Kindheitsroman - Gerhard Henschel - E-Book

Kindheitsroman E-Book

Gerhard Henschel

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bundesrepublik Deutschland, 1964 bis 1975: Ein Kind namens Martin Schlosser erzählt aus seinem Leben, vom Sandkasten bis zur Pubertät, von den ersten Liebesperlen im Hinterhof bis zum Wunschtraum, der neue Eddy Merckx zu werden, der neue Mark Spitz, der neue Gerd Müller oder am besten alles auf einmal. "Kindheitsroman" ist der erste Band einer großangelegten Chronologie, in der man erfährt, was der Protagonist von Mecki, Lurchi, Gustav Gans und Percy Stuart hält und von den eigenen Geschwistern, wie er zum Brandstifter und Ladendieb wird, was er als Fan von Borussia Mönchengladbach erlebt und wie es ist, wenn man den Eltern beichten muss, dass man in Biologie auf Sechs steht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 669

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Henschel

Kindheitsroman

Roman

Hoffmann und Campe

(© Disney)

Walt Disneys Lustige Taschenbücher Nr. 9: »Micky ist der Größte«

Kindheitsroman

Licht ausmachen, Handflächen neben die Augen legen und durchs Fenster schräg nach oben kucken, in den fallenden Schnee: Dann hatte man das Gefühl, man würde fliegen, zwischen den Schneeflocken durch.

Das hatte Renate mir beigebracht.

Ich und du, Müllers Kuh.

Renate hatte vorne einen braunen Leberfleck am Hals. Daran war sie immer zu erkennen.

Da war ein Weg, wo Mama sich mit anderen Müttern unterhielt, die auch alle Kinderkarren dabeihatten. Die Sonne schien, und über eine Mauer hingen Zweige runter mit roten Beeren.

Ich hatte Krümel aus dem Graubrot im Netz gepult. Wegen dem Loch im Brot kriegte ich zuhause keine Bombongs.

Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.

Meins war das Lätzchen mit den Marienkäfern. Ein Löffel für Oma, ein Löffel für Opa, bis unten im Teller die schwarzen körnerpickenden Hühner auftauchten. Mein Löffelstiel war zur Seite gebogen.

Ein Löffel für Martin. Das war ich selbst. Martin Schlosser.

»Nicht träumen!«

Nach dem Essen leckte Mama einen Lätzchenzipfel an und wischte mir damit den Mund ab.

Bim, bam, beier, die Katz mag keine Eier.

Volker hatte Murmeln mit farbigen verdrehten Schlieren innendrin.

Wenn Papa gute Laune hatte, ließ er mich kopfüber an der Decke langspazieren oder kitzelte mich durch: »Prr-prr-prr-prr-prr!«

Papa roch nach Pfeife, und ihm wuchsen graue Haare aus der Nase.

Auf Papas Knien: So fahren die Damen, so fahren die Damen – so reiten die Herren, so reiten die Herren – und so reitet der Bauersmann, der nicht besser reiten kann. Da fiel ich immer fast runter.

Leute, die uns besuchten, kriegten vom Wohnzimmer aus die Festung Ehrenbreitstein gezeigt und die Striche an der Kinderzimmertür: wie groß ich wann gewesen war.

Die Jalousie war grün.

Bei der roten Autokiste im Kinderzimmer war das Lenkrad ab.

Im Doppelstockbett durfte Volker oben schlafen, weil er drei Jahre älter war als ich. Dafür war er drei Jahre jünger als Renate.

Zum Beten faltete Mama ihre Hände über meinen. Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm.

»Und jetzt will ich keinen Mucks mehr hören!«

Meine Beine waren mit Bademantelgürteln an die Bettpfosten gebunden, eins links und eins rechts, damit ich die Decke nicht abstrampeln konnte.

Maikäfer, flieg!

Unten auf dem Hof machte Mama ein Foto von Volker und mir auf dem Dreirad. Volker fuhr, und ich stand hinten auf der Stange.

An den Sandkasten kam man nicht ran, der war immer besetzt.

Ein Kind hatte auch einen Ball.

Der Hof war voller Rauhbeine, die den Mädchen hinten den Rock hochhoben: »Deckel hoch, der Kaffee kocht!«

Straßenwörter, die nicht in die Wohnung gehörten, waren Scheiße, Kacke, Arsch und Sau.

Einmal machte Renate mit ihren Freundinnen eine Puppenmuttiparade vom Hof bis zum Rheinufer, und die Puppen kriegten das Deutsche Eck gezeigt.

Ulrike Quasdorf hatte den schlechtesten Puppenwagen. Die Räder eierten und quietschten, und vorne fehlte eins.

Ihre neue Puppe Annemarie hieß so wie eine Frau aus der Tagesschau. Annemarie war besser als Renates alte Puppe Christine, die nur aufgemaltes Haar hatte. Annemarie hatte echtes und machte immer Bäh, wenn sie auf dem Kopf stand. Das Bäh kam aus einem Sieb am Rücken raus.

Bei der Parade wollte ich auch mal schieben, aber Renate ließ mich nicht.

Groß und Klein. Nach Groß mußte ich immer noch Mama rufen, damit sie mir den Po abwischte.

»Mama, fertig!«

Dreimal am Tag oder noch öfter.

Im Wildgehege Remstecken waren Fasane, Rehe, Wildschweine und Kühe.

Mama hielt mir ein Papiertaschentuch vor die Nase: »Schnauben! Tüchtig!«

Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen.

Das Taschentuch warf ich einer Kuh zu, und die fraß es auf.

Für uns selbst gab es Fanta mit Eiswürfeln.

Im Sommer wurden zum Planschen Wannen im Hof aufgestellt: ein Eimer heißes Wasser, zwei Eimer kaltes. Angelika Quasdorf machte Pipi ins Wasser und spritzte damit. Die war ein freches Luder.

An Oma Schlossers Krückstock war in der Mitte ein silbernes Wappen genagelt.

Sie redete Mama und Papa mit ihren Vornamen an, Inge und Richard, und sie nähte ein Kleid, das Renate immer wieder anprobieren mußte, mit allen piekenden Stecknadeln drin.

Als rauskam, daß Renate mit den Quasdorfs zum Rheinufer gegangen war, schwimmen, wurde sie von Mama ins schwarze Klo gesperrt. Tür zu, Schlüssel rum und kein Licht! Der Schalter war außen, und das Klo hatte kein Fenster.

Das schwarze Klo war die schlimmste Strafe. Wenn man an der Klinke rüttelte, heulte, brüllte und gegen die Tür trat, wurde man erst recht nicht rausgelassen. Raus durfte man erst, wenn man nicht mehr bockig war.

Gut war das Spiel, jemanden was nachsprechen zu lassen, bloß abgekürzt. »Ich kaufe Zucker«, mußte man sagen, und dann mußte der andere sagen: »Ich ka Zucker.« Dann sagte man: »Ich kaufe Nudeln.« Und der andere mußte sagen: »Ich ka Nudeln.« Dann sagte man: »Ich kaufe Mehl«, und wenn man Glück hatte, sagte der andere: »Ich Kamel.«

Einmal war ich darauf reingefallen, aber als ich andere damit reinlegen wollte, kannten die das schon alle.

Dann fuhren Mama, Papa und ich mit dem Käfer nach Dänemark. Renate wurde bei Oma und Opa in Jever abgeliefert. Volker war schon da. Renate und Volker waren auch beide in Jever geboren worden. Ich war in Hannover geboren worden, von wo wir nach Lützel gezogen waren.

Auf einem Rastplatz gab es ekligen Kartoffelsalat zu essen, mit langstieligen bunten Plastiklöffeln aus Gläsern mit Schraubverschluß.

A-a mußte ich hinter einer Mülltonne auf den Rasen machen, mit dem Rücken an Mamas Bauch und ihren Händen in den Kniekehlen.

Hinten im Käfer sah ich im Liegen die kleinen schwarzen Punkte an der weißen Decke tanzen.

In Dänemark stellte Papa Klappstühle vor dem Zelt auf und rauchte Pfeife. Ich durfte wieder Fanta trinken.

Am Hafen sprang ein Fisch aus dem Eimer von einem Angler und flitschte über die Steine.

Die dänischen Kühe hatten Augen wie die Rehe in Remstecken.

Ins Wasser wollte ich lieber nicht.

Auf dem Rückweg machten wir in Jever Station, um Renate und Volker einzusammeln. Oma Jever, die Mamas Mutter war, briet Rührei mit Schnittlauch, und Opa konnte so miauen, daß man dachte, unterm Tisch sitzt ’ne Katze.

Mein großer Vetter Gustav stotterte. Tante Gisela war seine Mutter, aber die hatte keinen Mann, deshalb wohnte Gustav bei Oma und Opa.

Der Wohnzimmerteppich hatte ein Muster, das sich gut als Straße für Spielzeugautos eignete. In der Ecke tickte und gongte die Standuhr.

Im Garten gab es eine Schaukel, einen Sandkasten, einen Schuppen, Sträucher mit Johannisbeeren und eine Spielwiese, und im Fernsehen kam das Sandmännchen. Nun, liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht!

In Jever hörte ich auch, daß ich eine neue Kusine bekommen hatte. Hedda.

Renate sagte: »In acht Jahren bin ich ’ne schöne junge Frau, und Hedda ist ’ne olle Göre!«

Wir waren alle aus Mamas Bauch gekommen, erst Renate und dann Volker und dann ich.

