, aber mittendrin verkrampfte Heike sich, weil sie, wie sie mir verriet, wieder an ihren Werner gedacht hatte, und da war der Ofen aus.

Erst einmal eine paffen.

Die Rauchschlieren hangelten sich durch die offene Fensterluke, und Heike lag schweigend unter ihrer bis zum Hals hochgezogenen Bettdecke.

Herrgott! Weshalb war das alles so schwierig? Hätte Heike ihren Ex-Freund nicht einfach vergessen können? Jetzt war doch ich da!

»Wenn wir jetzt weitergegangen wären«, sagte sie, »dann hätte das für mich irgendwie nicht gestimmt …«

Sie erzählte mir dann noch Schoten über ihren Ex, was der mal gesagt und wie er sich bei dieser oder jener Gelegenheit benommen habe, und nachdem ich mir das alles angehört hatte, radelte ich total bedient nachhause.

Der oder ich. Das war die Frage.

 

In der Schule lief Heike mir tags darauf ganz fröhlich entgegen. Im Licht des neuen Tages war meine Wut verraucht, und wir redeten nicht mehr über den Mist.

 

Der Schah war gestorben, an Krebs, in Kairo, wohin es den alten Gangster zuletzt verschlagen hatte. Ich hätte ihm stattdessen einen langen Lebensabend in einem persischen Knast gegönnt.

 

Wiebke rief an. Sie sei von Bonn mit dem Zug nach Hildesheim gefahren, und in Hannover habe Tante Dagmar ihr beim Umsteigen geholfen. Morgen gehe es mit den Hannover-Schlossers weiter zum Lago Maggiore.

Sollten sie doch.

 

Renate und Olaf reisten mit Volker und dessen heißgeliebter Vera nach Paris und dann weiter an die Atlantikküste. Für mich wäre das nichts gewesen. Paris? Wenn man da niemanden kannte? Und sich am Atlantik auf ’nem Badehandtuch wälzen? Wozu? Am schönsten war es doch daheim unter der Bettdecke. Ich brauchte außerhalb von Heikes Matratze keinen Eiffelturm und keinen Ozean.

 

Mama ging es, nach dem allgemeinen Hörensagen, leidlich gut. Einmal rief Onkel Walter an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und ich sagte ihm, was ich von Papa, Oma Jever und Tante Dagmar wußte, nämlich daß Mama alles gut überstanden habe und bald entlassen werde.

 

Als Heikes Eltern einmal Kegeln waren, luden wir Henrik zu einem Umtrunk ein. Ich hatte zu diesem Zweck in dem Supermarkt an der Esterfelder Stiege ein Fünfliterfäßchen Bier erstanden und mühte mich auf der Terrasse damit ab, das Spundloch aufzuprökeln. Die Gläser standen schon bereit, und alle Augen ruhten auf mir und meiner Handhabung des Gummipfropfens.

»Und das will ’n Schlosser sein«, rief Heike. »Mannomann! Nun stell dich doch nicht so dreijährig an!«

Einen sichtbaren Fortschritt erzielte ich erst, als ich einen Schraubenzieher zuhilfenahm: Da kam der Pfropfen rausgeschossen, und ein dicker Bierstrahl fuhr mir ins Gesicht.

Vor Lachen kriegte Heike sich kaum wieder ein, und ich lachte mit, obwohl dieser Witz auf meine Kosten gegangen war.

»Man ist nur einmal jung«, sagte Henrik.

 

Ende Juli holte Papa Oma Schlosser nach Meppen. Sie hinkte an ihren Krücken ins Haus, und er wollte ihr seine Werkstatt zeigen, aber Oma traute sich nicht die Treppe hinunter. »Dazu bin ich schon zu wacklig auf den Beinen …«

»Ach, Muttchen«, sagte Papa, »ich kann dich doch festhalten!«

Aber Oma wollte nicht, und es war Papa anzumerken, daß ihn die Verzagtheit seiner alten Mutter traurig stimmte.

Obwohl – was hätte es da unten denn zu sehen gegeben? Werkzeuge sonder Zahl und dazu unendliche Mengen von Dübeln und Schrauben und Nägeln und Brettern und Eimern und Kabeln. Für diesen Anblick hätte ich an Omas Stelle auch nicht so gern eine Adduktorenverletzung riskiert.

