Abriss Leipzig - Henner Kotte - E-Book

Abriss Leipzig E-Book

Henner Kotte

4,6

Beschreibung

Nach einem Hip-Hop-Konzert im Haus Auensee wird der 17-jährige Steven Bärnstorff auf offener Straße erstochen. Vieles deutet auf einen Raubüberfall hin. Dann erhält die Polizei Hinweise, dass Steven seinen Körper für Liebesdienste verkaufte. Als ein weiterer Junge nach einer Feier brutal zusammengeschlagen wird, fahndet die zweite Leipziger Mordkommission nach einem Serientäter, der sich seine Opfer unter jungen Männern sucht. Die Medien machen mobil, die Stadt gerät immer mehr in Panik. Und plötzlich stößt Hauptkommissar Lars Kohlund unvermittelt auf Spuren, die sogar bis in seine eigene Familie führen. »Ein richtig guter Krimi, weil er uns etwas über das Leben und die Menschen erzählt: offen, ehrlich, in einer Sprache, die die Widersprüche der Figuren und ihrer Geschichten nicht verleugnet, sondern sie auf den Punkt bringt.« (Reinhard Jahn, WDR 5)

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Henner Kotte

ABRISS

LEIPZIG

Kriminalroman

Rotbuch Verlag

eISBN978-3-86789-604-7

© 2008 by Rotbuch Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: www.buchgestalter.net

Foto: Tom Peschel, Berlin, und Marty Kropp, fotolia

Composing: PX1, Berlin

Rotbuch Verlag

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

www.rotbuch.de

»Schlag zu!«

»Du hast den Stock zerbrochen!«

»Schlag zu!«

Der Mann war nackt, schwitzte, verbiss sich den Schmerz. Er unterdrückte jeden Laut, was ihm nicht immer gelang. Tränen hinterließen Spuren auf seinen Wangen. Der Mann kniete im Dreck. Feuchtes Laub klebte an seinen Oberschenkeln, an den Ellenbogen und Fußsohlen. Die Shorts wirkten wie eine Fessel der Fußgelenke. Jacke, Hemd und Krawatte lagen irgendwo. Der Knabe zog dem Mann den Hosengürtel um den Hals enger.

»Noch nicht genug, du Sau, du?«

Der Mann röchelte, schluckte, hustete, Atmen war ihm kaum möglich. Die Hände krallten, Erdboden und Blätter quollen zwischen den Fingern hindurch. Der Knabe schnitt Zweige. Unterholz wuchs im Wald üppig. In seiner Faust entblätterte der Knabe den Ast. Es pfiff, als er ihn kahl durch die Luft schwang. Zur Probe schlug er sich in die Hand, auf die Schenkel. Der Nackte verharrte in seiner Stellung, Hände und Knie auf dem Boden stand er wie eine Bank vor einem Ahorn. Der Stamm zeigte im Mondlicht eine fast ebenso blässliche Farbe wie die Haut des Mannes ohne Kleidung. Der Knabe ließ sich auf ihn fallen, saß gut und zündete sich eine Zigarette an. Unwillkürlich presste sich dem Mann ein Laut von den Lippen. Der Knabe sprang auf und schlug zu.

»Kannst du nie Ruhe geben?«

Immer noch einmal sauste der Ast auf das blanke Gesäß. Der Mann hechelte und bat um Strafe. Seine Hand fuhr sich zwischen die Schenkel, rieb – er masturbierte. Der Knabe hieb ihm auf die Hoden.

»So haben wir nicht gewettet, du Sack! Das ist nicht zu deinem Vergnügen!«

Der Mann hatte verstanden und fuhr sich nur noch sacht über die Eichel.

»Komm zu mir.«

Der Mann weitete die Strangulation. Der Knabe tat, als sähe er nichts.

»Komm.«

Der Knabe stellte sich nah ans Gesicht des knienden Mannes, der löste ihm Gürtel und Knöpfe. Die Hose rutschte. Den Slip zog der Mann dem Knaben mit dem Mund von der Hüfte. Sobald der Penis des Jungen befreit war, schlossen sich die Lippen des Mannes um ihn, begannen im Rhythmus zu saugen, vor, rück, vor. Die Zunge spielte unter der Vorhaut. Der Mann nahm den Mund so voll wie nur möglich. Auch dem Knaben wurde das Atmen schneller vor Lust. Um den Höhepunkt zu verzögern, drehte er dem Mann mehrmals den Halsgürtel enger. Einhalt gebot er ihm nicht.

Unwillkürlich stöhnte der Knabe beim Orgasmus, gurgelte, ein spitzer Schrei. Der Mann hatte ihm seinen Schwanz ins Feuchte gerieben. Ein letzter Kuss drauf, das Geschäft war zu Ende. Der Knabe ließ das Stöckchen fallen, wendete sich ab und suchte das Taschentuch, letztlich nahm er den Zipfel des Hemdes. Nass noch umfassten die Hände des Mannes wieder sein eigenes Glied. Es dauerte kurz, dann stöhnte der Mann endlich laut. Der Knabe schlug zu.

»Umsonst ist nicht.«

Schnell schmierte der Mann beider Saft an den Baum und suchte nach seiner Lederjacke. In ihr war kein Portemonnaie. Das fand sich aus der Hose gerutscht nahebei. Drei Scheine wechselten den Besitzer. Keinen Dank sagte der Knabe, mit einem Fußtritt flogen Hemd, Hose und Jacke des nackten Mannes ins Umfeld. Er würde in dieser Dunkelheit suchen müssen.

Der Knabe schlug sich einen Weg durch Gebüsch, das Unter-holz, durch feuchtes Laub, es schien, als hätt er es eilig. Erst jetzt sah er, dass die Zivilisation doch näher am Geschehen war als vermutet. Er hörte Gesprächsfetzen und Lachen, den Straßenverkehr. Der Knabe fand einen kaum ausgetretenen Pfad, die Böschung zur Straße stieg er verwachsene Stufen hinan. Im Licht des Konzerthauses gegenüber ordnete er sich Jacke und Hosenbund. Den Geschlechtsverkehr sah ihm keiner an.

Im dichten Unterholz erhob sich eine Person, die die Szene beobachtet hatte. Vor Erregung bemerkte sie den Dreck an Händen und Knien nicht. Später im Licht der Straße wischte sie ihn am Mantel ab. Er machte Spuren. Aus dem Konzerthaus drangen Bässe im Rhythmus.

Der nackte Mann suchte noch immer.

1

Licht verschob die Szenerie ins Unwirkliche. Scheinwerfer. Blaulicht. Fotoblitze. Schatten erhoben das Kopfsteinpflaster zum Relief. Das Fabrikgebäude zeigte hinter zerschossenen Fenstern markantes Weiß, das sich im Inneren verlor. Davor alles Gebüsch wirkte bedrohlich. Die wechselnde Beleuchtung ließ Gestalten vermuten, die manchmal auch Schatten waren. Auf Gehweg und Fahrbahn hasteten Menschen ohne erkennbares Ziel. Zurufe hallten. Am gegenüberliegenden Straßenrand sammelten sich Schaulustige. Vielleicht nahmen sie an, ein Film würde gedreht. Stets drehten Fernsehteams an makaberen Orten in dieser Stadt. Ein Beamter in Uniform sperrte mit rot-weißem Band ab. Ohne hörbaren Protest verfügten sich die Betrachter zum Pfarrfelde und in Richtung Eisenbahnbrücke. Hinter der Absperrung bezogen sie Stellung und waren sich sicher, dass ihnen nichts entgehen würde. Und ihren Augen entging nichts. Erst recht nicht die Ankunft des Stars.