In Jaderbutendieks wohnte Tante Lina. Sie hatte ein Punktekleid an und kochte Hühnersuppe.

Als wir die aufhatten, machten wir Winkewinke.

In Lützel wurde gebadet. Erst Papa, dann Mama und dann wir, alle im selben Wasser.

Renate fischte die Haare raus und legte sie auf den Wannenrand. Sie war Käpt’n, Volker Steuermann und ich Matrose. Wir spielten, daß wir Piraten in Seenot wären, bis Mama reinkam: »Geht das nicht ’n bißchen leiser? Und müßt ihr die ganze Bude unter Wasser setzen?«

Mama schäumte uns die Haare ein und spülte sie mit dem Brauseschlauch aus. Ich kriegte Seife in die Augen. Volker auch.

Danach wurden wir mit dem großen braunen Badehandtuch abgerubbelt.

Ob der Nikolaus und Knecht Ruprecht zwei verschiedene oder einer und derselbe waren, wußte keiner so genau. Knecht Ruprecht war jedenfalls der mit der Rute.

Volker hatte Mandelentzündung und mußte ins Krankenhaus. Am Tag nach der Operation nahm Mama mich mit hin.

Er wollte partout nichts essen, und nur mit viel Mühe und gutem Zureden trichterte Mama ihm einen halben Leibnizkeks ein.

Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben.

Volker sehe aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve, sagte Mama abends zu Papa.

Als Volker wieder da war, konnte er sechs Adventskalendertürchen aufmachen. Sonne, Blume, Apfel, Kerze, Glocke, Pilz.

Auf meinem Kalender waren Kinder beim Rodeln mit fliegenden Engeln obendrüber. Auf Renates und auf Volkers Kalendern war beide Male der Weihnachtsmann, einmal im Schlitten mit schnaubenden Hirschen davor und einmal mit Geschenkesack über der Schulter auf einem beschneiten Hausdach, ein Bein schon im Schornstein.

Türchen offenlassen oder wieder zudrücken, das war die Frage. Bei offenen war das Bild vornedrauf zerlöchert, und bei zuen wußte man nicht, wieviele Tage schon um waren und wie dicht das Christkind vor der Tür stand.

Das Christkind gehörte auch irgendwie dazu, aber mir war der Weihnachtsmann lieber, weil der die Geschenke brachte.

Am größten war das letzte Türchen. Das hatte zwei Türflügel und ging in der Mitte auf.

Wir durften alle drei beim Backen helfen, mit Lätzchen um und hochgekrempelten Ärmeln.

Safran macht den Kuchen gehl. Gehl, was das wohl sein sollte. Nie gehört.

Den von Renate gekneteten Teig rollte Volker mit der Kuchenwalze platt, und ich durfte die Kekse ausstanzen. Eckige, runde und sternförmige.

Von mir aus hätten wir den Teig auch gleich so aufessen können.

Am 24. war bei uns allen ein Krippenbild im Adventskalender. Maria und Josef mit dem Christkind und die drei Könige aus dem Morgenland.

Im Wohnzimmer wurde den ganzen Tag geraschelt und gewispert, aber durchs Rubbelglas in der Tür konnte man nicht viel sehen.

Für Mama und Papa hatte ich ein Bild gemalt, mit Buntstiften: Hühner beim Spaziergang.

Vor der Bescherung mußten wir Ihr Kinderlein kommet singen, zusammen mit dem Chor auf der knisternden Platte.

Und seht, was in dieser hochheiligen Nacht!

Es war heiß im Wohnzimmer wegen der brennenden Kerzen am Tannenbaum. Silbernes und goldenes Lametta und die schillernden Christbaumkugeln, die man nicht anfassen durfte.

Jeder hatte seinen bunten Teller, mit Lebkuchen, Keksen, Walnüssen, Dominosteinen und Schokoladenkugeln in Goldpapier, das nur mit Knibbeln abging. Die Dominos waren innen schön süß.

Meine Geschenke waren Max und Moritz als Handpuppen und ein Holztraktor mit Lenkrad und Anhänger und ein Buch, das Renate mir vorlas: Die Sonne stieg weiter ins Himmelszelt, da kamen drei Füchse über das Feld. Da flohen drei Hühnchen und Hähnchen. Da schlüpften drei Katzen ins Mausehaus, da sprangen drei Mäuse vor Graus hinaus, da weinten die Mäuse drei Tränchen.

Die Schwänze von den Mäusen sahen aus wie Regenwürmer.

Freuen sollte ich mich auch über die blaue Strumpfhose von Tante Gertrud, obwohl ich nicht mal wußte, wer das war, Tante Gertrud.

Renate hatte eine Kindernähmaschine gekriegt und Fingerhandschuhe und zwei Bücher: Die wunderbare Puppenreise und Gutenachtgeschichten am Telefon.

Wenn das neue Lichtsignal an Volkers Eisenbahn auf Rot stand, hielt die Lok automatisch an. Der Trafo war dunkelrot und wurde nach einer Weile ganz warm.

Da schliefen drei Hühner in ihrem Schlag. Da piepten drei Mäuse: Was für ein Tag! Und sanken erschöpft in die Betten.

»Und das tut ihr jetzt auch, meine Lieben!« sagte Mama.

Ungerecht fand ich, daß Volker schon drei Wochen nach Weihnachten Geburtstag hatte und wieder Geschenke einkassieren konnte, einen Güterbahnhof, Geld und Süßigkeiten. Aus Wut zerbiß ich mein Wasserglas und kriegte einen Klaps.

»Bist du noch ganz bei Trost?«

Ich sei ein Schlot. Ein Schlingel und ein Schlot.

Rickeracke, Hühnerkacke.

Beim Essen brauchte Volker immer am längsten. »Du mußt doch mal was auf die Rippen kriegen«, sagte Mama. Er sei so spillerig, so spuchtig und verträumt. Ein Hungerhaken, nichts als Haut und Knochen. »Von Luft und Liebe kannst du auf Dauer nicht leben!«

Dann sollte er auch noch zum Zahnarzt, und ich mußte im Wartezimmer neben Mama stillsitzen.

Die Tapete war schwarz mit grünen Dreiecken, und von den Regenschirmen im Schirmständer tropfte Wasser auf den Fußboden.

Auf der Fensterbank stand eine Topfpflanze mit staubigen Blättern, die ich nicht anfassen durfte.

Eine Frau hatte ein schniefendes Kind auf dem Schoß, das sich den aus der Nase gelaufenen Schnött immer mit der Zunge wegleckte.

Wenn wenigstens Spielzeug dagewesen wär.

Im Kinderzimmer operierte ich Renates Puppe Annemarie auf dem Küchenhackbrett mit der Plastikschere die Mandeln raus, natürlich nur gespielt, aber mit Doktorbrille auf und Brustabhorchen, und Mama machte Fotos davon. Ich schrieb auch ein Rezept aus: Krickelkrackel.

»Du Schlauberger«, sagte Mama.

Ein anderes Mal, als Volker und ich erkältet waren, sagte sie, wir würden husten wie die Weltmeister.

Als genug Schnee lag, machten wir eine Schlittenkarawane im Hof. Acht Kinder auf vier Schlitten hinternander, und Rainer Westermann zog die alle allein, so stark war der.

»Kapuze auf!« rief Mama aus dem Küchenfenster.

Rainer Westermann half mir auch oft, wenn mir welche von den Großen auf den Fersen waren und Mama oben nicht schnell genug auf den Summer drückte.

Rosenmontag wollten Volker und ich als Max und Moritz gehen, mit Plastikmasken auf, die Mama uns gekauft hatte, aber Volker hatte Lungenentzündung und mußte im Bett bleiben.

Hinter der Maske schwitzte man und kriegte nur schlecht Luft.

Renate ging als Möhne mit langem Rock und Rüschenschürze. Als Möhnen gingen in Lützel fast alle Mädchen. Möhnen waren Omas in altmodischen Kleidern.

Aus der Schule hatte einer bunte Kreide mitgebracht und malte damit auf dem Hof einen Kreis, in dem man sich aufstellen konnte, wenn man Krieg spielen wollte. »Deutschland erklärt den Krieg gegen … Amerika!« Wenn man dann Rußland oder Frankreich war und wegsprang, hatte man verloren, aber auch, wenn man Amerika war und nur so weit weggesprungen war, daß der, der Deutschland war, mit einem Schritt an einen drankommen konnte.

Angelika Quasdorf spielte lieber Hüpfekästchen: auf einem Bein in bunten Quadraten rumhopsen.

D.b.d.d.h.k.P. Selbst Aspirin versagt.

Im Sandkasten schmiß einer mir immer Sand in die Haare. Ralfi Meier hieß der Arsch.

»Dann wehr dich doch mal!« sagte Mama und schickte mich wieder runter.

Ralfi Meier schmiß mir gleich die nächste Handvoll Sand ins Gesicht: »Da, du beleidigte Leberwurst!«

»Selber«, sagte ich.

»Selber sagen nur die dümmsten Kälber«, rief Ralfi Meier, und ich haute ihm mit der Schippe auf den Kopf, der sofort ganz voller Blut war, überall, Stirn, Backen, Nase, Kinn, auch die Hände, alles war blutig, und Ralfi Meier rannte heulend weg.

