SoKo Fußballfieber - Gerhard Henschel - E-Book
SONDERANGEBOT

SoKo Fußballfieber E-Book

Gerhard Henschel

0,0
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

 Nach  SoKo Heidefieber : Der Wahnsinn geht weiter, jetzt muss die FIFA dran glauben  Vier Fifa-Funktionäre sterben eines gewaltsamen Todes: in Uelzen, in Seoul, in einem argentinischen Nationalpark und in Piräus. Und das ist erst der Auftakt einer Serie grausamer Morde. In Athen tritt eine internationale Sonderkommission zusammen, der sich auch Kommissar Gerold Gerold und Kommissarin Ute Fischer aus Uelzen anschließen. Wie sich zeigt, helfen in diesem Fall nur außergewöhnliche Methoden. Kommissarin Fischer wird als verdeckte Ermittlerin in die Zürcher Fifa-Zentrale eingeschleust, und Kommissar Gerold verfolgt eine Spur, die ihn nach Hannover, Greetsiel, Casablanca und immer weiter um die Welt führt. Währenddessen kämpft der deutsche Dichter Thomas Gsella sich durch den Mittleren Osten, bis sich in Asien ein mörderischer Showdown anbahnt. Können Gsella, Gerold und die Fischerin die größte Katastrophe der Fußballgeschichte verhindern?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 410

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Henschel

SoKo Fußballfieber

Ein Überregionalkrimi

Hoffmann und Campe

1

Im Gewölbekeller der Uelzener Ratsweinhandlung brannte noch Licht. Hauptkommissar Gerold Gerold und Oberkommissarin Ute Fischer hatten dort an einer Weinprobe teilgenommen, die in ein mittleres Gelage übergegangen war, und nun wurde es allmählich Zeit für die kleine Überraschung, die sich in der linken Innentasche von Gerolds Jackett verbarg.

Seine Ehe war erst einen Monat zuvor amtlich geschieden worden, aber eine Frau wie Ute, fand er, hatte etwas Besseres verdient als einen halbherzigen Mann, und da er und sie schon seit längerer Zeit ein Liebespaar waren, wollte er ihr einen Heiratsantrag machen und ihr einen Ring schenken, den er sich viel Geld hatte kosten lassen.

Der Ring ruhte in einer Schachtel mit einem Futter aus schwarzem Samt.

»Die pusten hier bereits die Kerzen aus«, sagte die Fischerin. »Komm, Dicker, laß uns gehen …«

Dicker! Obwohl er seit zwanzig Jahren sein Idealgewicht hielt!

Meistens gefiel ihm Utes freches Mundwerk allerdings gut. Er hatte es oft in Aktion erlebt und selbst Polizeioberräte und Ministerialdirigenten mit roten Ohren davor fliehen sehen. »Bislang hat das deiner Karriere noch nicht nachhaltig geschadet, doch das kann sich ändern, wenn du nicht aufpaßt«, hatte Gerold ihr einmal gesagt, und sie hatte erwidert: »Na, und wenn schon … Es sind doch jetzt alle für Nachhaltigkeit!«

Beruflich und privat zusammengefunden hatten Ute und Gerold bei ihrer gemeinsamen Jagd auf einen Serienmörder, der im gesamten deutschsprachigen Raum der Schrecken aller Autoren von Regionalkrimis gewesen war. Am Ende hatte er das Berliner Hotel Adlon Kempinski zerbombt, aber Ute und Gerold war es gelungen, viele Menschen vorher aus der Gefahrenzone zu retten.

Das war einmal etwas anderes gewesen als der Polizeialltag im Landkreis Uelzen. Was gab es dort schon groß zu tun? In den Mitteilungen an die Presse herrschte tagtäglich das große Gähnen: Fahrkartenautomat in Bienenbüttel aufgebrochen … Sonnensegel aus Kindergarten gestohlen … Pkw-Fahrer in Molzen aufgrund nichtangepaßter Geschwindigkeit verunfallt … Abfälle im Wald entsorgt …

Auch die Temposünder und die Ladendiebe gaben dem Kriminalistenleben keinen rechten Pfeffer. Gerold fand es jedoch spannend genug, was er in seiner Freizeit mit Ute erlebte. Ihm schlug das Herz bis zum Hals, als er sie zu einem letzten Glas Riesling einlud.

»Gut, wenn du mich so nett bittest«, sagte sie und küßte ihn auf die Nase.

Die freundliche Ladeninhaberin Ute Lange brachte den beiden Turteltauben die letzte Runde.

»Auf Neptun!« rief Ute.

Da kam Gerold nicht ganz mit. »Wieso auf Neptun?«

»Weil er der Gott des Meeres ist und es heute schon den ganzen Tag geschüttet hat. Trockenen Fußes werden wir selbst mit ’nem Taxi nicht zu dir oder zu mir nach Hause kommen. Aver wi sünd ja keen Piepenstientjes!«

Gerold verstand nicht immer alles, was Ute, die Ostfriesin, ihm op Plattdütsch vertellte. »Wie meintest du ganz richtig?« fragte er.

»Frei übersetzt heißt das: Wir sind ja nicht aus Zucker!«

Na schön, dachte er. Und wie soll ich das Gespräch von hier zu meiner Herzensfrage überleiten?

Während er darüber grübelte, zirpte sein Pager, und es gab Arbeit: Im Uelzener Hundertwasser-Bahnhof war ein Mann vor einen Zug gestoßen worden.

2

Über dem Hangang, dem zweitlängsten Fluß in Südkorea, spannte sich in Seoul in achtzehn Meter Höhe die knapp anderthalb Kilometer lange Mapo-Brücke. Man nannte sie die »Brücke des Todes«, weil von ihr schon so viele Selbstmörder hinabgesprungen waren. In der Suizidstatistik der OECD-Länder lag Südkorea seit Jahren ganz vorn, und die Stadtverwaltung hatte aufmunternde Botschaften an den Geländern angebracht und auf der Brücke Notruftelefone angeschlossen, um wenigstens einige Menschen zu retten, aber als Sagong Min-ho von der Brücke fiel, geschah es nicht aus freien Stücken: Zwei Männer hatten ihn von hinten gepackt und hinuntergeworfen.

 

 

Einmal im Leben hatte Ricardo López den Perito-Moreno-Gletscher im argentinischen Nationalpark Los Glaciares mit eigenen Augen sehen wollen, und das glückte ihm auch, doch vor der Kalbungsfront im Canal de los Témpanos stieß ihn jemand von dem gemieteten Segelboot über Bord, und das Letzte, was er sah, war die blaue Himmelskuppel über dem Wasser, in dem er ertrank, bevor er darin erfrieren konnte.

 

 

In der Herrentoilette des Nightclubs Birra Birra in Piräus starben zur selben Zeit die Nachtschwärmer Castor Michelakos, Kyros Moustakas und Sebastian Frangopoulos an Herzversagen. Das Kokain, das sie geschnupft hatten, war mit Pentachlorphenol, Hexazinon und Strychnin versetzt worden. Um sicherzustellen, daß sie nicht von den Toten wiederauferstanden, kam kurz darauf der Dealer herein und schnitt den Männern mit einem Hirtenmesser die Kehle durch.

3

»Ich glaub’s ja bald nicht!« rief der Berliner Polizeipräsident Henning Riesenbusch aus, wobei die neuen Pfunde vibrierten, die er sich in den Restaurants Herz & Niere, Mutter Hoppe und Zur Gerichtslaube zugelegt hatte. »Soll das etwa heißen, daß Sie nicht die geringste Spur von dem Täter haben, der in Uelzen zugeschlagen hat?«

Wenn er mit dem stimmgewaltigen Riesenbusch telefonierte, der in der SoKo Heidefieber sein Chef gewesen war, achtete Kommissar Gerold darauf, mindestens zehn Zentimeter Abstand zwischen sein Ohr und die Hörmuschel zu bringen.

»Sind Sie noch dran?« trompetete Riesenbusch.