Für den ankommenden Wagen hoben Polizisten das Absperrungsband. Fehlte noch, dass sie einem die Autotür öffnen. Lars Kohlund traf ohne gute Laune am Ort des Geschehens ein. Es war April, Freitag, Nacht. Noch nie in seinem Beruf war es Kohlund passiert, dass er zur Dienstzeit an einen Tatort gerufen wurde. Das ersehnt freie Wochenende war nicht mehr frei. Das wusste Kohlund beim Klingeln des Handys und der angezeigten Nummer. Seine Kinder waren vielleicht froh, dass sie Vaters Anwesenheit daheim nicht ertragen mussten. Die Gattin lächelte nicht, als er ihr den Kuss auf die Wange setzte. Die Familie hatte einen Ausflug in die Heide beschlossen mit Oma, Opa und einem Festessen am Sonntag. Warum passieren die Katastrophen im Leben nie am Montag 7 Uhr 30?

»Links am Pfeiler.«

Der Kommissar hätte sagen können, das sähe er selber, aber er schob Kollegin Schabowski ohne ein Wort zur Seite. Sie folgte ihrem Chef langsam. Der Knabe saß auf dem Bürgersteig, unbeweglich, starr, saß wie erfroren. Der Oberkörper lehnte am steinernen Sims eines Zauns. Ein dazugehörendes Eisengitter hatte wahrscheinlich der letzte Verwalter des maroden Betriebes vor der Insolvenz oder danach noch zu Geld gemacht. Die Männer der Schnellen Medizinischen Hilfe konnten nicht mehr helfen. Sie standen ohne Aufgabe umher und im Weg. Man hatte den Arzt gebeten, zu bleiben und nach dem Tod Diagnosen weiterzugeben. Doch bislang hatte keiner den Doktor gefragt.

Der tote Junge am Rande des Bordsteins zählte kaum vierzehn. Das Gesicht zeigte noch alle kindlichen Züge. Den Bart hatte sich der Knabe wohl niemals gestutzt, Haare kräuselten an den Schläfen, am Kinn zwirbelten sie schüchtern, über der Lippe waren sie Flaum. Seine Augen blickten groß, aber leer auf den Straßenverkehr, der nicht mehr durchkam. Die Beine ausgestreckt in weiten, blauen, fleckigen Jeans. Turnschuhe, an denen man sich die Schnürsenkel sparen konnte, an der großen Zehe links mit einem Riss. Brauner Strumpf. Gelber Gürtel. Weites Sweatshirt. Darunter noch ein Shirt, schwarz. Pelle Pelle, las Kohlund, was auch immer das hieß. Eine Hand des Knaben lag auf dem gelben Klinker des Mauersimses. Die andere befand sich zwischen den Beinen. Oberbauch rechts eine Wunde. Der Fleck im Shirt war klein, unauffällig und vergrößerte sich nicht. Drei Spuren waren im Fleece herunter gelaufen. Mit Fantasie wäre ein dreibeiniges Pferd oder ein Reh im Blutfleck zu erkennen. Auch auf dem Bürgersteig Blut, eine Lache, die langsam trocknete.

»Als wir kamen, war es zu spät.«

»Womit hat man es getan?«

»Messer. Vermutlich. Die Wundränder sind glatt. Die Klinge nicht sehr breit. Ein Zentimeter. Eins Komma fünf. Kann man schwer sagen. Nicht breiter als zwei.«

»Gefunden? Das Messer.«

»Ich nicht, Herr Kommissar.«

Es war der Arzt, der Kohlund die Fragen beantwortete. Die Schabowski stand mit Berger von der Technik und gestikulierte. Ihn beachtete sie nicht. Er hätte sie als Erstes um die Details bitten müssen, das wusste Kohlund genau. Aber er mochte Agnes Schabowskis herablassende Art nicht. Schon gar nicht am Wochenende und in der Freizeit. Danke, sagte Kohlund zum Doktor.

»Irgendetwas Auffälliges?«

»Nein … außer Mord.«

»Ja, sicher.«

Der diensttuende Retter konnte sein Diplom noch nicht lang in der Tasche haben, so wie der ausschaute: Brille. Fehlge­knöpfte Jacke. Die Arzttasche offen im Rinnstein. Kohlund blickte in die hektischen Augen. Der Doktor senkte den Blick.

»Gut denn, dann wünsche ich weiter ruhigen Dienst.«

»Ein Protokoll?«

»Ja, sicher. Machen Sie im Funkwagen die notwendigen Angaben. Es gibt einen Vordruck.«

Der junge Doktor schaute verständnislos.

»So selten sind in Deutschland Leichenfunde nun auch wieder nicht, als dass es keine Formulare dafür gäbe.«

Mit der Hand wies Kohlund auf einen Beamten.

»Protokoll und unterschreiben!«

Der Beamte nickte. Der Doktor rückte die Brille und ging. Beruflich wahrscheinlich sein erster Kontakt mit der Kriminalpolizei, wenn nicht überhaupt in seinem jungen Leben.

»Und?«

Kohlund hatte Grischa Mergenthin nicht kommen hören. Jetzt stand er neben ihm: Lächelnd. Frisch. Voller Elan. Der fühlt sich niemals gestört, stellte Kohlund unwillig fest, dabei ist der Mann doch liiert und hatte gewiss Pläne für diesen Abend gehabt. Lars Kohlund zuckte die Schultern.

»Die Schabowski war als Erste vor Ort.«

Agnes Schabowski hatte Berger von der Technik eingewiesen und kam mit einem fragenden Blick auf die Kollegen zu.

»Er hat selbst noch die Rettung gerufen.«

Ihre Hand zeigte auf Handy und Discman, beides lag exakt parallel und rechtwinklig vor dem Sims. Vielleicht hatten die Männer der Ersten Hilfe es so sorgsam abgelegt. Der Junge hatte schwerverletzt noch die Nummer getippt. Schnell! Ich verblute! Linkelstraße Fabrik! hatte die Leitstelle vermerkt, dann hatte am anderen Ende niemand mehr gesprochen. Nur Atmen war noch zu hören. Der Rettungswagen war unverzüglich gestartet.

Zwischenzeitlich hatte ein Ehepaar, angetrunken, wohl auf dem Heimweg von einer Fete und in Jubiläumsstimmung, den Jungen gefunden. Sie hatten der Rettung nochmals die genauen Daten telefonisch vermittelt, sie mussten ihrer menschlichen Pflicht nachkommen. Ohne Frage. Ohne Verzögerung. Neben dem Jungen gekniet hätten sie, und der hätte noch in Richtung Müllplatz, Rathaus Wahren gedeutet, sagten sie aus. Sie hatten nicht verstanden, was dies bedeuten könnte. Der junge Mann lag allein. Kein anderer Mensch war auf der Straße zu sehen. Der Gatte war jedoch einige Meter in die gewiesene Richtung gelaufen, gefunden aber hatte er nichts. Außer diesen Kopfhörern. Die lagen genau unter der nächsten Laterne. Die brannte, sagte er tonlos, die anderen brannten hier nicht. Die Frau hatte sich den Jungen an die Brust gelehnt und gesagt und immer wieder gesagt: Hilfe kommt. Hilfe ist unterwegs. Halte aus! Doch der Junge hätte das Bewusstsein verloren und immer noch stärker geblutet, gespuckt, schwallweise, sodass ihr Mantel viel abbekommen hätte, nicht zu reinigen und zum Wegschmeißen sei. Die Gattin zeigte Kohlund das teure Stück.