Von seiner Mutter hörte Mama später, daß er noch ins Krankenhaus gemußt hatte, wo die Wunde mit fünf Stichen genäht worden war. »Ich hab dir geraten, dich zur Wehr zu setzen, aber doch nicht, den Jungen krankenhausreif zu schlagen!«

Meine Schippe hatte Mama weggeschlossen, aber dafür ließ mich Ralfi Meier jetzt in Ruhe.

Renate ist ein artiges, stilles Kind und dürfte sich lebhafter am Unterricht beteiligen, stand in Renates Zeugnis.

Ostern fuhren wir mit dem Käfer nach Jever. Als Proviant hatte Mama wieder nur Kartoffelsalat mitgenommen, wovon ich die Kotzeritis kriegte.

Renate las uns was aus ihrem Buch mit Gutenachtgeschichten vor. Von dem Bonbonregen, der Schokoladenstraße und dem unsichtbaren Jungen, der in der Konditorei Nußhörnchen und Zwetschgenkuchen einsteckte, ohne daß ihn jemand fangen konnte. Und von dem Jungen, der immer die seltsamsten Fragen stellte: Warum haben die Schubladen Tische? Warum trinken die Briefmarken kein Bier?

An den Seitenfenstern liefen Regentropfen runter.

Müde bin ich, geh zur Ruh.

In Jever war auch Tante Dagmar, Mamas jüngste Schwester. Wer kommt in meine Arme? Wenn sie das rief, konnte man ihr in die ausgebreiteten Arme laufen und wurde rumgewirbelt.

Tante Dagmar war meine Patentante. Sie kam auch immer mit in den Schloßgarten zum Entenfüttern, und sie sagte, ich sei ihr Augenstern.

Abends gingen wir zum großen Osterfeuer. Einmal hatten sich Kinder aus Übermut in so einem Holzhaufen versteckt und waren dann jämmerlich verbrannt.

Das Feuer prasselte und knackte.

Jetzt war vielleicht auch schon der Osterhase auf Achse und versteckte die Ostereier, damit er am Morgen damit fertig war.

In Jever konnte ich oben auf dem Boden rumtoben und im Garten schaukeln, mit Renate und Volker Schubkarre spielen und Purzelbäume schlagen, aber ewig bleiben konnten wir in Jever nicht, weil Volker nach Ostern in die erste und Renate in die dritte Klasse kam.

Ich wollte auch gerne eingeschult werden, vor allem wegen der Schultüte, die man dann kriegte, aber in der Schule, auf die Renate und Volker gingen, wurde man dauernd verhauen. Die Jungs bekämen mit dem Stock den Arsch versohlt und die Mädchen Schläge auf die Finger, sagte Renate.

Dann war ich endlich selbst das Geburtstagskind. Im Wohnzimmer stand ein Kettcar, das gehörte jetzt mir. Auf dem Hof wollten alle mal damit fahren, aber wenn das denen ihr Kettcar gewesen wär, hätten sie’s mir auch nicht abgegeben.

Fünf Geburtstagsgäste durfte ich einladen, mehr erlaubte mir Mama nicht.

Alle, alle, alle Vögel fliegen hoch …

Mein Kababecher war blau, Renates gelb und Volkers grün.

Eins, zwei, drei, vier Eckstein. Ich versteckte mich unter der Bügelmaschine, und Angelika Quasdorf mußte suchen.

»Mäuschen, mach mal piep!«

Als alle wieder weg waren, rief Mama mich ans Wohnzimmerfenster und zeigte auf Rainer Westermann, der sich die Schnürsenkel zuband. Der konnte eben alles, auch Knoten machen oder Flöte mit der Zunge.

»Von dem kannst du dir ruhig ’ne Scheibe abschneiden«, sagte Mama, aber Rainer Westermann hätte schön gekuckt, wenn ich angekommen wär, um mir ’ne Scheibe von dem abzuschneiden.

Wenn Frau Quasdorf Mittagsschlaf machte, ließ sie Angelika und Ulrike nicht rein, und die klingelten dann immer bei uns, wenn sie aufs Klo mußten, jeden Tag, bis Mama sagte, sie sollten gefälligst ihr eigenes Klo benutzen.

Auf Quasdorfs war Mama sauer, weil Renate erzählt hatte, daß sie mit Ulrike bei denen im Badezimmer gewesen war, als Herr Quasdorf in der Wanne gelegen hatte.

Abends konnte man oft hören, wie Herr und Frau Quasdorf sich gegenseitig anbrüllten. Die wohnten ja gleich unter uns.

Über uns wohnte die alte Frau Jahn, die sich im Treppenhaus immer am Geländer festhielt.

Einmal brachte Mama den Müll runter, und als sie den Deckel von der Mülltonne aufmachte, saß Angelika dadrin und war am Kacken.

»Ich hab gedacht, ich seh nicht recht«, sagte Mama. »Sitzt da und grinst mich auch noch frech an. Überhaupt auf so ’ne Idee zu kommen! Ijasses!«

Angelika und das andere Gör, Ulrike, die würden es mal schwer haben im Leben. Kaum aus den Windeln raus und schon völlig verroht. Welche Rabenmutter lasse denn ihr Kind in die Mülltonne kacken? Die gehörten eben zum Plebs. Zum Pofel.

An meinen Bildern fand Renate falsch, daß ich den Himmel immer weiß und die Wolken blau gemalt hatte. Andersrum brauchte man aber viel länger, oder man mußte mehr Wolken malen.

Dann waren die Zootiere, die ich im Fernsehen gesehen hatte, alle bei uns im Hof, auch Zebras und Giraffen und ein Elefant, der mich mit dem Rüssel hochhob, um mich aufzufressen.

Das sei ein Alptraum gewesen, sagte Mama.

Nach Österreich fuhren wir ohne Renate, die lieber nach Jever gewollt hatte und von Papa hingebracht worden war. Hinten im Käfer durfte ich jetzt auf Renates Platz am Fenster sitzen.

Für die Reise hatte ich mir Hänschen im Blaubeerenwald mitgenommen. Das war mit Zwergenkindern, die barfuß im Wald auf Mäusen ritten.

Nach Österreich war’s noch weiter als bis nach Jever.

Mama und Papa hatten einen Bauernhof ausgesucht, der schon vierhundert Jahre alt war und einer alten Oma gehörte, Frau Weitgasser. Leider sei kein Fließwasser nicht da, sagte Frau Weitgasser, aber auf der Alm könnten wir die Tiere sehen in der guten Luft, und für die Kinder gebe es auch genug Platz zum Auslaufen.

Von Volker und mir wollte Frau Weitgasser den Namen und das Alter wissen.

In Österreich war alles voller Berge. Mama hatte Volker und mir kurze Lederhosen gekauft für die Wanderungen und Papa sich selbst einen Spazierstock und ein Fernglas mit Hülle und Henkelband zum Um-den-Hals-Hängen.

Geh aus, mein Herz, und suche Freud!

Wasser konnte man aus Brunnen am Wegrand trinken, und auf einem der Berge lag oben Schnee, mitten im Sommer. Mama machte viele Fotos, und dann machte Papa auch eins von Mama in ihrem blauen Blumenkleid.

Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide.

Bei Regen durften Volker und ich im Kuhstall rumklettern. Da war auch ein quiekendes Schwein mit nassem, schnüffelndem Rüssel und Ringelschwänzchen. Wir warfen dem Schwein Zement aus einem Zementsack zu, der da stand. Das schmeckte dem Schwein, aber Volker sagte, das sollten wir lieber für uns behalten, daß wir das Schwein damit gefüttert hatten.

Dann gab es noch einen Hahn, der aber nicht Kikeriki machen, sondern nur röcheln konnte, und ein Zicklein, das einem abgerupfte Grashalme aus der Hand fraß.

Als eine von den Kühen ein Kalb kriegte, mußten alle Männer mit anfassen, auch Papa. »Kalbiziachen«, sagte Frau Weitgasser dazu.

Das Kälbchen hieß Heinrich. Es tat mir leid, weil es eingesperrt war, und ich ließ es frei. Draußen wußte das Kälbchen aber nicht, wo es hinrennen sollte, und Frau Weitgasser fing es wieder ein.

Mit dem Käfer machten wir Ausflüge ins Gebirge, aber einmal kamen wir nicht weiter, weil die Straße überflutet war.

Papa nahm Glimmerschiefer mit.

Ein Stausee und ein Wasserfall.

In Kaprun kaufte Mama ein Edelweiß, das sie ins Urlaubsalbum kleben wollte.

Wie heißt der König von Wesel?

Für den Abstecher nach Salzburg an Mamas Geburtstag mußten Volker und ich Trachtenjacken anziehen. Mama wollte ins Mozarthaus.

Wir sollten nicht so schlurfen. »Na los, ihr Schlafmützen!«

Salzburg. Als ob die da ’ne Burg gehabt hätten aus Salz.

Im Fiaker durften wir auf dem Kutschbock sitzen, aber Tauben jagen war ungezogenes Benehmen.

Als ich lange husten mußte auf dem Hof und da an der Hauswand stand, kam Papa um die Ecke und sagte: »Du steckst noch die Wand an mit deinem Husten!«

»Ih, wie scheußlich«, sagte Renate, als sie den Faltenrock sah, den Mama ihr in Salzburg gekauft hatte.

Den Blumenkohl auf ihrem Teller suchte Renate immer nach Läusen und Käfern ab.