»Ja, und ich kann Sie laut und deutlich hören! Die Sache ist die: In der Tatnacht hat keine einzige der Überwachungskameras im Hundertwasser-Bahnhof funktioniert. Wir haben keine Aufnahme von dem Täter, der den Mann aufs Gleis gestoßen hat, und die Augenzeugen reden alle nur Müll. Mit dem Phantombild, das wir deren Aussagen verdanken, könnten wir auch Snoopy oder Idefix zur Fahndung ausschreiben …«

»Und was wissen Sie über das Opfer?«

»Name Jörg Herringhoff, Alter dreiundvierzig, kinderlos, von Beruf Projektmanager in den Diensten des Deutschen Fußball-Bunds.«

»Projektmanager? Was heißt das?«

»Das haben uns die hohen Herren im DFB noch nicht so genau erklären können, aber wir stehen ihnen auf den Zehen. Und jetzt kommt’s: Auch in Südkorea, Griechenland und Argentinien sind Fußballfunktionäre umgebracht worden oder spurlos verschwunden.«

»Na, dann sollte man doch eine internationale Sonderkommission ins Leben rufen!«

»Schon geschehen«, sagte Gerold. »Morgen nachmittag wird in Athen die SoKo Fußballfieber zusammentreten, und die Oberkommissarin Fischer und ich haben die Ehre, uns dieser Runde anschließen zu dürfen.«

Riesenbusch seufzte auf. »Sie beide? Gut. Dann werden sich die Drahtzieher warm anziehen müssen!«

 

 

Im Frankfurter Flughafen spielte Gerold mit der Ringschachtel in der Tasche seines Jacketts. Sollte er oder sollte er nicht?

Bis zum Boarding blieben noch zehn Minuten Zeit.

Er kitzelte die müde neben ihm sitzende Fischerin unterm Kinn.

»Ick kann dat Kitteln neet utstann«, sagte sie und wehrte ihn ab, und dann erfaßte ihr Blick einen hageren Herrn, der auf der gegenüberliegenden Wartebank Platz nahm und eine Reisetasche mit dem Aufkleber »I like Greece« absetzte.

»Sind Sie nicht Thomas Gsella?« fragte Ute.

Wahrhaftig, es war der Schriftsteller Gsella, der für seine komischen Gedichte bekannt war und ungeachtet seines Alters quicklebendig wirkte, denn er hatte gerade eine Badekur im First Class Hotel- und Gesundheitsresort Santé Royale in Bad Brambach hinter sich, wo er mit physiotherapeutischer Bewegungstherapie, Infrarot-Tiefenwärme, Vulkanitfango, Radon-Kohlensäure-Vollbädern und Aromaölmassagen auf Vordermann gebracht worden war.

»Ich hab Sie neulich im Fernsehen gesehen«, sagte Ute.

»Ach ja? Und wie war ich?«

»Cool. Sie haben da ein Gedicht über den ehemaligen Fifa-Chef Sepp Blatter vorgetragen. Die erste Strophe kann ich noch auswendig: ›Du bist schon völlig unten und / Willst gerne noch viel tiefa? / Dann schule um auf Lumpenhund / Und gehe in die Fifa!‹«

Gerold lachte auf. »Das ist schön! Wir fliegen übrigens ebenfalls nach Athen. Dienstlich. Um wegen der Morde an Fußballfunktionären zu ermitteln.«

Davon habe er gelesen, sagte Gsella. »Ich selbst könnte ja keiner Fliege was zuleide tun, aber einen Herzkasper würde ich auch nicht unbedingt kriegen, wenn es Knilche wie Gianni Infantilo schrägen sollte. Ist die nicht durch und durch korrupt, diese Fufa?«

 

 

Als Ehrengast des Goethe-Instituts Athen besaß Gsella ein First-Class-Ticket, während Gerold und Ute weiter hinten im Airbus der Lufthansa Platz nehmen mußten. Sie stellten sich auf einen ruhigen Flug ein und holten ihre Reiselektüren heraus: Gerold eine Biographie des Torjägers Gerd Müller und Ute den Roman »SOS, Jeeves!« von P.G. Wodehouse.

»Findest du nicht, daß du lieber auch irgendwas lesen solltest, das uns bei der Aufklärung unseres Falles helfen könnte?« fragte Gerold und tippte auf den Untertitel der Gerd-Müller-Biographie, die der Historiker Hans Woller geschrieben hatte: »Wie das große Geld in den Fußball kam«.

»Soweit ich weiß, hat Gerd Müller irgendwann im Paläozoikum Fußball gespielt«, sagte Ute. »Es würde mich verblüffen, wenn der Name des Mörders von Jörg Herringhoff im Personenregister deines Schmökers stehen sollte. Aber sag mir doch Bescheid, wenn ich mich irre.«

Und damit wandte sie sich den Abenteuern des schusseligen britischen Aristokraten Bertram Wooster zu, der ohne seinen Diener Reginald Jeeves aufgeschmissen gewesen wäre.

 

 

Der Airbus flog ruhig dahin. Es störte Gerold nur, daß die Fischerin beim Lesen ständig kicherte. »Darf ich fragen, was du so witzig findest?«

»Lies mal diesen Satz«, sagte sie und zeigte ihm die Stelle. »Es geht da um eine gefühlsduselige junge Ehefrau …«

Ich habe einst im Hause eines frisch vermählten Freundes logiert, dessen Gemahlin über dem Kamin des Salons, wo man so etwas unmöglich übersehen konnte, in riesigen Lettern die Inschrift »Zwei Liebende haben dieses Nest gebaut« anbringen ließ, und ich erinnere mich bis heute der stummen Pein in den Augen des Gatterichs, wann immer er ins Zimmer trat und sein Blick darauf fiel.

»Ist das nicht köstlich?« fragte Ute.

Ja und nein, dachte Gerold. Er beschloß, seinen Heiratsantrag auf unbestimmte Zeit zu verschieben, und sagte, daß sein Buch auch nicht ohne sei. »Da steht, daß der Präsident des FC Bayern München in den siebziger Jahren vom bayrischen Finanzministerium zum Steuerbetrug ermuntert worden ist. Die Spieler durften ihr Schwarzgeld behalten und haben im Gegenzug Reklame für die CSU gemacht …«

»Wer war denn damals der Landesfinanzminister?«

»Ludwig Huber. Von der CSU natürlich. Hier steht auch, daß er Franz Beckenbauer zur Steuerflucht in die Schweiz geraten hat.«

Das wundere sie nicht, sagte Ute. Aber sie sei nicht neidisch. »En vergnöögt Hart is beter as ’n Püüt vull Geld!«

 

 

Über die Bordsprechanlage teilten die Piloten der Chef-Stewardeß Evelyn mit, daß sie Mineralwasser zu trinken wünschten. Um es ihnen servieren zu können, mußte sie auf der Zahlentastatur einer Konsole den richtigen Zugangscode eintippen, bevor die Piloten die einbruchssichere Tür von innen entriegelten.

Dieses Cockpit Door Lock System hatte sich weltweit bewährt. Ihm haftete nur der Schönheitsfehler an, daß es wertlos war, wenn die Stewardeß, die ins Cockpit kam, den höchsten Meistergrad in Karate und Jiu Jitsu innehatte und sowohl dem Piloten als auch dem Co-Piloten kurz nacheinander mit einem Hebelgriff die Halswirbelsäule brach.

Genau das passierte hier, und unmittelbar danach sprangen drei Mitglieder der al-Dschaufischen Volksfront aus dem Jemen von ihren Sitzen auf und brachten den Airbus in ihre Gewalt.

Niemand hätte sagen können, wie es ihnen gelungen war, eine Beretta, ein Krummschwert und ein Pfund Plastiksprengstoff an Bord zu schmuggeln, doch sie hatten es geschafft, und nun brüllten sie: »Heads down, you fuckin’ assholes!«

Ach du grüne Neune, dachte Gsella, der sich gerade über seine Trüffelravioli hatte hermachen wollen. Wäre ich doch bloß daheim geblieben!

Die al-Dschaufische Volksfront zeigte sich von ihrer unfreundlichsten Seite. Einer ihrer Krieger haute Gsella seinen Raviolinapf um die Ohren, und ein anderer verteilte Maulschellen in der Business Class.

Ich spiel jetzt besser nicht den Helden, sagte Gerold sich, und Ute raunte ihm zu: »Spiel jetzt besser nicht den Helden …«

Das Ziel, das die Skyjacker verfolgten, war die Abspaltung des jemenitischen Gouvernements al-Dschauf vom Rest des Landes, aber sie gaben sich nicht die Mühe, dafür zu werben. Sie wollten das Flugzeug nach Al Hazm entführen, der Hauptstadt von al-Dschauf, und es dort in die Luft jagen, um ein Zeichen zu setzen. Daher hielten sie es nicht für nötig, Überzeugungsarbeit zu leisten. Sie kassierten die Handys der Passagiere ein, pappten den Sprengstoff an die Kabinenwände und sangen kehlig klingende Heimatlieder.

