Leipzig mit blutiger Hand - Henner Kotte - E-Book

Leipzig mit blutiger Hand E-Book

Henner Kotte

3,0

Beschreibung

Henner Kotte widmet sich ganz speziellen Fällen aus der Leipziger Kriminalgeschichte - denn 'kopflos' im wahren Sinne des Wortes waren alle Opfer der hier versammelten Verbrechen und Straftaten. Virtuos setzt er aus Vernehmungsprotokollen, Aussagen, Tatortberichten und Presseberichterstattung das Geschehen zusammen und macht so das Handeln der Täter und Ermittler nachvollziehbar.

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Henner Kotte

Leipzig mit blutiger Hand

und fünf weitere Verbrechen

Bild und Heimat

Für die Unterstützung bei der Recherche danke ich Christine Enderlein, Cornelia Kretzschmar, Andreas Debski und Ekkehard Schulreich.

Von Henner Kotte liegen bei Bild und Heimat außerdem vor:

Schüsse im Finsteren Winkel (Blutiger Osten, 2013)

Um Kopf und Kragen. Unbekannte Fälle aus dem Kuriositäten­kabinett der Kriminalstatistik (2014)

Blutige Felsen. Kriminalstories aus der Sächsischen Schweiz (2015)

eISBN 978-3-86789-597-2

1. Auflage

© 2015 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: capa

Umschlagabbildung: Chris Keller / bobsairport

In Kooperation mit der SUPERillu

www.superillu-shop.de

Köpfe rollen

Wir sind die Kegler.

Und wir sind die Kugel.

Aber wir sind auch die Kegel,

die stürzen.

Die Kegelbahn, auf der es donnert,

ist unser Herz.

Wolfgang Borchert

»In einer Reichstadt ward ein Missethäter hingerichtet, der ein leidenschaftlicher Kegelspieler war. Bei Vorlesung des Urtheils wagte er eine Bitte, daß er nemlich auf dem Rabenstein noch etwas Kegelspielen dürfe, dann wolle er gern sterben. Als die letzte Bitte eines Sterbenden wurde ihm dies bewilligt. Er fand Kegel, nebst Kugel schon bereit, als er auf den Richtplatz kam und spielte mit unglaublicher Emsigkeit. Dem Richter war die Sache zu lang, daher befahl er heimlich dem Scharfrichter, ihm, so wie er sich wieder nach der Kugel bücken würde, sogleich den Kopf abzuschlagen. Der Scharf­richter war auch so glücklich, einen günstigen Augenblick zu finden, und der Kopf fiel dem Delinquenten, in dem er sich aufrichten wollte, in die Hände. Er warf seinen Kopf unter die Kegel, indem er in der Betäubung glauben mochte, es sey die Kugel. Alles fiel um, und der Kopf rief noch mit voller Stimme: Hohl mich der Teufel, alle Neun! – Ein abermaliger Beweis, daß der Kopf noch immer empfinden und denken kann, wenn er vom Körper getrennt ist. Wäre ein geschickter Galvaniseur bei der Hand gewesen, was hätte man nicht an diesem Kopfe für Wunderdinge entdecken können!«

Johann Wendt beschwerte sich anno 1803 ob dieser Anekdote in der Breslauer Tagespresse. Der Medizinprofessor mühte sich, als Argument gegen die übliche Todesstrafe des Köpfens mit dem Schwert, die Lebensfähigkeit von abgeschlagenen Häuptern nachzuweisen. Auch gegenwärtig wird solche Tötungsart angewandt wie Videos und Fotoserien in Vielzahl beweisen. Zwar verliert sich der Ursprung der Todesstrafen »in die entferntesten Jahrhunderte; über ihre Rechtmäßigkeit stritt man viel, und kam endlich darinn überein, daß Todesstrafen in moralischer Hinsicht nie zu billigen, aber in politischer Hinsicht als nothwendig zu betrachten wären«. Ob vom Gesetzgeber gebilligt oder privat ausgeführt, seit Jahrtausenden werden durch Kopfabschlagen Menschen getötet. Befürworter solcher Art Vollstreckung wie Joseph-Ignace Guillotin meinen, dass der Getötete wirklich nur »einen Hauch im Nacken« spürt und augenblicklich stirbt. Andere fanden solche Todesart seit je barbarisch.