Gulasch, Gurkensalat und Kartoffeln mit Mehlschwitze. Einmal war das letzte Stück Gulasch so sehnig, daß ich das nicht runterkriegte, aber Mama erlaubte mir nicht, das Gulasch zurück auf den Teller zu spucken. »Keine Widerworte! Und zieh hier nicht so ’ne Flunsch!«

Ich aß dann den ganzen Nachtisch an dem Gulaschwiepen in der Backe vorbei und spülte das Ding nachher heimlich das Klo runter.

Renate kaufte sich jetzt immer Superman. Volker und ich liefen dann bis zum Zeitschriftenladen vor und kuckten uns im Schaufenster an, was bei dem neuen Supermanheft vornedrauf war.

Superman konnte Bäume ausreißen und Pistolen zerquetschen und schon als Kind über Häuser springen, Autos hochheben und beim Rennen Züge überholen. Kugeln prallten an Superman ab. Der war unverwundbar.

Ich selbst konnte mir noch nicht mal die Nägel alleine schneiden.

Komisch war, daß Superman blaue Haare hatte.

Beim Laternenumzug regnete es in meine Laterne rein, und wenn Mama das ausgegangene Licht wieder anzündete, mußte Renate den Regenschirm halten.

Sonne, Mond und Sterne.

Ein Kind war hingefallen und heulte, und ein anderes heulte, weil dem seine Laterne Feuer gefangen hatte und zertrampelt wurde. Rabimmel, rabammel, rabumm! Da hätte ich auch geheult.

Ich sollte auf dem Hof bleiben, wo Mama mich vom Küchenfenster aus sehen konnte, aber ich hatte noch nichts für Papa zum Geburtstag, und ich dachte, ich würde draußen was finden. Ich wollte ja nur einmal rund ums Viertel und immer auf dem Bürgersteig bleiben.

Zigarettenfilter und Streichhölzer lagen da rum, die ich alle aufsammelte, um sie Papa zum Geburtstag zu schenken zum Rauchen. Ich fand auch noch ganz viele Geldscheine, aber als ich die Renate zeigte, sagte sie, das sei bloß das Papier, das die Leute von ihren Zigarettenschachteln abgerissen hätten.

Dabei waren da Adler drauf. Wenn das keine Geldscheine waren! Aber dann hätten die Leute die ja nicht weggeworfen.

Aus Amerika brachte Papa einen Wippvogel mit Blechpo und rotem Stoffkopf mit. Wenn man den Schnabel von dem Vogel in ein Glas mit Wasser drückte, wippte der von alleine nach hinten und wieder vor und mit dem Schnabel in das langsam weniger werdende Wasser rein, das bei jedem Wippen vom Schnabel in den Blechpo floß.

Außerdem hatte Papa einen Apparillo mitgebracht, in den er Streifen mit bunten Bildern reinschob, die man dann an der Wand sehen konnte. Popeye, der spinatfressende Seemann, und Caspar, das Gespenst.

Den Start von dem Flugzeug, mit dem er geflogen war, hatte Papa auf Kassette aufgenommen. Da hörte man aber nur Dröhnen und Brummen, und irgendwann sagte Papa auf der Kassette: »Start.«

Mama und ich holten Renate von der Ballettschule ab und konnten noch sehen, wie die Mädchen in der Halle Spagat übten, alle in Strumpfhosen.

Auch Blockflöte übte Renate oft. Es geht ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum.

Volker sammelte Winnetoubilder.

In den Adventskalendern war jetzt hinter jedem Türchen ein Stück Schokolade, und es war noch viel schwerer, immer den nächsten Tag abzuwarten.

Als Ulrike und Angelika Quasdorf mit mir allein im Kinderzimmer waren, ging Ulrike zu meinem Kalender und fing an, die Türchen aufzumachen und die Schokolade zu essen. Erst war ich dagegen, aber dann wollte ich was abhaben, auch wenn ich Angst hatte, weil ich nicht wußte, was wir tun sollten, wenn Mama reinkommt.

»Dann hau ich die hiermit«, sagte Ulrike und hob den losen blauen Stock auf, der zu meinem Kinderstühlchen gehörte, hinten unten.

Die Türchen machte ich wieder zu, aber Mama merkte trotzdem was und sperrte mich ins schwarze Klo, obwohl Ulrike Quasdorf schuld war. Die hatte ja damit angefangen, und die Schokolade war doch sowieso meine gewesen!

Renate bastelte Häuser aus schwarzer Pappe, mit Fenstern aus Buntpapier, die leuchteten, wenn Kerzen dahinter brannten.

Zur Bescherung zogen Volker und ich unsere blauen Skihosen an. Die waren mit Steg unterm Fuß.

Hoch oben schwebt jubelnd der Engelein Chor!

Ich kriegte eine Pistole, die ich mir schon lange gewünscht hatte, eine Eisenbahn, ein Feuerwehrauto mit Leiter, ein Mainzelmännchen, eine Bommelmütze, Pantoffeln, einen Pullover mit Vau-Ausschnitt und ein Buch: Von früh bis spät die Uhr sich dreht. Tante Gertrud hatte wieder eine Strumpfhose geschickt und Oma Schlosser für uns alle zwei Bücher: Die Geschichte vom hölzernen Bengele und Petunia.

Volker hatte auch eine Pistole gekriegt. Sonst waren seine besten Geschenke die Rollschuhe, der Schrankenübergang für seine Eisenbahn und das Gebirge mit dem Gebirgssee mit echtem Wasser drin.

Renate tanzte uns in ihrem neuen Ballerinatrikot was vor. Sie konnte auf einem Bein stehen und das andere nach oben strecken und mit der einen Hand oben die Zehen festhalten.

Volker und ich suchten den ganzen Hof nach Zündplättchen ab, die noch heile waren, weil die Pistolen mit Zündplättchen beim Schießen viel lauter knallten als ohne.

Bei meiner Eisenbahn wollte ich das Häuschen und das Gebüsch woanders hinstellen, aber die waren festgeklebt, und ich mußte sie erst abreißen. Als Papa das sah, tafelte er mir eine und nahm mir die Eisenbahn weg. Da sei ich offenbar noch nicht alt genug für.

An Silvester fuhren wir alle bis auf Papa mit dem Zug nach Jever.

Mama verbot mir, bei voller Fahrt den Arm aus dem Fenster zu halten. Ein Kind hatte das mal gemacht, und dann war der Zug ganz dicht an einem Baum vorbeigefahren, und dem Kind war der Arm abgerissen worden.

Von ihrem Taschengeld hatte Renate sich eine Gummiwurstscheibe gekauft, die sie Opa Jever aufs Brot legen wollte.

An der Schnitte mit der Gummiwurst konnte Opa kauen, wie er wollte, die bekam er nicht klein, und er wollte schon sein Gebiß rausnehmen und nachkucken, ob das kaputt war, als Mama Opa die Wahrheit über die Wurst verriet.

Es gab auch Berliner, für jeden zwei, und in einem war Senf drin statt Marmelade, aber das hatte nur Oma gewußt, und dann war der mit dem Senf bei ihr selbst gelandet.

Von den Berlinern kriegte ich kreblige Finger.

»Klebrige heißt das, nicht kreblige«, sagte Renate.

»Paprikaschnitzel, Piprikaschnatzel, Schnaprikapitzel, Schniprikapatzel«, sagte Oma, die auch noch andere Zungenbrecher kannte. Einen mußte sie Renate aufschreiben: El o lo, ka o ko, oko, loko, em o mo, omo, komo, okomo, Lokomo, te i ti, oti, moti, omoti, komoti, okomoti, Lokomoti, vau e ve, ive, tive, otive, motive, omotive, komotive, okomotive, Lokomotive.

Die halbe Nacht lang lernte Renate das im Bett auswendig und brauchte am nächsten Morgen zum Aufsagen nur dreizehn Sekunden.

Das gleiche ging auch mit dem Wort Kapuziner: Ka a ka, pe u pu, apu, kapu, zett i zi, uzi, puzi, apuzi, Kapuzi, en e er, ner, iner, ziner, uziner, puziner, apuziner, Kapuziner.

Vom Moorland aus konnte man den Turm der evangelischen Kirche, den Turm der katholischen Kirche und den Schloßturm sehen. Als kleiner Junge war Gustav mal gefragt worden, zu welcher von den Kirchen er gehöre, und da hatte er gesagt: »Ich bin Schloßturm.«

Zu seinem Geburtstag lud Volker auch den dicken Hansi Becker ein, der immer angefressene Fingernägel hatte. Renate sagte, der würde seine eigene Mutter hauen. Das hatte ihr Ulrike Quasdorf gesagt.

Von Onkel Walter hatte Volker Tiere, ein Stück Wald und eine Futterkrippe für seine Eisenbahn gekriegt, aber als rauskam, daß Volker und ich Renates Puppe Annemarie mit der Nagelschere die Ponyhaare abgeschnitten hatten, schloß Papa den Trafo weg, und Mama sagte, wir hätten Zimmerarrest.

Hoppel Langohr. Da flogen Hasen im Hubschrauber, ein Igel rauchte Pfeife, und die Bäume hatten einen Ast als Nase. Auf einem anderen Bild brachte Hoppel Langohr den Hühnern die Post.

Unsere eigenen Bilder hatte Mama alle in einer Mappe aus Pappe gesammelt. Eine von Volker getuschte Prinzessin, Renates Schule, das Hoftor, Häuser mit Bäumen daneben und Jägerzaun davor oder Ritter beim Turnier. Renates Bilder waren die besten. Sogar unseren Käfer hatte sie mal gemalt und eine große Kirche mit rotem Dach und einem Wetterhahn obendrauf mit langen Schwanzfedern.

