Am Anfang war Neuseeland - Carolin Schairer - E-Book

Am Anfang war Neuseeland E-Book

Carolin Schairer

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Beschreibung

Alexa und Susanne gewinnen eine Gruppenreise – nach Neuseeland. Sonst aber liegen Welten zwischen der Juristin und der Buchhändlerin. Doch vier Wochen auf Tour sind eine lange Zeit, um sich kennenzulernen … Und so erkunden die beiden nicht nur die grüne Insel, sondern machen auch miteinander einige überraschende Entdeckungen. Zwei Frauen auf einer ereignisreichen Reise, die zum gemeinsamen Wendepunkt wird.

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Seitenzahl: 436

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INHALT

Freising

Wien

Dubai

Wellington

Martinsborough

Lake Taupo

Auckland

Christchurch

Hanmer Springs

St. James Walkway

Greymouth

Marlborough

Picton

Wellington II

München

Eisenstadt

Freising II

Rust II

Rust III

Wien-Schwechat

Carolin Schairer

AM ANFANG

WAR NEUSEELAND

Roman

Ulrike HELMER Verlag

ISBN (eBook) 978-3-89741-950-6

ISBN (Print) 978-3-89741-427-3

© 2019 eBook nach der Originalausgabe

© 2019 Originalausgabe Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. DarmstadtAlle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NLunter Verwendung des Fotos »Träumerrin« © CassaNova / photocase

Ulrike Helmer Verlag

Blütenweg 29, 64380 Roßdorf b. Darmstadt

E-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

Freising

Eine Horde Soldaten marschierte durchs Wohnzimmer. Ihre donnernden Schritte ließen den Boden erbeben.

Zumindest schien es Alexa so, die gerade vom Tennistraining nach Hause gekommen war und im Vorraum ihren Anorak in der Garderobe verstaute. Die Geräuschkulisse, die jetzt in ein Pfeifen und Jubeln überging, war ihr mittlerweile nur allzu vertraut. Seit ihr Partner vor acht Jahren World of Warcraft für sich entdeckt hatte, verging kaum ein Wochenende, an dem er nicht ein weiteres Level zu erklimmen und seine Ausrüstung zu verbessern versuchte.

Alexa hatte es aufgegeben, Andis Leidenschaft für digitale Charaktere wie Elfen, Zwerge und Trolle verstehen zu wollen. Seinen anfänglichen Versuchen, sie zum Mitspielen zu bewegen, hatte ihr Referendariat am Landgericht Würzburg ein Ende gesetzt. Es folgten ein paar Monate an der deutsch-chilenischen Handelskammer in Santiago di Chile. Als sie danach für die Vorbereitung auf das zweite Staatsexamen nach Freising und damit in die gemeinsame Wohnung im Obergeschoss von Andis Elternhaus zurückgekehrt war, spielte dieser bereits auf einem Level, das sie unschwer erraten ließ, womit er die Zeit während ihrer Abwesenheit vorwiegend verbracht hatte.

Jetzt saßen sich Andi und sein bester Freund Tom am Esstisch gegenüber, ihre Notebooks vor sich, je eine Flasche Bier daneben, die Augen konzentriert auf die Monitore gerichtet. In der Mitte des Tisches stand eine große Schüssel, in der zwei übriggebliebene Nachos davon zeugten, dass offenbar auch Bildschirm-Schlachten hungrig machten.

»Zahnärzte in ihrer Freizeit«, kommentierte Alexa süffisant, während sie sich in der zum Wohnbereich offenen Küche ein Glas Mineralwasser einschenkte. »Möchte mal wissen, was ihr tätet, wenn das Wlan ausfällt!«

»Oh! Hallo, Schatz!« Der Rotschopf hob den Kopf und grinste sie an. Die makellose Zahnreihe machte seinem Berufsstand alle Ehre. »Hab dich gar nicht bemerkt …«

»Kann ich mir vorstellen«, erwiderte sie, während sie ihm über die Schulter schaute. Durch graubraune Felslandschaften mit Schluchten und Erdlöchern hüpfte eine bunte Fantasy-Gestalt, die von einer anderen gejagt wurde.

»Mensch, fuck!«, kam es vom Gegenüber, als der Jäger sein Opfer einholte. »Fuck, fuck, fuck! Schon wieder!«

Tom schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Andi lachte schadenfroh. Dann klickte er auf den Pause-Button und ließ das Bild erstarren.

»Würde sagen, der Sieg geht heute klar an mich«, stellte er fest, während er sich nun erhob, um Alexa mit einem Kuss zu begrüßen. Sie wich ihm geschmeidig aus.