Wendt sammelte Fakten wider diese Strafvollstreckung und entschloss sich zu einem umstrittenen Experiment. Martin von Troer ward 1803 zum Tode verurteilt worden, hatte er in einem Anfall von wahnsinniger Eifersucht seine Geliebte doch bestialisch abgestochen. Der Tag seiner Hinrichtung brach an.

»In Gesellschaft mehrerer erwartete ich auf dem Richtplatz den Unglücklichen. Den 25ten Febr. um 9 Uhr 14 Minuten des Morgens trat Troer nach angehörtem Todesurteil auf das Schaffot, entkleidete sich hastig, blickte, als er in meiner Hand die Uhr sah, mich staunend, doch gelassen, an. Er hatte mich wenige Tage nach vollführtem Verbrechen gesehen, und schien mich auf dem Schaffot wiederzuerkennen. Um 9 Uhr 17 Minuten geschah der tödliche Streich; der Nachrichter hatte zwischen dem dritten und vierten Wirbelbeine den Kopf vom Rumpfe getrennt; auch nicht die geringste Erschütterung, weder während noch dem Abschlagen, noch während dem Abnehmen fand Statt, sanft wurde das Tuch von den Augen abgenommen, und der Kopf dem Versuchenden übergeben. Unter denen, die mich umgaben, befand sich ein Theil meiner Zuhörer; diesen hatte ich meine Theorie vom Lebensprincip und seiner Fortdauer vorgetragen, ihnen die Möglichkeit dieser Fortdauer durch â priorische Beweise dargethan; jetzt war der Moment hier, um dies durch einen entscheidenden Versuch zu bewähren, was ich so oft durch Vernunft-Schlüße zu beweisen bemüht war. Da ich von dem Grundsatze ausging, ›wenn Irritabilität in der Muskularsubstanz zurück bleibt, warum kann Empfindung im Mark nicht zurückbleiben können?‹ hatte ich einen einfachen galvanischen Bogen (diesen Bogen hatte ich aus einer großen Zink- und einer starken Silberplatte von Hr. Mechanicus Klingert zu diesem Endzwecke verfertigen lassen; um die Wirksamkeit dieser Platten zu vermehren, war jede Platte von einer starken Stange gleichen Metalls armirt. Diese beiden Stangen waren durch ein Charnier verbunden, so daß die Platten sehr leicht einander genähert, oder vonein­ander entfernt werden konnten) mitgenommen, um durch dessen Anwendung die zwar schon bekannte, aber für diesen Fall nothwendig zu beweisende Fortdauer der Irritabilität zu bewähren. Während ich die Zinkplatte an einem der vordern durchschnittenen Muskeln anlegte, berührte ich mit der Silberplatte einige Malen nacheinander den hinteren Theil des Halses; es erfolgten die stärksten Zusammenziehungen der Muskularfasern. Ich gieng, als ich dieses dargestellt hatte, augenblicklich zum Versuch über die Fortdauer der Empfindungen über. Die Wundärzte Hr. Illing und Hr. Hanisch waren so gütig, abwechselnd den Kopf zu halten, und mir auf diese Art den Versuch sehr zu erleichtern. Ich faßte das Antlitz des Hingerichteten scharf ins Auge, und war nicht im Stande, die geringste Verzerrung in demselben zu entdecken; sein Gesicht war ruhig, sein Auge offen und hell, sein Mund geschloßen; sein Zug in seinem Gesichte würde den Zustand haben verrathen können, in den der Kopf dieses Unglücklichen durch die Trennung von seinem Rumpfe gesetzt worden war. Ich reizte mit einem Troikart das durchschnittene Rückenmark, und ich fand dies, was schon Haller in seiner Physiologie angeführt hat. In seinem Gesichte war der Ausdruck des Schmerzens, den kein Raphael lebendiger hätte darstellen können; jeder Muskel in seinem Antlitze zuckte, und seine Lippen verzerrt. Ich ließ nach, und in wenigen Terzen kehrte seine Ruhe wieder. Ich fuhr ihm mit den Spitzen meiner Finger schnell gegen die Augen, und dieser unglückliche Kopf suchte mit den sich schließenden Augendeckeln der Gefahr, die seinen Augen drohte, zuvorzukommen; er schien in seinem Kopfe den nämlichen Trieb der Selbsterhaltung zu fühlen, den auch der