Ich malte mit links, was Mama falsch fand. Schlangen mit buntem Muster und Schlangenloch.

Karneval gingen Renate und ich als Harlekin mit Farbe im Gesicht und Tütenhut auf mit Papierkrause am Rand. Ich wäre lieber als Prinz gegangen, so wie Volker, mit Degen und goldenem Panzerhemd, aber Mama sagte, ich könne ja nächstes Jahr als Prinz gehen.

Nächstes Jahr, das war noch lange hin.

Einmal kamen Onkel Walter und Tante Mechthild mit Christiane zu Besuch, die unsere Kusine war. Wir hatten sechs Kusinen und vier Vettern.

Onkel Walter war Papas Bruder und Volkers Patenonkel, und Volker zeigte ihm, was er für die Schule aus seiner Fibel abgeschrieben hatte. Wo ist Mutti? Was tut Mutti? Oma ist am Zaun. Was tut Oma? Kasper ist im Nußbaum. Was tut Kasper? Wo ist Fifi? Was tut Fifi? Was tut Rolf? Mu mu miau miau.

Tante Mechthild war ganz dick, weil in ihr das nächste Baby drin war, genau wie in Mama, die uns schon gefragt hatte, was uns lieber wäre, ein Brüderchen oder ein Schwesterchen. Renate war für ein Schwesterchen, aber da war sie die einzige.

Mit allen Mann und zwei Autos fuhren wir auf den Mallendarer Berg, wo Mama und Papa ein Haus bauen wollten, aber da waren noch nicht mal Straßen, und wo später das Haus stehen sollte, war nur Matsche.

Als wir wieder alleine waren, ging Papa mit Volker und mir zur Mosel, wo wir übten, Steine auf dem Wasser aufditschen zu lassen. Das ging aber nur mit ganz flachen Steinen.

Alle meine Entchen schwimmen im Klosett.

Mama erzählte ich, wir hätten keinen einzigen Stein ins Wasser werfen dürfen.

»Ach Gott, warum denn das nicht?« fragte Mama, und Papa sagte, ich würde Stuß reden. »Die halbe Mosel haben die zugeschmissen!«

Neu an Ostern waren dieses Jahr die großen Holzeier mit Schleife drum und Schlickerzeug drin.

Wenn Mama Fotos machte, stellte Renate ihre Füße immer so schief hin, wie sie es in der Ballettschule gelernt hatte.

Mein schönstes Geburtstagsgeschenk war das Bilderbuch Johannes Nilpferd von Tante Dagmar. Wie Johannes Nilpferd aus dem Zirkus wegläuft und sich im Wald versteckt. Da erschrecken sich alle Tiere, als er gähnt, nur die Vögel auf seinem Rücken nicht, und dann fährt Johannes Nilpferd mit einem Schiff übers Meer nach Afrika und spielt den ganzen Tag im Fluß und freut sich.

Mama wurde immer dicker. Sie hatte ein Umstandskleid an und wollte nicht mehr von der Seite geknipst werden.

»Ich hab ’n kleinen Fußballer im Bauch«, sagte sie, und manchmal durften wir horchen.

In den Füßen hatte Mama Wasser. Wenn das innen in die Füße floß, hätte ich an Mamas Stelle einfach keins mehr getrunken.

Papa sperrte mein Kettcar im Keller weg, weil ich Frau Jahn in der Hofeinfahrt in die Hacken gefahren war, aber ohne Absicht. Frau Jahn war hingefallen, und ihr einer Fuß hatte geblutet.

»Alles wegen dir«, rief Mama. »Hab ich dir nicht tausendmal gesagt, du sollst dich vorsehen? Hier rein, da raus!« Ins Grab würde ich sie noch bringen mit meiner Unartigkeit. Ob ich denn keine Augen im Kopf hätte? »Marsch ins Bett! Aber ’n bißchen plötzlich! Und daß du mir keine Fiesematenten mehr machst!«

Bevor Mama ins Krankenhaus mußte, kam Oma Jever zu uns, und wir machten einen Ausflug nach Treis an der Mosel. Renate pflückte Blümchen, und ich hatte ein Klingen im linken Ohr.

»Dann denkt jemand an dich«, sagte Oma. »Vielleicht Opa? Oder Tante Dagmar?«

Das Klingen hörte aber schnell wieder auf. Die hätten ruhig noch länger an mich denken können.

Das Schwesterchen, das wir gekriegt hatten, hieß Wiebke und war ein Koblenzer Schängel, weil alle in Koblenz auf die Welt gekommenen Kinder Koblenzer Schängel waren.

Ich durfte Wiebke auch mal kurz halten und bei ihr am Hals kille-kille machen.

Sie nuckelte am Fläschchen, bis sie Schluckauf kriegte und das Fläschchen alle-alle war.

Puder, Öl, Nivea und Penatencreme. Auf dem Dosendeckel war ein Schafhirte mit Hirtenstab und Schaf.

Wenn Wiebke gebadet wurde, tunkte Mama vorher den Ellbogen ins Wasser.

Oma Jever brachte mich zu Tante Dorothea und Onkel Jürgen nach Düsseldorf. Da kotzte mir mein Vetter Klaus beim Autofahren meinen blauen Luftballon voll, und als ich im Bett lag, sang mir Tante Dorothea, die eine Schwester von Papa war, ein Gutenachtlied vor.

Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget.

Die traurigste Strophe war die mit dem kranken Nachbarn, von dem aber man nicht wußte, was der hatte.

Tante Dorothea hatte schon ganz weiße Haare.

Nach der Taufe wollte auch Renate mal mit Wiebke auf dem Arm aufs Foto, durfte aber nur die Hand unter Wiebkes Kopf schieben und hätte fast geheult.

»Na, hat dir der Storch ein Schwesterchen gebracht?« fragte mich Frau Jahn im Treppenhaus.

»Das ist bei meiner Mama aus dem Bauch rausgekrabbelt«, sagte ich, und dann beschwerte sich Frau Jahn bei Mama, daß ich ein loses Mundwerk hätte und daß ich vorlaut und frühreif sei.

Wiebke kriegte Wurzelbrei eingeflößt und klassische Musik vorgespielt.

»Wiebke, sing mal«, sagte Renate, und Papa nahm Wiebkes Getödel auf Kassette auf.

Da fällt herab ein Träumelein.

Aus Leibeskräften schreien konnte Wiebke aber auch.

Beim Spaziergang zum Deutschen Eck mußten wir über die große Moselbrücke, von der aus man das neue Hallenbad sah, wo Renate immer zum Schwimmen hinging.

Auf dem Denkmal am Deutschen Eck war früher Kaiser Willem draufgewesen, aber der war da runtergeschossen worden im Krieg.

Ein kurzes Stück durfte ich dann auch mal den Kinderwagen schieben.

Mama gab acht, daß wir nicht ins Wasser fielen.

Einmal brachte Papa Fische aus der Stadt mit. Die zappelten noch im Einkaufsbeutel rum. Papa schloß sich mit den Fischen im Badezimmer ein und schlug sie in der Wanne mit dem Hammer tot, was man gut hören konnte, auch durch die Tür.

Was macht er in dem Mausekrieg, Mia-Mia-Mausekrieg, was macht er in dem Krieg?

Von den Fischen wollte Renate nichts essen.

Vor der Fahrt nach Jever kriegten wir jeder eine PEZ-Figur. Ich Donald, Volker Goofy und Renate Micky Maus. Da mußte man den Kopf nach hinten klappen und konnte dann vorne das nächste Pfefferminzstück rausnehmen.

Wiebke hatte Hitzepickelchen im Gesicht.

Oma und Opa Jever standen im Garten und verbrannten alte Zeitungen. Die glühenden Fetzen angelte Opa mit dem Rechen aus der Luft.

Den Schweinen hinter dem Zaun am Gartenende warfen wir Fallobst zu, und sie fraßen gierig grunzend alles auf, selbst wurmstichige und angeschimmelte Äpfel mit braunen Stellen und auch Kartoffelschalen, Hühnerknochen und anderes Zeug aus der Küche.

In Hooksiel wohnte Onkel Bertus, der ein Fischerboot hatte. Am Hafen stand eine alte Kanone, und im Wasser wuchsen Bäume. Einen davon hätte ich um ein Haar umgefahren, als Onkel Bertus mich in seinem Boot das Steuerrad halten ließ.

Opa konnte Rauchringe blasen. Wir durften uns nicht bewegen, und Fenster und Tür mußten zu sein. Das Schlüsselloch wurde mit einem Handtuch zugehängt, weil auch durchs Schlüsselloch Zugluft kam.

Als alles vorbereitet war, zündete Opa sich eine Zigarre an. Er kaute auf dem Rauch, machte die Lippen rund, steckte die Zungenspitze raus und pustete dann einen Rauchring aus, der in Richtung Zimmerdecke schwebte.

Renate las vor, was Oma ihr ins Poesiealbum geschrieben hatte. Die glücklichsten Menschen sind nicht die, die am meisten haben, sondern die, die am meisten danken können.

Klassenkameradinnen von Renate hatten Schmetterlinge und Blumen in das Album gemalt. Mit Gott fang an, mit Gott hör auf, das ist der beste Lebenslauf!

Sei ein Sonnenkind durchs ganze Leben, denn wer Sonne hat, kann Sonne geben. Das war von Tante Jutta.

O möchte doch Dein Herz so rein wie diese Seehundschnauze sein!