»Ich bin verschwitzt. Muss erst unter die Dusche.«

»Ähm. Hi, Alexa.« Tom, mit dem Andi seit dem ersten Semester Zahnmedizin um die Häuser gezogen war, hatte sich wieder beruhigt und prostete ihr mit seinem Bier zu. »Ich hoffe, du warst beim Tennis heute erfolgreicher als ich hier …«

»Ich kann nicht klagen«, erwiderte sie. »Sechs zu drei, zwei zu sechs, sechs zu drei – zu meinen Gunsten letztendlich.«

»Wie immer auf der Siegerseite. Wie könnte es auch anders sein.« Andi betrachtete sie mit Stolz. »So ist sie, meine Zukünftige. Deshalb passen wir ja so gut zusammen!«

Tom verschluckte sich prompt und prustete den Rest wenig galant über den gläsernen Esstisch, um anschließend vor Verlegenheit rot anzulaufen. Er stammelte eine Entschuldigung, während Alexa noch nach der Pointe suchte. Dass sie offensichtlich die einzige im Raum war, der es so ging, zeigte ihr das breite Zahnpastawerbungsgrinsen in Andis Gesicht. An seinen Humor würde sie sich nach dem Jahr, das sie in Atlanta verbracht hatte, um bei CNN Erfahrung als Medienrechtlerin zu sammeln, wohl erst wieder gewöhnen müssen.

Sie ließ die beiden allein und schloss die Badezimmertür hinter sich ab. Tom würde bald gehen, jetzt, da sie vom Tennis zurück war, und sie wollte vermeiden, dass ihr Andi im Badezimmer einen unwillkommenen Besuch abstattete.

Was sich da durch Jucken und Brennen bereits während des Spiels bemerkbar gemacht hatte, wollte sie erst einmal alleine begutachten. In Unterwäsche stellte sie sich vor den Spiegel, die Augen auf ihre Ellbogen, dann auf die Knie gerichtet. Glänzend silbrige Hautschuppen hoben sich von geröteten Hautarealen ab. Auch um den Nabel herum hatte sich schon ein roter, unschöner Fleck gebildet.

Es fängt wieder an.

Die bittere Erkenntnis trieb ihr Tränen in die Augen – Tränen, die sie hastig mit dem Handrücken wegwischte. Sie würde nicht weinen wegen einer Sache, die im Grunde nichts Neues darstellte. Seit sie sechzehn war, begleitete die Schuppenflechte sie durch das Leben. Die Psoriasis kam, sie ging, sie kam wieder. Mal trat sie stärker auf, mal schwächer. Der Verlauf folgte keinem Schema, was ihren Hautarzt dazu veranlasst hatte, der Diagnose irgendwann den Vermerk atypische Verlaufsform hinzuzufügen.

Ein besonders schwerer Schub hatte sie, die Musterschülerin, den ersten Anlauf zur Abiturprüfung gekostet. Während ihre Mitschüler die Zeugnisse überreicht bekamen und feiern gingen, lag sie in Salzbädern, trug Salbenverbände und kämpfte mit den Nebenwirkungen der Cortison-Therapie, auf die ein vielleicht etwas zu übereifriger Oberarzt bestanden hatte.

Nach drei Monaten stationär und auf Kur war die Frist für die schulische Nachprüfung verstrichen. Sie hatte das Schuljahr regulär wiederholen müssen und damit eine unschöne Lücke im Lebenslauf, die sie bei Vorstellungsgesprächen kunstvoll verschleiern oder füllen musste. Immerhin war sie in diesem unvorhergesehenen Schuljahr mit Andi zusammengekommen, der sich weder durch Schuppenhaut noch durch depressive Verstimmungen hatte abschrecken lassen – was möglicherweise auch daran lag, dass sie sich bereits aus dem Sandkasten kannten. Alexas Eltern und das Zahnarzt-Ehepaar waren seit langem befreundet.

Andi war schon immer Teil ihres Lebens gewesen. Seit diesem letzten Schuljahr hatte er einfach nur eine andere Rolle darin eingenommen. Seither war es ihr gesundheitlich nie wieder so schlecht gegangen wie damals vor dem Abitur.

Trotzdem wollte sie nicht, dass er jetzt Zeuge wurde, wie sie mit zusammengebissenen Zähnen unter der Dusche vorsichtig Schuppen abzog, die sich leicht lösen ließen, und die empfindliche, teils leicht blutende Haut darunter freilegte. Die Krankheit würde sie nicht noch einmal in die Knie zwingen.

Als sie ihren Körper schließlich eingesalbt hatte, um den Juckreiz und die Ausbreitung einzudämmen, fühlte sie sich schon etwas besser. Im Vergleich zu anderen Betroffenen hatte sich die Erkrankung bei ihr zumindest noch nie im Gesicht oder auf der Kopfhaut gezeigt und sich bisher auch nicht auf innere Organe ausgewirkt. Die hässlichen Veränderungen an Armen, Beinen und diversen Gelenken ließen sich durch Kleidung kaschieren. Und solange sie nicht zum Tennisturnier antreten wollte, störte sich auf der familiär gehaltenen Anlage am Freisinger Stadtrand auch niemand daran, wenn sie in knöchellangen Leggins statt im Röckchen zum Match antrat.

Als sie das Badezimmer in Jeans und Sweatshirt verließ, stand Andi in der Küche und frittierte Tofu-Würfel im Wok. Auf Tellern standen Paprika, Karotten, Champignons in Schnipseln bereit.