froheste Jüngling in der Blüthe seines Lebens nur immer zu fühlen vermag. Hr. Illing hob den Kopf in die Höhe und richtete das Antlitz gegen die auf uns herabscheinende Sonne, und in dem nämlichen Moment schloß der Kopf das Auge, welchen gegen die Sonne gerichtet war. Um zu untersuchen, ob die Thätigkeit im Organe des Gehörs ebenso fortdauere wie sie in dem Sehorgane fortzudauern schien; so rufte ich mit erhabener Stimme zweymal den Namen ›Troer‹ in das Ohr des unglücklichen Kopfes, und war es Ohngefähr, so ist es unstreitig das merkwürdigste; oder war es in Folge der Empfindungen und Vorstellung, so beweist dieser Versuch das meiste: nach jedem Rufe öffnete der Kopf die sich schließenden Augen, drehte sie sanft nach der Seite, woher der Schall kam und öffnete dabey einigemal den Mund; in dem Mechanismus dieses Oeffnens wollten einige das wirkliche Streben zum Sprechen selbst bemerkt haben. Dieser Versuch schien Sömmerings Satze einiges Gewicht zu geben, welcher behauptet: daß ein abgehauener Kopf reden würde, wenn man ihm nur eine künstliche Lunge anpassen könnte. Um das Organ des Geruchs zu erproben, hatte ich eine Flasche mit flüchtigem Laugensalz zu mir gesteckt, um durch schnelles Einblasen in die Nase des getrennten Kopfes die Geruchsorgane zu reizen, und in den Muskelzügen dann die Spuren der Empfindung aufzufinden. Vielleicht hätte man in den Muskeln diejenigen Züge bemerkt, welche während des Niesens bey Menschen sichtbar sind (zum Niesen selbst gehört, wie bekannt, die Thätigkeit der Lunge und des Zwerchfells). Dieses flüchtige Laugensalz hatte ich in dem Gedränge der Zuschauer und durch die Eile des Experiments anzuwenden vergessen, dieser Versuch unterblieb daher. Als ich das Gehör erprobte, bemerkte Hr. Kaufmann Otto, welcher mit der Uhr in der Hand die Fortdauer des Versuchs bestimmte, daß bereits 1 Minute und 30 Secunden verfloßen waren. Ich legte nun wieder den galvanischen Bogen an; die Muskularbewegungen waren zwar minder heftig als das erstemal, aber sie erfolgten ebenso schnell; ich reizte mit dem Troikart etwas höher das getrennte Rückenmark, und die Aeußerungen in dem Antlitze des Hingerichteten waren so auffallend, daß mehrere Umstehende ausriefen: dies ist Leben! und ich, voll Ueberzeugung in die Worte ausbrach: wenn dies nicht Leben und Empfindung ist, was soll Leben und Empfindung seyn? Als ich nämlich das Rückenmark reizte, schloß er krampfhaft das Auge, bis die Zähne zusammen, und zuckend näherten sich die Backenmuskeln dem unterm Augenlide. Ich steckte den Finger in den Mund des Unglücklichen, und die Zähne drückten meinen Finger merklich; mehrere versuchten es, und alle empfanden dies; bey jeder Anwendung des Troikart’s drückte er die Zähne fester aneinander. Als ich aber mit dem Instrumente mich aber durch das Rückenmark dem untern Theile des Gehirns näherte, und in die Gegend kam, wo Gall den Sitz der Lebenskraft bestimmt, drückte er die Zähne so fest aneinander, daß der Wundarzt Hr. Illing seinen Finger, den er kurz vorher hineingesteckt hatte, nicht eher herausziehen konnte, als bis ich den Troikart von dieser Stelle entfernte. Hier waren 2 Minuten und 40 Secunden seit dem Anfange des Versuchs verfloßen; war es nun der Moment, den der Kopf vom Rumpfe getrennt nicht mehr überleben konnte; oder hatte ich durch die Stöhrung in der Form des Gehrins vermittelst des Troikart’s die Möglichkeit zu ferneren Empfindungen aufgehoben, genug, hier schloß der Kopf langsam seine Augen, ins Antlitz kehrte Ruhe wieder, er erblaßte, und keine Spur des Lebens blieb mehr zurück, der Kopf wurde wieder in die Hände des Nachrichters zurückgegeben. Soviel vom Versuche selbst; einige nannten ihn unnöthig, die andern grausam.«