»Und dann?«

»Kam die Schnelle Medizinische Hilfe. Aber der Junge hat nicht mehr gelebt. In meinen Armen ist er gestorben. In meinen Armen!«

»Hat er noch etwas gesagt?«

»Er wollte … aber immer nur Blut … es war schrecklich.«

Die Frau kämpfte sichtbar mit ihrer Erinnerung. Lars Kohlund bat die Schabowski, sich um die Zeugen zu kümmern, das Protokoll aufzunehmen und für einen schnellen Heimweg zu sorgen. Den Kopfhörer steckte er ins Gerät, das noch lief. Er passte. Kohlund schaltete ab. Nicht das neuste Modell, aber unabdingbar in diesem Alter der Jugend. Nur einen Walkman ließ die Mode nicht zu. Kohlunds Tochter lag ihm jeden Tag in den Ohren, dass ihrer nicht mehr die volle Lautstärke erreichte. Das musste sich ändern.

Der Gatte hatte zwischenzeitlich der weinenden Gattin den Arm um die Schultern und den blutigen Mantel gelegt. Sie liefen langsam. Die Schabowski schritt stumm hinterher. Grischa Mergenthin lächelte nicht mehr und wandte sich ab.

Ein junger Mann, ein Knabe noch: tot. Jemand trug Schuld an diesem Sterben, da waren die Kriminalisten sich sicher. Es konnten keine natürlichen Gründe sein, die dieses Leben beendet hatten, selbst wenn die Indizien nicht eindeutig wären. Woran starb man denn mit vierzehn, wenn einen die Pest, Autos, Blutkrebs nicht eingeholt hatten? Natürlich konnte die Todes-ursache nicht sein. Äußerlich hatte der Arzt nur einen Stich festgestellt. Der Einstich kaum sichtbar, erstaunlich schmal muss die Klinge gewesen sein. Die Kommissare standen auf offener Straße und wurden begafft. Alle anderen Beteiligten wussten zumindest, was sie zu tun hatten.

»Ausweis? Weiß man, wer’s ist?«

»Sie haben bislang nichts gefunden. Auch kein Geld.«

»Aber wenn er überfallen worden ist …«

»Danach sieht es aus, ja …«

»… ist das vielleicht nicht genau hier geschehen.«

»Schauen wir mal. Die Kopfhörer lagen unter dieser Laterne.«

Kohlund und Mergenthin bückten sich unter der Absperrung durch. Die Schaulustigen machten ihnen Platz. Noch gab es für sie etwas zu sehen: Der Wagen des Bestattungsinstituts war gekommen. Der Knabe wurde sorgsam auf eine Trage gebettet, ein Laken legte man ihm übers Gesicht. Selbst jetzt noch färbte es sich stellenweise rot. Kohlund glaubte ein unterdrücktes Weinen zu hören, konnte aber nicht feststellen von wem. Mehrere Frauen kneteten Taschentücher in ihren Händen. Das Blitzlicht des Fotografen erhellte in Sekundenabstand die bröckelnde Front der Fabrik. Polizisten suchten die nähere Umgebung der Leiche ab. Zwei kratzten auf der Straße nach Vergleichsmaterial.

Kohlund und auch Mergenthin wussten, dass sie kurz Ruhe und Ablenkung suchten. Es war der Beginn eines Mordfalles, und bereits jetzt verursachte er ihnen ein schlechtes Gefühl. Alles sah nach einem Zufallstäter aus, der sich an Geld und Schmuck oder anderen Werten bereichern wollte. Die Chancen einer Festnahme des Täters stehen gering in solchen Fällen, wenn nicht ein Indiz ihn eindeutig und schnell überführt. Die Kommissare hofften und suchten, als wollten sie solch einen Hinweis erzwingen. Sie kamen damit den Kollegen zuvor, denn die Straße, die ganze Gegend würden Polizeikräfte höchst sorgfältig absuchen müssen.

Unter der leuchtenden Laterne gab es keine weitere Spur. Am Pfahl ein Plakat. Werbung für einen freundlich lächelnden Mann, der mit ausgebreiteten Armen um Wählerstimmen bat: Ihr Thilo Mütze.

Hinter dem Klinkerbau war eine Fabrik renoviert. Angestrichen wie ehemals die Kulturhäuser der Sowjetarmee prangte sie frisch gemalert in Gelbweiß. Der Zaun davor war Maschendraht und unbeschädigt. Aber trotzdem sah es nicht so aus, als würde man da drinnen produzieren. Das schwere Eisentor wurde mit einem Vorhängeschloss gesichert.

Sport tut Deutschland gut war an fast jede Plakatwand geklebt. Olympia sucht eine Heimstadt für 2012. Sport tut Deutschland gut – Welcher Sport denn, hing Kohlund in Ge­danken nach. Tabletten- und ruhmsüchtig wie Boris Becker? Blutig gedroschen um den Rekord gebracht wie Dariusz Michalczewski, unser polnischer Tiger? Oder Klitschko der Jüngere? So reinlich wie Heike Henkel und Dieter Baumann? Im Seniorenalter aktiv wie die Damen Fischer, Drechsler, van Almsick? Auch der Sport war nix als Geschäft. Kohlund fielen nur Namen ein, die er nicht mochte. Ob Ost oder West. Die Zeiten der Spartakiaden mit echter Freude am Sieg, wenn auch sozialistischer, waren endgültig vorbei. Lars Kohlund war Meister seines Kreises, gar Bezirks gewesen, wenn auch nie einzeln, sondern nur in der Staffel 4×400 Meter. Seine Kinder gaben allen Sport wieder auf, als absehbar war, dass sie darin nicht zum Star reifen würden. So wie er aussah, der tote Bub, skatete er oder bikte oder spielte Fußball. Um sein Leben gerannt war er augenscheinlich nicht. Hatte er seinen Mörder gekannt?

Auf einer weiteren Wand meldete sich nochmals die Politik und forderte zur Wahl auf. Damit es den Menschen besser geht lächelte ein Gerhard Felber. Fehlt nur das unser vor Mensch, und wir wären im Sozialismus, dachte Kohlund. Wählt die Kandidaten der Nationalen Front. An das Geschwätz, was täglich über die Bildschirme scrollte, mochte Kohlund nicht denken. Er wusste, was er nicht wählte.

Mergenthin stieß unablässig gegen Steinchen. Sein Fuß fuhr übers Pflaster, als ob das den Namen des Täters freilegen würde. Die nächste Fabrikhalle war gräulich, ein Flachbau aus Presspappe und Zeiten schwacher Finanzen. Der Platz davor war ohne Zaun, uneben und zeigte schüchternes Grün. Die Gastronomie hatte ihr Schild vergessen oder sie servierte noch: Lammbraten 6,20. Schnitzel mit Spargel 5,80. Kohlroulade 4,40. Gulasch mit Rotkohl und Klößen 4,60. Dazu Kaffee und Kuchen in reichlicher Auswahl.