 

Nach dem Abendbrot spielten Papa, Oma und ich im Eßzimmer Canasta, und dabei machte Oma uns lang. Sie legte einen Handcanasta nach dem anderen hin. Mir wurden meine Minuspunkte zum Verhängnis, und nach sechs verlustreichen Runden hatte auch Papa die Schnauze voll.

 

Unsere Pläne mit Ameland konkretisierten sich. Heike kannte einen Campingplatz, und nun war auf einmal schon das Packen angesagt.

Was würde ich denn brauchen? Luftmatratze, Badehose, Reisepaß und Wäsche.

Dumm war nur, daß Heike immer noch nicht wollte, daß Henrik dahinterkam, daß wir ein Paar waren. Das könne sie ihm nicht antun. »Der hat so lange um mich geworben und immer gehofft, daß ich irgendwann wieder zu haben wäre …«

 

Heikes gutmütiger Vater chauffierte uns bis zur Küste, wo wir in eine Fähre umstiegen. Als Lektüre hatte ich mir Kurt Tucholskys Novelle »Rheinsberg« eingesteckt.

Jung sein, voller Kraft sein, eine Reihe leuchtender Tage – das kommt nie wieder! Heiter Glück verbreiten! – Wir wollen uns Erinnerungen machen, die Funken sprühen! Wir haben alles voraus – heute! Mögen die in den Gräbern die Fäuste schütteln, mögen die Ungeborenen lächeln – wir sind!

Dabei mußte ich an Mama denken. Die war auch mal jung gewesen, und nun saß sie in der Tinte.

Mama hätte eben nicht heiraten sollen. Heiraten war das Patentrezept fürs Unglück. Oder gar noch Kinderkriegen! Heike und ich, wir würden das alles ganz anders machen.

 

Auf Ameland stand uns eine fürchterliche Gepäckschlepperei bevor, und auch das Aufbauen der Zelte war nicht ohne. Eins für uns und eins für das Gepäck.

»Das ist Männerarbeit«, sagte Heike und ging baden.

Die verdammten Stangen wollten nicht zusammenpassen, und es stürzte immer alles wieder ein. Unter Anspannung sämtlicher Kräfte schafften wir es aber doch. Das Hauptzelt stand allerdings so schief, daß man dachte: Das macht’s nicht lange. Wir rüttelten daran, und es blieb stehen, obwohl wir sechs oder sieben Heringe zu wenig hatten.

»Da staunt der Fachmann, und der Laie wundert sich«, sagte Henrik.

 

Heike stiftete einen Beutel für unsere gemeinsame Urlaubskasse und verwaltete die auch. Damit suchten wir ein Restaurant auf und bestellten Pannekoken. Die gab’s mit allen möglichen Zutaten.

Knifflig war das Umrechnen von Gulden in D-Mark, aber diesen Nervkram hatte Heike sich ja freiwillig ans Bein gebunden.

 

Im Zelt lag Heike in der Mitte. Henrik bereitete uns eine Dröhnung zu. Er kokelte mit dem Feuerzeug ein Bröckchen Shit an und verrührte die abgeriebenen Brösel auf einem Tellerchen mit Tabakskrümeln, und dann befüllte er sein Shillum mit dem Stoff.

»Sei man nicht so geizig«, sagte Heike. »Viel hilft viel!«

Ein Shillum war eine Haschpfeife, die nur aus Stiel bestand und beim Rauchen senkrecht gehalten werden mußte.

Nachdem ich drei, vier Züge inhaliert hatte, sank ich auf meine Luftmatratze zurück. Mein linker Fuß berührte einen von Heikes Füßen, tief unter dem Gewumpel der Schlafsäcke, und mein Geist rotierte irgendwo oberhalb meiner Fontanelle, während mein Körper faul auf der Matratze lag.

Als ich die Augen aufschlug, kam ich mir wie ein Kind vor, das auf einer langen Reise hinten im VW-Käfer liegt.

»Also, wegen meiner können wir auch zum Strand gehen«, hörte ich Henrik sagen. Wie durch Watte.

Heike lachte und erwiderte: »Wegen mir!«

»Wegen dir?«

»Nein, nicht wegen mir, du Stiesel!« rief Heike aus und krümmte sich vor Lachen, und das war so ansteckend, daß auch Henrik zu gackern begann, und da ergriff auch mich der Lachkoller.

Komischerweise gab es da gar nichts zum Lachen, und obwohl mir das bewußt war, mußte ich weiterlachen, angesteckt von Henrik und Heike, bis ich Bauchweh davon kriegte.