Gsella sah sich nach der Stewardeß Evelyn um, die ihn seit dem Start so fürsorglich betreut und umschmeichelt hatte wie ihren eigenen Kronensohn. Doch sie war nicht mehr dieselbe. Nachdem sie seinen hilfesuchenden Blick aufgefangen hatte, entnahm sie einer Schublade in der Bordküche einen Gummiknüppel, ging auf Gsella zu und briet ihm eins über.

Auch die anderen Flugbegleiterinnen kollaborierten unverblümt mit den Luftpiraten. Einen Herrn, der darum bat, austreten zu dürfen, brachten sie mit CS-Gas zum Schweigen, und zwei schluchzende Mädchen lähmten sie mit einem Taser.

»Wenn die ganze Crew mit drinsteckt, haben wir ein Problem«, tuschelte Gerold Ute zu, und sie tuschelte zurück: »Ich glaube, wir hätten auch sonst ’n Problem gehabt …«

»Meine Damen und Herren«, sprach Evelyn ins Bordmikro, »es besteht kein Grund zur Sorge. Wenn Sie Ruhe bewahren und unseren Anweisungen Folge leisten, geschieht Ihnen nichts. Dieser Flug wird aus politischen Gründen umgeleitet. Lang lebe die al-Dschaufische Volksfront! Inschallah!«

 

 

Gsella befühlte die Beule an seinem Hinterhaupt und dachte scharf nach. Worauf lief das hier hinaus? Auf ein zweites Nine Eleven? Und was zum Henker mochte eine langbeinige blonde Sexbombe wie diese Evelyn dazu verleitet haben, sich einem arabischen Terrorkommando anzuschließen? Wieso widmete sie sich nicht wie andere Damen ihres Alters den Anti-Aging-Tricks der Royals, Taynara Wolfs Diätgeheimnissen und stylishen Frisuren-Trends mit Eyecatcher-Garantie? Bestimmt hatte sie was mit einem dieser Halunken. Wahrscheinlich mit dem bösartigen Drahthaarterrier, der sich als Boß der Bagage gebärdete. Wo die Dopamine eben hinfielen …

 

 

Der Mann, in dem Gsella den Anführer vermutete, hieß Abdul Farid al-Araschi und wechselte seine politischen Standpunkte öfter als seine Rasierklingen. Er sympathisierte mit allem, was bombte und schoß. Zur Zeit war es die separatistische Untergrundbewegung in al-Dschauf, doch es hätte auch das Haqqani-Netzwerk, die indonesische Verbrecherbande Jamaah Ansharut Daulah oder eine fünfte, sechste oder siebente Kolonne der Hamas sein können. Hauptsache, es knallte.

Seine Kameraden Rayhan und Mustafa hatten die Pilotenplätze eingenommen. Er selbst ging im Wiegeschritt zwischen den Sitzreihen umher, verschaffte sich mit rauhen Worten etwas, das er für Respekt hielt, und strich sich durch den brettförmigen Bart.

Hüm is de Slechdigheid in de Snuut schreven, dachte Ute.

 

 

Mit Engelsgeduld rang Gerold dem Freiheitskämpfer Araschi und seiner Genossin Evelyn die Erlaubnis ab, die Passagiere auf die Toilette gehen und ihnen Wasser zukommen zu lassen.

Und wohin sollte die Reise gehen?

In Geographie war Ute immer gut gewesen. Sie schielte aus dem Fenster und erkannte das ungarische Donauland, Zentralserbien, den Bosporus und den Taurusgürtel zwischen dem anatolischen Hochland und dem mesopotamischen Tiefland.

Der Treibstoff müßte bald zur Neige gehen, dachte sie, und damit lag sie richtig. In Sofia, Istanbul, Ankara und Adana war den Luftpiraten die Landung verweigert worden, und jetzt steuerten sie mit dem letzten Tropfen Kerosin den Aleppo International Airport in Syrien an.

 

 

Die Republikanische Garde der syrischen Streitkräfte, eine Elitedivision, die einen Totenkopf im Wappen führte und dem Befehl des Präsidenten Baschar al-Assad unterstand, umstellte das Flugzeug, sobald es in Aleppo gelandet war.

Gsella traute seinen Augen nicht, als er die Sandsackmauern und die zahllosen Gewehrläufe auf dem Rollfeld sah. Er wollte es nicht wahrhaben, aber hinter ihm wurde darüber gewispert, wo man sich befinde, und es führte nichts an der Einsicht vorbei, daß es Syrien war.

Sein Herzschlag setzte dreimal aus.

In den Top Hundred der Staaten, denen Gsella aus Prinzip fernbleiben wollte, stand Syrien unter den ersten zehn. Denn wer tummelte sich hier nicht alles! Die Hisbollah, palästinensische Milizen, russische Drohnen, iranische Söldner, kurdische Partisanen und islamistische und salafistische Rebellenverbände. Ganz zu schweigen von den mehr oder weniger regulären syrischen Truppen. Und gab es nicht auch noch die al-Nusra-Front und die Suquor-al-Sham-Brigaden?

Ihn hatten diese nahöstlichen Streitigkeiten nie groß interessiert. You this way, me that way, hatte er sich gedacht und die Ohren meistens auf Durchzug gestellt, wenn im heute-journal oder in den Tagesthemen von Sunniten, Schiiten, Hanafiten, Wahhabiten, Maroniten, Ismaeliten oder Drusen die Rede gewesen war. Gemerkt hatte er sich jedoch, daß Assad ein Diktator war, der täglich über Leichen ging.

Und in dessen Machtbereich parken wir jetzt, dachte Gsella. Großartig!

Hinter den Schützen waren Sandflächen, niedrige Gebäude, morsche Kiefern und ein grauer Tower zu sehen, und es war nicht zu überhören, daß Araschi pausenlos auf sein Smartphone einschrie.

Ob uns die GSG 9 hier wohl rauspauken wird? fragte sich Gsella. Man hatte ja schon Pferde kotzen sehen …

 

 

Die Nachricht, daß die Entführer des Flugzeugs der al-Dschaufischen Volksfront angehörten und von der deutschen Bundesregierung verlangten, die diplomatischen Beziehungen zur Republik Jemen abzubrechen, stürzte die Mitglieder des Krisenstabs im Kanzleramt in Verwirrung. Von dieser Volksfront hatten sie noch nie etwas vernommen, und es machte die Sache nicht besser, daß der niederländische Publizist Rutger Bregman sich via Twitter als Austauschgeisel anbot. Den Erkenntnissen des Bundeskriminalamts zufolge war er nur ein überkandidelter, das Rampenlicht suchender Schwätzer.

 

 

Nach einer Stunde unter der syrischen Sonne ermannte Kommissar Gerold sich und legte der Stewardeß Evelyn die Frage vor: »Können Sie nicht wenigstens die Frauen und die Kinder freilassen?«

Belohnt wurde er dafür mit einem Faustrückenschlag, der in der Sprache der Karatesportler Uraken-Uchi hieß, und einem Ellenbogenschlag namens Yoko-Empi-Uchi.

Danach blutete Gerold aus Nase, Mund und linkem Ohr und setzte sich wieder hin.

Ute versuchte ihn zu trösten: »Stell di de all in’t Unnerbüx vöör …«

 

 

Gsella wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte, als er mitbekam, daß das Flugzeug betankt wurde. In Aleppo hielt ihn weniger als nichts, aber er wollte nicht noch einmal mit den Teufeln der al-Dschaufischen Volksfront durchstarten.

Doch seine Meinung war hier nicht gefragt. Der Airbus hob mit gefüllten Tankkammern wieder ab und flog nach Süden.

»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus«, betete Gsella. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes …«

 

 

»Wir überfliegen ein saudi-arabisches Naturreservat«, sagte Ute, aber Gerold schlief.

He brummt as ’n Baar, dachte sie und malte sich den Moment aus, in dem sie Araschi überwältigte und ihm das Kiefergelenk bräche. Dann kreegt he bannig Packje Hau!

 

 

Im jemenitischen Al Hazm Airport war man vorgewarnt. Man ließ den Airbus landen, gestattete jedoch niemandem, ihn zu verlassen.

Araschi wußte nicht mehr so recht weiter. Er hatte nicht vor, sein Team und sich selbst gemeinsam mit den einhundertfünfzig Passagieren in die Luft zu sprengen, aber aufgeben wollte er auch nicht gern. Das ganze Skript war einfach schlecht durchdacht gewesen.