Köpfen – offensichtlich keine humane Art des Sterbens.

Shakespeare meinte: »Was ist der Körper, wenn ihm das Haupt fehlt?« So schlägt man seit Alters her dem Feinde, Verbrechern, missliebigen Personen die Köpfe ab. Von Staats wegen und privat. Der rollende Kopf ist auch gegenwärtig gern genutzte Redewendung und endgültiger Beweis: Dieser Mensch, ist seiner Lebensposition enthoben.

»Kopf und Schädel sind etwas Besonderes. Hier sieht, riecht, hört, schmeckt und spricht der Mensch, hier zeigt er sein Gesicht, hier sitzt sein Geist, hier denkt und träumt er, hier wohnen seine Erinnerungen. Nur hier zeigt er seine Mimik, hier hat er sein Gleichgewicht und seine Persönlichkeit. Wir identifizieren uns mit einem Foto vom Kopf, und auch unsere Erinnerung an einen Verstorbenen ist häufig mit der Rückbesinnung an sein Antlitz verbunden. Aus diesen und vielen anderen gründen ist es nicht verwunderlich, dass in allen Kulturen der Welt die besondere Wertschätzung, Aufbewahrung und Sonderbehandlung von Köpfen und Schädeln eine große Rolle spielte und teilweise noch spielt.

Als Schädel bezeichnet man die Knochen des Kopfes. Anatomisch betrachtet, gibt es zwischen 22 und 30 Knochenteile. Die genaue Anzahl hängt von den kleinsten Bestandteilen ab. Der sogenannte ›Hirnschädel‹ ist die Knochenhülle, die das schützt. Die Grundlage für das Gesicht bildet der sogenannte ›Gesichtsschädel‹, der auch den Ober- und Unterkiefer umfasst. Zum Schädel gehören auch die kleinsten Knochen unseres Skeletts, die drei Gehörknöchelchen. Sie sitzen im Mittelohr und sind für unser Gleichgewicht verantwortlich. Die einzelnen Teile unseres Hirnschädels sind nicht von Geburt an miteinander verwachsen. Dies geschieht erst in den ersten Lebensjahren.«

Der Kopf mit Sitz des Gehirns ist das Eigentliche, das den Menschen ausmacht und vom Tiere unterscheidet. Der Mensch kann kreativ denken, hat den freien Willen, Schuld- und Verantwortungsgefühl. Wird das Denken außer Kraft gesetzt, lebt das Wesen noch. Doch Koma- und Demenzpatienten fallen aus der Gesellschaft, vegetieren an ihrem Rand. Kopflos ist der Mensch im doppelten Sinne tot: körperlich und geistig. Auch aus diesem Grunde galt die Vollstreckung eines Todesurteils durch Enthaupten als todsicher.

Andrerseits ist der vom Körper gelöste Kopf stets ein Zeichen des Triumphs. Mörder posieren auch derzeit gern mit den Häuptern ihrer Opfer. Im Mittelalter steckten sie auf Pfählen um die Burganlage. Fürst Vlad III. Drăculea wurde darob Romanfigur und verbreitet bis heute Schrecken. Nicht nur Indianer sahen es auf Köpfe ab, »Erfolge kann sich besonders der heldenhafte Rothaut-Darsteller Gojko Mitic an den Skalp heften«. Winnetou desgleichen. Schrumpfköpfe fertigte man nicht nur in den Urwäldern des Amazonas. Thomas Mugridge war erst Freund Wolf Larsons, später stand sein Haupt im Schrank des Seewolfs (1904). The winner takes it all: »Die meist faustgroßen Trophäen wurden aus der Haut eines abgetrennten Kopfes angefertigt. Zunächst wurde die Kopfhaut unterhalb des Halswirbelansatzes aufgeschnitten und vorsichtig von Knochen und Muskelgewebe abgelöst. Die Augenlider und der Nackenschnitt wurden von innen vernäht. Der Mund wurde vernäht oder mit Nadeln verschlossen. Das Innere der Kopfhaut wurde anschließend mit etwas Sand gefüllt und in einem Topf mit frischem Flusswasser und Kräuterzusätzen gehängt und vorsichtig erhitzt, bis eine erste Schrumpfung des Hautsackes einsetzte. Das Wasser durfte dabei nicht kochen, da sich sonst die Kopfhaare aus der Haut lösten. Anschließend wurden Nasen- und Ohrenöffnungen provisorisch verschlossen. Die Mumifizierung und Schrumpfung auf die endgültige Größe erfolgte durch im Feuer erhitzten feinen Sand, der so oft in den Hautsack gefüllt und darin geschwenkt wurde, bis der Kopf schließlich die gewünschte Größe erreichte. Die endgültige Schrumpfung erfolgt durch den Wasserentzug bei der abschließenden Trocknung.« Die geschrumpften Häupter trug die kämpfende Truppe als Talisman um den Hals. Andren Völkern sagt man Kannibalismus nach, sie verspeisten den Feind, um dessen Kraft zu erlangen. Demütigung und Triumph sind die Stiefel auf den Köpfen nicht nur der Gladiatoren, auch auf denen der Gefangenen in Abu Graib und Burbach.

