Falsche Ideale - Henner Kotte - E-Book

Falsche Ideale E-Book

Henner Kotte

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Beschreibung

Jung, verzweifelt, skrupellos Plauen, Osterwoche 1956. Mittwoch, der 28. März: Mit dem Abend zieht ins Haus der Familie Rehdanz das Grauen ein. Über der Idylle liegt fortan tiefer Schatten, Schrecken und Erschütterung. Eine Tragödie hatte sich ereignet. Wie konnte es geschehen, dass die junge Lissy Rehdanz zur Kindsmörderin wurde? Limbach-Oberfrohna, 19. März 1965: In dem neunzehnjährigen Gisbert Küttner bildet sich aus einer verfahrenen Lage heraus ein innerer Unwille, ein Ingrimm, etwas Drückendes und zugleich Aggressives, das ihn beschwert und von dem er sich befreien will: Entweder besaufen oder auf einen anderen Menschen einschlagen, sagt er sich – mit fatalen Folgen … Fünf wahre Verbrechen, verübt von jungen Menschen in der DDR, präsentiert Henner Kotte. Virtuos rekonstruiert der Autor aus Vernehmungsprotokollen, Tatortberichten und Gerichtsurteilen den Tathergang und die Ermittlungen und geht der Frage nach: Was treibt junge Menschen in die Kriminalität?

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Henner Kotte

Falsche Ideale

Fünf wahre Verbrechen

Bild und Heimat

Die Heftchen des Handelns

Eine Betrachtung zu Jugendkriminalität als Thema der Kriminalliteratur im realen Sozialismus

Wir lieben der Heimat Wälder, die Berge, Ströme und Felder.

Dass rings unser Land erblühe, soll all unser Sorgen sein.

Bau auf, bau auf!

Bau auf, bau auf!

Freie Deutsche Jugend, bau auf!

Auf, Sozialisten, schließt die Reihen!

Die Trommel ruft, die Banner weh’n.

Kein Zweifel: Die DDR hatte Ideale und dazu passende politische Lieder. Dass der gesellschaftliche Fortschritt in ihrem Verständnis möglich war, dass die sozialistische Zukunft gesichert blieb, dafür musste vor allem die junge Generation gewonnen werden, dafür versuchte die Bildungspolitik, Interesse und Engagement zu wecken. So erklärte das Oberhaupt der Staatspartei, Genosse Erich Honecker, immer wieder, auch im Juni 1971 auf dem VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands: »Eines der edelsten Ziele und eine der größten Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft ist die allseitig entwickelte Persönlichkeit. Dabei handelt es sich nicht um ein Ziel, das erst in ferner Zukunft erreicht wird. Wenn wir hier von ›Persönlichkeit‹ sprechen, meinen wir eine besonders charakteristische geistige und moralische Ausprägung des menschlichen Individuums. Von diesem sagt Marx im allgemeinen, daß ›der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt‹. Sozialistische Persönlichkeiten entwickeln sich in ihren Arbeitskollektiven, im Ringen um höchste Ergebnisse im sozialistischen Wettbewerb, beim Lernen, im Sport und bei der Aneignung der Schätze der Kultur, bei der Teilnahme an der Leitung und Planung unserer Gesellschaft auf allen Gebieten. Nachhaltigen Einfluß übt die ideologische Arbeit auf die Entwicklung der Menschen aus.«

Und der Parteichef setzte fort: »Sozialistisches Staatsbewußtsein und internationalistische Gesinnung sind seit dem VII. Parteitag in unserem Volke weiter gewachsen. Auch künftig werden sich die neuen Charakterzüge im Widerstreit mit alten Gewohnheiten und Verhaltensweisen formen. Die Schule muß der jungen Generation in einem wissenschaftlichen und parteilichen Unterricht hohe Allgemeinbildung vermitteln und eine hohe Wirksamkeit der sozialistischen Erziehung erreichen. Sie soll die Jugend auf das Leben und die Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft vorbereiten und ihrer Verantwortung für die Vorbereitung eines hochqualifizierten (Facharbeiter-)Nachwuchses noch besser gerecht werden. Dabei kommt dem polytechnischen Unterricht, der Verbindung von Unterricht und produktiver Arbeit, große Bedeutung zu. Unsere Schule wird auch weiterhin als allgemeinbildende polytechnische Oberschule entwickelt werden. Auf der Grundlage soliden Wissens und Könnens gilt es, alle schöpferischen Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, der Jugend hohe sittlich-moralische und ästhetisch-kulturelle Werte zu vermitteln und sie im Geiste der sozialistischen Weltanschauung zu erziehen. Zusammen mit den Eltern, der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation, gestützt auf alle gesellschaftlichen Kräfte, erzieht unsere Oberschule die jungen Menschen zu bewußten sozialistischen Staatsbürgern mit hohen Kenntnissen, die den Ideen des Sozialismus treu ergeben sind, die fühlen und handeln als Patrioten und Internationalisten, sich durch eine sozialistische Arbeitseinstellung auszeichnen und aktiv an der Gestaltung des sozialistischen Lebens mitwirken.«