 

Irgendwann in der Nacht schob Heike mich energisch von sich weg, weil ich ihr im Halbschlaf zu nahe auf den Pelz gekrochen war.

Ich dreifach gehörnter Ochse. Wo sollte ich denn hin mit meinem Bock auf Heike? Weshalb hatte ich mich auf diesen idiotischen Urlaub eingelassen?

 

Morgens fragte Heike mich, wann ich mir das nächtliche Zähneknirschen angewöhnt hätte. »Dreimal hast du mich damit geweckt! Wie so ’ne Panzerkette! Echt, du hättest dich mal hören müssen!«

 

Den Vormittag verbrachten wir mit Herumlatschen am Strand. Die Sonne glühte, doch aufs Baden hatte keiner von uns Lust. Es war so elend heiß, daß einem schon bei der schlappsten Bewegung der Schweiß ausbrach. Und der brannte einem auch noch salzig in den Augen, statt einen zu kühlen.

Priele, Muscheln, Watt und Ebbe.

 

Wir liehen uns Räder aus und erkundeten die Orte Hollum, Ballum, Nes und Buren. Auf Ameland hatten früher einmal Walfänger und Strandräuber gewohnt, und jetzt pilterten wir hier herum.

Noch einmal Pannekoken essen?

Nachdem wir bestellt hatten, ging ich austreten, und als ich wiederkam, fand ich auf meinem Teller etwas vor, das aussah wie ein Klecks Tomatenmark.

Das sei ’ne Art Vorspeise, sagte Heike. »Lang nur zu. Wir haben unsere schon auf!«

Ich verputzte also dieses Zeug und kriegte fast ’n Erstickungsanfall. Es brannte wie Hölle, auf der Zunge, am Gaumen, im Hals, überall. Da half auch Wassersaufen nicht viel …

Reingelegt. Das war keine Vorspeise, sondern ein Irrsinnsgewürz namens Sambal Oelek. Das schärfste der Welt. Und das mir!

Sie habe der Versuchung nicht widerstehen können, sagte Heike unter Lachtränen. »Und dein Gesichtsausdruck war wirklich unbezahlbar!«

Auch Henrik lachte, und ich hätte ihn gern auf den Mond geschossen.

 

Als wir rausgingen, sagte Heike: »Nach dem Essen sollst du rauchen oder eine Frau gebrauchen. Kannst du beides nicht ergattern, laß die Handmaschine rattern!«

 

Am Abend wollten Heike und Henrik in eine Disco, und ich trottete mit, weil ich Heike nicht gern mit Henrik abziehen sehen wollte. Sonst hätte ich allein im Zelt herumgehangen und mir vorgestellt, was die beiden auf der Tanzfläche vollführten.

Die Musik in der Disco war dann allerdings so panne, daß ich es nicht mal eine Minute lang aushielt. Ich mußte raus, sonst hätte ich gespien.

 

Draußen drehte ich mir eine und stand paffend in der Gegend. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung kamen kurz darauf auch Heike und Henrik aus der Disco wieder raus.

Die sei was für Kleinkinder, sagte Heike.

 

Auf dem Zeltplatz stolperten wir alle drei über die Schnüre von unserem eigenen Zelt, und innendrin fiel Heike ihre Zigarettenglut auf die Luftmatratze.

»O neien!«

Aber es passierte nichts.

»Von deutschem Boden darf Nivea Krieg ausgehen!« schrie Henrik.

 

In Hildesheim-Itzum hätte ich jetzt an der Feier von Oma Jevers 74. Geburtstag teilnehmen können, doch da zog es mich nicht hin. Henrik unternahm hin und wieder längere Spaziergänge, auf eigene Faust, und dann hatten Heike und ich füreinander Zeit. Aber mit Heike konnte man nicht einfach loslegen, denn es gab immer was, das sie daran hinderte, sich hinzugeben und alles zu vergessen, was ihr Ex-Freund ihr reingewürgt hatte.

»Ich kann das nun mal nicht einfach so abtun«, sagte sie. Es falle ihr ohnehin sehr schwer, den männlichen Sexualtrieb zu begreifen. Früher, da habe sie so vieles hingenommen. »Aber danach ist mir jetzt nicht mehr …«

Und dann kam Henrik von einem seiner Spaziergänge zurück und baute uns eine Pfeife, und ich mußte so tun, als ob ich das Leben lustig fände.