Köpfe rollten und rollen weltweit immer weiter. Erst kürzlich suchte die FDP neue Häupter für Vorsitz, Stellvertreter, Leitungsgremien. Bei anderen Parteien und DAX-notierten Unternehmen, bei Verwaltung, Verein und Bundestag, Köpfe rollen und rollen und rollen. Kein Ende ist abzusehen.

Auch in Leipzig hat man hingerichtet mit Schwert, mit Galgen, mit Pistole. Die Messestadt war seit je Metropole und Zentrum mit überregionaler Gerichtsbarkeit. Der Leipziger Galgenberg lag mittelalterlich wie gewöhnlich etwa einen Kilometer außerhalb der Stadtmauern. Als Mahnung und Schrecken verblieben die Zu-Tode-Gebrachten wochenlang dorten am Galgen oder aufs Rad geflochten. Jedem gut sichtbare Abschreckung. Der Straßenname Gerichtsweg erinnert noch immer an die Gräuel vor Ort wie auch ein Gedenkstein. Die unbebaute frei Fläche näher zur Stadt ward später Richtstatt und heißt noch immer: Rabensteinplatz.

Nacht, offen Feld

Faust, Mephistopheles auf schwarzen Pferden daherbrausend

Faust: Was weben die da um den Rabenstein?

Mephistopheles: Weiß nicht, was sie kochen und schaffen.

Faust: Schweben auf, schweben ab,neigen sich, beugen sich.

Mephistopheles:Eine Hexenzunft.

Faust: Sie streuen und weihen.

Mephistopheles: Vorbei! Vorbei!

Der Rabenstein – ein Ort zum Gruseln. Anzunehmen ist: Goethe war die Leipziger Hinrichtungsstätte bekannt, hatte er doch in der Stadt studiert, Und wahrscheinlich ist jener theatrale Schauplatz wie auch Auerbachs Keller den Leipziger Realitäten des jungen Dichters nachgezeichnet.

Fausts Buhlschaft und Kindsmörderin Gretchen hieß im wahren Leben Susanna Margaretha Brandt. Goethen war in jenen Tagen ihres Prozesses Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt Frankfurt/M. Viele der an der Verhandlung Beteiligten waren ihm bekannt, manche aus seiner Familie. Das Urteil war nicht überraschend. »Nachdem durch das verehrliche Rathsconclusium vom 7ten (Januar 1772) die Verordnung geschehen, daß die Susanna Maria Brandin, wegen des an ihrem neugebornen Kind ausgeübten vorsetzlichen Mordes, mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode zu bringen, und der heutige Tag zu dessen Vollziehung bestimmt worden: Sie wurde Morgens um halb sechs Uhr durch eine Stadt-Kutsche auf dem Catharinen-Thurm abgeholet, woselbst man die beyde Herre Geistliche Willemer und Zeitmann in der Wohnstube des Richters betend mit der Maleficantin antraf. Nach einer kleinen Verweilung erschiene ebenfalls Herr Rathschreiber Dr. Claudi, da dann gedachter Brandin das Todes-Urteil durch ersagten Herrn Rathschreiber gleich nach sechs Uhr laut und deutlich vorgelesen – sodann der Staab vom Richter mit folgenden Worten gebrochen worden: Auf Befehl Eines hochedlen Rath breche ich euch, Brandin, also hiermit den Staab, und übergebe euch dem Nachrichter Hofmann, daß er das Urteil auf die vorgeschriebene Art vollziehen möge, wobey dieselbe sich ganz gelassen bezeigte. Darauf begaben sich beyde Herren Geistliche mit der Maleficantin in das sogenannte arme Sünder-Stübgen, nachdem solches geschehen, wurde gegen 8 Uhr der Tisch gedeckt, und die zubereitete Speißen aufgetragen, von welchen die Herren Richter und Rathschreiber, die beeden Herren Geistliche, sodann der Trompeter Göring und Einspänniger (ein städtischer Beamter) Glöckler, jeder, soviel ihm beliebte, genossen, da mitler Zeit die beyde ältesten Candidaten die arme Sünderin, welche das zu verschiedenen mahlen ihr angebotene Essen jedes Mal abgeschlagen, im Gebet unterhielten. Um halb zehn Uhr erschiene der Stöcker und zeigte an, daß währendem Läuten der Vater-Unser-Glocke in der Barfüßer Kirche die Sturm-Glocke zum ersten – eine viertel Stunde hernach zum zweyten – und abermal nach Verlauf einer viertel Stunde zum dritten mal durch ihn angeschlagen worden, auf welche Anzeige dann alles zum Ausführen veranstaltet – und der armen Sünderin beym Austritt aus dem Stübgen an der Stiege die Hände durch den Stöcker und seinen Knecht gebunden – und solche vom Thurm herunter gebracht wurde. Worauf sich der Richter in Begleitung der beeden Einspänniger zu Pferd setzte, hinter uns folgte aber die arme Sünderin, welche von denen beeden Herren Geistlichen und 2. ältesten Candidaten unter beständigem Beten und Singen, bis auf das gegen der Catharinen Kirch über aufgeschlagene Gerüste begleitet wurde, woselbst sodann, währendem eifrigen Gebet das Todesurteil durch des Nachrichters Hofmann ältesten Sohn von Großen Gera durch einen Hieb glücklich und wohl vollzogen – der Körper hingegen, nachdem sich das Volk ein wenig verlaufen, in einen Sarg durch des Nachrichters Knechte auf den Karrn nach GutenLeuten abgeführet und daselbst begraben worden.«