Die erste Frau im Staate, Volksbildungsministerin Margot Honecker, sekundierte ihrem Parteivorsitzenden und Ehemann und führte zu den »Gegenwartsaufgaben unserer Schule« aus: »Wenn wir also davon sprechen, daß die Hauptaufgabe unserer Politik darin besteht, das materielle und kulturelle Lebensniveau des werktätigen Volkes weiter zu erhöhen, so geht es letztendlich darum, im Sinne der Ideale der Arbeiterklasse, des humanistischen Wesens unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung die materiellen und geistigen Bedingungen für die allseitige Entwicklung des Menschen, für den weiteren Fortschritt unserer ganzen sozialistischen Gesellschaft zu schaffen. Stets hat sich unsere Partei in ihrer praktischen Politik davon leiten lassen, daß der Sozialismus zugleich mit der sozialistischen Befreiung auch die geistige Befreiung des Menschen, die Entfaltung aller seiner schöpferischen Kräfte, die allseitige Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten zum Ziele hat.

Die allseitige Entwicklung des Menschen ist Ziel und Inhalt unserer marxistischen-leninistischen Pädagogik. Es ist die Gegenwartsaufgabe unserer Schule, die Grundlagen für die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit zu schaffen, die Jugend im Geiste unserer sozialistischen Weltanschauung zu erziehen, Menschen mit einer hohen wissenschaftlichen Bildung und einem entwickelten sozialistischen Bewußtsein, mit einer ausgeprägten sozialistischen Moral, mit hohen geistig-kulturellen Ansprüchen, mit einem tiefen Sinn für alles Gute und Schöne. Wir sind uns darüber im klaren, daß das alles viel von den Lehrern, von den Pädagogen verlangt.«

Doch wie so oft stand auch hier die politische Propaganda im Widerspruch zu der von den Staatsbürgern erlebten Wirklichkeit. So sah denn auch Gerichtsreporter Rudolf Hirsch, dass »sich in unserer Gesellschaft junge Menschen zu schädlichen Dingen verleiten lassen haben. Junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren machten sich strafbar und haben gegen die Gesetze der DDR verstoßen. Nun ist Jugendkriminalität in allen Ländern eine ernste Sache, und viele Soziologen, Kriminologen, Juristen und Ärzte haben interessante Untersuchungen angestellt und gelehrte Bücher darüber geschrieben. Es gibt Statistiken in vielen Ländern über die Häufigkeit aller Straftaten, über Alter und Geschlecht, über den Zusammenhang zwischen Intelligenzquotienten und Verbrechen. Aus all diesen Büchern habe ich gelernt: Es gibt keine exakten Parameter, die die Ursachen der Jugendkriminalität festlegen, das heißt, wenn diese oder jene Bedingungen zusammenfallen, dann muß ein Jugendlicher kriminell werden. Es gibt begünstigende Umstände für Jugendkriminalität. Darin sind sich viele, eigentlich alle Forscher einig. Das ist die hemmungslose Gier nach Geld und Besitz. Eine Gesellschaftsordnung, in der der Wert eines Menschen danach geschätzt wird, wieviel Geld er hat, wieviel er verdient und welche Reichtümer er sein eigen nennt, eine solche Gesellschaft ist ein Treibhausklima für Diebstahl, Betrug, Kidnapping und Erpressung.« Und der parteiische Gerichtsberichterstatter meint »damit die kapitalistische Denk- und Lebensweise und die Wertebegriffe, die ihr eigen sind. Natürlich weiß ich auch, daß nicht alle Jugendlichen, die in kapitalistischer Gesellschaftsordnung aufwachsen, kriminell werden, so einfach ist das nicht.«

In der Tat: So einfach ließen sich die Begründungen für die DDR-Jugendkriminalität nicht fassen. Trotz hehrer Ziele, trotz aller sozialistischen Bildung, trotz gesellschaftlicher Maßnahmen und Sanktionen aufgrund gesellschaftsschädigenden Verhaltens, trotz drohendem Gerichtsprozess, Bestrafung und jahrelanger Haft – die junge Generation wurde auch in der DDR straffällig. Kriminalromane und -erzählungen, Filme des »Polizeiruf 110« und Fernsehfolgen von »Der Staatsanwalt hat das Wort« widmeten sich erstaunlich oft und schon sehr früh der Spezies »Jugendkriminalität«.