Mir hätten die Beziehungsgespräche mit Heike schon gereicht. Die Schauspielerei überforderte mich, und ich ging aufs stille Örtchen.

Widerlich. Wieso konnten wir Henrik keinen reinen Wein einschenken? Und was sollte diese Zimperlichkeit in Henriks Abwesenheit?

 

Was uns dann wieder zusammenschweißte, war das Kiffen. Einmal bog Henrik sich so entsetzlich vor Lachen, daß er die obere Partie seiner Luftmatratze zum Platzen brachte. Er war dort auf mit dem Kinn hart aufgeschlagen, und es gab einen Knall.

Darüber beömmelten wir uns bis zum Gehtnichtmehr.

Als Ersatz dienten Henrik zwei zusammengeknüllte Pullover.

 

Tief in der Nacht strich Heikes Hand über meinen Bauch. Dann glitt sie höher und kam auf meiner Brust zur Ruhe.

Henrik war am Schnarchen.

»Ich liebe dich«, flüsterte Heike.

»Ich liebe dich auch«, flüsterte ich zurück und nahm mit meiner linken Hand durch die Schlafsackwülste Tuchfühlung auf, aber dann gab Henrik ein viehisches Grunzen von sich, im Schlaf, und es war klar, daß in dieser Nacht nichts mehr laufen konnte.

Sehr schön war es aber, Heikes Wangen noch einmal zu streicheln und ihr in die Arschbacken zu kneifen. Wenigstens das!

 

In der Nacht zog ein Gewittersturm über Ameland hinweg. Unser Zelt hielt stand, aber unser Gepäckzelt war eingekracht.

Die Typen in dem Zelt nebenan erzählten uns morgens, daß sie ihre Zeltstangen die halbe Nacht lang hätten festhalten müssen.

Mir wehte der Wind den Tabak aus dem Blättchen, in das ich ihn rollen wollte, und dieses Mißgeschick widerfuhr auch Heike.

»Schietebippel!« rief sie.

 

Dafür gab es aber jetzt auch meterhohe Wellen am Strand. Ich sprang furchtlos in eine hinein und verlor meine Brille dabei.

Ich Trottel! Sich mit Brillengestell in die Fluten zu stürzen!

Heike tauchte an den Grund der Nordsee und beförderte die Brille wieder herauf.

»Hier, du Mondkalb!«

Ohne Brille wäre ich aufgeschmissen gewesen.

 

Am 8.8.80 feierten wir Heikes zwanzigsten Geburtstag. (In der Mittelstufe war sie zweimal sitzengeblieben.) Wir wollten ein Amüsierlokal in dem Nachbarort Nes aufsuchen und kauften uns als Wegzehrung in einem Shop an der Strecke eine Flasche Cinzano und eine Flasche Jägermeister. Damit ließen wir uns an einem Weidezaun nieder. Heike und Henrik teilten sich den Cinzano, Schluck um Schluck, während ich den Jägermeister dezimierte, und als wir alles ausgesüffelt hatten, erklärten wir den Ausflug für beendet.

»Nach Nes, da watzen wir jetzt nich’ mehr hin«, sagte Heike.

Sicherheitshalber hakten wir einander unter, Henrik links, ich rechts und Heike in der Mitte, und trotzdem legten wir uns einmal tierisch auf die Fresse und mußten uns aus einem Bewässerungsgraben hervorarbeiten, um wieder auf die Beine zu kommen.

Danach wollte ich Heike tragen, auf den Armen, und sie kreischte: »Laß das nach!« Und lachte sich kaputt dabei.

 

Das Aufwachen war weniger schön. Meine Zunge hatte einen penetranten Jägermeistergeschmack, und ich mußte strullen wie ein Elefantenbulle. Als ich das erledigt hatte, eierte ich ins Zelt zurück und wäre liebend gerne wieder eingeschlafen, aber alles drehte sich um mich herum. Ich hörte Henrik furzen und Heike schnarchen, und ich hätte viel darum gegeben, meinen Schlafsack und die sandige Luftmatratze gegen ein Bett eintauschen zu dürfen und meinen Rachenraum samt Zunge gegen ein geschmacksneutrales Vakuum.

Oder besser gleich den ganzen Kopf gegen den einer gesünder lebenden Person, denn es brummte, ruckte und rumpumpelte in meinem Schädel wie in einer frühkapitalistischen Fabrik.