»In dieser Gegend kann doch keiner auf reiche Beute hoffen.«

»Dass der Junge voll Geld steckte, glaube ich nicht, so sieht er nicht aus. Hinter der Brücke sind schmucke Einfamilienhäuser. Vielleicht hat er da gewohnt.«

»Dann wären Täter und Opfer bekannt.«

»Möglicherweise.«

»Oder der Tod hatte ein ganz andres Motiv.«

»Auch das kann sein.«

Sie blieben stehen und blickten die Linkelstraße zur Kreuzung hinab. Keine Reklame an den Häuserwänden war erleuchtet. Gegenüber konnte man in der Straßenbeleuchtung matt Wella, Blumen, Elektrik lesen. Weit vorn sprang die Ampel von Rot-gelb auf Grün. Die Kommissare sahen keine fahrenden Autos.

»Hier finden wir nichts, und bei diesem Licht schon gleich gar nicht.«

Auf der anderen Straßenseite waren die Container voll Müll. In Glas, Papier, Verpackungen sollte der Bürger sortieren. Nicht alles hatte Platz in den unförmigen Plastebehältnissen gefunden. Es stank, auch wenn keine Biotonne im Geviert stand. Kohlund beneidete die Kollegen nicht, aber auch hier würden sie suchen, keine 150 Meter vom Toten entfernt. Offensichtliche Spuren eines Kampfes bemerkten die Kommissare nicht, und vor ihnen war der Bürgersteig breit, übersichtlich, ohne Baum und Gebüsch.

»Der Junge war doch kaum vierzehn.«

»Widersinnig.«

»Aus welchem Motiv tötet man Kinder?«

Viele der Schaulustigen waren gegangen. Auch der Einsatzwagen der SMH war nicht mehr vor Ort. Der junge Arzt hatte seine Aussage gemacht und unterschrieben: Todesursache unnatürlich. Überweisung ins gerichtsmedizinische Institut. Die Lampen der Kriminaltechnik leuchteten noch. Die Schabowski war im Gebüsch. Das Blut auf dem Gehweg funkelte. Einsam lagen am Sims noch Discman und Handy. Mergenthin griff nach dem Abspielgerät: The Eminem Show. Der ist hipp, taff, megacool wusste Kohlund vom eigenen Nachwuchs. Dann eine Melodie aus den deutschen Top Ten. Das Handy des Toten läutete. Mergenthin und Kohlund sahen sich an, die Initiative ergriff keiner. Agnes Schabowski drückte den Knopf: Ja, bitte?

»Steven bin ich nicht … keine Ahnung, und wer sind Sie … so am Telefon ist mir das unrecht … Nein, und ich bin nicht befugt … Polizei … Auch ich muss Ihnen glauben, dass Sie die Eltern sind …«

Der Finger der Schabowski zeigte auf den Boden, ihre Augen fragten Chef Kohlund. Der schüttelte vehement seinen Kopf. Nein! Nicht. Was konnten Eltern hier tun? Lars Kohlunds Lippen formten: Adresse?

»… kämen bei Ihnen vorbei … nein, keine Umstände bitte … nun, schlimm … und wo wohnen Sie … Zeisigweg, Äußerer Zeisigweg … wir werden ihn finden … ja, danke, und Ihnen auch.«

Die Schabowski atmete die Luft hörbar ein und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.

»Das ist grad bei, in der Siedlung hinter der Brücke.«

»Bei den schmucken Einfamilienhäusern.«

»Bärnstorff der Name. Ihr Sohn Steven ist noch nicht daheim. Sie machen sich Sorgen.«

»Einer muss.«

Grischa Mergenthin befand sich auf dem Schritt zu Berger von der Technik, um noch Genaueres zu erfragen. Kohlund blickte Agnes Schabowski in die Augen, die stellte fest: Eine muss!

»Sie müssen nicht.«

»Ich gehe.«

2

Agnes Schabowski musste nach den Hausnummern schauen. Manche waren zugewachsen, unleserlich oder gar nicht vorhanden. Dann war sie sich sicher, nur in einem der Häuser brannte noch Licht. Versehentlich trat sie noch einmal aufs Gas, der Wagen heulte auf. Vielleicht war das der Grund, dass sich die Haustür nun öffnete, wahrscheinlich aber hatten die Bärnstorffs am Fenster auf die Polizei gewartet.

Die Mutter stand auf der Treppe zum Vorhaus in Filzlatschen, die schienen Agnes Schabowski zu warm, zu bunt und überbetont heimelig. Rock und Bluse saßen exakt, das Gesicht schien übernächtigt, die Haare nicht in Frisur. Von hinten beleuchtet war Mutters Silhouette gespenstisch. Die Polizistin nahm die Hand vors Gesicht, ihr in den Weg wuchsen Buchsbaum, Forsythien, Liguster.

»Was ist denn passiert?«

Es war der Vater, der sprach. Agnes Schabowski hatte ihn noch gar nicht ausmachen können. Der Mann war groß, stattlich und müde. Barfuß stand er auf den Kacheln, die Hosen schnell drübergezogen, Hosenträger, kein Hemd. Seine Frau krallte mit einer Hand das Geländer, die andere schob sie der Schabowski zur Begrüßung entgegen. Warm. Kräftig. Vielleicht ein bisschen feucht.

»Hatte er einen Unfall?«

»Bärnstorff, Maik-Elias, meine Frau Solveig.«

»Wir wissen nicht, ob es überhaupt Steven ist.«

»Papa, das Foto vom Schreibtisch!«

Der Vater verschwand, Treppe nach oben, die Mutter bat Agnes Schabowski ins Heim und ging ihr voraus.

»Grad durch, da ist unsre gute Stube.«

»Danke.«

»Schuhe können Sie anlassen, ich saug sowieso.«

Die Tür war geriffeltes Glas, von Holztapete umrahmt. Drinnen war die Beleuchtung gelbwarm. Der Fernseher lief ohne Ton. Barbara Salesch, Monika Herz oder Friedrich Karl Kaul sprachen Recht. Die Gardinen mit Borte hingen halbhoch. Beobachteten die Bärnstorffs von dieser Stube, was auf der Straße passierte? Dorfgewohnheiten hatte die Kommissarin nicht in der Großstadt vermutet. Sie nahm Platz in einer Sitzgarnitur, die ums Eck gestellt war. Echt Leder, kein Imitat.

»Darf ich Ihnen was anbieten? Cognac, Apfelsaft, Wasser?«

»Ein Wasser. Gern.«

Die Kommissarin nahm Platz und schaute: Bücherregal. Schallplattensammlung. CD-Turm. Monstera. Couchtisch. Glä­ser im Schrank. Darauf der Nippes. Sessel, Sessel, Esstisch und Stühle. Ein Hocker mit alten Zeitungen. Im Fernsehen wurden sie laut, bemerkte die Kommissarin, auch ohne die Reden zu hören. Die Worte konnte sie den Lippen ablesen.