Umstritten: ob Herr Minister von Goethe Todesstrafen gut hieß oder nicht. Mit seiner Zustimmung wurde die Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn hingerichtet, meint man zu wissen. »›Die Hand, die die wundervolle Kerkerszene im Faust, eine der erschütterndsten Szenen der Weltliteratur, geschrieben hat, setzte – die Originalakten sind noch vorhanden – als Zustimmung zu den beiden auf Todesstrafe lautenden Voten nur die Worte hinzu: ›Auch ich.‹ Nichts weiter. Formelhaft. Goethe, so heißt es dann feinsinnig, war also ›Anhänger von Hinrichtungen‹. Mit Verzweiflung geradezu registrierte Thomas Mann das ominöse ›Auch ich!‹, es kam ihm ›in seiner Art ebenso erschütternd‹ vor ›wie der ganze Faust‹. Daß es zumindest die Kurzformel ›Auch ich‹ gar nicht gab – die Originalakten enthalten sie nicht –, änderte wenig an der Karriere des Vorwurfs.« Er wird weiter diskutiert über Goethen und über die Todesstrafe.

Die Hinrichtungen in Deutschland, auch die auf dem Leipziger Rabenstein, glichen sich in Ablauf und Gebaren. Auch in der Messemetropole verloren Kindsmörderinnen ihr Leben, manchmal ihren Kopf. Nur besaßen die Leipziger Hinrichtungs-Zeremonien Einzigartigkeit: Der Thomanerchor schritt der Prozession »mit glockenhellem Gesang« voran. So auch bei der Enthauptung des berüchtigten Räubers Johann David Wagner, genannt Mausedavid: »Die letzten Tage verfloßen abermals ohne daß er sich bekehret hätte, daher denn die sonst gewöhnliche Communion des Tags vor der Execution unterblieb. Die Nacht auf den 21. (Oktober 1721) schlief er ruhig, stand des Morgen um 5 Uhr auf, und als ihm der Stockmeister befahl, ein reines weißes Hemde anzuziehen, so fuhr er selbigen mit ungestümen Worten an, daher es ihn denn mit Gewalt angezogen werden mußte. Um 9 Uhr vormittags gieng die Hegung des peinlichen Halsgerichts auf dem großen Rathhaussaale vor, zu welchem man den Verbrecher hohlte. Als er in der armen Sünderstube dem Scharfrichter überantwortet worden war, ihm selbiger die Hände gebunden und ihn sodann die Treppe zum Eingang auf den großen Saale geführt hatte, wo er solange stehen bleiben mußte, bis das dreymailge Zeter-Geschrey über ihn vorbey war, so stellte er sich ganz beherzt an. Er erblickte im Gehen über den Saal jemand unter den Zuschauern, der von einer Bank herunterstolperte, und fieng hierüber nicht nur zu lachen an, sondern gab auch den ihn begleitenden Geistlichen, die ihn ermahnten, er solle itzt lieber auf sich sehen und seine Seele bedenken, deshalben eine schnöde Antwort. Als er näher zum Platz des Saals kam, wo das peinliche Halsgericht sich befand, so blieb er stehen und sagte: ›Ich gehe nicht hin, was habe ich da zu tun?‹, daher er denn durch Drohungen und Gewalt dazu genöthigt wurde. Auf die Frage des Stadtrichters: ob er nochmals seine Diebstähle und Theilnehmung an dem zwiefachen Kirchenraube eingestehe, erwiederte er frech: ›Er seye nicht dabey gewesen.‹ Doch all sein boshaftes Leugnen fruchtete nichts; man bezog sich vielmehr auf sein vorheriges Eingeständniß; sodann wurde ihm sein Urtheil nochmals vorgelesen, ihm der Stab gebrochen, und die Abführung desselbigen zur Hinrichtung befohlen.