 

Als ich das nächste Mal zu mir kam, sah ich Heike in einer verqueren Haltung neben mir liegen, die Augenlider geschwollen und die Lippen verschorft.

Wozu machte man das? Urlaub an der Nordsee, heißa! Katzenjammer, Kopfweh und ’ne steife Hüfte!

 

Zum Frühstück, das wir am späten Vormittag im Liegen einnahmen, gab’s pappiges Knäckebrot und kohlensäurearmes Mineralwasser.

»La vie est dure, les femmes sont chères et les enfants faciles à faire«, sagte Heike.

Henrik baute einen Joint, und als wir den aufgeraucht hatten, sah die Welt schon wieder anders aus.

 

Sich aufrichten, vor dem Zelt, mit knackenden Gelenken, und die gute Luft einsaugen. Nicht weit entfernt von uns zeltete eine Spießerfamilie mit zwei Kindern. Die fingen sich gerade einen Rüffel ein von ihrem Paps, weil sie »Pipikaka« gesagt hatten, und aus der Zeltöffnung ragte der Steiß der fluchenden Mutter, die da am Aufräumen war.

Wie konnte man bloß so dämlich sein, ’ne Familie zu gründen, wenn man selbst aus einer kam und das ganze Elend am eigenen Leib erfahren hatte?

 

Henrik wollte nach Amsterdam fahren, Dope besorgen und am Sonntag wiederkommen. Das bedeutete, daß ich Heike einen ganzen Tag, eine ganze Nacht und dann noch einmal einen halben Tag für mich alleine haben durfte, während Henrik als Drogenkurier unterwegs war.

Ich hätte mich dann auch gleich nach seiner Abreise gern mit Heike im Zelt herumgewälzt, doch dazu war sie nicht aufgelegt. Sie wollte am Strand spazierengehen und über ihre Gefühle reden.

Mir, sagte Heike, würde sie mehr vertrauen als ihrem Ex-Freund Werner, aber ich müßte auch mal rauskommen mit meinen eigenen Gefühlen. »Du wirkst manchmal so ichbezogen und so abgekapselt, daß ich gar nicht mehr weiß, wo der Kontakt zwischen uns hinne ist …«

Wo sollte der denn hinne sein?

»Hab ich dir wehgetan mit dieser Frage?« fragte Heike. Sie war stehengeblieben und sah mir fest in die Augen.

Warum mußte das denn alles bloß wieder so schwierig sein? An sich war es doch ganz einfach: Ich liebte Heike, Heike liebte mich, und wir hätten uns eine schöne Zeit machen können, solange Henrik auf Achse war. Wozu das Gequatsche über Ichbezogenheit und Kontaktprobleme? Ich hatte kein Kontaktproblem. Ich wollte mich mit Heike auf der Luftmatratze kugeln.

Was es für sie so schwierig mache mit mir, sagte Heike, das sei meine Einsilbigkeit, wenn es um meine innersten Gefühle gehe. »Wenn du willst, daß ich mich tiefer auf dich einlasse, dann mußt du mir auch mehr von dir persönlich zeigen … und auch mal von dir sprechen und das nicht einfach alles mir überlassen …«

Das hatte ich nicht geahnt, daß man permanent über seine Gefühle quasseln mußte, wenn man eine Freundin hatte und sie bei der Stange halten wollte. Von meinen Gefühlen gab es aber gar nichts zu erzählen, außer daß ich mich zu Heike hingezogen fühlte und mich gerne splitterfasernackt mit ihr getummelt hätte. Von wegen »Ichbezogenheit«, das war doch alles Kappes!

Der Nordseewind pfiff uns kalt um die Ohren, und wir suchten ein Café auf.

Da ging’s dann erst so richtig los. Werner, ihr Ex, der sei ebenfalls unfähig dazu gewesen, über seine Gefühle zu reden, aber von mir, sagte Heike, habe sie sich etwas mehr erhofft. Doch ich sei stumm wie ein Fisch.

Herrje! Weshalb reichte es Heike denn nicht, daß ich in sie verliebt war?

»Jetzt machst du dicht«, sagte sie. »Genau wie Werner. Von dem kenne ich das ja schon. Aber das laß ich mir von keinem anderen Typen mehr bieten.«

»Wieso? Was biete ich dir denn?«

»Du machst dicht!«

»Das ist doch Blödsinn. Ich mach doch nicht dicht!«

»Und ob du dichtmachst!«

»Du spinnst!«

»Das hat Werner auch immer gesagt.«

»Hör doch mal auf mit Werner! Ich bin nicht Werner!«

»Aber du benimmst dich so.«

Da hätte ich ihr gern eine geklebt.