Evelyn erbot sich, einen Fluggast einen Kopf kürzer zu machen, um die Entschlossenheit der al-Dschaufischen Volksfront zu demonstrieren.

»Das sieht ihm ähnlich, dem Idiotenflittchen«, sagte ein Mann, der zwei Reihen hinter Gsella saß, und weil Evelyn das nicht auf sich sitzen lassen wollte, zückte sie das Krummschwert.

Mit einem Nicken gab Araschi ihr sein Einverständnis, den Zwischenrufer zu köpfen, aber als sie auf ihn zuging, stellte Gsella ihr ein Bein, und bei ihrem Sturz rammte sie sich das Klingenblatt in den eigenen Brustkorb. Da es sehr scharf geschliffen war, durchbohrte es ihn wie Butter und trat hinterwärts zwischen zwei Rippen wieder an die Sonne.

Dabei floß eine große Menge Blut, und man mußte kein professioneller Leichenbeschauer sein, um auf den ersten Blick feststellen zu können, daß sich hier alle Wiederbelebungsversuche erübrigten.

Araschi stieß einen Fluch aus, der besagte, daß eintausend Sandflöhe das Gekröse des Schuldigen umkreisen sollten, und in der Sekunde darauf sprengte eine Spezialeinheit des jemenitischen Heeres die hinteren Notausgangstüren des Flugzeugs auf und eröffnete das Feuer.

4

»Rolled Si enand dä großi gääli Balle schöö zue«, sagte Schwester Ophelia Läubli und deutete auf einen großen gelben Ball. In der Rehabilitationsklinik Valmont in Glion im Kanton Waadt umhegte sie Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß, die einzigen Überlebenden des Anschlags auf das Hotel Adlon Kempinski. »Guät, Herr Hoeneß. Und jetz rolled S’ en wieder zrugg, Herr Beckebauer. Nei, da isch di falsch Richtig. Do anä, zum Herr Hoeneß! Kenned Si dä Herr Hoeneß no?«

Beckenbauer und Hoeneß waren nicht mehr dieselben, seit die Explosion sie vom Dach des Adlon Kempinski gefegt hatte, doch sie näherten sich außergewöhnlich schnell ihrer alten Form. Im Gemeinschaftsraum zogen sie andere Patienten beim Schafkopf mit gezinkten Karten über den Tisch, und obwohl ihnen für die Nachtstunden strikte Bettruhe verordnet worden war, standen sie oft noch weit nach Mitternacht auf dem Balkon und telefonierten mit ihren Vermögensberatern in Panama, Tobago und Tunesien sowie auf den Cayman Islands und den Amerikanischen Jungferninseln.

Vor dem Einschlafen betrieben Beckenbauer und Hoeneß in ihrem Doppelzimmer auf eigene Faust Gehirnjogging.

»David Luiz«, sagte Beckenbauer. »Wia hoch war de Dransfersumme, wia ea 2011 von Benfica zua Chelsea gwexelt is?«

»Zwanzig Millionen Pfund«, sagte Hoeneß. »Weiß doch jeder. Und was hat Chelsea 2008 für Nicolas Anelka gezahlt?«

»Fünfzehn Milliona Pfund.«

»Richtig. Aber weißt du auch noch, welche Ablöse den Dortmunder Borussen 2015 Kevin Kampl wert gewesen ist?«

»Ejf Milliona Euro.«

»Falsch. Es waren zwölf Millionen.«

»Stimmt. Etz foid’s mia wieda a.«

»Und wo hat er vorher gespielt?«

»Äh … Greuther Fürth … Bayer Leverkusen … VfL Osnabrück … VfR Aalen und … äh …«

»Und?«

»Red Bull Salzburg?«

»Korrekt.«

»Etz bin aber i wieda dro«, sagte Beckenbauer. »Wia hod da Schiedsrichta im Endschbui da Europameisterschoft 1976 ghoaßn, wo du den entscheidendn Ejfmeta vasemmelt hosd?«

Hoeneß biß sich auf die Zunge. Als Steuersünder kannte er die JVA Landsberg von innen, und im Knast hatte er gelernt, sich zu bezähmen, wenn er provoziert wurde, aber bei der Erinnerung an seinen Schuß in die Wolken gingen ihm die Gäule durch. In Belgrad war das gewesen. Diese Stadt hätte er gern ausradiert gesehen. Er dachte an Methusalix, der in »Asterix und der Arvernerschild« auf die Frage nach Alesia, der Stätte des Sieges der Römer über die Gallier, geantwortet hatte: »Alesia? Ich kenne kein Alesia! Ich weiß nicht, wo Alesia liegt! Niemand weiß, wo Alesia liegt!«

»I woaß ’s no«, sagte Beckenbauer. »Sergio Gonella hod ea ghoaßn.«

»Schon möglich«, hoeneßte Hoeneß zurück. »Und welcher ehemalige deutsche Rekordnationalspieler hat bei seinem eigenen Abschiedsspiel ein Eigentor geschossen?«

»I«, sagte Beckenbauer vergnügt. »Oana wia i deaf ois!«

 

 

Auf einer Sitzbank im Flughafenterminal drückte Gerold Ute an sich. Ebenso wie alle anderen Passagiere hatten sie das Inferno aus Schüssen, Tränengaswolken und Blendgranatendruckwellen lebend überstanden, und nun wollte ein Reporter von ihr wissen, was sie dem Breitbart News Network als Frau über ihre Gefühle nach der Befreiung mitteilen könne.

»Breitbart, right?«

»Sure, Breitbart!«

Auf das rechtsradikale Breitbart News Network, das nur Lügen verbreitete und Donald Trump 2016 zum Wahlsieg verholfen hatte, war Ute nicht gut zu sprechen. Obwohl ihre Hüfte schmerzte und ihr linkes Auge tränte, stand sie auf und traf genau ins Eingemachte, als sie den Reporter trat.

 

 

Rayhan, Mustafa und die verräterischen Stewardessen waren abgeführt worden. Doch wo steckten Abdul Farid al-Araschi und Thomas Gsella?

Die traurige, aber wahre Antwort auf diese Frage lautete, daß Araschi es fertiggebracht hatte, das Krummschwert aus der Leiche seiner Geliebten Evelyn herauszuziehen, es Gsella an die Gurgel zu pressen und im Pulverdampf mit ihm zu entkommen. Der eine oder andere Soldat der jemenitischen Eingreiftruppe schien dabei mitgeholfen zu haben. Anders ließ es sich jedenfalls nicht erklären, daß Gsella jetzt im Kofferraum eines Gebrauchtwagens lag und von Al Hazm zur Grenzstadt Harad befördert wurde.

Mit Gsella hatte Araschi Großes vor: Dieser Christenhund sollte als Selbstmordattentäter in den Feindstaat Saudi-Arabien ausgeflogen und dort über der Grabstätte des Propheten Mohammed in der Stadt Medina abgeworfen werden, um den Heiligen Krieg zu befeuern.

Gsella hing unterdessen seinen eigenen Gedanken nach. 2004 hatte man ihm den Joachim-Ringelnatz-Preis verliehen und 2011 den Robert-Gernhardt-Preis, und das mochte ja auch lobenswert sein, aber er wollte noch mehr vom Leben. Zum Beispiel den Ernst-Jandl-Preis, den Georg-Trakl-Preis, den Leonce-und-Lena-Preis und nicht zuletzt den mit 5000 Euro dotierten Hubert-Burda-Preis für junge osteuropäische Lyrik. Dafür hätte Gsella sogar seine Geburtsurkunde gefälscht. Wie aber sollte er das tun, solange er sich im Gewahrsam der al-Dschaufischen Volksfront befand?

 

 

In Harad öffnete Araschi den Kofferraum und versicherte Gsella, daß er in Medina als Märtyrer in die Geschichte eingehen werde.

»Und wenn ich nicht will?« fragte Gsella.

»That’s out of the question.«

»Aber als lebender Mensch könnte ich ihnen viel nützlicher sein! Ihr Anliegen, mein werter Sahib, ist es doch, die Agenda Ihrer Volksfront weithin bekanntzumachen. Und ich bin jemand, dessen Stimme in Mitteleuropa großes Gewicht besitzt. Schätzen Sie mal, wie oft sich allein mein Gedichtband ›Kille kuckuck dideldei‹ verkauft hat! Na? Da kommen Sie nicht drauf! Da wär ich nicht mal selbst drauf gekommen …«

Leider verfing diese Taktik nicht. Zwei Helfershelfer des Terrorchefs nahmen sich des Dichters an, knebelten ihn, zwängten ihn in eine Sprengstoffweste, fesselten ihn und verfrachteten ihn in einen Learjet, den Araschi eigenhändig nach Medina fliegen wollte.