Gustav konnte man gut ärgern, wenn man ihm die Hose vom Pyjama runterzog. Wir balgten uns, und dann mußte der Glaser kommen, weil die eine Kleiderschrankscheibe einen Sprung gekriegt hatte.

In der Prinzengraft zeigte Gustav mir, welche Hexe nachts auf welchem Baum saß: »Und da oben sitzt in der Nacht die Hexe Bohnenstroh!«

Einmal waren abends Studelgeister im Zimmer. Gustav setzte mich auf die Fensterbank und riet mir, still zu sein und mich nicht zu rühren. Dann knipste er das Licht aus, ging raus, machte die Tür zu und ließ mich allein mit den Studelgeistern.

Auf der Fahrt nachhause übte ich mit Bleistift, meinen Namen zu schreiben.

MRTN. MARTN. MRTIN. MATIN.

»Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen«, sagte Mama.

Renate nahm mich mit zu einem Malwettbewerb in der Stadtbücherei für Kinder unter zehn.

Eine alte Frau mit einem lila Muttermal an der Backe las uns das Märchen von Hänsel und Gretel vor, und dann sollten wir mit Tusche ein Bild dazu malen.

Wieso hatte die Hexe nicht lieber ihr Kuchenhaus aufgegessen als Hänsel und Gretel?

Wassergläser mußte man sich auf dem Klo abholen.

Den ersten Preis gewann ein Mädchen, das schon elf war und sein Alter auch auf das Blatt geschrieben hatte, aber wir trauten uns nicht, da was gegen zu sagen.

Von ihrem Taschengeld kaufte Renate sich eine Flasche Liebesperlen, für Volker Kaugummi und für mich eine Zuckerkette.

An runtergeschluckten Kaugummis waren schon viele Kinder erstickt, aber den Faden von der Zuckerkette konnte man mitessen. Das hatte Angelika Quasdorf mir gesagt.

Hansi Becker nannte mich Häuptling Rasendes Mondgesicht.

Dunkel war’s, der Mond schien helle, schneebedeckt die grüne Flur, als ein Auto blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft, als ein totgeschoßner Hase auf der Sandbank Schlittschuh lief.

Was eine Sandbank war, konnte mir auch Renate nicht sagen.

In der Stadt kriegten wir neue Anziehsachen gekauft, und in der Apotheke durften wir auf die Waage steigen.

Wiebke hatte schon zwei Zähne. Wenn sie schlief, schnitt Mama ihr die Fingernägel.

Als ich mein Kettcar wiederhatte, tauschte ich das bei Wilfried und Günter Potthoff gegen deren ihr Fahrrad ein. Das hatte Stützräder, aber nach drei Tagen konnte ich auch ohne die Stützräder fahren und nach fünf ohne Hände am Lenker, aber das durfte Mama nicht sehen.

Morgen, Kinder, wird’s was geben. Selbst im Treppenhaus roch schon alles nach Plätzchen, und Renate war wie eine Wilde am Topflappenhäkeln.

Zum ersten Mal auf den bunten Tellern waren Printen, Schokoladentaler mit Goldhülle und Marzipanbrote. Wenn man davon zweimal abgebissen hatte, war man satt.

Immer wieder hörten wir uns die Europaschallplatte an, die wir alle drei vom Weihnachtsmann geschenkt gekriegt hatten. Oder alle vier, aber Wiebke war noch zu dösig zum Schallplattenhören.

Die Sterntaler. Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und schließlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand. Zu dem Mädchen kam dann ein armer Mann, der sprach: »Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungerig.« Hungerig, nicht hungrig. Darüber platzte Renate fast vor Lachen, so wie die Bohne in dem Märchen von Strohhalm, Kohle und Bohne, als der Strohhalm und die Kohle im Bach ertrunken waren, aber dann war ein mitleidiger Schneider gekommen und hatte die Bohne wieder zusammengenäht.

Uns gehörten auch noch andere Schallplatten. Der gestiefelte Kater, Rumpelstilzchen, Till Eulenspiegel, der in einem leeren Bienenkorb eingeschlafen war, und Schneewittchen, dem der Jäger Lunge und Leber rausschneiden sollte, weil die böse Königin neidisch war auf Schneewittchens Schönheit.

Gemein war auch die Ziege von dem Schneider, die sich erst auf der Weide sattfraß und zuhause dann sagte: »Ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einzig Blättelein, mäh, mäh!« Das war gelogen, aber der Sohn von dem Schneider kriegte Kloppe dafür.

Bei König Drosselbart hatte ich die meiste Angst, wenn der Frau auf dem Markt das irdene Geschirr entzweigeritten wurde und in tausend Scherben zersprang.

»Irdenes Geschirr ist Geschirr aus Ton«, sagte Mama.

Noch viel schrecklicher war das Hufgetrappel auf der Schatzinselschallplatte, wenn die Kutsche da über den bösen alten Seebären wegrollte. Es war aber gut, daß der totging.

Fünfzehn Mann auf der Kiste vom toten Mann und ’ne Buddel voll Rum!

Oder der Todesschrei von dem Jungen, dem John Silver mit der Krücke das Genick gebrochen hatte.

In Bristol lag die Hispaniola vor Anker, mit der Jim Hawkins zur Schatzinsel fahren wollte. Ich wäre auch gerne Jim Hawkins gewesen, als der im Hafen von Bristol die Hispaniola sah.

Am langweiligsten war Peter und der Wolf und am lustigsten Max und Moritz. Ritzeratze, voller Tücke, in die Brücke eine Lücke! Statt Käferkrabbelei sagte Onkel Fritz auf der Schallplatte Käferkrabbelahihi.

Ob vermittelst seiner Pfeifen dieser Mann nicht anzugreifen, die Stelle verstand ich nicht.

Die Rotkäppchenschallplatte konnten wir auswendig, und Papa wollte uns das ganze Märchen auf Kassette sprechen lassen, erst Volker und dann mich und dann Renate.

Ich hab ein kleines Käppchen, das ist aus rotem Samt!

Als ich an der Reihe war, sollte ich sagen: »Aber du bist ja gar nicht mein Rotkäppchen, du bist ja der Wolf, hilfe, hilfe«, nur wußte ich dann nicht mehr weiter, und Renate erzählte den Rest.

Danach sollte ich das Lied vom Rotkäppchen singen. Drum werd ich von den Leuten nur Rotkäppchen genannt. Es waren aber keine Leute da, und ich sagte, da müßten noch Leute hin.

»Ach, du Dusseltier«, sagte Papa, und dann mußte er wieder nach Amerika fliegen.

Als Oma Schlosser gekommen war, las sie uns selbst Grimms Märchen vor. Die Bremer Stadtmusikanten und wie Aschenputtels Stiefschwestern sich mit einem Messer die große Zehe und was von der Ferse abhackten, damit der Fuß in Aschenputtels Schuh paßte. Wie das wohl wehgetan hatte.

Ruckedigu, Blut ist im Schuh!

Aus Amerika brachte Papa mir einen Hubschrauber und Volker einen Jeep mit. Der Hubschrauber war mit Propellern und der Jeep mit Raketenrohr, Anhänger und Blinkscheinwerfer. Zum Geburtstag hatte Volker noch einen Bagger, ein Angelspiel und die Bücher Peps und Mary Poppins gekriegt.

Mary Poppins war eine Frau, die mit ihrem Regenschirm fliegen konnte. Als ich meinen Hubschrauber vom Küchenfenster aus fliegen lassen wollte, fiel er runter und ging unten kaputt, und Papa sagte, ich sei ein Rindvieh.

Bei dem Angelspiel waren an den Angelschnüren Magneten, mit denen man sich Fische aus einem Kasten angeln konnte. Volker kuckte immer oben rein, obwohl das verboten war.

Behalten durfte man nur die Fische, die einem nicht wieder von der Angel gefallen waren.

Meistens gewann Renate. Die konnte auch das eine Geduldsspiel mit den Kügelchen in der runden Dose gut. Wenn man die Dose richtig schüttelte und kippte, rollten die Kügelchen in die Löcher, aber nur bei Renate.

Am schwersten war das Spiel mit dem Holzkasten mit den zwei Drehknöpfen außendran und der weißen Kugel, die in keins der vielen Löcher fallen durfte. Ich war noch nie weiter als bis zum dritten Loch gekommen.

Wenn bei Flipper welche tauchten, hielt ich die Luft an, aber das schaffte ich nie so lange wie die im Fernsehen.

Flipper gehörte einem Jungen mit Sommersprossen. Der Vater von dem Jungen war Oberaufseher im Schutzgebiet und rettete Leute vorm Ertrinken. Die Bösen spritzte Flipper mit Wasser naß und schnatterte dann, und die Guten ließ er auf sich reiten. Rufen konnte man Flipper mit einer Unterwasserhupe. Jeder liebt ihn, den klugen Delphin!

Im Rhein und in der Mosel schwammen keine Delphine, auch keine Haifische oder Riesenschildkröten.

Karneval durfte ich diesmal als Prinz gehen, aber das Prinzenkostüm war längst nicht so gut wie das Supermankostüm, das Mama für Volker genäht hatte. Immer kriegte der was Besseres als ich.

Beim Rosenmontagszug sahen wir einen Jungen, der als Trapper ging, mit Schießgewehr und Biberfellmütze. Einer ging auch als Cäsar, der lustige Hase. Nur ich mußte als doofer Prinz rumlaufen, und wenn von den Wagen Bonbons geworfen wurden, kam ich nie an einen dran. Außerdem hatte ich kalte Füße.