Zunächst suchte man, ideologisch gewollt und gefördert, die Ursachen und die Schuld für Straftaten junger Menschen nicht im eigenen bildungspolitischen Versagen, sondern schob Vorbild und Handlungsinitiative ganz einfach auf die Erziehung im Nazistaat und auf den Klassenfeind im Westen mit seinen falschen Idealen. Mehr noch als die bundesdeutschen Medien galt die Flut der Heftromane als moralisch verwerflich, gar als inhuman, vor allem aber, glaubte man, hinterließ sie Spuren in den jungen Köpfen.

Als markantes und oft zitiertes negatives Beispiel jugendlicher Gewalt galt den Medien Ost der Fall des Werner Gladow: Ein junger Mann von siebzehn Jahren sah sich als »Al Capone von Berlin« und scharte 1949 knapp hundert Mannen um sich. Die raubten, stahlen und schossen. Sie benahmen sich ganz wie die Helden der unzähligen Groschenhefte, die aus den Westzonen in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) hinüberschwappten. Das ging nicht gut, und Gladows »Kartell der Weißen Krawatten« warf man im Sensationsprozess zwei ausgeführte Morde vor, außerdem fünfzehn Mordversuche, massenweise bewaffnete Überfälle, Straßenraub, Diebstahl und einundzwanzig Entwaffnungen von DDR-Beamten. Das bittere Ende: »Am Morgen des 11. November 1950 schnallten die Beamten den Gangsterboss in Frankfurt an der Oder auf ein bewegliches Holzbrett. Sie schoben das Brett nach vorne, bis Gladows Genick unter der mächtigen Klinge lag. Um 6.05 Uhr fiel das Beil.«

Schnell kamen »die wahren Kriminalberichte« über die Bande und ihre Untaten in den sozialistischen Post- und Zeitungsvertrieb. So schrieb am 11. November 1950 der Nacht-Express: »Die Vollstreckung dieses Todesurteils mag für jene Elemente eine Warnung sein, die aus Berlin ein Chikago machen wollen und ihre aus amerikanischer Schundliteratur erlernten Gangstermanieren gegen die Bevölkerung und die Volkspolizei in Anwendung zu bringen gedenken.« In der Folge hat der Fall auch Literatur geschrieben – ­Erich Loest: Die Westmark fällt weiter (1952), Thomas Brasch: Engel aus Eisen (1981), Klaus Schlesinger: Die Sache mit Randow (1996), Wolfgang Mittmann: Gladow-Bande. Die Revolverhelden von Berlin (2003). Bis heute also »wuchert der Mythos der Gladow-Bande unverdrossen weiter«.

Ein Mann geht die Straße entlang. Er ist jung, die Straße dehnt sich lang, naß und dunkel. Der Mann kommt aus dem Kino. Obwohl er zu allem anderen mehr Lust verspürt als jetzt nach Hause zu gehen … »Kokain.« Ein sympathischer amerikanischer Kriminalpolizist, ein Gangster, der sich unwahrscheinlich bessert. Zusammenprall zwischen Auto und startendem Flugzeug. Schüsse, Kinnhaken, drei Tote. Das Gute siegt. Nicht ganz motiviert, aber darauf kommt es dem jungen Mann nicht an, wie es ihm auch nichts bedeutet, daß das Gute die Oberhand gewinnt. Wichtiger ist ihm der Sarg, in dem das Kokain über die Grenze geschmuggelt wird, wichtig die Methode, mit der die Gangster einen neuen Mann »prüfen«, ob er nicht von der Polizei ist; sie schlagen ihn nämlich einfach zusammen. Begeisternder der harte, schlaksige Ton, in dem die Männer sprechen. »Der Sarg scheint für einen Größeren bestimmt zu sein. Für einen in Ihrer Größe etwa.«