 

 

Am Steuerknüppel sang Araschi einen alten Hit mit, der im Bordradio lief.

See the pyramids along the Nile

Watch the sun rise on a tropic isle

Just remember, darling, all the while

You belong to me …

Gsella, der nicht daran zweifelte, daß Araschi es ernst meinte, knibbelte mit den Zähnen an dem Knoten des Seils, mit dem seine Hände umschlungen waren. Als junger Mann hatte er in einer Ausgabe der Micky Maus einmal etwas über die Selbstbefreiung aus Fesseln gelesen, und darauf besann er sich, während Araschi die zweite Strophe anstimmte:

See the marketplace in old Algiers

Send me photographs and souvenirs

Just remember when a dream appears

You belong to me …

Gsella fragte sich, wie weit es noch sein mochte bis Medina, und verdoppelte seine Anstrengungen. Eine Schlaufe hatte er bereits gelockert.

»I’ll be so alone without you«, sang Araschi. »Maybe you’ll be lonesome too …«

Und da löste sich der Knoten. Voller Freude streifte Gsella das Seil von seinen Handgelenken ab und suchte nach einer Waffe, mit der er Araschi bezwingen konnte.

Ein Korkenzieher aus der Bordbar schien sich dafür zu eignen.

Araschi witterte keinen Verdacht. Er freute sich darauf, seinen Gefangenen über Medina in die Tiefe zu kicken, und sang weiter lustig mit.

Doch Araschi hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Gsella schlich sich von hinten heran, stieß ihm den Korkenzieher in den Hals und sprang mit einem Fallschirm ab, den er an Bord gefunden hatte.

Der Learjet mit dem sterbenden Luftkapitän Araschi verlor rasch an Höhe, trudelte bodenwärts und krachte in der Stadt Mekka auf die Kaaba, das zentrale Heiligtum des Islams.

Sie zersprang in tausend Stücke.

Und weil nun das Wetter verrückt spielte, geriet der Fallschirmspringer Gsella in einen Sandsturm, der ihn weit nach Osten wehte.

5

Mit einem herzlichen Applaus wurden Kommissar Gerold und Kommissarin Fischer begrüßt, als sie mit großer Verspätung im Präsidium der Polizei von Athen eintrafen. Was sie durchgemacht hatten, war allen bekannt. Theofanis Michelakis, der Leiter der Sonderkommission, der Clint Eastwood wie aus dem Gesicht geschnitten war, überreichte ihnen einen Orchideenstrauß und eine Flasche Metaxa, und dann wurde Gerold dazu aufgefordert, die Ergebnisse der Ermittlungen zum Mord an Jörg Herringhoff darzulegen.

Ärgerlicherweise war die Klimaanlage defekt, und Gerold schwamm in einer Schweißflut, während er den Kriminalbeamten Bericht erstattete: Herringhoff habe keine Vorstrafen und keine Schulden gehabt, unauffällig gelebt, eine saubere Personalakte hinterlassen und sich anscheinend nur ein einziges Mal eine Rüge eingefangen. »Und zwar von Roderich Bärlapp, dem Schatzmeister der Fifa. Von dem ist er drei Tage vor seinem Tod per SMS scharf zurechtgewiesen worden. Er solle das Maul halten, denn sonst werde er was erleben …«

Es stellte sich heraus, daß auch die anderen Mordopfer in ihren letzten Lebenstagen von Bärlapp bedrängt worden waren. Ricardo López hatte er per E-Mail sogar mit einer »escuadrón de la muerte« gedroht, einer Todesschwadron, doch er hatte sich damit herausgeredet, daß das ein Scherz gewesen sei.

»That’s were we have to start«, rief Rupert Wimmerforce, ein Commissioner von Scotland Yard, der sich herbeibemüht hatte, weil in diesem Gremium natürlich auch das Mutterland des Fußballs vertreten sein mußte. »Let’s nail this bastard Bärlapp down!«

In natura hatten weder Ute noch Gerold jemals einen dickeren Menschen als Rupert Wimmerforce gesehen. Er benötigte eine zwei Meter breite Bank, um sitzen zu können, und sein Quadrupelkinn ging irgendwo im Brustbereich in eine Bauchkugel von der Größe des Jupiters über, aber was er sagte, klang nicht dumm. Er plädierte dafür, einen verdeckten Ermittler auf Bärlapp anzusetzen oder, besser noch, eine verdeckte Ermittlerin.

Bei diesen Worten richteten sich einhundert Augen auf die einzige Frau im Raum: die Oberkommissarin Fischer.

»Time to act«, sagte Wimmerforce. »Ready for an adventure?«

 

 

In der nächsten Kaffeepause nahm Gerold die Fischerin zur Seite. »Du kannst das«, sagte er. »Wir setzen dich diesem Schweinehund wie eine Laus in den Pelz, und dann servierst du ihn uns mitsamt seinen Hintermännern auf dem Silbertablett …«

»Muß ich dafür auch mit ihm ins Bett gehen?« fragte Ute.

»Davon hättest du nicht viel. Roderich Bärlapp ist schwul.«

»Woher weißt du das?«

»Das ist ein offenes Geheimnis.«

»Und wie kommst du darauf, daß ich für sowas verschlagen genug bin?«

Gerold legte den Kopf schief und suchte nach einer Antwort, die sie nicht verletzte, doch da kam Rupert Wimmerforce angerollt und vertraute Ute und Gerold unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß der Personalchef der Fifa schon seit langem als Informant für den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 arbeite und die Ersetzung der derzeitigen Chefassistentin Bärlapps durch die Kommissarin Fischer sofort in die Wege leiten könne.

Ute runzelte die Stirn. »Und wie kriegen Sie diese Assistentin von Ihrem Posten weg?«

»Oh, you don’t have to worry about that«, sagte Wimmerforce. »Money talks.«

 

 

Einen Sandsturm hatte Thomas Gsella zwar schon einmal in dem Spielfilm »Mission: Impossible – Ghost Protocol« gesehen, aber der war nur ein laues Lüftchen im Vergleich zu dem Orkan, der ihn im saudischen Luftraum mitgerissen und fünfhundert Kilometer weit nach As Sulayyil geblasen hatte, eine kleine Gemeinde am Rande der Wüste Rub al-Chali, wo er in der Jauchegrube eines Kamelgestüts gelandet war.

Der Fronvogt von As Sulayyil hatte Gsella reanimieren und reinigen lassen und ihn sodann einer Gruppe von Handlangern zugeteilt, deren Aufgabe darin bestand, von früh bis spät den Dung der Kamele in Schubkarren zu schaufeln.

Hier ist meines Bleibens nicht länger, dachte Gsella bereits an seinem ersten Arbeitstag. Mit fast allem war er unzufrieden, von der Vielzahl der Arbeitsstunden bis zur Kost, zur Unterkunft und zur nicht vorgesehenen Bezahlung, und weil es so heiß war, versuchte er, eine »Schönwetterzulage« ins Gespräch zu bringen, doch diese Flausen wurden ihm vom Schichtleiter mit Stockhieben ausgetrieben.

Nächtigen mußte Gsella mutterseelenallein in einem Holzverschlag inmitten von Braunbandschaben, Sichelwanzen, Getreidemotten und anderem Ungeziefer. Auch eine Vogelspinne hatte er gesichtet und einen Dickschwanzskorpion der stechfreudigen Gattung Androctonus crassicauda. Und sahen manche der Arbeitskollegen nicht so aus, als wären sie mit Lepra, schwarzen Blattern oder etwas noch Üblerem infiziert?

Die Tür des Verschlags war nicht verschlossen, denn der Fronvogt verließ sich auf seine Wachhunde, drei mannscharfe Staffordshire Bullterrier, die auf dem Gelände patrouillierten. Ihnen war noch nie jemand entwischt.

Gsella aber, nicht faul, stahl sich am Ende seines zweiten Arbeitstages in die Küche des Gestüts und stibitzte drei Pavianwürste, und als in der darauffolgenden Nacht der Vollmond aufgegangen war, trat er hinaus und schmiß den grollend herbeieilenden Wachhunden die Würste zum Fraß vor.