Mutter und Vater betraten gemeinsam das Zimmer. Frau Bärnstorff reichte Agnes Schabowski das Glas. Das Wasser kam aus der Leitung, war nicht einmal kalt. Der Vater legte das Bild des Sohnes auf den Tisch. Kein Zweifel. Die Eltern sahen es ihrem Gesicht an. Agnes Schabowski nahm einen kräftigen Schluck.

»Was hat Steven getan?«

Agnes Schabowski suchte nach Worten.

»Was ist passiert?«

»Man hat Steven heut Nacht in der Linkelstraße gefunden. Sein Leben war nicht mehr zu retten.«

Pause. Die Schabowski hörte den Atem. Im TV sprach der Richter ein Machtwort.

»Ein Unfall?«

Pause. Die Schabowski scheute die Wahrheit.

»So sagen Sie doch. Ist er betrunken vors Auto gerannt, vor den Bus?«

»Nein.«

»Nein?«

»Ein Überfall wahrscheinlich.«

»Da gibt man Geld, umgebracht wird man nicht.«

»Steven ist tot. Eine Rettung war den Ärzten unmöglich.«

Weiter kein Wort, keine Fragen. Wie in Zeitlupe sank die Mutter in einen der Sessel, Beine über die Lehne. Der Vater setzte sich auf einen der Stühle am Esstisch. Und Agnes Schabowski musste die Eltern befragen, fand aber keinen passen­den Anfang. Sie schob Solveig Bärnstorff ihr Wasserglas in die Hand. Als Aufforderung begriff diese das nicht.

»Wie ist er gestorben?«

»Wahrscheinlich erstochen.«

Die Mutter schwieg, und der Vater knetete die Tischdecke, fast, dass die Blumenvase fiel.

»Wohin wollte Ihr Sohn denn heut Abend?«

»Haus Auensee, ein Konzert … Ich hab keine Ahnung.«

»Von dort abgeholt wollt er nicht werden. Das war ihm zu kindisch.«

»Nein, und so weit ist es ja nicht. Und was wir schon mit siebzehn …«

»Steven war siebzehn?«

»Keine sechs Wochen mehr, Pfingsten, dann ist er volljährig, achtzehn. Na ja, er sieht nicht aus wie die markanten Kerle, die ein Superstar werden wollen. Aber Steven wär noch gewachsen. Bei meinem Mann hat’s auch gedauert, sagt er.«

»Ist er allein in dieses Konzert gegangen?«

»Nö.«

»Die Jungs der Clique sind zusammen gegangen. Abgeholt haben sie Steven halber sechs. Und der Junge hatte noch gar nichts gegessen.«

»Gesoffen wird er schon haben.«

»Gesoffen! Zweimal betrunken war er. Denk doch an unsere Zeiten zurück.«

»Was du nicht sehen willst, siehst du nicht.«

Agnes Schabowski hörte und sah. Im Fernsehen schlugen sie mit der Faust auf den Tisch. Im Zimmer ging Maik-Elias Bärnstorff um den Esstisch herum, nahm ein Zierfläschchen in seine Hände, stellte es zurück und blieb am Fenster stehen, aber sah nicht hinaus. Die Mutter nahm die Beine von der Sessellehne und ordentlich Platz. Füße, Rock und Rücken sehr gerade. Dann war es mit aller Haltung vorbei. Solveig Bärnstorff konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Steven ist achtzehn. Man kann doch erwachsene Kinder nicht anbinden.«

»Aber alles gestatten muss man ihnen nicht!«

»Vielleicht könnte ich sein Zimmer …«

»Bitte.«

»Wo ist Steven jetzt?«

»Wir geben Bescheid. Sie können ihn sehen.«

Agnes Schabowski dachte daran, wie die Leiche des Knaben nach der Sektion aussehen würde. Die Schnitte grob vernäht. Ein Kreuz im ganzen Körper. Die Kommissarin lächelte zur Mutter zurück, als sie in der Tür stand. Der Vater ging voran die Treppe hinauf. Der Eintritt in Stevens Zimmer war allen Unbefugten verboten, war an der Tür zu lesen, und Cleaning Out My Closet. Das Schloss schloss nicht. Die Tür war eingetreten. Die Presspappe gesplittert. Ein Stück Eisen fiel herunter, als Agnes Schabowski die Tür ganz öffnete.

»Da hatte er seinen Schlüssel vergessen. Wer’s bezahlt, hat ihn nicht interessiert.«

Die Kommissarin fragte nicht nach. Die Eltern mussten ohnehin ihre Aussagen zu Protokoll geben und unterschreiben. Die Matratze lag mitten im Raum. Rechts, links in Griffweite Gitarre, Fernbedienung TV, Fernbedienung CD, Gameboy. Ein Regal voller Wäsche. Ein Regal voll mit Technik und Werkzeug. Davor ein Tisch, auf dem selten geschrieben wurde. Kein Blatt Papier, kein Kuli, kein Buch. An den Wänden martialische Menschen. Keanu Reeves als Held in der Matrix. Hulk Hogan und Gandalf. Ein Dartspiel. Die Pfeile lagen noch auf dem Bett.

»Sogar nachts hat er die Pfeile stundenlang in die Tür geknallt.«

»Damenbesuch?«

»Welche Mädchen stehen schon auf Bubis mit Milchbart?«

Mehr als du denkst, sagte die Kommissarin nicht. Der Rucksack in der Ecke sah unbenutzt aus. Darinnen Federmappe, Lineal und eine Bescheinigung vom Arbeitsamt. Darauf stand es schriftlich: Steven Bärnstorff, am 29.04.1986 in Leipzig geboren, Schulbesuch. Ausbildung: keine.

»Was tat Steven tagsüber?«

»An der Schule rumhängen. Rauchen. Saufen. Uns Werktätigen sämtliche Nerven töten.«

»Keine Arbeit?«

»Was denn? Ganz fort nach drüben wollte er nicht. Industriemechaniker! Zerspaner hätte der Job früher geheißen. Bohren. Sägen. Feilen. Dafür weg von den Freunden, der Familie und freiem Essen und Wohnung? Und nach der Ausbildung hätte er sowieso keine Arbeit gefunden. Ich konnt Steven verstehen. Arschkarte gezogen. Also hat er gewartet und dem Amt vertraut. Aber von da kam nie was. Und irgendwann hatte er das Warten auch satt, ist er gar nicht mehr hingegangen. Meine Frau hat dort angerufen, damit ein bissel was überwiesen wurde.«

»Bekam er Taschengeld?«

»Hundert. Mutter wird ihm manchmal noch mehr zugesteckt haben und rechnete es als Haushaltsgeld ab. So einfach und leicht trage ich mein Geld nämlich auch nicht nach Hause.«

Agnes Schabowski schaute sich um. Nicht mehr als Jugendliche besitzen mussten: Markenklamotten. Tontechnik. Hairstyling. Skateboard.

»Wo arbeiten Sie denn, Herr Bärnstorff?«

»Lehrer Mathe/Physik. Max-Klinger-Gymnasium. Das machen sie auch dicht in den nächsten Monaten. Wer weiß, wo ich dann schinden darf. Oder sie bieten mir gleich einen Vergleich. Ich bin keine vierzig! Scheiße, das alles!«

Der Vater sah die Kommissarin nicht an, drehte seinen Kopf ganz in den Flur. Agnes Schabowski sortierte zwanglos Gegenstände auf dem Tisch: Ein Ohrring. Blau-gelbe Boxershorts. Eine Bedienungsanleitung. Kondome. Zur Untersuchung einstecken wollte sie nichts.