 

Abends nebeneinander im Zelt liegen und so tun, als ob man sich ganz fremd wäre. Was ’n Krampf!

Ich las Kafka, »Der Prozeß«, und Heike las »Das Schloß«.

Hatte ich dichtgemacht? Nein! Wenn hier irgendwer dichtgemacht hatte, dann Heike! Aber doch nicht ich!

 

Beim Einschlafen kehrte ich ihr den Rücken zu. Wenn die noch was von mir wollte, mußte sie sich Mühe geben. Ich war sauer. Unsere einzige Nacht ohne Henrik! Aber wenn das für Heike okay war – bitte! Ich konnte auch heimreisen, am nächsten Morgen, und dann würde sie schon sehen, was sie davon hatte. Sollte sie sich doch mit Henrik die Birne zuziehen! Ich würde Meppen derweil nach reiferen Frauen durchforsten.

Adieu, du Zimtziege!

Wie hatte ich’s mit Heike überhaupt so lange ausgehalten?

 

Morgens kuschelte sie sich an mich, so von hinten, und sie legte eine Hand auf meinen Bauch.

Da waren wir uns wieder gut.

 

Und was sollten wir nach dem Frühstück anstellen? Baden, Spazierengehen, Lesen, Essen, Trinken, Sex. Und Kiffen. Das waren so ungefähr unsere Programmpunkte.

Am Morgen ein Joint, und der Tag ist dein Freund.

Eigenartig, wie sich die Prioritäten änderten, wenn man stoned war. Hatte man gerade noch vor Tatendurst gebrannt, so fand man sich auf einmal in demütiger Betrachtung einer Wolke wieder, die gemächlich am Himmel dahinfloß.

Schön war es auch, in so einem Zustand nahe bei Heike zu liegen, ihr in die Augen zu schauen und mit den Fingerspitzen über den fast unsichtbaren hellen Haarflaum auf ihrer Wange und an ihrem Hals zu streichen.

Einfach breit zu sein und nichts tun zu müssen.

 

Bei einem unserer Spaziergänge regte Heike sich über die Schufa auf. Das war die Schutzvereinigung für allgemeine Kreditsicherheit. Von der hatte ich vorher noch gar nichts gewußt.

»Die von der Schufa überprüfen jeden Bankkunden und wissen alles über dich, und wenn du mal ’n Kredit aufnehmen willst, über tausend Mark oder so, und die haben spitzgekriegt, daß du verschuldet bist, dann informieren sie deinen Sparkassenfilialleiter, und der verpaßt dir dann ’n Arschtritt …«

Übel fand Heike überhaupt die gesamte Vermögensverteilung in Deutschland. Oben lauter fette Milliardäre und darunter Millionen Arbeitslose, und von denen würden auch noch viele ihre Frauen vergewaltigen und unterdrücken. Und die Kinder erst! Die könnten einem leidtun. Nach außen die heile Fassade und dahinter tiefstes Mittelalter. »Obwohl, im Mittelalter war’s vielleicht sogar viel besser für die kleinen Leute, denn da gab’s noch keine Stechuhren und keine Mietskasernen.«

»Aber die Pest.«

»Na und? Dafür gibt’s heute Krebs durch radioaktive Strahlung und Chemie in Lebensmitteln und so ’ne Scheiße.«

»Die durchschnittliche Lebenserwartung ist doch aber stark gestiegen seit der industriellen Revolution …«

»Ja, bei uns vielleicht, aber nicht in der Dritten Welt. Da sterben jeden Tag zichtausend Säuglinge an Unterernährung!«

 

Wir fraßen uns an Pfannekuchen satt und kehrten zum Zeltplatz zurück.

In bekiffter Verfassung war Heike viel lachlustiger als in nüchterner. Dann konnte man sie mit minimalem Aufwand erheitern. »Willst du dich schon wieder über die Schufa echauffieren?« So eine Frage genügte, und Heike schmiß sich weg.

 

Zigaretten dürfe man nicht an Kerzenflammen entzünden, sagte sie. Das verklebe die Lunge. Und man dürfe auch nie die Rußpartikelchen einatmen, die sich beim Rauchen gelegentlich von der Fluppe lösten und umherschwebten.