Das genügte. Die Terrier beschäftigten sich mit dem Imbiß, und Gsella hatte freien Zugang zur Vorratskammer, wo er ein Satteltaschenpaar mit einem Sack Datteln und einem Wasserschlauch füllte und schulterte. Dann weckte er mit einem sachten Fußtritt eines der Kamele.

Es erhob sich schnaubend auf die Beine.

»Ruhig, Brauner«, sagte Gsella und warf ihm die Satteltaschen über den Hals.

Das Kamel wehrte sich nicht dagegen. Es stand still und harrte der Dinge, die kommen mochten.

Schwerer als alles Vorangegangene fiel Gsella das Kunststück, das Kamel zu besteigen. Er krallte sich an das Fell und zappelte hilflos mit den Beinen. Erst das Knurren der Terrier, die ihre Würste aufgefressen hatten und sich fragten, was hier eigentlich vorging, bescherte ihm den Unternehmungsgeist, den er brauchte, um sich zwischen die Höcker zu schwingen und dem Gestüt zu entfliehen.

»Vorwärts, altes Wüstenschiff!« rief er. »Galoppi, galoppi!«

Das Kamel trabte gemächlich los. Von den belfernden Hunden ließ es sich nicht beirren, und sie blieben auch schon bald zurück, weil sie wußten, daß es keine Wiederkehr aus der Wüste Rub al-Chali gab, in die Gsella hineinritt.

 

 

Die Zerstörung der Kaaba hatte die Muslime von Dakar bis Jakarta in Aufruhr versetzt. Niemand bekannte sich zu diesem Anschlag, aber viele Millionen erboste Eiferer glaubten, daß die CIA dahinterstecke. Ein russischer Nachrichtensender nährte diesen Verdacht, und in Kairo, Mogadischu, Kuala Lumpur, Tunis und Amman wurde Feuer an die amerikanische Botschaft gelegt. In Algier brannten Demonstranten eine Pizza-Hut-Filiale nieder, und auf den Malediven verübte der gesamte Kader der Handball-Nationalmannschaft aus Protest Selbstmord durch die Inhalation von Auspuffgasen.

Es wurde ernst. Die United States Navy machte ihre Schiffe im Persischen Golf gefechtsklar, Rußland sandte zwei Atom-U-Boote mit seegestützten Interkontinentalraketen aus, die chinesische Marine mischte sich mit einem Lenkwaffenzerstörer ein, und der Oberste Führer der Demokratischen Volksrepublik Korea kündigte einen atomaren Erstschlag für den Fall an, daß man ihm kein Mitspracherecht beim Ausbruch des Dritten Weltkriegs gewähren sollte.

Für Verschwörungstheoretiker war es ein Fest. Sie wiesen den Rosenkreuzern die Schuld zu, den Freimaurern, den Zeugen Jehovas, dem Kreml, dem Pentagon, der Federal Reserve Bank, den Tempelrittern und den Weisen von Zion, und der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman bin Abdulaziz Al Saud setzte ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen Saudi-Riyal für die Ergreifung des Täters aus, was plusminus 2,3 Millionen Euro entsprach.

 

 

Er sei das alles leid, sagte Gerold, klappte seinen Laptop zu und blickte Ute an, die aus der Hotelzimmerdusche kam. »Erbitte Status-Diagramm.«

»Verstanden«, sagte Ute. »Gehe jetzt auf Suche nach dem Zielsender.«

»Gut. Schauen wir uns das auf Inrafrot an. Umschalten auf Wärmebild!«

Sie spielte mit. »Red-Crown-Kontaktdaten. Drei-null-null für dreißig.«

»Roger. Ziel ist statisch. Setzen wir den Laser ein.«

»Geh einfach auf Anschubwinkel drei null und bring uns sicher runter, ja?«

»D’accord. Wir haben Standardprozeduren für solche Fälle …«

»Countdown einleiten!« befahl Ute und zog Gerold das Hemd über den Kopf.

 

 

Fünfhunderttausend Quadratkilometer weit breitete die Wüste sich um Thomas Gsella aus, als er auf dem gestohlenen Kamel nach Osten ritt und verzweifelt Ausschau nach einem Objekt hielt, das Schatten spendete. Die Mittagssonne hatte das Thermometer auf sechzig Grad Celsius steigen lassen, und Gsella brannte das Salz seiner Schweißtropfen in den Augen. Seine Glatze hatte er mit einem Geschirrtuch aus der Küche des Gestüts bedeckt, aber auf seinen Unterarmen bildeten sich feuerrote Brandblasen, und der schaukelnde Gang des Kamels versetzte ihn in eine Trance, in der es ihm vorkam, als bräche sein Gehirn siedend aus dem Schädel hervor – als wäre er ein Kochtopf, und seine Ohren und Zähne wären feurige Kohlen, aus denen die Flammen des Höllenfeuers emporschlügen.

Hinter jeder Sanddüne wurde die Kuppe der nächsten Sanddüne sichtbar und niemals der Umriß einer Oase mit einer Palme, einem Liegestuhl und einem Kiosk, der eisgekühlte Getränke verkaufte: Licher Pilsner, Mönchshof Maibock, Alsfelder Weizen Kristall oder Pfeffer-Hell aus der Dampfbierbrauerei Zwiesel. Selbst eine Flasche Clausthaler Hefeweizen Premium Alkoholfrei oder ein Schmucker Diät-Pils hätte Gsella jetzt dankbar entgegengenommen.

Bei jedem Atemholen füllten seine Lungen sich mit beißend heißem Sauerstoff, und urplötzlich verschlechterte die Lage sich beträchtlich: Eine Sandrasselotter fuhr zischend aus dem Wüstensand auf, und das Kamel scheute, stellte sich blökend auf die Hinterbeine, schüttelte Gsella ab und rannte mit den restlichen Datteln und dem Wasserschlauch davon.

6

Hinter den Kulissen mußten einige Strippen gezogen werden, bevor Kommissarin Fischer im Ausland operieren durfte. Im Wiesbadener Bundeskriminalamt erhielt sie einen Crashkurs in verdeckter Ermittlung, und man stattete sie mit Dokumenten aus, die ihre neue Identität bewiesen. Ute Fischer hieß jetzt Verena Süß und hatte sich angeblich in der renommierten Buhmann-Schule in Hannover zur Chefassistentin ausbilden lassen. In einem Arbeitszeugnis wurden ihr großes Geschick bei der Analyse von Textinhalten, exzellente Kenntnisse im Umgang mit Word, Excel und Outlook, ein strukturierter und zuverlässiger Arbeitsstil, Organisationstalent, Belastbarkeit und Eigeninitiative sowie absolute Diskretion und Loyalität bescheinigt.

»Und wie steht’s mit deinen Fußballkenntnissen?« fragte Gerold bei einem abendlichen Telefonat. »Hast du dich fortgebildet?«

»Ja. Ich lese gerade das Buch ›So werde ich Heribert Faßbender‹ von Thomas Gsella und Jürgen Roth. Mit lustigen Bildern von Heribert Lenz. Laut Untertitel ist das ein Grund- und Aufbauwortschatz für Fußballreporter. Da stehen Floskeln drin wie ›Dem Mittelfeld fehlt ein Spielgestalter‹, ›Da herrscht ein Weißwurstchaos im Schalker Strafraum‹ und ›Nürnbergs Abwehr spielte in der ersten Halbzeit wie eine Mischung aus Bratwurst und Lebkuchen‹ …«

»Das darf doch nicht wahr sein!« rief Gerold. »Du mußt Fachliteratur lesen! Studien über die Wirtschaftsweise der Fifa und nicht solchen Müll!«

»Tu ich ja außerdem noch. Sei unbesorgt. Und was treibst du selbst?«

»Ich werde mir morgen in Frankfurt den DFB-Präsidenten vornehmen.«

»Viel Spaß. Nach allem, was ich weiß, ist der Mann ein Weichei.«

»Mag sein. Ich trage übrigens gerade nur einen feinmaschigen Herrenslip mit Blütenspitze, falls es dich interessiert …«

»Aus achtzig Prozent Polyester und zwanzig Prozent Elasthan?«

»Du sagst es.«

»Kannst du mir ein Foto davon schicken?«

»Eventuell. Aber vorher mußt du mir den Kopf von Roderich Bärlapp bringen …«

 

 

Thomas Gsella hatte einen harten Sturz getan. In seinem Kreuzbein war etwas verrenkt, seine Lippen glichen abgestreiften Schlangenhäuten, und er litt unter den Schwankungen der Temperatur. In den Nächten sank sie in der Wüste Rub al-Chali bis auf den Gefrierpunkt, und tagsüber stieg sie höher, als man es für möglich hielt, wenn man aus dem Ruhrgebiet stammte.