»Ist Tom schon weg?«

»Ja, der wollte noch zu Sylvia.« Andi wendete den Tofu. »Du weißt schon – seine neue Flamme. Die, die er bei Parship kennengelernt hat.«

Zumindest das ist mir erspart geblieben, ging es Alexa durch den Kopf, während sie ein Stück Karotte naschte. Die Vorstellung, dass sie sich anhand knapper Informationen und vielleicht einem Foto online jemanden auswählen sollte, dem sie dann bei einem gemeinsamen Abendessen gegenübersaß und der abcheckte, ob sie als – wie die Amerikaner sagten – girlfriendmaterial taugte, jagte ihr einen Schauder über den Rücken.

Sechzehn Jahre Beziehung mit einem Mann, mit dem sie als Achtzehnjährige zusammengekommen war und der über ihre Schuppenflechte genauso hinwegsah wie über ihre ständigen, für ihre Ausbildung unentbehrlichen Auslandsaufenthalte. Einem, der nach New York, Santiago di Chile, Lausanne und Atlanta flog, um sie zu sehen. Der durch seine freundliche, humorvolle Art vielen Leuten die Angst vor dem Zahnarzt nahm und privat dafür sorgte, dass sie gesund aß und sich nicht mit Dingen auseinandersetzen musste, für die sie kein Talent hatte – Haushalt, beispielsweise, aber auch lästige Handwerkertermine.

Andi war ein Goldstück. Selbst ehemalige Freundinnen, die einst geätzt hatten, warum sie, die mit ihrer hüftlangen dunklen Lockenmähne zu den Schulschönheiten gehörte, ausgerechnet mit diesem schüchternen, rothaarigen Pummel ausging, beneideten sie inzwischen glühend. Zwei aus ihrer früheren Clique waren inzwischen wieder geschieden, die dritte mit einem Mann verheiratet, der sie kaum zu Wort kommen ließ. Andi hatte inzwischen an Selbstvertrauen gewonnen und an Kilos verloren, sie ihre Locken auf Schulterhöhe gestutzt und ein überdurchschnittlich gutes Staatsexamen in der Tasche – und sie waren nicht nur noch immer zusammen, sondern standen kurz davor, zu heiraten.

»Außerdem ist Tom sowieso die Grafikkarte eingegangen«, plauderte Andi unverdrossen weiter, während er nun die Tofu-Würfel aus dem Öl nahm und stattdessen Zwiebel und Knoblauch röstete. »Die hat immer so schrill gepfiffen; das war echt nervig. Spulenfiepen nennt man das, falls du mal mit Fachwissen glänzen willst!«

»Ich wüsste wirklich nicht, wer mich das fragen sollte.« Alexa sank auf einen der Barhocker an der Theke, die die Abgrenzung zum Wohnzimmer darstellte. Fast reflexartig griff sie nach ihrem Tablet.

»Na, einer deiner künftigen Klienten«, kam es zurück. »Stell dir vor, einer wird in seinen Urheberrechten verletzt – zum Beispiel, weil ein anderer seinen Avatar nachbaut. Oder dieses Problem mit den Cheatbots …«

Während Andi mit wachsender Begeisterung ausführte, welche juristischen Fälle und Fallstricke der stetig wachsende Markt der Online-Spiele für sie als Juristin bereithielt, suchte Alexa im Internet nach Leggins, die sich notfalls beim Tennis tragen ließen, und atmungsaktiven Langarm-Shirts. Während der vergangenen drei Jahre, die sie überwiegend in Lausanne und eben in den USA verbracht hatte, war die Schuppenflechte kaum aufgetreten. Mit Tops und kurzen Hosen war sie gut über die Runden gekommen. Nun aber war es wohl notwendig, wieder aufzurüsten.

Bitterkeit stieg in ihr auf, während sie sich durch die Kleidungsangebote von Sportartikelherstellern klickte.

Warum war ausgerechnet sie, die Sport und Bewegung an der frischen Luft so liebte, mit einer Hautkrankheit geschlagen, die unweigerlich die Blicke anzog?

Sonnenlicht war im Prinzip gut gegen Schuppenflechte, und Alexa hielt sich durchaus für selbstbewusst – doch Leute, die am Tennisplatz oder beim Joggen ständig auf ihre kaputte Haut starrten, bemüht, sich den Ekel nicht anmerken zu lassen, waren auf Dauer kaum auszuhalten. Ihr hatten die vergangenen Stunden in der Tennishalle vollauf genügt, auch wenn Tina, ihre langjährige Tennispartnerin, von der Psoriasis wusste und sie geflissentlich zu übergehen versuchte. Allerdings waren da immer noch genügend andere, die sie mit unverhohlener Neugierde anstarrten. Die Frage, ob »Das da« denn auch hoffentlich nicht ansteckend wäre, hatte sie schon mindestens hundertmal gehört.

Alexa entschied sich für eine blaue Leggins, die als besonders atmungsaktiv beschrieben wurde, und ein luftiges Langarmshirt. Als sie den Kauf bestätigte, poppte ein neues Fenster auf. Ein Wasserfall, bemooste Steine und ein riesiger Farn im Vordergrund erweckten sofort ihre Aufmerksamkeit. Das Foto hatte etwas Beruhigendes an sich, versprach aber gleichzeitig Abenteuer.

Gletscher, heisse Quellen, Weinberge und Strände – entdecken Sie mit Kiwi Coast & Mountain die Schönheiten Neuseelands.

Während Andi das Wok-Gericht nun mit Soja-Soße und Kräutern verfeinerte und immer noch auf Fachchinesisch über Betrugsmöglichkeiten im Internet referierte, studierte Alexa den Text unter der Überschrift. Es handelte sich um das Gewinnspiel eines neuseeländischen Outdoor-Sportartikelherstellers, der in Deutschland Fuß fassen wollte. Seine Ware lag eindeutig im gehobenen Preissegment. Zu gewinnen gab es eine vierwöchige Tour durch ganz Neuseeland, mit Highlights wie einem Bad in heißen Quellen, Rafting, dem Besuch eines Weinguts, Schwimmen mit Delfinen sowie mehreren Wanderungen.

Alexa klickte sich über den angebotenen Link weiter zu einer Seite, auf der es ausführlichere Informationen gab. Die Bilder sahen verlockend aus und fingen sie sofort ein. Sie sah sich bereits an jenem Wasserfall stehen oder in einem der landestypischen Hamilton Jetboats den Shotover River entlangbrausen.

Australien hatte sie gemeinsam mit Andi unmittelbar nach dem Abitur durchquert – klassisch als Backpacker, mit Rucksack und in Bussen. Doch nach Neuseeland hatte sie es trotz ihrer weitreichenden Auslandserfahrung und Reisebegeisterung bisher noch nicht geschafft.

Die Teilnahmebedingungen waren wie auf sie zugeschnitten: über achtzehn Jahre alt musste man sein, eine gute Kondition besitzen, sich in der Natur zu Hause fühlen und obendrein Social-Media-Affinität vorweisen.

In einem kurzen Text sollte sie sich vorstellen und erklären, warum sie genau die Richtige für das Neuseeland-Abenteuer war. Während sie aus den Augenwinkeln wahrnahm, dass Andi den Esstisch deckte, tippte sie:

Hallo, ich bin Alexa aus Freising, 34 Jahre alt und auf beinahe jedem Social-Media-Channel mit Menschen aus aller Welt befreundet, die genauso gerne wie ich über Gletscher wandern, Gipfel erklimmen, Flüsse durchwaten und in der Wildnis campen und dabei Wert auf beste Ausrüstung legen. Ich bin für jedes Abenteuer zu haben und schwimme auch notfalls mit Haien, falls es für eure Promotion notwendig ist

Sie gab ihre Kontaktdaten an, drückte dann auf Send.

»Schatz? Kommst du?«

Andi hatte bereits serviert.

Alexa legte das Tablet zur Seite und setzte sich an den Tisch. Das Wok-Gericht duftete verführerisch.

Vier Wochen, das war weit mehr als die Hälfte des Jahresurlaubs, der ihr künftig zustand, wenn sie erst einmal bei Berkmann und Partner zu arbeiten begonnen hatte.

Na ja.

Ihr Onkel, der die Kanzlei leitete, seit ihr Vater vor vier Jahren in den Ruhestand gegangen war, würde ihr da sicher entgegenkommen. Und überhaupt: Ihr Text war eine einzige plumpe Anbiederung. Vermutlich bewarben sich Tausende, die sich kreativer und ohne Effekthascherei präsentierten.

»Schatz? Also geht das in Ordnung?«

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Andi etwas von sich gegeben hatte, auf das er wohl eine Reaktion erwartete.

»Wie … was?«

Sie hob den Kopf.

Ihr Gegenüber seufzte mit gespielter Theatralik. »Nie hörst du mir zu! – Das Essen mit den Eltern. Morgen. Dreizehn Uhr.«

Mittags. Da ist wieder der ganze Sonntag zerrissen …

»Mit welchen Eltern? Deinen oder meinen?«

»Mit beiden. Deine Mutter lässt kochen. Zwiebelrostbraten.« Andi strahlte sie an, als wäre ihm gerade das Christkind erschienen. »Mein Wunschgericht!«

»Schön für dich.«

Alexa stocherte in ihrem Teller herum, auch wenn Gemüse und Tofu schmeckten. Die Aussicht darauf, ihren Sonntag an der Mittagstafel und anschließendem Kaffee-und-Kuchen im Haus der Eltern zu verbringen, sagte ihr dagegen weniger zu. Eigentlich hatte sie sich schon zum Tennis verabredet.

»Was ist denn daran so schlimm?« Andi runzelte die Stirn. »Ich meine … das letzte Mal haben wir sie an Neujahr gesehen. Das ist jetzt schon fast zwei Wochen her!«

Sie ließ das Besteck sinken.

»Deine Eltern habe ich das letzte Mal heute Vormittag gesehen, als ich ins Auto stieg! Deine Mutter wollte genau wissen, wo ich denn hinfahre! – Das war ja auch so schwer zu erraten, mit dem Tennisschläger unter dem Arm!«

»Alexa.« Andi verzog das Gesicht. »Nicht schon wieder dieses Thema! Diese Wohnung hier ist nur zum Übergang, das haben wir schon x-mal besprochen! Wenn du jetzt bald deinen festen Job antrittst, schauen wir uns nach Bauplätzen um und legen uns was Eigenes zu – maßgeschneidert! Aber du musst schon verstehen, dass ich die Notwendigkeit bisher noch nicht gesehen habe. Ich meine: Seit dem Abi haben wir vielleicht sieben Monate hier zusammen verbracht. Den Rest der Zeit warst du im Ausland und auf sonstigen beruflichen Stationen. Dafür, dass ich die meiste Zeit alleine wohne, muss ich mir ja keine eigene Bude zulegen, da reichen zwei Zimmer, Küche, Bad …«

Und bei Mama zum Abendessen einfallen ist auch bequem, ging es Alexa durch den Kopf. Unmittelbar danach schalt sie sich selbst. Wer hatte hier gekocht? – Andi Bequemlichkeit zu unterstellen war unfair. Rational betrachtet, hatte er ja völlig recht. Für ihn allein war die Einliegerwohnung eine zweckmäßige und auch kostengünstige Lösung. Dass er weder Miete zahlen noch Eigentum abstottern musste, hatte ihm in den vergangenen Jahren immerhin ermöglicht, ihr problemlos nachzureisen.

»Schon okay«, lenkte sie ein. »Morgen um eins, bei meinen Eltern. Ist notiert.« Sie unterstrich ihre Worte durch ein flüchtiges Lächeln, das seine Wirkung nicht verfehlte: Andi grinste erfreut zurück und entblößte seine makellosen Zähne.

Gleichzeitig begannen Alexas Arme zu jucken. Sie musste sich beherrschen, um nicht zu kratzen.

»Jedenfalls würde sich das Palazzo Fluviale sehr gut eignen. Seit der Renovierung sind die Räumlichkeiten top – und die Küche ist ein Gedicht! Dein Vater und ich sind dort nicht umsonst Stammgäste. Und die bieten nicht nur italienische Speisen, sondern internationale Kost. Sogar dieses Fischzeug … Sushi … das ihr so mögt! Die haben sogar einen echten chinesischen Koch dafür eingestellt!«

Elisabeth Berkmann hatte sich in Fahrt geredet. Die Mittsechzigerin, deren kinnlanger, mittlerweile dunkelgrauer Bob stets so aussah, als käme sie frisch vom Friseur, ging voll in ihren Planungen auf. Dass sie die Hochzeitsvorbereitungen ihrer Tochter und des künftigen Schwiegersohnes aus ihrem eher monotonen Alltag rissen, war kein Geheimnis. Sie hatte schon an den Weihnachtsfeiertagen kaum anderen Gesprächsstoff gefunden und auch an Neujahr damit die Unterhaltung bei Tisch bestritten. Auch bei ihren häufigen Anrufen brachte sie das Thema zur Sprache, stets gespickt mit Vorwürfen und Ratschlägen, was die Brautleute versäumt hätten, noch tun müssten und bloß nicht vergessen dürften. Während Andi die Euphorie seiner künftigen Schwiegermutter mit stoischer Gelassenheit ertrug, kämpfte Alexa zeitweise gegen ihren inneren Drang, einfach alles hinzuschmeißen.

Es war für sie immer klar gewesen, dass Andi und sie irgendwann heiraten würden. Dass eine Hochzeit aber mit diesem künstlich erzeugten Stress verbunden sein musste, stieß ihr zunehmend sauer auf.

»Sushi kommt aus Japan, nicht aus China«, sprach Günter Berkmann aus, was sich ansonsten wohl jeder bei Tisch nur gedacht hatte.

»Wenn schon. Ob Chinese oder Japaner – was tut das zur Sache?« Seine Frau ließ sich nicht beirren. »Als Deutsche kann ich ja auch einen Wiener Apfelstrudel zubereiten!«

… wenn es sein muss, setzte Alexa in Gedanken hinzu. Ihre Mutter hasste es genauso wie sie, in der Küche zu stehen und in Töpfen zu rühren. Als Tochter eines Keksproduzenten war Elisabeth mit Personal aufgewachsen und gewohnt, dass Essbares von dienstbaren Geistern gekocht und serviert wurde. Dass sie seit der Heirat gezwungen war, die Mahlzeiten selbst zuzubereiten, betrachtete sie als gesellschaftlichen Abstieg. Auch wenn sie sich inzwischen eine Haushälterin hätten leisten können – ihr Mann verweigerte ihr diesen Luxus weiterhin, was immer wieder einmal zu Streit in der Ehe führte. Dabei bedeutete das Essen ihr weniger als der Verzicht darauf: Dank eines strikten Ernährungsplans, von dem sie allenfalls sonntags und zu Festtagen abwich, trug sie noch immer Größe sechsunddreißig. Immerhin gestand Günter ihr zu, dass sie ein Catering bestellen durfte, wenn Gäste eingeladen waren.

»Wenn jemand so gut kochen kann wie du, liebe Elisabeth, dann ist selten irgendetwas ein Problem«, wandte Wilhelm Wagner, Andis Vater, ohne einen Hauch von Ironie ein, während er sich mit der Serviette die letzten Reste Bratensoße aus den Mundwinkeln tupfte. Dass der Zwiebelrostbraten samt Beilagen, den er gerade verspeist hatte, von einer örtlichen Metzgerei in Alupfannen angeliefert worden war, schien ihm tatsächlich nicht bewusst zu sein. »Von mir aus könntest auch du für die Hochzeitsgesellschaft kochen!«

Die Anwaltsgattin verlor einen Moment lang den verbissenen Gesichtsausdruck, der ihre Hochzeitsratschläge immer begleitete. »Für so viele Leute würde ich das gar nicht hinkriegen«, erwiderte sie und wirkte gekonnt verlegen. Alexa staunte auch dieses Mal wieder, wie unverfroren ihre Mutter die Tatsachen verschleiern konnte. »Die Gästeliste wird ja schier endlos, bei den vielen Menschen, mit denen Alexa sich in den vergangenen Jahren angefreundet hat! Das wird sowieso eine Herausforderung, die alle in Freising unterzubringen! Und das so kurzfristig! Ich hoffe wirklich, dass überhaupt noch genug Hotelzimmer verfügbar sind, wenn ihr euch dann endlich dazu entschlossen haben solltet, eure Einladungskarten zu verschicken! – Günter und ich haben ein Jahr im Voraus geladen, und wir haben jedem die Einladung persönlich vorbeigebracht!«

»Das dürfte in unserem Fall schwierig werden.« Andreas grinste. »Bei Alexas Freundeskreis müssten wir dann wohl erst einmal auf Weltreise gehen.«

Was sowieso keine schlechte Idee wäre.

Alexa sah verstohlen auf ihre Armbanduhr. 14.30. Und sie waren noch nicht einmal beim Dessert … Das Tennis-Match fiel also wirklich flach. Wenn sie Glück hatte, schaffte sie es vielleicht am späten Nachmittag noch ins Fitness-Studio, ehe der abendliche Ansturm auf Laufband und Crosstrainer ansetzte.

»Mama, das ist eine Hochzeit, kein Weltkongress.« Vielleicht war es Zeit, ihre Mutter wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. »Es sind nur hundertzwanzig Gäste, und wir wissen noch nicht mal …«

»Um Gottes willen!« Ulla Wagner, die die Diskussion bisher nur mitverfolgt hatte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Hundertzwanzig!« Die Zahnärztin, die seit der Pensionierung ihres Mannes die Praxis gemeinsam mit Sohn Andi führte, legte ihrem Wilhelm demonstrativ die Hand auf die breite Schulter. »Willi und ich haben damals nur vierzig Leute geladen – und das kam uns schon viel vor! – Ist das denn wirklich notwendig?«

Ihr Blick ruhte auf Alexa.

Wegen mir sicher nicht …

»Wir könnten auch einfach nur am Strand auf Hawaii heiraten«, bemerkte sie mit Schulterzucken. »Nur Andi und ich, im knappen Höschen und mit einer Muschelkette um den Hals.«

Der Schwiegervater tarnte das Lachen, das ihm auskam, mit einem kurzen Hustenanfall. »Bei dir bin ich sicher, du würdest das deiner Mutter wirklich antun. Zum Glück hat Andi da aber auch noch ein Wörtchen mitzureden.«

Elisabeth Berkmann, die mit dem Abräumen des Geschirrs begann, schickte ihr einen auffordernden Blick. Alexa erhob sich widerwillig und ging ihr zur Hand. Mit dem Abservieren hatte sie weniger ein Problem als mit der Aussicht, eine Weile allein mit der Mutter in der Küche zu sein.

Ihre Erwartung, dass gleich noch mehr Anmerkungen zur Hochzeit kämen, erfüllte sich zur Gänze. Alexa ließ sich berieseln, während sie die Spülmaschine einräumte. Erst als ihre Mutter das Thema wechselte und dabei sogar die Stimme senkte, wurde sie wieder hellhörig.

»… dass das mit Andis Wohnung bei den Wagners ja keine Dauerlösung sein kann. Dein Vater und ich haben daher entschieden, euch eine kleine Finanzspritze für den Baugrund zu geben.«

Bestand eine telepathische Verbindung zwischen ihren Eltern und ihrem Verlobten? – Fast kam es Alexa so vor.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob wir wirklich bauen werden«, sprach sie offen aus, was sie Andi gegenüber bisher nur angedeutet hatte. »Ich möchte lieber in München wohnen; da ist schließlich auch die Kanzlei. Ich habe keine Lust, täglich zu pendeln.«

»Dein Vater ist auch täglich gependelt. Über fünfundzwanzig Jahre lang! Der hat sich nie beklagt. Und mittlerweile gibt es ja auch die S-Bahn.« Ihre Mutter, die den Küchentisch abgewischt hatte, sah auf. In ihren Augen stand diese unterschwellige Missbilligung, die bei Alexa schon als Kind Beklemmungszustände ausgelöst hatte. »Überhaupt – eine Stadtwohnung! Ihr beide mögt ja ganz gut verdienen, aber in der Größe, die für eine Familie wirklich angemessen ist, wird das ein teurer Spaß. – Jetzt guck doch nicht so! In den nächsten zwei, drei Jahren solltest du dich umtun! Auch deine biologische Uhr tickt!«

»Entschuldige mich.« Alexa wandte sich brüsk ab und flüchtete ins Badezimmer. Der Juckreiz ließ sich diesmal nicht durch Willenskraft besiegen. Sie kratzte sich die Arme wund, bis Blut kam, froh darüber, dass ihr dunkelblauer Pullover die offenen Stellen verdecken würde.

Etwas zu erklären, wofür sie selbst keine Worte fand – dazu hatte sie im Moment keine Kraft.

Wien

An einem Samstag auf Wiens beliebtester Einkaufsstraße nach einer zweckmäßigen Jacke zu suchen, war prinzipiell keine gute Idee für jemanden, der Menschenmassen verabscheute. Es obendrein am Samstag nach den Weihnachtsferien zu tun, wenn diejenigen, die endlich vom Skiurlaub zurück waren, Geschenke umtauschen oder ihr Weihnachtsgeld ausgeben wollten, grenzte schon an Masochismus.

Zu dieser Erkenntnis kam Susanne, während sie sich vom Westbahnhof in Richtung Volkstheater vorkämpfte. In zwei Geschäften war sie bereits eingefallen. Im ersten gab es genau die Art von Jacke, die ihr vorschwebte – mit warmem Innenfutter zum Herausnehmen und wetterfestem Außenstoff. Doch leider waren die reduzierten Jacken in ihrer Größe schon vergriffen, und für die reguläre Ware reichte ihr Budget nicht. Im zweiten Laden fühlte sie sich bei lautstarker Hip-Hop-Musik und Massen von Teenagern, deren Mutter sie hätte sein können, schlichtweg unwohl. Die im Schaufenster ausgestellte preislich erschwingliche Jacke zu probieren, fiel flach.

Möglicherweise hätte sie doch Trudis Rat folgen und online bestellen sollen, ging es ihr durch den Kopf, während sie nun eines der wenigen großen Kaufhäuser betrat. Im dritten Stock gab es eine Sportabteilung. Susanne fuhr mit der Rolltreppe nach oben, während sie ihren Blick über die Menschen schweifen ließ, die zwischen den Stockwerken herumwuselten wie in einem Ameisenhaufen.

Sie hasste das, aber etwas im Internet zu bestellen, ging gegen ihr Prinzip. Die kleinstädtische Buchhandlung im Burgenland, in der sie seit über einem Jahrzehnt arbeitete, hatte gerade deshalb zu kämpfen – weil die Kunden lieber per Mausklick beim Versandhandel bestellten, anstatt in den Laden zu kommen. Dass Trudi, die Inhaberin, zu genau derselben Lösung griff, sobald sie in die Rolle der Kundin schlüpfte, war und blieb für Susanne unbegreiflich. Trudis vage Argumente, von einem knappen Zeitbudget (»Der Laden, die Kinder, mein Mann, der Haushalt, der Garten!«) bis hin zur größeren Auswahl (»Mir passt ja nix im Geschäft, bei meiner komischen Figur!«) hörten sich für sie nach schwachen Ausreden an.

Da Trudi und sie miteinander gnadenlos offen waren und damit das herkömmliche Muster von Chefin und Angestellter sprengten, hatte sie ihr das selbstverständlich ins Gesicht gesagt. Trudi hatte nur hilflos mit den Schultern gezuckt und fünf Minuten später wieder dieselben Ausreden parat, wenngleich in andere Worte verpackt. Susanne hatte wieder einmal einsehen müssen, dass es völlig unmöglich war, mit Trudi zu debattieren oder gar zu streiten.

Im dritten Stock schlug Susanne ein olfaktorisches Potpourri aus Gummi, Plastik und Schweiß entgegen. Sie musste sich regelrecht dazu überwinden, sich an Skisachen und Laufschuhen vorbei zur Oberbekleidung zu kämpfen. Die Jacken, über denen das Sale-Schild baumelte, glänzten in grellen Neonfarben. Dass sie übrig geblieben waren, überraschte Susanne genauso wenig wie die Tatsache, dass sie jetzt – um fünfzig Prozent reduziert – regen Zulauf fanden. Publikum, das sich nur selten in einen Buchladen verirrte, graste die Ständer mit Verbilligtem ab. Vor den Umkleiden links hatte sich bereits eine Schlange gebildet.

Nun, die brauchte sie sowieso nicht, um eine Jacke zu probieren. Ein günstiges Modell aus der Frühjahrskollektion weckte Susanne Interesse. Sie schlüpfte aus ihrem Mantel, legte ihn über den nächstbesten Kleiderständer und klemmte ihre Tasche zwischen die Knie, um freie Hände zu haben.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Eine junge Verkäuferin im knallroten T-Shirt tauchte wie aus dem Nichts auf.

Eigentlich nicht, lag es Susanne auf der Zunge, doch sie überlegte es sich anders. Das Teil, in das sie geschlüpft war, fühlte sich an wie eine etwas bessere Plastiktüte.