Ob sich nun gleich der Malefikant hierauf hartnäckig fortzugehen weigerte, sich stemmte, und laut sagte: ›Er thue es nicht, er protestire, man sollte ihn wieder in sein vorheriges Behältniß bringen, es wäre nicht recht, daß er sterben solle‹; so war doch seine Widersetzlichkeit vergebens. Bey der Rathhausthüre stemmte er sich aufs neue und wollte nicht weiter fort, worauf ihm denn der Scharfrichter versicherte, er müsste fortgehen oder man würde ihn auf den schon bereit stehenden Karren hinausführen. Unterwegs redeten ihm die Geistlichen auf das ernstlichste zu, sich zu bekehren und seine Sünden Gott reuig abzubitten, weil er nun bald den Schritt in die Ewigkeit machen, und vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen müsste; allein er hörte nicht darauf, vagirte vielmehr mit dem Kopfe und gebundenen Händen, so viel er konnte herum, und spuckte dabey immer aus. Sein ganzes Reden bestand darinn, daß er immer sagte: ›Es wäre nicht recht, daß man ihn da hinaus führe, um ihm sein bisschen Leben zu nehmen.‹ Nahe bey dem Grimmischen Thore blieb er einige Zeit stehen, sahe den Thurm an und brach in die Worte aus: ›In diesem Orte bin ich was rechts gequält worden!‹ Auf die Frage des Stockmeisters vor dem Thor: ob er trinken wollte? erwiederte er: was er denn hätte? und da dieser sagte: Guten Rheinwein, so versetzte er: er verlange nichts.

Unterdeß hatte man sich dem Rabenstein genähert; auf den er nicht eher zu bringen war, als bis der mit zugegen gewesene Eulenburgische Scharfrichter vorangieng. Als er droben war, sahe er einen blauen Mantel stehen, und sagte dabey: ›ich weiß schon, was das zu bedeuten hat, der tut mir was.‹ Er fragte hierauf, ob denn die Geistlichen nicht auch herauf kämen? Als sie nun sich bey ihm einfanden, fragte er sie: warum man ihm denn sein Leben nehmen wolle? da ihm denn solche nochmals die Rechtmäßigkeit des Urtheils erklärten. Hierauf fieng er an: ›Er habe nicht geglaubt, daß es soweit mit ihm kommen sollte‹, und fragte die Geistlichen ›wie er denn in die Hölle, auch zum lieben Gott im Himmel käme, und was der liebe Gott sagen würde‹, da machten sie ihm denn nochmalen deutliche Vorstellungen vom Himmel und der Hölle, sowie von der nöthigen Buße, und versicherten ihm unter andern, wenn er sich ernstlich bekehren würde, so würden die Engel im Himmel auf seine abscheidende Seele also, wie gegenwärtige Zuschauer auf die Vollstreckung seines Urtheils warten. Er verstand jedoch, als ein von Jugend auf roher und in der Religion gar wenig unterwiesener Mensch, dies sonderbare Gleichniß nicht, und erwiederte ihnen: ›ob denn diese, so dastünden, die heiligen Engel wären?‹ Daher ihm denn deshalben eine neue Zurechtweisung gegen werden mußte. Alsdann ließ er sich ferner gegen die Geistlichen vernehmen: ›Er habe noch etwas auf dem Herzen, und wolle es ihnen vertrauen, wenn sie es nicht weiter sagten.‹ Auf ihr Versprechen, sie wollten es geheim halten, sagte er zu ihnen: ›Er wäre einmahl von den Soldaten entlaufen, keine Mordthat habe er aber nicht begangen.‹ Das erste hatte er vorher schon vor Gericht eingestanden, das letzte aber war vielleicht Merkmahl von der Angst seines Gewißens, daß ihn etwa doch anklagte, an dem ihm geziehenen Morde wirklich Theil genommen zu haben. Man bot ihm Zeit an, die man ihm noch zur Buße lassen wolle, allein er nahm solche nicht an, und wiederhohlte nur die im Hinausweg öfters gethane Frage, ob ihm nicht das heilige Abendmahl gereicht würde. da es nun hieß: ja, wenn er zuvor Buße gethan, und allen Menschen verziehen, besonders aber mit dem Stockmeister sich ausgesöhnt haben würde. Da er nun hierauf erwiederte: ›nein, dem vergebe ich’s nimmermehr‹, auch sonst keine Reue blicken ließ, so unterblieb die Communion. Nach dem ihm die Geistlichen über eine Stunde lang auf dem Rabenstein vergebens zugeredet hatten, sagten sie endlich, sie wären genöthigt, itzt von ihm sich zu entfernen und ihn demjenigen zu überlassender nach Urtheil und Recht mit ihm verfahren würde, worauf er denn dreist vesetzte: ›Sie sollten immerhin fortgehen.‹