»Keine Freundin?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Wie heißen die Freunde?«

»Mutter weiß das. Sie war ja in jeder Elternvertretung.«

Agnes Schabowski hatte genug gesehen, sie ging. Unten an der Treppe stand Frau Bärnstorff und schaute zu ihnen hinauf. Ihre Augen waren gerötet. Mit dem feinen Blusenärmel wischte sie stets darüber. Die Tränen trockneten nicht. Kommissarin und Vater stiegen die Treppe zu ihr hinunter.

»Hat er sehr leiden müssen, mein Junge?«

»Nein. Nein.«

»Sie versprechen es mir?«

»Mit wem war er denn heut im Konzert, der Steven?«

Vielleicht hatte die Mutter die Frage nicht gehört. Der Vater musste sie darauf aufmerksam machen.

»Mutti, mit wem war Steven weg?«

»Dem Robert. Dem Alexander. Louis. Tobias. Aber genau weiß ich es nicht.«

»Können Sie mir sagen, wo Robert, Alexander, Louis und Tobias wohnen?«

»Alle Adressen kenne ich nicht.«

»Das muss auch nicht sein.«

»Eine Freundin?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube. Erzählt hat der Junge nicht viel. Und jetzt wohnen all seine Freunde dort, wo wir früher gewohnt haben.«

»Grünau.«

Mehr sagte der Vater nicht. Sein Gesicht verzog sich, als wäre es Ekel, wenn er nur daran dachte.

»Hier kann man wohnen. Da nicht.«

Agnes Schabowski entgegnete nichts. Sie war zugereist vor drei Jahren. Grünau gleich Platte und Neustadt made in GDR. Dass sie auch zwischen Wohnsilos aufgewachsen war, war hier nicht Thema.

Sie setzten sich an den Esstisch: Vater, Mutter, Kommissarin. Agnes Schabowski zückte ihr Notizbuch und schrieb. Die Mutter erzählte. Dass sie nicht eben begeistert sein konnte über Stevens Umgang, seinen Alkoholgenuss, der Rumtreiberei. Drogen aber niemals, da kenne sie ihren Sohn. Und Skateboard, das ist doch gefährlich. Zu Hause sei der Steven ja kaum noch gewesen. Immer auf Achse. Mal da ausgeholfen, mal dort. Sparen hat er wollen auf eine Reise über den Teich. Amerika war sein Traum. Und die Musik. Na gut, davon verstünde sie nichts. Kfz-Mechaniker war Stevens Traumjob. Aber wer arbeite schon in seinem Traumjob? Und bei den Noten. Studieren hat er nicht wollen. Nicht können! warf der Vater dazwischen. Aber Klagen? Nein, Klagen kann sie eigentlich nicht über den Sohn. So ist’s halt: Kinder werden flügge. Solveig Bärnstorff lächelte schüchtern.

»Leiden hat er wirklich nicht müssen, mein Steven?«

3

Das Bad war besetzt. Lars Kohlund hatte zwei Stunden geschlafen. Die Maßnahmen am Tatort bedurften nicht länger seiner Aufsicht. Die Protokolle würde er schnellstmöglich erhalten, da musste er die Kollegen nicht fragen. Die eingeleitete Fahndung brachte keinen Erfolg. Kein Verdächtiger wurde im Umfeld Linkelstraße, Georg-Schumann-Straße, Damaschkestraße geschnappt. Das Strumpfliesel, obdachlos, im Vollrausch, bepisst, hatte eine Streife im Bahnhof Wahren gefunden. Doch die Alte konnte sich weder erinnern noch überhaupt etwas sagen. Zur Ausnüchterung wurde das Strumpfliesel gefahren. Den Fleck im Polster des Streifenwagens beseitigt kein Reinigungsmittel. Die Besatzung hätte kotzen können, trotz der offenen Fenster. Die Beamten kotzten nicht.

Kohlund hämmerte mit der Faust gegen die Badtür. Abgeschlossen, auch das noch.

»Ewig Zeit habe ich nicht!«

Alexia hauchte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange.

»Richtig Kaffee?«

»Mhm.«

Noch in Schlafhose nahm der Kommissar am Küchentisch Platz. Alexia drückte auf den Knopf des Wasserkochers, holte den Filter aus dem Schrank und zählte die Löffel.

»Original aus Simbabwe. Äußerst stark, sagt die Gabi vom Kontor.«

»Mhm.«

Kohlunds Blick auf die verschlossene Badezimmertür war so durchdringend, als ob er sie auf diese Weise öffnen wollte.

»Sie braucht jetzt länger.«

»Charlotte ist drin? Ich dachte der Bert.«

»Dein Sohn liegt noch im Bett. Und er wird gar nicht aufstehen wollen, du weißt, …«

»Also, ich kann nicht mit. Und morgen mit deinen Eltern …«

»Verstehe.«

»Das wird ein Scheißfall, ich habe das im Urin …«

Erst der Blick auf die Tür, dann sprach Kohlund weiter.

»… oder nicht.«

»Was meinste, Anzug?«

»Das tragen die Kids doch heute nicht mehr. Und erst recht nicht zur Jugendweihe.«

»Du, täusch dich da nicht. Also, der Oleg, der Sohn von der Kalkreuth, der …«

»Aussiedler haben einen andren Geschmack … Macht was ihr wollt.«

»Du Vater kannst nicht immer alles andren überlassen. Auch Jonathan trägt Kombination, hat mir seine Mutter erzählt.«

»Aber doch nicht wie vor einem Vierteljahrhundert.«

»Trotzdem.«

»Ihr seid zwei Frauen, ihr werdet doch einen Halbwüchsigen in Schale werfen können.«

Alexia stutzte.

»Oma kommt nicht mit.«

»Weiß ich. Aber hast du mir nicht grad zu verstehen gegeben, dass deine Tochter zur Dame heranreift?«

Der Wasserkocher sprudelte. Alexia goss Kaffee aus Sim­babwe auf. Die Tür zum Bad wurde geöffnet. Schamhaft sprang die Tochter über den Flur, ihre Tür schlug zu. Also denn! Lars Kohlund erhob sich, auf in den Tag.