Nach den Akten der amerikanischen Kriminalpolizei, verhieß der Vorspann zu diesem Film. – Wird nicht ganz genau so gewesen sein, denkt der junge Mann. Aber gut gemacht, verteufelt spannend gemacht. Er denkt im Ton, in dem die Gangster und Polizisten im Film sprechen. Aber er ist sich dessen nicht ganz bewußt. Er bleibt manchmal stehen und blickt sich um, ob nicht irgendwo etwas geschieht. Aber es geschieht nichts auf dieser Straße …

Erich Loest: Die Westmark fällt weiter

Und diese sozialistische Propaganda zeigte spürbar Wirkung, auch bei den ideologisch fehlgeleiteten Tätern. Ob angeraten oder ehrlich, oft sahen die angeklagten Jugendlichen die Inspiration für ihre Taten in bundesdeutschen Kriminalromanen und -filmen. Vielleicht hofften sie, auf diese Weise Strafmilderung zu erhalten, und sprachen aus, was Staatsanwälte und Richter gern hören wollten: »In dieser Zeit befand ich mich in einer schlechten Umgebung, das heißt, daß die männlichen Bekannten bzw. Freunde mehr oder weniger kriminell veranlagt waren. Dazu kam, daß ich Schundliteratur, wie z. B. John Kling, Bill Jenkins, Tom Prox, las. Auch sah ich mir amerikanische Filme an. In diesen Filmen wie auch Büchern wurden Personen erschossen oder erschlagen«, begründete der Angeklagte Pit Jänisch im Mordprozess, Dresden, 1955, seinen brutalen Raubmord. Er wollte mit seiner Freundin Nonka Honnert und dem geklauten Geld in den Westen und dort ein flottes Leben führen. Alsbald waren seine Finanzen erschöpft, und er kehrte reuig zurück, ganz so, dass er die sozialistische Propaganda für sich nutzen konnte. Die Verhandlung »gegen den Raubmörder und seine Komplicin Honnert öffnete einen erschreckenden Abgrund menschlicher Schlechtigkeit. Unwillkürlich erhebt sich dabei die Frage: Wie können zwei so junge Menschen schon derart abgebrüht und skrupellos handeln? Pit Jänisch unterlag den gefährlichen Einflüssen von Geschäftemachern, die aus der Vergiftung der Jugend Kapital schlagen. ›Jene Verfasser der Schundschwarten und jene Regisseure der Gangsterfilme, die unsichtbar hinter dieser Anklagebank stehen, sind die Schuldigen‹, erklärte der Staatsanwalt in seinem Plädoyer und beantragte für Jänisch wegen des vollendeten Mordes lebenslängliches Zuchthaus; für Honnert eine Gesamtstrafe von vier Jahren und drei Monaten Gefängnis.«

Der Inbegriff solcher »Schundschwarten« betrat 1954 mit dem Groschenroman Ich suchte den Gangster-Chef die öffentliche Bühne und hat sie bislang nicht verlassen: »G-man Jerry Cotton«. Die Verfasser blieben ungenannt, denn »es sollte der Eindruck großer Authentizität entstehen. Das gelang aufs Prächtigste.« Bereits die Titel verwiesen auf den zu erwartenden Inhalt: Ich und die Bande der Halbstarken (1957), Wir brachen den Terror (1958), Ich und die Zeitungshyänen (1959), Ein Grabstein ist kein Kugelfang (1962) und so weiter und so fort.

Der Revolver brüllte auf. Ich ließ mich fallen, spürte den Gluthauch der dicht über mich hinwegfauchenden Kugel. Noch im Sturz schoß ich zurück – ich hatte keine Wahl, wenn ich nicht riskieren wollte, daß er mit der nächsten Kugel das Mädchen, Phil oder mich erwischte. Ein Schlag schien seine Schulter zu treffen, die mannstoppende Wirkung des 38er Geschosses warf ihn zurück. Hart krachte er mit dem Rücken gegen den Türrahmen, sein schmales Gesicht verzerrte sich, aber er hielt seine Waffe immer noch in der Rechten. Blitzschnell ließ ich mich ein Stück in die Knie sacken, ging in die Combat-Stellung. Seine Linke umfaßte das rechte Handgelenk, der Lauf des Revolvers zitterte nicht. Ich wollte ihn nicht töten, aber ich mußte mich wehren, und er hielt den Revolver mit ausgestrecktem Arm genau in die Höhe seines Gesichts. Ich war um den Bruchteil einer Sekunde schneller.