Die Sonne sprühte mittags Funken so dick wie Gazellenhälse.

Gsella krabbelte voran, doch es fiel ihm zusehends schwerer, seine Handflächen auf die heißen Sandkörner zu stemmen. Er fühlte sich so schmerzlich verlassen und ausgestoßen wie die Amoriter, die Kanaaniter und die Jebusiter im Buch Exodus, und das wollte etwas heißen, denn von diesen Völkern hatte Gott sich unwiderruflich abgewandt.

Ein Wüstenwaran flitzte vorüber, und Gsella griff nach ihm, gierig nach Fleisch und Blut, doch der Waran war schneller und entglitt den Fingern des Satirikers.

Wenn Gsella in der islamischen Überlieferung bewandert gewesen wäre, hätte er vielleicht den Merkvers gekannt, in dem die Qualen geschildert wurden, die den Ungläubigen im Jenseits blühten:

Die Glut der Hölle ist gewaltig, ihre Tiefe unfaßbar, ihr Brennmaterial Eisenstein, ihr Getränk glühendes Wasser und Eiter, und ihre Kleider sind kurze Feuergewänder.

Dies alles lernte er nun bereits im Diesseits kennen. Ausgehungert und dehydriert schleppte er sich Meter um Meter nach vorn, und da erahnte er im Flimmern und im Dunst der Wüste mit einemmal die Aschaffenburger Brauereigaststätte Schlappeseppel, eine seiner Stammkneipen, in der er im Laufe seines Lebens Tausende von Euro versenkt hatte.

»Ein Pils bitte«, ächzte Gsella. »Mit herber Hopfenblume …«

Die Zunge hing ihm bis zum Schlüsselbein heraus, und es dürstete ihn sehr, aber dann verflüchtigte sich die Fata Morgana, und an ihre Stelle trat wieder der reine, schwere Sonnenglast, der hier schon so manchen Pilger das Leben gekostet hatte.

In Gsellas Wahrnehmung verdichteten sich die Dünen und das brodelnde Dotter der Sonne zu einer einzigen Trockenbrühe, die ihn zu ersticken drohte, doch er gab nicht auf, obwohl seine Nackenhaut schon brenzlig roch und fünf aasfressende Greifvögel über ihm kreisten.

»Kein Gruß, kein Herz, kein Kuß, kein Scherz«, ging es ihm durch den Kopf. »So schön, schön war die Zeit …«

Dann fingen Gsellas Ohren Feuer. Er patschte es aus und erlitt dabei einen leichten Herzinfarkt, bevor er das Bewußtsein verlor und bäuchlings in den qualmenden Wüstenstaub fiel.

 

 

Die Weltuntergangsuhr der Zeitschrift Bulletin of the American Scientists war auf dreißig Sekunden vor zwölf vorgestellt worden, aber trotz der angespannten Situation hatte sich im Persischen Golf noch kein Schuß gelöst, und es war auch noch immer ungewiß, wer hinter dem Anschlag auf die Kaaba steckte. Klar war nur, daß der Schuldige den Zorn von mehr als anderthalb Milliarden Muslimen auf sich gezogen hatte. Ihr Unmut kannte keine Grenzen. Der saudische Mufti Abd-al Aziz el-Hashim, der ein hohes Amt in der nationalen Religionspolizei bekleidete, und der iranische Rechtsgelehrte Roshan Dschalal al-Afghani reichten einander über den Graben ihrer Erbfeindschaft hinweg die Hände und erließen gemeinsam eine Fatwa, in der sie für sachdienliche Hinweise auf den Täter eine Hundertschaft korallenäugiger Paradiesjungfrauen auslobten, und in Isfahan zündeten zwei Gotteskrieger vor einer Kathedrale sicherheitshalber schon mal eine Autobombe.

 

 

»Wir haben unsere Karten offen auf den Tisch gelegt«, erklärte Sven Glattschnigg, der DFB-Präsident, der sein Amt drei Monate zuvor angetreten hatte, nachdem sein Vorgänger wegen Steuerhinterziehung hinter schwedischen Gardinen gelandet war. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie noch von uns wollen!«

»Jörg Herringhoffs Rechner«, sagte Kommissar Gerold.

»Der ist bei einer Inventur nach Herrn Herringhoffs Tod ordnungsgemäß verschrottet worden. Steht alles in Ihren Papieren.«

»Nein, hier steht nur, daß Sie Herrn Herringhoffs Büro leergeräumt und es chemisch gereinigt haben. Was daran ›ordnungsgemäß‹ gewesen sein soll, ist bis heute Ihr süßes Geheimnis. Und deshalb frage ich Sie abermals: Wo ist Herringhoffs Rechner?«

Sie maßen sich mit kühlen Blicken. Glattschnigg betrachtete Gerold als einen voreingenommenen, selbstgerechten, branchenfremden und lästigen Schnüffler, während Gerold in Glattschnigg einen öligen und doppelzüngigen Windhund mit Anzugknöpfen aus Schweizer Uhrenstahl sah, dem jede Lüge glatt über die Lippen ging.

Da Glattschnigg schwieg, setzte Gerold den Hebel woanders an und sagte, daß es gewisse Machenschaften gebe, die der Öffentlichkeit bislang verborgen geblieben seien. »Ich meine damit Ihre Verwicklung in die Finanzskandale des SV Meppen.«

Glattschnigg wich das Blut aus dem Gesicht.

»Wir sind im Bilde über das System Ihrer Vetternwirtschaft bei der Vergabe der Aufträge für den Ausbau des Stadions in Meppen«, sagte Gerold. »Und wir wissen auch, daß Sie vor fünf Jahren versucht haben, einen Schiedsrichter der Dritten Liga mit Freifahrtscheinen für das Hamburger Bordell Paradise Point of Sex zu bestechen. Ich will das aber gar nicht an die große Glocke hängen. Ich möchte nur, daß Sie mir mitteilen, wo der Rechner von Herrn Herringhoff geblieben ist. Wenn Sie das tun, werde ich mir im Hinblick auf Ihre Person unter Umständen zwei oder drei Gedächtnislücken erlauben.«

 

 

»Und da ist er eingeknickt?« fragte Ute Gerold abends am Telefon.

»So kann man’s sagen.«

»Und woher kennst du die Leichen, die Glattschnigg im Keller hat?«

»No comment. Quellenschutz.«

»Hast du denn jetzt den verdammten Rechner?«

»Ja. Der wird zur Stunde von irgendwelchen Cybertechnologen geflöht.«

»Und trägst du wieder deinen feinmaschigen Herrenslip?«

»Nein. Ich sitze im Bademantel vor einem Fertiggericht.«

»Hoffentlich nicht vor Insektenpasta mit Mehlwurmmehl.«

»Irrtum. Es handelt sich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, um drei Quarkkeulchen aus der Thüringer Kloßmanufaktur. Und wie ist bei dir die Lage?«

Die Fischerin schloß die Augen, zog die Bettdecke ans Kinn und faßte zusammen, was man ihr inzwischen alles beigebracht hatte: »Ich kann jetzt Stalkerware auf Smartphones installieren, Virenschutzprogramme als Wanzen einsetzen, Verfolger ins Leere laufen lassen und auf Kurzwelle Geheimbotschaften übermitteln. Und ich hab Stenographie lernen müssen. Stell dir das vor! Stenographie! Weil Roderich Bärlapp darauf besteht, daß seine Sekretärin Steno beherrscht. Im einundzwanzigsten Jahrhundert!«

»Wann soll’s denn losgehen?«

»Morgen ist mein erster Arbeitstag.«

»Aufregend, oder?«

»Wie man’s nimmt. Ich kann mir was Schöneres vorstellen …«

 

 

Eine große und glänzende Kamelreiterschar umringte Thomas Gsellas Leib. Angeführt wurde sie von Tahir Farralbaki, einem Beduinen, der den Beinamen »Vater der Schakale« trug und unter seinem Burnus eine Glock 44 und einen mit Zink legierten und mit Blattsilber verzierten Dolch aus Edelstahl verwahrte. Farralbaki war mit seiner Karawane unterwegs zu der Hafenstadt Al Sila, um dort Ziegenhäute zu verkaufen, die er im Sultanat Oman aus dem Verkehr gezogen hatte. Der menschliche Beifang Gsella eignete sich in Farralbakis Augen gut für den Verkauf auf dem Sklavenschwarzmarkt.