4

Sie begannen den Abriss. Der Stolz eines einstigen Landes brach in sich zusammen. Die Karnickelställe hatten lang genug gestanden, länger drin wohnen wollte keiner. Stadtväter und Wohnungsbaugenossenschaft hatten beraten und abgestimmt. Der Leerstand ließ keine Wahl. Wozu renovieren, wenn keiner einzieht? Abgesperrt waren die Straßen am Rand der Stadt zur Natur. Sprengmeister bohrten. Bulldozer standen. Kräne schwangen Eisenkugeln. Die Fronten der Häuser stürzten. Bewohner, Besucher und andere Sensationsgierige gafften. Wenn ganze Aufgänge zusammenfielen, gab’s Beifall und Zurufe. Boaaah! Guck ma dahiiin! Einige Ältere verdrückten Tränen. Sie hatten vielleicht mitgetan an diesem Aufbauwerk. Was der Parteitag beschloß wird sein! Losung – Verpflichtung – Tat. Die Direktive zum Fünfjahrplan sieht die beträchtliche Verbesserung der kulturellen Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Jahren 1976 – 1980 vor. Durch Neubau und Modernisierung sollen 750 000 Wohnungen und die dazugehörenden Kindereinrichtungen, Schulen, Turnhallen, Polikliniken und Ambulatorien, Apotheken, Versorgungseinrichtungen, Feierabendheime und Kulturräume geschaffen werden. Die Bevölkerung schuf und baute, bezog und lebte in den Trabantenstädten, war froh, überhaupt Wohnraum zu haben. 1983 wurde in Leipzig-Grün­au die 25000. Wohnung übergeben, 66000 Menschen lebten im Viertel. In jenem einen Jahre kamen 4432 neuerbaute Wohnungen dazu, vier Schulen mit 104 Unterrichtsräumen, zwei Sporthallen, fünf Kinderkombinationen, Kaufhalle, Handelseinrichtungen, Gaststätte, zwölf ärztliche Arbeitsplätze, zwei Jugendklubs mit 180 Plätzen, drei Dienstleistungseinrichtungen, ein Internat … Wir leisten was, wir leisten uns was. Thorst Schmitt fand hier in Grünau 1983 den Wohnheimplatz. Thorst Schmitt hatte hier in Grünau geheiratet und Kinder gezeugt. Thorst Schmitt bezog hier in Grünau seine erste Junggesellenbude nach der Scheidung. Hier in Grünau fuhr Thorst Schmitt durch den Nebel, den die Trümmer hinterließen. Hier in Grün­au suchte Thorst Schmitt Zeugen im Mordfall Steven Bärnstorff.

An der Lautsche waren die letzten Häuser. Zonenrand, danach kam der See, Rewe, Parkplätze und Naherholung. Grünauer Grün vor den Häusern, Sechsgeschosser, renoviert in gegenwärtigem Komfort, Aufzug Fehlanzeige, Treppen flach, nix für Schmitts entwöhnte Füße. Die Amtors wohnhaft fünfter Stock. Ein Bub öffnete aufs Klingeln, keine vier. Aus der Küche schrie’s: Wer ist’s? Dann stapfte die Mutter im Hauskleid, in der Hand noch das Wischtuch, zum Kommissar an die Tür.

»Schmitt, Kriminalpolizei.«

»Der Louis ist nicht da.«

»Aber ich hatte mich doch grad deswegen telefonisch bei Ihnen gemeldet.«

»Wenn Sie wirklich Kripo sind, würden Sie ihn sowieso finden, meint er … Was hat er denn angestellt, mein Sohn? Nehmen Sie ihn mit?«

»Nein. Wir brauchen seine Aussage. Wann ist er denn gestern nach Hause gekommen?«

»Ein Alibi also braucht er.«

»Nein. Reine Routine.«

»Keine Ahnung. Ich hab keine Ahnung, wann er heimgekommen sein könnte, wir haben gestern ein wenig gefeiert. Und Louis war im Konzert. Schräges Zeug mit Sprechgesang, dreht er den ganzen Tag auf. Schweineteuer die Karte.«

»Wirklich gar nichts gehört?«

»Nein. Ich habe bei einem Bekannten übernachtet. Und früh war er da, der Louis, im Bett.«

»Und wo könnte er jetzt sein?«

»Ihr Job, würde ich meinen.«

Das war’s dann, und Tür zu. Für Momente musste sich Thorst Schmitt wieder fassen und stieg die Treppen hinab. In der Straßenschlucht wehte der Wind, er stellte den Kragen hoch. Links? Rechts? Im Winkel der Straße lärmten Kids und fuhren Halfpipe und standen daneben. Ein paar schüchterne Sträucher, Bänke, ein Klettergerüst. Thorst Schmitt wusste, dass er auf sie keinen Eindruck machte.

»Einer von euch Louis Amtor?«

»Warum willste das wissen?«

Der Junge war keine zwölf. Die Fluppe hing ihm zwischen den Lippen, die Hose saß ihm unter der Hüfte, Arsch in den Knien. Auch würdigte er Thorst Schmitt keines Blickes. Die anderen sechs hatten eh was andres zu tun, als dem Kommissar Rede und Antwort zu stehen. Sie warfen sich das Board unter die Füße und nahmen Anlauf. Einer suchte in seinen Taschen, Zigaretten vielleicht. Einem wuchs der Bart als Strich unter der Lippe. Boy und Girl auf der Banklehne schleckten sich in die Ohren und tuschelten. Nur der Knabe verlangte, einmal angemacht, Auskunft.

»Streetworker? Jugendamt?«

»Nein. Kriminalpolizei.«

Rasselnde Boards hielten inne, standen und wurden langsam in Hände genommen. Die Gesichter der Anwesenden wandten sich ihm zu. Schüchterner Bartwuchs, Mützen knapp über den Augen, Klamotten, die die kindlichen Formen verbargen. Thorst Schmitt war sich sicher, dass er verlegen lächelte. Eine Frage stellte ihm keiner. Doch unmerklich rückten sie ab von den Beiden, die knutschten, als ob sie die Welt vergessen hätten oder könnten. Thorst Schmitt war sich der Schlussfolgerung ziemlich sicher und ging direkt auf den knutschenden Knaben zu. Turnschuhe Prägung Groß-N. Schwarze Jeans mit weißen Nähten. Gelbes Shirt und Ärmel hoch. Auf der Brust Flecken, ein Loch, Snoop Dog. Das Mädchen war schrecklich genervt. Sie zog den Rotz hoch. Ihr Blick sagte alles. Pony über die Augen. Jäckchen mit Kunstpelzbesatz. Plateaus. Vier Ringe rechter Hand. Und noch mal der Rotz.

»Und?«

»Louis Amtor?«

»Ja.«

»Könnten wir uns ungestört unterhalten. Ich hab ein paar Fragen.«

»Ich habe nix getan und keine Geheimnisse. Kann jeder hören.«

»Auch gut. Wann haben Sie Steven Bärnstorff zuletzt gesehen?«

Schweigen zwischen den hohen Häusern. Der Strichbart spuckte aus und fuhr mit dem Fuß drüber. Schmitt erklärte seine Anwesenheit und bat die Gesellschaft, ihm die Fragen zu beantworten. Hände in den Taschen, konnte er aufs Gespräch nur hoffen. Möglicherweise hätte die Verteilung von Zigaretten geholfen, aber dem Kommissar widerstrebte jegliche Bestechung. Was andres wär’s nicht gewesen: Good will, damit die Kids redeten. Irgendeiner machte dann doch den Anfang und durchbrach die Barriere, das Schweigen, die Distanz zum Polizeibeamten.

Die schwule Sau wohnt nicht mehr hier, kam es aus dem Spalier um den Kriminalkommissar. Ist mit seinen Eltern in was Bessres gezogen, Einfamilienvilla, Garage und Kleingarten vorm Haus. Kam trotzdem immer wieder hierher zu uns Kumpels. Konnt’s eben nicht aushalten im noblen Viertel. Hier spielt das Leben, hier geht die Post ab. Und hierher, als könnte er die Schule und uns nicht vergessen, kommt der Bärnstorff jeden Tag wieder. Hat keinen Job, keine Lehre. Sein Alter ist Lehrer hier um die Ecke: Mathe/Physik. Wer hat denn für diese Theorien was übrig? Aber knallhart der Alte, wenn de nichts drauf hast, keine Chance zu bestehen. Aber so ist er nicht schlecht, unser Steven. Halt nervig manchmal.