»Wenn du nicht aufhörst zu quengeln, fahren wir Ostern ohne dich nach Jever«, sagte Mama.

Volker nahm seinen Bagger mit und Renate ihre Knüpferli, die zum Zusammenstecken waren. Daraus konnte sie Ringe, Reifen und Kugeln basteln.

Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot (der Shell-Atlas, den Mama die ganze Fahrt über auf den Knien liegen hatte).

Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist braun (Renates Apfelkernkette).

Als wir nach drei Stunden Rast machten, gab es lauwarmen Kaba aus der Thermoskanne zu trinken, mit dem abgeschraubten Deckel als Becher.

Oma Jever machte Bratkartoffeln für uns alle, mit Zwiebeln und fettem Speck.

»Wenn ich noch mehr esse, muß ich kotzen«, sagte Renate.

»Das sagt man nicht«, sagte Oma.

»Mama sagt das aber auch«, sagte Renate.

»Und Papa auch!« sagte Volker.

Eins zwei drei vier fünf sechs sieben, eine alte Frau kocht Rüben.

In der einen Wohnung unten unter der von Oma und Opa wohnten Kaufholds und in der anderen Frau Apken, die verwitwet war, so wie die Witwe Bolte in Max und Moritz. Daß sie von dem Sauerkohle eine Portion sich hole.

Gustav hob mich über den Zaun am Gartenende rüber und sagte, gleich würden die Schweine aus dem Stall gelaufen kommen, um mich aufzufressen, und ich fing an zu schreien und am Zaun zu rütteln, bis Gustav mich wieder rüberhob.

Das mit den Schweinen hatte er mir nur vorgelogen.

Beim Tag der offenen Tür auf dem Fliegerhorst in Upjever konnte man Starfighter und Düsenjäger fliegen sehen, und man mußte sich die Ohren zuhalten, weil einem sonst das Trommelfell platzte, das innen im Ohr war.

Danach wollte Volker Fallschirmspringer werden.

Zurück mußten wir zu Fuß gehen, weil Papa mit dem Käfer auf dem Fliegerhorst im Stau steckengeblieben war, und als wir in der Mühlenstraße ankamen, fühlte Oma sich ganz bregenklöterig, was ein anderes Wort für schwindelig war.

In Lützel steckte Papa Stöpsel in die Steckdosen, damit Wiebke da nicht reinfassen konnte.

Mittags schmiß sie immer ihren Löffel runter oder haute mit der Hand in ihren Brei rein.

»Du du!« sagte Mama dann, aber das nützte nicht viel.

Oma Schlosser war ein Hagelkorn aus dem Auge operiert worden, deswegen mußte sie noch warten mit dem Pulloverstricken. Das stand in einem Brief, den sie mir zum Geburtstag geschickt hatte. An Herrn Martin Schlosser, Straßburger Straße 5, 5400 Koblenz-Lützel.

Am frohesten war ich über den großen Schokoladenmarienkäfer und das Geld, für das ich mir Indianer kaufen konnte, welche mit Flitzebogen und welche mit Gewehr.

Im Kinderzimmer spielten wir Memory. Da gewann immer Renate, weil die sich von den Karten auch die blöden merkte, die mit dem Gemüse, die mit Karos und die mit der Frau, die so doof kuckte. Ich merkte mir immer nur Barbar, Petunia, den Ball, die Sonne und den Löwen.

Gemein war, daß es zwei verschiedene Schiffe gab und zwei verschiedene Kerzen. Und daß die eine gelbe Memorykarte nur fast so ähnlich aussah wie die andere gelbe.

»Bei dir piept’s wohl im Oberstübchen«, sagte Renate, wenn ich mir ein Pärchen holen wollte, das nicht zusammenpaßte.

Ganz am Ende konnte man aufholen, wenn man keinen Fehler machte beim Umdrehen. Tanne, Schwalbe, Hase, Fuchs und Zitrone.

Jetzt sei es bald soweit, sagte Mama, wir würden umziehen, auf die andere Rheinseite, in ein Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, mit viel mehr Platz und mit Garten und herrlicher Aussicht und einem Wald in der Nähe. Gute Luft, kein Durchgangsverkehr mehr und keine Frau Quasdorf, die im Treppenhaus steht und dummes Zeug redet. Volker und ich würden ein Zimmer zusammen kriegen, Renate ein anderes und Papa eine Werkstatt im Keller. Endlich raus aus dem schedderigen Lützel. Wie wir das fänden.

Am Fernsehprogramm würde sich nichts ändern. Schlager für Schlappohren könnten wir auch auf der Horchheimer Höhe kucken.

Vor dem Umzug wurde ich wieder nach Düsseldorf gebracht zu Tante Dorothea und Onkel Jürgen und meinen Vettern, die ihre Fahrräder nachts auf dem Bürgersteig liegenlassen durften oder sogar mitten auf der Straße.

Vorm Einschlafen wollte ich von Tante Dorothea immer das Lied von dem Mond und dem Wald vorgesungen kriegen. So legt euch denn, ihr Brüder, und ist doch rund und schön, so traulich und so hold, der weiße Nebel wunderbar!

Beim Singen schob sich Tante Dorothea die nach vorn gerutschte Brille mit dem Ringfinger auf die Nase zurück.

Bei Papas Geschwistern war die Reihenfolge so, daß erst Tante Gertrud kam, dann Papa, dann Onkel Rudi, dann Tante Dorothea, dann Onkel Walter und dann Onkel Dietrich. Mama hatte nur Schwestern, die alle jünger waren: Tante Therese, Tante Gisela, Tante Luise und Tante Dagmar.

Auf der Horchheimer Höhe stellte Papa Blumenkästen auf die Terrasse, und Mama pflanzte Stiefmütterchen rein. Im Laufstall saß Wiebke und krähte. Ich lief barfuß durch den Garten auf die Straße, aber die war so heiß, daß ich mir lieber meine Sandalen holte.

Volker fuhr Rollschuh auf der Straße neben dem Haus und Renate Fahrrad. Bergauf hielt Volker sich am Gepäckträger fest und ließ sich ziehen. Ich wollte auch mal, aber dafür mußten die Rollschuhe verstellt werden. Nach langer Suche fand Papa den Rollschuhschlüssel in einer der Umzugskisten, die im Keller standen, wo die Möbelpacker sie hingepfeffert hatten.

Als Volker die Rollschuhe hergegeben und Papa sie kleiner gestellt hatte, rollte ich los, fiel um und schrammte mir die Knie auf.

Mama schnitt zwei Pflaster für mich ab.

Mit Volker lief ich in das Wäldchen vorm Haus. Gleich vorne stand ein guter Kletterbaum. Es gab Trampelpfade und eine Schlucht, und unten vorm Wäldchen entdeckten wir eine Hausruine. Trümmer und Drähte.

In der Schlucht wuchsen Ginsterbüsche mit gelben Blüten. Da säßen Zecken drauf, sagte Volker, heimtückische Biester, die nur darauf warteten, daß einer vorbeikommt, auf den sie sich fallenlassen könnten, um ihn auszusaugen.

Wir sammelten Kiefernzapfen und steckten so viele davon in die Hosentaschen, daß es beim Gehen wehtat.

Zum Geburtstag bekam Wiebke eine Puppe mit langen Wimpern, eine Entenfamilie zum Ziehen und eine Zimmerschaukel, die wie eine große Hose aussah und an Strippen vom Türrahmen hing. Wenn Wiebke nicht Laufen übte, saß sie jetzt in ihrer Schaukelhose und hielt sich an der Puppe fest, die Dagmar hieß.

Papa legte einen Komposthaufen an. Da kamen Kartoffelschalen, Essensreste und Filtertüten rein.

Renate wollte picknicken gehen, im Wald, der weiter oben hinterm Haus anfing. Sie schmierte Marmeladenbrote. Dann packte sie noch Pfirsiche, Zitronensprudel und die karierte Decke ein, und Mama spendierte drei Lutscher.

Der Weg war steil und voller Steine. Beim Korbtragen wechselten wir uns ab. Auf einer Wiese standen schiefe Apfelbäume, und Volker sagte, das sei eine Lichtung.

Renate breitete das Essen auf der Decke aus. Der Sprudel schäumte beim Öffnen über, und vom Marmeladenbrot kriegte ich kreblige Finger.

Mein Lutscher war gelb. Ich biß eine Ecke ab, auch wenn Renate sagte, daß das nicht gut für die Zähne sei.

Gänseblümchen und Leberblümchen. In den Butterblumen saßen kleine schwarze Tiere, und durchs Gras kroch eine fette rote Schnecke, die ihre Fühler einzog und schrumpfte, wenn man sie anfaßte.

Renate pflückte einen Strauß aus Schlüsselblumen. Manche Pflanzen waren giftig, aber welche? An den Kleeblüten saugten Hummeln, und aus den abgebrochenen Pusteblumenstengeln tropfte weißer Saft.

Als mein Lutscher alle war, kaute ich noch den Stiel durch.

Ein Specht war zu hören, aber nicht zu sehen. Immer, wenn man dachte, jetzt hat man ihn gleich gefunden, hörte er zu klopfen auf.

Statt Blut hatten Bäume Harz, das wie Honig aussah und schlecht wieder von den Fingern abging.

Wie die Wolken aussahen. Die eine wie ein halbes Brot und die daneben wie ein Strumpf.