 

Unter der Decke kamen wir einander näher. Heikes heißer Mund und ihre Hände auf meiner Brust und meinem Bauch und mit der Zeit dann auch ein Stockwerk tiefer, und ich lag so da und dachte: Ja. Dafür hat sich der ganze Streß gelohnt.

Und dann, ritschratsch, riß irgendwer den Reißverschluß des Zelts auf.

Henrik!

Heike schrak zurück, und ich riß mir den Schlafsack über die Brust.

»Wieso bist’n du schon wieder da?« fragte Heike.

Henrik griente. »Ich hab ’n kleines Geschenk für euch …«

 

Wenn er etwas mitbekommen hatte, ließ er sich nichts davon anmerken. Er machte einen auf happy und zimmerte eine Tüte, deren Konsum mich für rund anderthalb Tage ins Koma versetzte.

Haschu Haschisch inne Taschen, haschu immer waschu naschen.

 

Bedröhnt in einem Zelt zu liegen und die Realität mal aus einer anderen Perspektive zu sehen, das war ja für eine Weile ganz anregend, aber tagelang? Immerfort high sein?

 

Heike ging mit Henrik wieder in die Disco. Ich blieb lieber im Zelt und las Kafka.

In der nächsten Zeit war es K. unmöglich, mit Fräulein Bürstner auch nur wenige Worte zu sprechen …

Vor meinem geistigen Auge sah ich Henrik und Heike miteinander schnäbeln. Aber sie liebte ja nun einmal mich und nicht ihn.

 

Irgendwann zu nachtschlafender Stunde kamen die beiden ins Zelt gestoppelt, kichernd und mit Alkoholfahne.

Sollte ich jetzt wieder sauer sein? Weil Heike mich so lange alleingelassen hatte? Oder sollte ich so tun, als ob ich’s dufte fände, zu dieser späten Stunde noch mit Heike und Henrik zu kiffen?

Ich entschied mich fürs Kiffen, und mir flog das Gehirn weg. In der einen Hand hatte ich Heikes Hüfte liegen, und mit meinem Oberstübchen ging ich auf Urlaub.

Now it’s time

to say good night …

Wohin sollte das führen? Mein Unterleib an Heikes Unterleib, und hinter uns Henrik wieder am Schnarchen.

»Laß man gut sein«, sagte Heike. »Mir ist heute heute sowieso irgendwie nicht so danach …«

Und wer fragte nach mir?

 

Die Freizeitgestaltung brachte tagtäglich die gleichen Schwierigkeiten mit sich. Was sollte man nach dem Frühstück tun? Zum Strand spazieren? Oder gleich wieder kiffen? Und später Pfannekuchen essen gehen?

Henrik baute eine Tüte, und Heike sah ihm wohlgefällig dabei zu.

»Ich glaub ja nicht, daß wir uns die noch vor dem Mittagessen reinziehen sollten«, sagte Henrik, und Heike sagte: »Das glaub ich aber für dich mit.«

 

Auf dem Rücken liegen, breit wie sonstwas, und in den Himmel kucken. Was jetzt Mama und Papa wohl machten? Und was die dächten, wenn sie mich hier so liegen sähen?

Papa wäre es lieber gewesen, wenn ich alle meine Kräfte daran gesetzt hätte, ein Haus zu bauen, aber Häuser gab’s doch schon genug, und die gesamte Häuslebauerei war Mama und Papa nicht gut bekommen. Die hätten sich auch mal besser ’ne Tüte von Henrik bauen lassen sollen und danach in den Himmel kucken.

 

In die Disco mußten Heike und Henrik abends wieder ohne mich. Sich anbrüllen bei Kackmusik? Da las ich lieber Kafka.

Das erste Läuten an der Tür des Advokaten war, wie gewöhnlich, zwecklos.

Was auch immer der Erzähler sich vornahm, es ging gnadenlos alles schief. Fast wie bei mir, mal abgesehen von der Tatsache, daß ich eine Freundin gefunden hatte.

 

Auf Heike und Henrik mußte ich ’ne halbe Ewigkeit warten. Ich war schon zu drei Vierteln eingepennt, als sie eintrudelten, mit Fahne und Getuschel.

 

Nachts flatterte mir jählings irgendein Insektenvieh vor die Nase, und ich schlug rund um mich zu.

»Mach hier nich’ so’n Larry«, sagte Heike.