Als sich diese vom Rabensteine herab begeben hatten, und ihm die Augen verbunden werden sollten, so erklärte er sich: Nun wolle er beten, fieng aus das Vater Unser etliche mahl an, kam aber niemals weiter als bis zu den Worten: der du bist im Himmel. Nun streiften ihm die Leute des Scharfrichters den Rock herab, wobey er sagte: Ihr werdet mir doch nicht den Rock zerreißen? Da ihm aber der Scharf­richter sagte, daß er keinen Rock mehr brauche, so erwiederte er: Es ist auch wahr; wurde ganz bestürzt, da man ihm die Halsbinde abnahm, und den Hemdekragen aufknüpfte, rief: ›Laßet mich doch beten, betet doch mit, betet doch alle mit!‹ Wirklich betete er hierauf ein paar kurze Seufzer, besonders den: Schaffe mir Gott ein reines Gewißen und als er die Worte auszusprechen anfieng: Herr in deine Hände befehl ich meinen Geist, du hast mich erlöset, Herr du getreuer Gott! so hieb ihm der Scharfrichter von der linken nach der rechten Seiten zu, und also vor ihm stehend in den Hals. Weil aber der Delinquent sich nierderzuknieen geweigert hatte, stehend geblieben, überdieß ziemlich lang war, und noch dazu das Kinn an den Hals stemmte, so geschahe es, daß der Scharfrichter den Hals, nicht, wie er gewollt, auf einmahl ganz durchhieb, sondern weil das Schwerdt im Hauen tief geführt werden mußte, und also auf der rechten Seite das Brust- oder Achselbein mit gefaßt hatte, so blieb der Hals ohngefehr einen einen Zoll tief, undurchschnitten. Doch war keine Empfindung des Lebens mehr bey ihm, und der zweyte Hieb trennte sogleich seinen Kopf vollends vom Rumpfe. Der Kopf wurde hierauf mitten aufs Rad genagelt, und der Cörper auf selbiges herumgeflochten.«

Heute präsentiert sich Leipzigs Rabensteinplatz als von Straßenbahnschienen umkränzte Parkanlage, in der nächtens öfter Küsse getauscht werden. Der Alte Johannisfriedhof liegt daneben. Seine Pforten werden bei Dunkelheit geschlossen, der Liebe wegen.

Leipzigs berühmtester Mörder war ein armes Würstchen. Er hatte sturzbetrunken in einem Anfall von Eifersucht seine Geliebte Johanna Christiane Woost erstochen. Man stritt sich jahrelang um den Geisteszustand dieses Täters. Georg Büchner schuf nach der Lektüre des ärztlichen Gerichtsgutachtens Weltliteratur: Der erste asoziale Hauptheld auf den deutschen Bühnenbrettern. Ein psychologisches Gutachten, obwohl die Psychologie noch keine Wissenschaft. 1879 gründeten Wilhelm Wundt und Gustav Theodor Fechner in Leipzig in privater Initiative das »Institut für experimentelle Psychologie«. Vier Jahre später war es offizielle Fachrichtung der Universität.

Das Hochnothpeinliche Halsgericht für Johann Christian Woyzeck wurde am 27. August 1824 protokolliert: