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Unter Physikern und Mathematikern sind sie legendär geworden, die Spaziergänge über den Campus von Princeton, die den fast 70-jährigen Albert Einstein und den 25 Jahre jüngeren Ausnahme-Mathematiker Kurt Gödel verbanden. Zwei Spaziergänger, die jeweils ihr Fach revolutioniert, Grenzen überschritten und neue aufgezeigt haben. Gödel hatte schon früh beschlossen, sich nur um mathematische Probleme zu kümmern, die auch eine philosophische Dimension haben. Damit ist er quasi ein Bruder im Geiste für Jim Holt, den Philosophen und Mathematiker, der sich gerne mit den letzten Fragen beschäftigt - und mit jenen, die ihnen ihr Leben widmeten. Und so erzählt er in diesem Buch mit dieser Geschichte einer Freundschaft zugleich die Geschichte der revolutionären geistigen Umwälzungen im 20. Jahrhunderts. Daneben versammelt Holt in diesem Band 22 weitere Erzählungen und Reflexionen, in beeindruckend schöner Sprache und reich an biografischen und kulturgeschichtlichen Anekdoten. Sie widmen sich den "aufregendsten intellektuellen Errungenschaften, denen ich in meinem Leben begegnet bin" (Holt). Es geht darin um das kosmologisches Denken über Zeit und Raum, Unendlichkeit im Großen und Kleinen, das Heraufziehen des Computerzeitalters, den Code des Lebens und die Frage, was man wahr nennen darf. Mal stehen Wissenschaft und Philosophie ein wenig im Vordergrund, mal die außergewöhnlichen Geschichten ihrer bedeutenden Protagonisten, von Holt fesselnd erzählt, mit Tiefgang und Intimität und einem besonderen und persönlichen Blick. «Jim Holt ist einer der wirklich besten Science-Autoren der jüngsten Zeit.» New York Times
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Seitenzahl: 632
Veröffentlichungsjahr: 2020
Jim Holt
Ausflüge an den Rand des Denkens
Unter Physikern und Mathematikern sind sie legendär geworden, die Spaziergänge über den Campus von Princeton, die den fast 70-jährigen Albert Einstein und den 25 Jahre jüngeren Ausnahme-Mathematiker Kurt Gödel verbanden. Zwei Spaziergänger, die jeweils ihr Fach revolutioniert, Grenzen überschritten und neue aufgezeigt haben. Gödel hatte schon früh beschlossen, sich nur um mathematische Probleme zu kümmern, die auch eine philosophische Dimension haben. Damit ist er quasi ein Bruder im Geiste für Jim Holt, den Philosophen und Mathematiker, der sich gerne mit den letzten Fragen beschäftigt – und mit jenen, die ihnen ihr Leben widmeten. Und so erzählt er in diesem Buch mit dieser Geschichte einer Freundschaft zugleich die Geschichte der revolutionären geistigen Umwälzungen im 20. Jahrhundert.
Daneben versammelt Holt in diesem Band 22 weitere Erzählungen und Reflexionen. Sie widmen sich den «aufregendsten intellektuellen Errungenschaften, denen ich in meinem Leben begegnet bin» (Holt). Es geht darin um das kosmologische Denken über Zeit und Raum, Unendlichkeiten, das Heraufziehen des Computerzeitalters, den Code des Lebens und die Frage, was man wahr nennen darf. Mal stehen Wissenschaft und Philosophie im Vordergrund, mal die außergewöhnlichen Geschichten ihrer bedeutenden Protagonisten, von Holt fesselnd erzählt, mit Tiefgang und Intimität und einem besonderen und persönlichen Blick.
«Jim Holt ist einer der wirklich besten Science-Autoren der jüngsten Zeit.» New York Times
Jim Holt ist Autor und Essayist. Er schreibt über Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften vor allem für die New York Times Book Review und die New York Review of Books. Sein Buch «Gibt es alles oder nichts?» war in den USA ein Bestseller und wurde in 18 Sprachen übersetzt, die New York Times zählte es überdies zu den fünf besten Sachbüchern des Jahres.
Monika Niehaus, Diplom in Biologie, Promotion in Neuro- und Sinnesphysiologie, freiberuflich als Autorin (SF, Krimi, Sachbücher), Journalistin und naturwissenschaftliche Übersetzerin (englisch/französisch) tätig. Mag Katzen, kocht und isst gern in geselliger Runde.
Bernd Schuh, geboren 1948 ist Physiker, Dozent, Journalist, Autor und Übersetzer. Er studierte Mathematik, Physik und Chemie in Köln, wurde 1977 promoviert und habilitierte sich 1982 in Physik. Er ist Träger des Georg von Holtzbrinck Preises für Wissenschaftsjournalismus.
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «When Einstein Walked With Gödel» bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«When Einstein Walked With Gödel: Excursions to the Edge of Thought» Copyright © 2018 by Jim Holt
Published by arrangement with Farrar, Straus and Giroux, New York
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Leonard McCombe/Getty Images
ISBN 978-3-644-00250-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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In Erinnerung an Bob Silvers
Isaac Newton hatte eine seltsame Vorstellung von Zeit. Er sah in ihr eine Art kosmischer Standuhr, die in heiterer Autonomie über dem Rest der Natur schwebt. Und er glaubte, dass die Zeit glatt und kontinuierlich von der Vergangenheit in die Zukunft fortschreitet. «Die absolute, wahre mathematische Zeit verfließt gleichförmig und ohne Beziehung zu einem Gegenstand», erklärte Newton zu Beginn seiner Principia. Denjenigen, die im zeitlichen Fluss des Alltags gefangen sind, klingt dies unsinnig. Zeit erscheint uns nicht als etwas Transzendentes und Mathematisches, sondern als intim und subjektiv. Und sie schreitet auch nicht würdevoll und gleichförmig fort. Wir wissen, dass Zeit unterschiedliche Geschwindigkeiten hat. Beim Countdown auf das neue Jahr fliegt die Zeit zum Beispiel förmlich. Dann, im Januar und Februar, verlangsamt sie sich zu einem elenden Kriechen. Zudem läuft die Zeit für einige von uns schneller ab als für andere. Alte Menschen werden in grausam raschem Tempo in die Zukunft gestoßen. Für einen Erwachsenen scheint es, als sei alle fünf Minuten Weihnachten, meinte Fran Lebowitz einmal. Für kleine Kinder vergeht die Zeit hingegen ziemlich langsam. Da für Kinder alles erst einmal neu und überraschend ist, kann ihnen ein einziger Sommer wie eine Ewigkeit erscheinen. Schätzungen zufolge hat man im Alter von acht Jahren subjektiv bereits zwei Drittel seines Lebens gelebt.
Wissenschaftler haben versucht, den subjektiven Fluss der Zeit zu messen und Menschen unterschiedlichen Alters gebeten zu schätzen, wann eine bestimmte Zeitspanne verstrichen ist. Menschen Anfang 20 sind in der Regel recht präzise, wenn sie beurteilen sollen, wann drei Minuten verstrichen sind, und irrten sich gewöhnlich um nicht mehr als drei Sekunden. Menschen Anfang 60 schossen hingegen mehr als 40 Sekunden übers Ziel hinaus; mit anderen Worten erschienen ihnen drei Minuten und 40 Sekunden wie nur drei Minuten. Senioren ticken «von innen heraus» langsamer, daher hat es für sie den Anschein, dass reale Uhren zu schnell gehen. Das kann bei einem John-Cage-Konzert von Vorteil sein; die alten Menschen sind erleichtert, dass die Komposition 4’33’’ so rasch vorüber ist.
Der Fluss der Zeit mag seine Stromschnellen und seine ruhigeren Abschnitte haben, aber eins scheint sicher: Er nimmt alle von uns wohl oder übel in seinen Fluten mit. Unwiderstehlich und unumkehrbar bewegen wir uns von unserer Geburt mit der Geschwindigkeit von einer Sekunde pro Sekunde unserem Tod entgegen. Während die Vergangenheit hinter uns verschwindet, wird die Zukunft, einst unbekannt und geheimnisvoll, zur banalen Realität, wenn sie sich in das stets vorwärtseilende Jetzt verwandelt.
Dieses Gefühl des Fließens ist jedoch eine monströse Täuschung – so sagt jedenfalls die moderne Physik. Und Newton ist dieser Illusion ebenso zum Opfer gefallen wie wir Übrigen.
Albert Einstein war es, der die Revolution in unserem Verständnis der Zeit auslöste. Im Jahr 1905 zeigte Einstein, dass Zeit, wie sie bislang von Physikern und Laien gleichermaßen verstanden worden war, eine Fiktion ist. Denn Einstein bewies: Ob es einem Beobachter so erscheint, als passierten zwei Ereignisse an verschiedenen Orten «gleichzeitig», hängt von seinem Bewegungszustand ab. Nehmen wir zum Beispiel an, Jones bewegt sich auf der Fifth Avenue Richtung Außenbezirke, Smith hingegen Richtung Innenstadt. Ihre Relativbewegung führt zu einer Diskrepanz von mehreren Tagen, wenn sie beurteilen sollten, was «jetzt» – in dem Moment, in dem sie auf dem Bürgersteig aneinander vorbeigehen – in der Andromeda-Galaxie passiert. Für Smith ist die Raumflotte, die gestartet ist, um das Leben auf der Erde auszulöschen, bereits unterwegs; für Jones hat der andromedarische Rat der Tyrannen noch nicht einmal entschieden, ob die Flotte überhaupt starten soll.
Wie Einstein gezeigt hatte, gibt es kein universelles «Jetzt». Ob zwei Ereignisse gleichzeitig ablaufen, ist relativ und hängt vom Beobachter ab. Und sobald die Gleichzeitigkeit über Bord geht, verliert die Einteilung von Momenten in «vergangen», «gegenwärtig» und «zukünftig» jede Bedeutung. Ereignisse, die sich nach dem Urteil eines Beobachters in der Vergangenheit abgespielt haben, mögen für einen anderen noch in der Zukunft liegen; daher müssen Vergangenheit und Gegenwart endgültig, gleich «wirklich» sein. Anstelle der flüchtigen Gegenwart bleibt uns eine riesige gefrorene Landschaft – ein vierdimensionales «Blockuniversum». Hier werden Sie gerade geboren, dort feiern Sie die Jahrtausendwende, und da drüben sind Sie bereits eine ganze Weile tot. Nichts «fließt» von einem Ereignis zum anderen, wie es der Mathematiker Hermann Weyl so treffend formulierte: «Die objektive Welt existiert einfach, sie geschieht nicht.»
Mit seiner Relativitätstheorie lieferte Einstein eine naturwissenschaftliche Rechtfertigung für eine philosophische Sichtweise, die sich zu Spinoza, Augustinus, selbst Parmenides zurückverfolgen lässt – und die als Eternalismus bezeichnet wird. Nach dieser Sicht der Dinge gehört die Zeit ins Reich des Anscheins, nicht der Wirklichkeit. Die einzig objektive Weise, das Universum zu sehen, ist, es so zu sehen, wie Gott es sieht: sub specie aeternitatis (unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit).
In den Jahrzehnten seit Einsteins Tod hat die Physik unsere alltägliche Vorstellung von Zeit noch radikaler umgestaltet. Wie sich zeigte, wies die gefrorene Zeitlandschaft der Relativitätstheorie klaffende Löcher auf: Schwarze Löcher. Das ist so, weil die Zeit durch die Gravitation «gekrümmt» wird. Je stärker das Gravitationsfeld, desto langsamer bewegen sich die Uhrzeiger. Wenn Sie im Erdgeschoss wohnen, altern Sie eine Winzigkeit langsamer als Ihr Nachbar in der Penthouse-Wohnung. Der Effekt wird viel deutlicher, wenn Sie in ein Schwarzes Loch gesogen würden, wo die gravitationsbedingte Krümmung der Zeit unendlich ist. Ganz wörtlich sind Schwarze Löcher Tore, die zum Ende der Zeit führen: nach Nirgendwann.
Wenn sich die Zeit rund um Schwarze Löcher schon sonderbar benimmt, so könnte es sein, dass sie auf der kleinsten Skala, wo sich das Gewebe der Raumzeit zu «Quantenschaum» auflöst, in dem Ereignisse keine bestimmte zeitliche Ordnung haben, völlig verschwindet. Die Sache mit der Zeit wird noch seltsamer, wenn wir auf den Urknall (Big Bang) zurückschauen, das kataklysmische Ereignis, das die Geburt unseres Universums kennzeichnet – und nicht nur des Universums, sondern auch seines Raum-Zeit-Behälters. Wir alle würden gern wissen: Was, zum Teufel, geschah kurz vor dem Urknall? Aber diese Frage ist sinnlos. So erklärt es uns jedenfalls Stephen Hawking in Eine kurze Geschichte der Zeit. Hawking beruft sich dabei auf eine «imaginäre Zeit» – ein Begriff, der selbst seine Physikerkollegen verwirrt hat – und erklärt, es sei ebenso müßig zu fragen, was vor dem Urknall war, wie zu fragen, was nördlich des Nordpols liegt. Die Antwort lautet natürlich «nichts».
Hat die Zeit eine Zukunft? Ja, doch wie viel Zukunft sie hat, hängt davon ab, wie das endgültige Schicksal des Kosmos aussehen wird. Seit seiner Geburt im Big Bang vor rund 13,82 Milliarden Jahren hat sich das Universum ausgedehnt. Falls diese Expansion für immer anhält, wird das Universum vereisen, jedenfalls metaphorisch gesprochen. Die Sterne werden ausbrennen. Schwarze Löcher werden verdampfen, Atome und ihre subatomaren Bestandteile werden zerfallen. In ferner Zukunft werden sich die verbliebenen Teilchen (vorwiegend Photonen und Neutrinos) immer weiter in die Tiefen des Raumes ausbreiten und sich so weit voneinander entfernen, dass zwischen ihnen keinerlei Wechselwirkung mehr auftritt. Der Raum wird, von Spuren von «Vakuumenergie» abgesehen, leer sein. Dennoch wird die Zeit in dieser zukünftigen Öde des Fast-Nichts weiterlaufen; Zufallsereignisse werden weiterhin geschehen; dank der Magie der Quantenunschärfe werden Dinge «geboren» werden, um sofort wieder im Vakuum zu verschwinden. Die meisten dieser zukünftigen flüchtigen Gebilde werden einzelne Partikel sein, wie Elektronen und Protonen. Aber hin und wieder – in sehr großen zeitlichen Abständen – werden spontan komplexere Strukturen entstehen, beispielsweise ein menschliches Gehirn. Tatsächlich würde die Quantenphysik in der Fülle der Zeit eine unendliche Anzahl solcher körperloser, mit (falschen) Erinnerungen ausgestatteter Gehirne erlauben, die auftauchen und wieder verschwinden. In der wissenschaftlichen Literatur werden diese traurigen und flüchtigen Entitäten als «Boltzmann-Gehirne» bezeichnet (nach Ludwig Boltzmann, einem Pionier der modernen Thermodynamik). Eines dieser Boltzmann-Gehirne der fernen Zukunft wäre identisch mit Ihrem eigenen Gehirn, wie es zum jetzigen Zeitpunkt beschaffen ist. Daher würde Ihr gegenwärtiger Bewusstseinszustand in einer sehr fernen Zukunft aus der Leere (Vakuum) rekreiert werden, nur um einen Moment später wieder ausgelöscht zu werden – wohl nicht die Art Wiederauferstehung, auf die Sie gehofft haben.
All das könnte tatsächlich zutreffen (sagen moderne Physiker), vorausgesetzt, das Universum dehnt sich bis in alle Ewigkeit aus, wobei es immer leerer und immer dunkler und immer kälter wird: ein Szenario, das man als das Große Einfrieren (Big Freeze) bezeichnen könnte. Aber auch ein anderes kosmisches Schicksal ist vorstellbar. An irgendeinem Punkt in ferner Zukunft könnte die Ausdehnung des Universums, die wir momentan erleben, allmählich zu einem Halt kommen – sei es aufgrund der Schwerkraft oder einer anderen, bis dato noch unbekannten Kraft. Dann werden all diese vielen hundert Milliarden Galaxien beginnen, aufeinander zuzustürzen und sich schließlich in einer gewaltigen Implosion vernichten: dem «Großen Zusammenkrachen» (Big Crunch). Genauso, wie der Big Bang die Zeit erschuf, würde der Big Crunch sie beenden. Oder etwa nicht? Einige kosmologische Optimisten weisen darauf hin, dass in den letzten Augenblicken vor einem solchen Big Crunch unendlich große Mengen an Energie freigesetzt würden. Diese Energie, so die Optimisten, könnte von unseren Nachkommen in ferner Zukunft genutzt werden, um eine unendlich große Menge an Berechnungen zu speisen, aus denen eine unendliche Zahl an Gedanken erwächst. Da sich diese Gedanken immer rascher entfalten würden, hätte es den Anschein, als würde die subjektive Zeit unendlich lange andauern, obgleich die objektive Zeit im Begriff stünde zu enden. Der Sekundenbruchteil vor dem Big Crunch wäre somit dem endlosen Sommer eines Kindes vergleichbar: eine virtuelle Ewigkeit.
Virtuelle Ewigkeit, Tore zum Nirgendwann, die Unwirklichkeit der Zeit … haben all diese Tagträumer-Vorstellungen tatsächlich eine Beziehung zu unserer Lebenswelt? Wahrscheinlich nicht. Wie Einstein selbst können wir uns nicht von unseren Zeitillusionen lösen. Wir fühlen uns als Sklaven eines Teils der Zeitlandschaft (der Vergangenheit) und als Geiseln eines anderen Teils (der Zukunft). Und wir können uns auch des Gefühls nicht erwehren, dass uns die Zeit buchstäblich davonläuft. Arthur Eddington, einer der ersten Physiker, die Einsteins Relativitätstheorie begriffen, erklärte, unser intuitives Gefühl des Zeitverlaufens sei so stark, dass es mit etwas in der objektiven Welt korrespondieren müsse. Wenn die Wissenschaft da nicht weiterkommt, nun, so könnte man sagen, umso schlimmer für die Wissenschaft!
Die Wissenschaft kann uns jedoch durchaus etwas über die Psychologie unseres Zeitgefühls sagen. Unser bewusstes Jetzt – was William James als «trügerische Gegenwart» bezeichnete – ist tatsächlich ein Intervall von rund drei Sekunden. Das ist die Zeitspanne, über die unser Gehirn einlaufende sensorische Signale zu einer einheitlichen Erfahrung verknüpft. Zudem ist ziemlich klar, dass die Natur des Gedächtnisses etwas mit dem Gefühl zu tun hat, dass wir uns in der Zeit bewegen. Vergangenheit und Zukunft mögen gleich real sein, doch – aus Gründen, die sich seltsamerweise auf den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zurückführen lassen – können wir uns nicht an Ereignisse aus der Zukunft «erinnern», sondern nur an solche aus der Vergangenheit. Erinnerungen sammeln sich nur in einer zeitlichen Richtung an und nicht in der anderen. Das scheint den psychologischen Zeitpfeil zu erklären. Leider erklärt es nicht, warum dieser Pfeil zu fliegen scheint.
Wenn Sie all dies im Hinblick auf die Zeit völlig verwirrt zurücklässt, sind Sie in bester Gesellschaft. John Archibald Wheeler, einer der großen Physiker des 20. Jahrhunderts, zitierte in einem wissenschaftlichen Artikel folgenden Satz: «Zeit ist der Weg der Natur, um zu verhindern, dass alles gleichzeitig passiert.» In einer Fußnote schreibt Wheeler, er habe dieses Zitat zwischen Graffiti in der Herrentoilette im Old Pecan Street Café in Austin, Texas, entdeckt. Dass ein derart großer Denker darauf zurückgreift, Graffitisprüche von der Toilettenwand zu zitieren, ist nicht verwunderlich, wenn man sich das gegenwärtige Gerangel zwischen Physikern und Philosophen sowie Philosophen der Physik über das Wesen der Zeit anschaut. Einige behaupten, Zeit sei ein grundlegender Bestandteil des Universums, andere sagen, nein, falsch, sie erwächst aus den tiefer verborgenen Merkmalen der physikalischen Realität. Einige beharren darauf, dass Zeit eine eingebaute Richtung aufweist, andere weisen dies zurück. (Stephen Hawking behauptete einmal, die Zeit könne sich schließlich umkehren und rückwärtslaufen, nur um anschließend festzustellen, dass er sich verrechnet hatte.) Die meisten heutigen Physiker und Philosophen sind sich mit Einstein darin einig, dass das Vergehen der Zeit eine Illusion ist; sie sind Eternalisten («Ewigkeitler»). Eine Minderheit – die sich als Präsentisten («Gegenwartler») bezeichnet – glaubt jedoch, dass jetzt ein spezieller Moment ist, der wirklich fortschreitet wie ein kleines Licht, das sich längs der Linie der Geschichte bewegt. Und sie sind überzeugt, dass dies auch dann noch der Fall wäre, wenn es keine Beobachter wie uns im Universum gäbe.
Wenn es eine Aussage über die Zeit gibt, der wohl alle wissenschaftlichen Denker zustimmen können, dann könnte es der Ausspruch des Musikers Hector Berlioz sein, der einmal scherzte: «Die Zeit ist eine großartige Lehrerin, doch leider tötet sie all ihre Schüler.»