Zwei Bandenmitglieder hoben Gsella hoch und zurrten ihn auf einem der Transportkamele fest.

7

Ihren auberginenförmigen neuen Chef Roderich Bärlapp lernte Ute Fischer alias Verena Süß sofort von seiner unangenehmsten Seite kennen, als sie in Zürich ihren Dienst antrat.

»Morgen früh fliegen wir nach Rio, und von da geht’s weiter nach Neuseeland«, sagte er und warf ihr eine Checkliste auf den Schreibtisch. »Kümmern Sie sich darum. Und seien Sie so gnädig, Ihre Garderobe und Ihr Make-up bis morgen auf die Farbtöne der Innenverkleidung des Jets abzustimmen, mit dem wir fliegen. Blueberry, Sepiabraun und Hibiskusrot. Ich bin ein Farbenmensch. Ihre Amtsvorgängerin ist hier einmal in einem glittervioletten Longblazer erschienen und hat dazu flaschengrüne Loafer mit pastellgelben Schleifen getragen. Ist lange her, aber ich weiß es noch wie heute. ›Wollen Sie mich umbringen?‹ hab ich sie gefragt. Und sie: ›Wieso? Hab ich was falsch gemacht?‹ Und ich: ›Würden Sie sich bitte mal im Spiegel ansehen?‹ Und sie: ›Was soll das heißen?‹ Und ich: ›Das soll heißen, daß mir die glasierten Aprikosen von gestern abend hochkommen, wenn mir Ihre Schühchen und Ihr Blazer in die Augen stechen.‹ Und sie: ›Dann fragen wir doch mal die Gewerkschaft, was die dazu meint.‹ Und ich: ›Weshalb kommen Sie mir jetzt mit der Gewerkschaft? Der einzige Kritikpunkt, den ich angesprochen habe, betrifft den Kontrast zwischen der Farbe Ihres Blazers und der Ihrer Schühchen.‹ Gehören Sie auch einer Gewerkschaft an, Fräulein Süß?«

»Nein.«

»Das freut mich für Sie. But anyway – werfen Sie sich morgen in Schale. Wir haben Großes vor!«

Kommissarin Fischer verzog keine Miene, aber innerlich kochte sie. Ein schwuler Freund hatte einmal zu ihr gesagt, daß es nichts Schwulenfeindlicheres gebe als Tucken. Genau in diese Kategorie fiel Roderich Bärlapp, der auch sonst keine erfreuliche Erscheinung bot. Sein Gesicht ähnelte dem eines Blobfischs, und das Sprechen schien er im Reich der Kreuzkröten erlernt zu haben.

Während Ute im Vorzimmer die Reisevorbereitungen traf, hörte sie ihn in seinem Büro über »die Prozessualisierung von Strategiezielen« und »die Priorisierung von Fokusprojekten« dozieren. In einem Telefongespräch mit dem Präsidenten der Nigerian Football Federation drang er darauf, daß »evidenzbasiert abgeleitete Entscheidungen künftig stärker operationalisiert werden« sollten, und dem Chief Digital Officer des uruguayischen Fußballverbandes wusch er noch rabiater den Kopf: »Die verwaltungsseitige Federführerschaft muß auch in krisenmotivierten Koordinierungsprozessen konsensual von der Fifa-Zentrale festgelegt werden! Merken Sie sich das, Sie Pflaume!«

Als Bärlapp endlich auf die Toilette gegangen war, verwanzte Ute sein Büro und seinen Rechner und kam sich dabei vor wie Mata Hari.

 

 

Mehr tot als lebendig wurde Thomas Gsella in einer Karawanserei in Al Sila vom Kamel gehoben und den Kaufinteressenten präsentiert. Tahir Farralbakis Leute hatten ihn mit etwas Wasser und einer Aufbaukur aus Amphetaminen versorgt, aber er war ein Ladenhüter. Wer brauchte schon einen kraftlosen und gebrechlichen Hungerhaken mit Verbrennungen zweiten Grades, der nur durch das Zucken seiner Augenlider und sein Greinen nach Wasser bewies, daß er überhaupt noch lebte?

Viele Häupter beugten sich über diesen Verkaufsgegenstand, der auf dem Rücken lag, an Holzstreben gekettet, aber niemand schenkte Gsella ein Lächeln. Was er über sich sah, waren die Fratzen der verrufensten Gestalten aus der arabischen Unterwelt. Man sah ihnen an, daß sie zahlreiche Messerkämpfe und Schießereien überlebt hatten und nicht viel Wert auf ihr Äußeres legten. Dem einen Herrn fehlte ein Ohr, dem anderen ein Auge, dem dritten die Nase und dem vierten der Unterkiefer, und fast alle trugen lange Bärte vor sich her.

Während der Verhandlungen schabten die nadelspitzen Enden der harten Barthaare über Gsellas Brust und zerschnitten seine gerötete Haut wie Topfschrubber aus Stahldraht und Polyesterzwirn. Der Sonnenbrand, den der Dichterling aus der Wüste mitgebracht hatte, forderte seinen Preis.

Das höchste Gebot für Gsella belief sich auf sechs Saudi-Riyal, was knapp anderthalb Euro gleichkam.

Dann werde er den Mann lieber als Fischköder im Roten Meer verwenden, rief Farralbaki aus und ließ sich von einem seiner Gefolgsmänner ein Ausweidemesser reichen.

Gsella begriff, daß es hier um sein Leben ging. Er hätte gern mitgeboten und die Handelspartner darauf aufmerksam gemacht, daß sich in dem Portemonnaie in seiner hinteren rechten Hosentasche mehr als dreißig Euro befanden, doch er konnte sich nur ein Krächzen abquälen.

Um den Preis hochzutreiben, verwies Farralbaki auf den tadellosen Zustand von Gsellas Gebiß und entblößte mit dem Knauf des Ausweidemessers oben und unten das Zahnfleisch.

Die meisten Hehler blieben skeptisch, aber ein irakischer Menschenhändler bot volle dreizehn Riyal.

Farralbaki schlug ein, und wenig später fand Gsella sich zwischen fünfzig anderen Männern gefesselt in einem Container an Bord eines Frachters wieder, dessen Ziel der Wasserweg Schatt al-Arab war.

Das werde ich der Heinrich-Böll-Stiftung erzählen, dachte Gsella.

 

 

Im Datenmüll auf Jörg Herringhoffs Festplatte waren die Fahnder auf eine Goldader gestoßen: die Korrespondenz mit Dietrich zur Nedden, einem Journalisten aus Hannover, mit dem Herringhoff sich in den letzten Tagen seines Lebens über einige dunkle Punkte in der jüngeren Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes und der Fifa ausgetauscht hatte.

»Mir stehen die Haare zu Berge«, hieß es in einer E-Mail von Herringhoff. »Wenn Sie den DFB und die Fifa für einen Schweinestall halten, liegen Sie schief. Es ist viel schlimmer. Über Kanäle aus den Vereinigten Arabischen Emiraten wird gerade unglaublich viel Geld hereingepumpt und nach einem Gießkannenprinzip, das ich noch nicht durchblickt habe, an Bundesliga-Schiedsrichter verteilt. Und ich höre auch schon manches Dubiose über die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2034 munkeln.«

Zur Nedden an Herringhoff: »Sie sollten mir solche brisanten Informationen nicht mailen. Können wir uns treffen?«

Herringhoff an zur Nedden: »Ginge es am Freitag in Hannover?«

Zur Nedden an Herringhoff: »Gern. Wie wäre es im Ristorante da Lello an der Marienstraße um 19 Uhr?«

Herringhoff an zur Nedden: »Perfetto.«

Kommissar Gerold sah auf den Kalender. Dieses Treffen mußte am Vorabend von Herringhoffs Tod stattgefunden haben.

Laut Internet war zur Nedden als freier Autor tätig und hatte unter anderem die Bücher »Das Freiburg-Fieber«, »Strafplanet Erde« und »Pfeifen! Vom Wesen des Fußballschiedsrichters« geschrieben.

Gerold rief zur Nedden an, stellte sich kurz vor und fragte ihn, ob er ihn heute noch in Hannover treffen könne, um ihm einige Fragen zu Jörg Herringhoff stellen zu können.

»Gern«, sagte zur Nedden. »Wie wäre es im Ristorante da Lello an der Marienstraße?«