Jerry Cotton: Der lautlose Tod

Hans Pfeiffer, Kriminalschriftsteller, resümierte im Jahr 1960: »Jede kapitalistische Illustrierte hat ihren Kriminal-Fortsetzungsroman, ihre handfeste Detektivstory, die alle Formen von der Reportage bis zur utopischen Konstruktion umfaßt. Die Konkurrenz zwingt die Verleger, die Sensationen immer hektischer zu steigern, um die abstumpfende Empfindung der Leser neu zu erregen. Sensationsgier führt zu Übertreibungen, die Übertreibung zur Lüge, und das Geschäft mit der Lüge macht sich bezahlt. Und außerdem hat dieses Geschäft noch eine erfreuliche Folge: Empfindung, Gefühl, Denken der Leser werden in ständiges Fieber versetzt, in glühende Rotation, die das reale Leben abfiltert und nur noch seine Krankheitsprodukte, seine Krebsgeschwüre und Eiterherde ins Bewußtsein dringen läßt. Urteilsvermögen und politische Klarsicht gehen zugrunde, die Wirklichkeit zersetzt sich in die höllische Scheinwelt sensationeller Balkenüberschriften.

Die sozialistische Presse, die dazu beiträgt, den Staatsbürger zu sozialistischem Bewußtsein, zur Einsicht in die Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens und der Weltpolitik zu erziehen, kennt keine billige Sensation. Ihre Sensation ist die Wahrheit, und die Wahrheit bedarf keines künstlich aufgeputzten Gewandes.

Kriminalistische Themen hatten im ersten Jahrzehnt unseres Aufbaus keinen Eingang in die Zeitungen und Zeitschriften gefunden. Erst in den letzten Jahren haben sich Kriminalreportagen und -erzählungen ihren Platz erobert. Das ist richtig. Denn dadurch wird der Leser, der eine spannende und gleichzeitig realistische Kriminalliteratur wünscht, befriedigt und der westlichen Schundliteratur ein Damm entgegengesetzt. Mit Verordnungen und administrativen Maßnahmen allein ist die Schundliteratur nicht zu bekämpfen. Solange es keine spannende Unterhaltungsliteratur gibt, die nicht gleich die Anforderungen eines umfangreichen, künstlerisch wertvollen Romans stellt, sondern in der Form von Heftchen, Broschüren, Novellensammlungen eine Stunde Bahnfahrt, eine halbe Stunde Wartesaal ausfüllen soll, solange werden wir kein wirksames Mittel zur Bekämpfung der westlichen Schundliteratur besitzen. Mancher Schriftsteller hält es heute noch für würdelos, eine Kriminalgeschichte zu schreiben, ereifert sich aber gleichzeitig über den schlimmen Einfluß westlicher Schundliteratur. Wo ist der beliebte, als Meister bewährte und anerkannte sozialistische Schriftsteller, der diesem Bedürfnis nach spannender Kriminalliteratur Rechnung trägt und endlich einen Kriminalroman schreibt, der das Niveau besitzt, das Schillers, Stevensons, Dostojewskis Geschichten für ihre Zeit hatten?« (Aus: Hans Pfeiffer: Die Mumie im Glassarg. Rudolstadt 1960.)

Den »großen sozialistischen Kriminalschriftsteller« hat es nie gegeben. Aber Benno Pludras Kinder-Kultbuch Sheriff Teddy widmete sich bereits 1955 dem Kampf der Ideologien und den Groschenheften. Kalle »griff in sein Hemd, einmal, zweimal, dreimal, viermal, und nach jedem Mal warf er ein Heft auf den Tisch, übertrieben nachlässig und mit der Pose eines Mannes, der den Teufel nicht fürchtet, geschweige denn seinen Lehrer«. Heiner Carow verfilmte 1957 die Anpassungsprobleme des dreizehnjährigen Kalle, der die Grenze der Systeme von West nach Ost wechseln muss und damit seine Schwierigkeiten hat, wie manch Erwachsener, der hier lebte, auch. Die erste Garde ostdeutscher Schauspieler wirkte mit: Günther Simon, Helga Göring, Fred Düren, Elsa Grube-Deister. Die Kritik bemerkte lobend, dass der Film »unverfälscht und menschlich wahr« sei und den »Geist unserer Jugend« einfange.

Auch die 1958 ins Leben gerufene Reihe kurzer Kriminal­erzählungen »Blaulicht« stellte sich bereits mit ihren ersten Heftchen diesem Thema. Heft Nr. 11 (1961) mit dem Titel Die Clique, verfasst von Siegfried Dietrich, erzählt folgende Geschichte: Den kurz vor seiner Facharbeiterprüfung stehenden Klaus Wengler treibt die Liebe zur feschen Brigitte und in ihre Clique. Die Mannen um Eddy provozieren Streit und klauen. Sie leben offensichtlich nach dem Ideal westlicher Schundromane. Von seinem Anteil an der Beute kauft sich Klaus mit schlechtem Gewissen eine rote Lederweste. Als die Polizei ihnen auf den Fersen ist, setzt sich Eddy als politischer Flüchtling nach Westberlin ab. Das ist für Klaus keine Alternative. Er stellt sich freiwillig. Brigitte zweifelt noch: »Du glaubst, daß wir hinterher so leben können wie alle anderen auch? Keiner wird uns fühlen lassen, daß wir einmal abgerutscht sind?«

Klaus versichert: »Keiner.«

Doch ganz so einfach, wie es sich das Pärchen vorstellt, wird ihre Resozialisierung nicht sein, weiß jeder Leser.

In Heft Nr. 14 (1961) rückt Autor Winfried Branoner unter dem Titel Die rote Lederjacke Schmuggelei in den Mittelpunkt des Geschehens: Werner Jordan ist Kohletrimmer in Ostberlin, und eine rote Lederjacke hat es ihm angetan. Der westliche Ladeninhaber Bernhard Simon überlässt sie ihm, wenn Werner ihm behilflich ist. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Der Händler verkauft Porzellan und Gerät aus der DDR, das Werner für ihn über die Sektorengrenze schmuggeln soll. Das geht schief, und der Volkpolizist meint am Ende der Geschichte: »Ich denke, Sie werden aus dem Geschehen eine Lehre für die Zukunft gezogen haben, junger Freund.« Werner bejaht dies.

Bruno Stubert ermittelte im Fall der Gladow-Bande, danach schrieb der Polizist Kriminalromane, in denen seine Erfahrungen deutliche Spuren hinterlassen haben. Mit Kollegin Käthe Muskewitz verfasste er den Roman Zwielicht (1955): »Eine kleine Berliner Laubenkolonie mit ihren Bewohnern steht im Mittelpunkt des Romans. Bulle, Atze und eine Anzahl anderer Jugendlicher stiften Unruhe und Aufregung, frei von allen Hemmungen versuchen sie, sich das Leben angenehm zu machen, und werden zu Verbrechern.«

Hast du »San Antonio« [»Ein Mann der Tat«, USA, 1945] schon gesehen? Den mußt du sehen! Der ist fast so gut wie »Der große Bluff« [USA, 1939]! Nur Marlene fehlt – leider. Aber sonst – alles dran, kann ich dir sagen. Wie die Postkutsche da so über die Prärie prescht und dann von den maskierten Banditen umzingelt wird – fabelhaft! Das war noch ein Leben, Junge, Junge! Auf Mut kam’s da an, nur richtige Männer hatten damals Chancen … Das wäre was für mich gewesen – sich wie James Stuart mit dem Colt Respekt zu verschaffen, daß die fetten Beamten alle das Zittern kriegen … ja, das wär’ was!

Käthe Muskewitz/Bruno Stubert: Zwielicht

Staatsanwalt Dr. Peter Przybylski kommentierte in der Sendereihe »Der Staatsanwalt hat das Wort« zu der im Film Der Anruf kam zu spät (1972) verhandelten Tat des 17-jährigen Peter Hausmann, der den Vater seiner Freundin bestohlen hatte: »Haste was, dann biste was. Lebensauffassungen dieser Art gehören zu den Trümpfen einer uns feindlich gesonnenen Ideologie. Jeden Tag versucht der Klassengegner, sie zu uns hereinzutragen, offen und unzweideutig, verdeckt und unterschwellig. Die meisten Eltern distanzieren sich davon, entsprechen der im Familiengesetzbuch verankerten Pflicht, ihre Kinder zu wirklich tüchtigen und lebensfrohen Menschen zu erziehen. Zu aktiven Gestaltern der sozialistischen Gesellschaft. Eine Zeitung des Springer-Konzerns behauptete kürzlich, mit dem wachsenden Wohlstand steige auch die Jugendkriminalität in der DDR. Wie so oft ist auch hier der Wunsch der Vater des Gedankens. In Wirklichkeit stagnieren die Ziffern jugendlicher Straftäter seit einigen Jahren. Wir bewerten dies mit dem Ernst, der dem Problem angemessen ist. Zugleich registrieren wir aber mit Genugtuung, daß wir den Teufelskreis des Kriminalitätsgeschehens der kapitalistischen Gesellschaft durchbrechen konnten. Jenen Teufelskreis, in dem aus den kriminellen Kindern von heute die jugendlichen Straftäter von morgen und aus diesen die Berufsverbrecher von übermorgen hervorgehen. Daß Kinder und Jugendliche ihre Eltern oder Geschwister umbringen, minderjährige Banditen wehrlose Frauen mit Rasierklingen foltern oder andere Abscheulichkeiten verüben, ist in Ländern wie den USA oder der BRD an der Tagesordnung. Die Kripo von Nordrhein-Westfalen, dem größten Land der BRD, errechnete beispielsweise, daß dort zehn- bis vierzehnjährige Kinder fast genauso oft straffällig werden wie fünfunddreißig- bis vierzigjährige Männer. Wesen und Phänomen von Straftaten Jugendlicher in der DDR sind mit denen kapitalistischer Staaten schon nicht mehr vergleichbar. Bei uns begehen ein Drittel aller jugendlichen Täter Delikte, die eine Strafverfolgung entbehrlich machen. Der heutige Fall, meine Damen und Herren, sollte den Blick dafür schärfen helfen, warum und wodurch es in der sozialistischen Gesellschaft noch immer zum Fehlverhalten junger Menschen kommen kann.«

Autor Hasso Mager machte sich in seinem Essay Krimi und crimen. Zur Moral der Unmoral (1969) Gedanken und hielt »die Entwicklung des Krimis zum sozialistischen Romanwerk für nicht möglich, seine Parodie dagegen für erforderlich«. Magers abschätzige Behauptung fußte auf der Theorie, dass der Marxismus den Menschen so erziehe, dass er keine Straftaten mehr um des eigenen Vorteils willen beginge. Diese sehr kühne Schlussfolgerung konnte niemals bewiesen werden. Wenn sie überhaupt stimmte, lag sie in weiter kommunistischer Ferne und nicht im Leben in der DDR. Und dass der Klassenfeind mit seinen Groschenheften und Gangsterfilmen auf die sozialistische Jugend permanenten und schädlichen Einfluss ausübte, war spätestens seit dem Mauerbau in der DDR kaum möglich. Westliche Produktionen kamen nur spärlich und wenn gefiltert in die Kinos der DDR und in den Deutschen Fernsehfunk. Westliche Kriminal- und Kolportageromane waren im Buchhandel kaum erhältlich. So warf die sozialistische Jugendkriminalität die Theoretiker und Ideologen auf sich selbst zurück, denn die jetzt herangewachsenen Menschen hatten das klassenbewusst ausgerichtete Schulsystem, Staatsbürger- und Heimatkundeunterricht durchlaufen. Somit lagen die Ursachen der stattgehabten Verbrechen in den Defiziten der »entwickelten sozialistischen Gesellschaft« und dem Menschen selbst. Dem trugen die Schriftsteller und Drehbuchautoren Rechnung und malten Personen und Verbrechensumstände weniger schwarzweiß. Vor allem sahen sie Verantwortung auch bei den Mitmenschen und Kollegen.

Beim Film Felix kauft ein Pferd (1976) appellierte Staatsanwalt Peter Przybylski: »Was Felix Karsunke zum Rechtsbruch verführt, ist seine Abneigung gegen Arbeit und sein Drang, auf Kosten anderer zu leben. Der Mann, der von sich behauptet, immer durchzusehen, ist er nicht in Wahrheit mit sozialer Blindheit geschlagen? Denn er versucht, sich aus einer Pflicht herauszumogeln, aus der die sozialistische Gesellschaft niemanden entläßt. Niemanden entlassen kann. Aus der Pflicht, gesellschaftlich nützliche Tätigkeit zu leisten. Sie ist, so sagt es Artikel 24 unserer Verfassung, eine ehrenvolle Pflicht für jeden arbeitsfähigen Bürger. Auch wenn Zeitgenossen vom Schlage eines Karsunke das als Phrase empfinden, es ist ein Stück politökonomischer Gesetzmäßigkeit, denn ein Recht auf Arbeit ohne die Pflicht zur Arbeit kann es nicht geben. Auch für einen Felix Karsunke nicht. Wer wie er Scheu vor Arbeit hat, für den ist die Anklagebank oft nicht mehr weit, denn irgendwie muß auch der Asoziale seinen Lebensunterhalt bestreiten. Geschieht das auf unlautere Weise, wird die Asozialität strafbar. Es ist gut, daß Arbeitskollektive, aber auch andere Bürger gegenüber jenen immer unduldsamer werden, die zwar essen, aber nicht arbeiten wollen. Dort, wo man den Anfängen von Arbeitsbummelei wehrt, wird dem Straucheln des Betreffenden meist vorgebeugt. Im Falle des Felix Karsunke hat es leider viel zu viel Duldsamkeit gegeben. Die erzieherische Kraft der Konfliktkommission blieb ungenutzt, die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises ausgeschaltet. Die Pflicht des Betriebes, den Rat des Kreises über die Anzeichen der kriminellen Gefährdung des Felix Karsunke zu informieren, wurde leider verletzt. Andernfalls hätte die Abteilung Inneres aufgrund der Verordnung über die ›Aufgaben der örtlichen Räte der Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger‹ vom 19. Dezember 1974 die Möglichkeit gehabt, unserem Helden bestimmte Auflagen zu erteilen. Beispielsweise den Umgang mit dem mehrfach vorbestraften Kellner Daniel in der Freizeit zu meiden.«

So folgert der Staatsanwalt, der im DDR-Fernsehen das Wort hatte: »Es gibt auch bei uns, und darüber müssen wir uns klar sein, begünstigende Bedingungen. Nicht nur ungenügende Wachsamkeit und mangelnde Kontrolle. Es gibt auch tieferliegende Ursachen. Nehmen wir zum Beispiel die Tatsache, daß junge Menschen, die nicht die Fähigkeit haben, ihr Leben planmäßig zu gestalten, Schulabgänger der fünften, sechsten und siebenten Klasse mit schwachentwickelten intellektuellen Fähigkeiten, junge Leute, die keine Lehrstelle durchgehalten haben, als ungelernte Arbeiter im Transportwesen oft mehr verdienen als Facharbeiter oder gar als Meister. Sie haben keine sinnvolle Verwendung für das von ihnen verdiente Geld, sie fangen an zu trinken, gerade sie schließen sich an Gruppen an, sie tun sinnlose Dinge, die wir als Rowdytaten betrachten und verurteilen müssen. Durch beispielhafte Schwangerschaftsberatung, durch Vorsorge für Mutter und Kind werden jungen Müttern Wege geebnet, und doch wirft solche Fürsorge neue Probleme in der Jugenderziehung auf. Aber da gibt es auch noch andere begünstigende Ursachen für die Entwicklung von Jugendkriminalität in unserem Staat. Das ist das vielfach vorhandene Streben nach Besitz um jeden Preis. Hier sind es wieder die Eltern, die aus kleinbürgerlichem Prestigedenken oder aus einem Gefühl, das sie für Liebe halten, ihre Sprößlinge mit Geschenken überhäufen. Das schädigt einmal die Kinder selbst, die nie lernen können, was eigene Leistung bedeutet. Es kann auch andere Kinder beeinflussen, in ihnen Begierden wecken, und sie zum Stehlen verleiten.

Noch schlimmer als dieses Prestigedenken ist ein anderes Problem, das auch eine Ursache für das Fehlverhalten Jugendlicher ist. Gute Ernährung, Sport und gesunde Lebensweise tragen dazu bei, daß sich bei Jugendlichen durchschnittlich die Zeit der körperlichen und geschlechtlichen Reife immer mehr in das Kindesalter verlagert; es ist die bekannte Akzeleration. Aber der Verstand wächst nicht immer im gleichen Tempo. Aus dieser Diskrepanz erwächst die Ursache für viele Konflikte, die in einigen Fällen zur Kriminalität werden können, nicht müssen. Hier muß eine starke und konsequente Erziehung ein Gegengewicht schaffen. Sicher leicht zu postulieren, aber schwer zu schaffen.«

Viele der Erzählungen zum Thema zeigen, ob in der Sendereihe »Der Staatsanwalt hat das Wort« oder in der Filmreihe »Polizeiruf 110« oder literarisch umgesetzt, ihren pä­dagogischen Auftrag: Bummel-Benno (1966),