Meinen Pfirsich wollte ich nicht mehr, weil da ein Ohrenkneifer drübergekrabbelt war. Einen Ohrenkneifer kriegte man nie wieder raus, wenn der einem erst einmal ins Ohr spaziert war. Der knusperte dann von innen an einem rum.

Mama saß mit ihren Nähsachen auf der Terrasse und paßte auf Wiebke auf, die unterm schräggestellten Sonnenschirm im Laufstall stand und schrie. Die Jalousie vor der Terrassentür war halb runtergelassen. »Ochotti, wie niedlich«, sagte Mama, als ich ihr den Blumenstrauß hinhielt.

Nachdem wir um Erlaubnis gefragt hatten, schlüpften wir unter der Jalousie durch ins Wohnzimmer und machten den Fernseher an.

Rund um die Manege mit Klaus Havenstein.

Nebenan wohnte Familie Strack. Die hatten auch vier Kinder: Claudia, Uwe, Heinz und Kurt, und das fünfte war unterwegs. Uwe war so alt wie ich. Der hatte ein grünes und ein blaues Auge. Ich hatte braune. Heinz war vier und trug eine Brille. Kurt war drei, ein kleiner Dicker mit großer Klappe. Claudia lag im Garten und las Micky Maus.

Grubes, die noch ein Haus weiter wohnten, hatten keine Kinder.

Im Wäldchen kannte Uwe sich aus. Er wußte auch, über welche Äste man im Kletterbaum noch höher steigen konnte, bis fast ganz oben. Dafür zeigte ich Uwe den Weg zur Schlüsselblumenwiese.

Auf der anderen Straßenseite wohnte Kalli Kasimir, der ein halbes Jahr älter als Volker war, auf einem Grashalm blasen konnte und einen Dackel besaß, der Waldi hieß. Kallis Vater war Jäger, und Volker durfte zusammen mit Kalli, Kallis Vater und Waldi auf die Jagd gehen, früh am Morgen. Tridihejo!

Ich selbst war angeblich noch zu klein für die Jagd. »Dich wittern die Böcke doch drei Meilen gegen den Wind«, sagte Volker.

Besser als Jäger war nur noch Förster. Förster waren den ganzen Tag lang im Wald.

Als Gustav zu Besuch kam, sollte ihm was geboten werden. Es gab viele Ausflugsziele – den Rittersturz, Schloß Stolzenfels, den Kühkopf, den Asterstein, die Karthause und eine Flugschau in Ramstein. Gustav entschied sich für die Flugschau. Er hatte X-Beine und stotterte noch immer.

Bei einem von den Flugzeugen durfte man sich ins Cockpit setzen. Vor der Treppe, die zum Cockpit führte, stand eine lange Schlange. Volker und ich drängelten uns ganz vorne rein.

Im Cockpit war es gut, aber man mußte sofort wieder raus und über die Treppe auf der anderen Seite nach unten gehen. Wir liefen ums Flugzeug rum und wollten uns zum zweiten Mal vorne in die Schlange mogeln, aber diesmal fingen die Leute an zu meckern.

Papa kaufte uns Popcorn, das aber fast zu salzig war zum Essen. Das sei eben auf amerikanische Weise zubereitet, sagte Papa. Renate spuckte ihres auf die Straße.

Auf der Rückfahrt kamen wir an einem Gasthof vorbei, der Kratzkopfer Hof hieß, und Renate sagte, da hätten wir mal anhalten sollen und kucken, ob sich einer am Kopf kratzt.

Gustav fuhr jeden Tag mit dem Bus nach Koblenz zum Bahnhof, um Zügen beim Rangieren zuzusehen und Waggons zu zählen.

Eines Abends fing Papa im Garten eine große grüne Laubheuschrecke ein. Bevor er sie wieder freiließ, konnten wir sie uns ankucken, wie sie im Einmachglas saß, mit langen, zitternden Fühlern und einem Bauch wie eine Erbsenschote.

Dann kam Onkel Walter aus Schmallenberg, um Volker abzuholen, und Papa brachte Renate, Gustav und mich im Zug nach Jever.

Eisenbahn die krachte, Dickmadam die lachte.

In Sande stand ein dicker schiefer Turm vorm Bahnhof. Papa sagte, die Leute hätten nach dem Krieg versucht, den Turm in die Luft zu sprengen, aber der sei nur auf die Seite gesackt, und da hätten sie ihn so stehengelassen.

Tante Gisela holte uns ab. Sie hatte einen roten Käfer. Von Gustav wollte sie wissen, wie es ihm in Koblenz gefallen habe.

»So m-m-mittelhochprächtig«, sagte Gustav.

Opa Jever stand am Vorgartentor und rauchte Zigarre, und Oma jauchzte, als ich in den Garten gelaufen kam. Sie hatte unter der Birke den Teetisch gedeckt.

Ich rannte zur Schaukel und dann zum Sandkasten, um eine Burg zu bauen. Oben der Burghof und unten der Graben. Die meiste Mühe machte der Tunnel zum Burghof. Wenn der Sand zu trocken war, fiel beim Bohren die Decke ein.

Papa schüttelte den Kopf. »Wie du schon wieder aussiehst!« Bevor ich was vom Aprikosenkuchen kriegte, mußte ich mir die Hände waschen gehen.

Auf dem Flur vor der Dachkammer mit den Gästebetten stand Omas Nähmaschine, ein Trumm aus Gußeisen mit einem Fußpedal. Wenn man das bewegte, drehte sich oben die Handkurbel, und die Nadel fuhr auf und ab.

Um im Kämmerchen durch die Dachluke den Schloßturm sehen zu können, mußte ich auf die Kommode klettern. Die Federbetten waren dicker als bei uns, und beim Umdrehen knarrte das Bettgestell. Hier gebe es bestimmt auch Mäuse, sagte Renate. Ihr würden die Mücken genügen.

Beim Frühstück lief das Küchenradio. Hör mol ’n beten to!

Plattdeutsch sei eine eigenständige Sprache und kein Dialekt, sagte Opa. Ich kriegte Honigbrot und ein Tüt-Ei, wie Oma das nannte. Renate hatte schon sechs Mückenstiche, einen am Rücken, zwei am Fuß und drei am Hals.

Gustav schlief noch, und ich ging ihn wecken. Er stieg aus dem Bett und fragte mich, ob ich schon mal eine Gangschaltung gesehen hätte. Dabei faßte er durch den Pyjama seinen Piepmatz an und drehte ihn in verschiedene Richtungen: »Erster Gang – zweiter Gang – dritter Gang – vierter Gang!«

Draußen bimmelte der Milchmann. Oma drückte mir zwei Stück Würfelzucker in die Hand, für die Pferde, und ich lief nach unten. Oma stakste hinterher.

Außer Milch verkaufte der Milchmann auch Käse, Butter und Eier. Mit seinem Fuhrwerk hielt er den ganzen Verkehr auf.

Die Pferde waren riesengroß und dunkelbraun. Sie trugen Scheuklappen und schnauften laut. An ihren Hängebäuchen konnte man die Adern sehen.

»Nu man los, die beißen nicht!« rief Oma, und der Milchmann lachte. Ich hielt dem einen Pferd die Hand mit den Zuckerstücken hin. Es fraß mir mit seinen dicken Lippen alle beide von der Hand. Das Pferd hatte gelbe Zähne. Jetzt kackte es auf die Straße. Die Pferdeäpfel waren gelb und pelzig.

Im Schloßgarten fütterten Renate und ich die Enten. Oma hatte uns altes Brot dafür mitgegeben. Die Enten stritten sich um jeden Krümel, so als ob die halb verhungert wären. Wir versuchten, auch denen was zuzuwerfen, die sonst nichts abkriegten.

Wenn die Schwäne kamen, gingen sie auf einen los und schlugen mit den Flügeln. Dann warf man am besten alles hin und lief weg.

Woanders im Schloßgarten schrie der Pfau. Als wir ihn gefunden hatten, verdrückte er sich gerade unter die Büsche. Seine Federn schleiften auf der Erde, hinten schon ganz zerschlissen.

Aus der Stadt brachte Oma Tee mit. In der Packung war ein Karl-May-Bild zum Sammeln: Männer mit Turban, nachts an einem Lagerfeuer in der Wüste, und daneben ein Kamel. Das Bild, das gut nach Tee roch, durfte ich behalten.

Es gab Heringe mit Pellkartoffeln und zum Nachtisch Erdbeeren mit süßer Sahne. Dann machten Oma und Opa Mittagsschlaf, und wir mußten leise sein. Die Türklinken hatten Schnörkel und waren golden, und auf einem Teller auf dem Tisch im Flur lag Zierobst, das nicht eßbar war.

Vom Balkon aus konnte man die Mühlenstraße sehen, die Fußgängerampel und die Anton-Günther-Straße. Wenn man Glück hatte, gab es einen Unfall. Einmal schepperten zwei Autos an der Straßenecke zusammen. Bei dem einen war die Stoßstange ganz verbeult.

Aus dem Edekaladen an der Ecke liefen Leute raus. Dann kam auch ein Polizeiauto, und die anderen Autos mußten im Bogen um die Stelle rumfahren.

Im Vorgarten strich mir Frau Apken über die Haare. »So ein hübsches Mädchen«, sagte sie. Die war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Ich sagte ihr, daß ich ein Junge sei, und sie patschte in die Hände und rief: »So ein entzückendes Mädchen!«