Gesehen wann denn? Warum? Gestern? Wir müssen zur Schule. Die meisten jedenfalls. Darfste nicht fehlen. Auch wenn wir den ganzen Tag hier sitzen und winken. Steven gehört zu uns dazu. Ist ja auch Scheiße, raus aus der Schule und rein ins Nix. Geht vielen hier so. Wozu Büffeln? Um so rumzurennen wie du?

»Und Abends?«

»Was Abends?«

»War Steven im Konzert? Wer war denn von Ihnen da?«

Schweigen und Frage: Ist was passiert?

»Mich interessiert, ob er im Konzert war, der Steven?«

Ja, sagte der Junge mit dem Mädchen im Arm. Krass. Auensee gestern. Der Abflug. Absolut. Der mit der Fluppe: The Seeedy Monks – ride again / Singing with quick tongues – girls wine again / Everybody go hype again / You better run or sing again. Der Junge: Das Konzert hat um Stunden später begonnen, Todesfall in der Familie von einem. Rappelvoll. Die Vorband voll Scheiße. Also echt mal. Minderbemittelte Vorzeitkiffer. Voll Ötzi. Zehn vor Zehn gings dann ab. Der mit der Fluppe und einer mit Board: Wenn mal wieder stress is / Legt diese Scheibe auf und dann vergesst es / Ladies dancen dirty sogar gangster shaken asses / Weil’s fett is / Viele fragen nicht nach der genesis der freshness / Die fresher als der ranzige rest is. Der Junge: Drei Weiber im Chor. Voll der Rhythmus in Beinen und Stimme. Der Kommissar: Offensichtlich sind Sie gestern auch im Konzert gewesen? Schmitt widerstrebte die offizielle Anredeform, aber die Kids akzeptierten. Von uns? Drei von ihnen: Nee! Krass.

»Und Steven Bärnstorff?«

War dabei. Und dann weg. Musste vielleicht bei seinen Alten vortanzen vor elfe. Da ging’s erst richtig ab mit den Monks. Time’s running quick, quick! / In your pocket, kid, the fuse catch fire / The bomb is going tick, tick / Young boy get older, don’t look over your shoulder / Look out forward, find a girl to hold ya. Zuckste den ganzen Heimweg. Aber der Steven war schon fort irgendwie. Musste ja eh in ’ne völlig andere Richtung. Mit uns hätte er nicht heimspazieren können.

»Ist was passiert?«

»Ihnen ist nichts aufgefallen?«

Was denn? Vielleicht liegt er noch besoffen oder bekifft im Abort. Sind doch alle hier keine Kindergärtnerinnen. Zigarettenqualm erreichte Thorst Schmitts Gesicht. Er atmete ein und machte keine Geste der Abwehr, er hatte weitere Fragen.

»Mädchen?«

Da müssen sie lachen, die Boys und das Girl. Der Steven, der hatte kaum Haare am Sack. Und die haben sie ihm auch noch rasiert. Da war der Zarte schon so zu, dass der gar nix mehr merkte. Rauf auf den Tisch. Hosen runter. Wie zur OP. Die Sandy, dabei stand das Girl von der Bank auf und verbeugte sich wie zum Applaus im großen Theater, die Sandy und die Jeniffer haben im Wettkampf ihm die Haare entfernt. Linke Seite, rechte Seite, Schniedel hoch. Sorgfältig ums Ei, bluten sollt’s nicht. Ratzekahl war der Steven und hat nicht mal was gemerkt. Und nichts zu gesagt. War ihm wohl peinlich. Stolz, dass ihm endlich Gestrüpp um den Sack wächst, und dann ist’s mit einem Mal weg und wieder glatt wie’n Kinderpopo. Nix drüber hat der Steven gesagt, hat sich’s vielleicht denken können, wie’s war. Aber er hat über alle Peinlichkeit immer geschwiegen.

»Keinen Blutstropfen hat er bei mir vergossen. Die Jeniffer hat ihm drei Schnitte gesetzt. War klar, wer gewonnen hatte. War schon ein Spaß.«

»Echt geil.«

»Und ’ne Freundin, hatte er die?«

»Mich nicht und die Jeniffer auch nicht. Hatte Steven überhaupt schon mal eine?«

»Könnte ich mich nicht dran erinnern.«

»Bea vielleicht, die ist auf ihn geil.«

»Bea?«

»Beatrix Kant, Klasse 10 b oder so. War gestern auch da, mit anderen Kirschen.«

»Nicht mit euch?«

»Nee. Aber gesehen, die standen, als ob die Musik sie nix anging. Warum die dann da waren …«

»Und was ist er so für’n Typ, der Steven?«

Einer wie alle. Was woll’n Sie denn hören? Gut drauf ist er. Manchmal echt kindisch. Öfter geht der uns auf den Nerv. Aber ansonsten … Hängengeblieben ist der Steven mal in der Achten. Sie hätten mal seinen Vater … Hat er sich am Riemen gerissen. Und immer dabei, und immer einen drauf. Aber Freundin, nee, nee, der hat doch noch nie gefickt. Auch nicht die Bea, die hätt’s doch erzählt. Hat se nicht. Hat se doch, hat se gesagt. Der Steven die Bea gefickt? Mit nacktem Schwanz? Also, ich hätte den nicht.

Dann wie auf Kommando schwieg die Gesellschaft, wurde sich vielleicht ihrer lockeren Reden bewusst. Die Kids dachten, zu viel gesagt. Scheiße. Auch noch den Bullen. Thorst Schmitt wusste genau, was sie fragen würden. Seine Antwort kannte er nicht. Alle Augen blickten auf ihn.

»Was ist mit Steven? Was hat er ausgefressen? Geklaut?«

»Nein.«

»Aber was getan haben muss er doch, wenn Sie ihn suchen?«

»Oder ist er weg von Zuhause?«

»Sein Alter ist echt schon ein Krampf.«

»Ich könnte mit dem nicht.«

»Was is’n mit Steven?«

»Steven ist tot.«

Versteinerte Gesichter. Keine Bewegung. Stille. Eine Mutter, die ihr Kind nach oben rief. Der Junge entzündete sich eine nächste Zigarette und bot weitere an. Schmitt lehnte ab. Die Freunde griffen zu und inhalierten und wichen einander im Blick aus. Der Kommissar bat Louis Amtor, sein Girl und den rauchenden Knaben aufs Revier zwecks Protokoll und verteilte seine Visitenkarte.

»Steht auch meine Privatnummer drauf.«

Alle von Bank und der Halfpipe hatten mit einem Mal keine Lust mehr. Zu nix, gar nix hatten sie Lust. Einer von ihnen fand seine Sprache.

»Wie, tot?«

»Umgebracht haben sie Steven.«

»Aber im Konzert war er doch …«

»Umgebracht?«

»Es war Mord. Erstochen.«

Die Häuser standen vorbildlich, exakt, Aufgang an Aufgang. Die Kids, die offenen Mundes dem Kommissar nachblickten. Der ging zum Auto auf dem hinteren Parkplatz.

»Und denken Sie an das Protokoll. Eine leidige Pflicht. Aber ohne geht’s nicht.«