»Ist die Jacke eigentlich atmungsaktiv?«

»Ähmm.« Die Verkäuferin wirkte überfragt. »Da müsste ich mal nachschauen«, gab sie schließlich zu. Was sie damit meinte, begriff die Buchhändlerin erst, als die junge Frau sich herabbeugte. »Wasserabweisend. Bei dreißig Grad in der Maschine waschbar«, las sie von dem Kartonetikett ab, das mit dem Preisschild am Reisverschluss der Seitentasche baumelte, und richtete sich wieder auf. »Also, mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.«

»Danke.«

Höflich bleiben. Du weißt, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen …

Die junge Frau – sie war sicher noch keine zwanzig – konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Arbeitgeber anscheinend keinen Wert auf Fachkompetenz und eine gute Ausbildung legte.

»Ich kann Ihnen ein anderes Modell bringen.«

Sie ist zumindest bemüht.

»Ja … gut. Größe achtunddreißig, wasserabweisend, kein Plastik, mit herausnehmbarem Innenfutter und nicht zu teuer. Keine Neonfarben.«

»Okay.«

Als sie zurückkam, hatte sie eine einzige Jacke dabei – in hellrosa. Susanne hob irritiert die Augenbrauen.

»Es ist keine Neonfarbe«, rechtfertigte sich die Verkäuferin sofort. »Und ich bin sicher, das würde Ihren Typ unterstreichen.«

Susannes Augenbrauen stiegen noch um einiges höher, während ihre Lust, weiter in diesem Laden zu verweilen, in den Keller sank.

»Danke. Aber: nein, danke.«

Sie drehte der Frau den Rücken zu und wollte nach ihrem Mantel greifen. Der Griff ging ins Leere. Dort, wo sie ihn abgelegt hatte, glänzte nur noch die schmucklose Stange des Garderobenständers. Auch am Boden lag er nicht.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie das Unglaubliche realisierte: Irgendwer hatte ihr hinterrücks den Mantel geklaut – einen ganz gewöhnlichen, schon mehrere Jahre alten Wollmantel! Massenware!

Die Verkäuferin wollte nichts bemerkt haben. Der herbeigerufene Kaufhausdetektiv zeigte sich ratlos. Ein kurzer Rundgang durch das gesamte Geschäft blieb ohne Resultat. Vermutlich hatte der Dieb oder die Diebin das Gebäude längst verlassen. Eine Viertelstunde später traf die verständigte Polizeistreife ein und nahm Susannes Anzeige auf. Die Uniformierten ließen sie gleich wissen, dass die Aussicht, ihren Mantel wiederzubekommen, bei null lag. Sie hatte nichts anderes erwartet.

Draußen hatte es minus fünf Grad. Vor ihr lagen ein Fußmarsch, die Fahrt mit einigen öffentlichen Verkehrsmitteln und eine einstündige Zugreise nach Eisenstadt. Ausgeschlossen, dass sie die Heimreise im Pullover antrat!

Susanne kapitulierte. Zähneknirschend kaufte sie die rosa Jacke mit dem geschmacklosen grünen Innenfutter, weil sie sonst alles bot, was ihr wichtig war.

Diesmal nahm sie den Lift ins Erdgeschoß und passierte eilig den Spiegel mit der blassen Frau in einer schweinchenfarbenen Hülle, die weder zu ihrem Teint noch zu ihren rötlichbraunen Haaren passte.

Dieser Tag hat sich ja voll gelohnt.

Sie wollte nach Hause, schnellstmöglich. Ihre Lust auf einen Stadtbummel, die ohnehin nie besonders ausgeprägt gewesen war, hatte sich vollkommen verflüchtigt. Als sie in der U-Bahn in Richtung Hauptbahnhof saß, tröstete sie lediglich der Gedanke an das benutzte Taschentuch in der linken Manteltasche und an den Knopf, der vorne fehlte.

»Hej, Sie! Ja, Sie meine ich, in der rosa Jacke!« Ein junger Bursche – kaum älter als die Verkäuferin in der Sportabteilung – zappelte vor Susanne herum. In der Hand schwenkte er einen Flyer oder eine Art Formular. »Einen Augenblick nur!«

»Keine Zeit!« Susanne, die auf ihrem Weg zum Bahnhof die Abkürzung durch das neuerbaute Einkaufszentrum genommen hatte, versuchte ihm auszuweichen. Dabei prallte sie gegen einen anderen jungen Mann, der – dem weißen Langarm-Shirt mit dem übergroßen Logo auf der Brust nach zu urteilen – zur selben Werbefirma gehörte wie sein Kollege.

»Hoppla, nicht so stürmisch, schöne Frau! – Sie sehen so aus, als könnten Sie einen wunderbaren Urlaub vertragen!«

Das charmante Lächeln des jungen Mannes ließ Susannes Empörung verpuffen. Der junge Kerl war vermutlich Student und verdiente sich mit dem Verteilen von Werbezetteln ein paar Euros dazu. Für ihre schlechte Laune konnte er nichts.

»Von mir aus … geben Sie mir Ihren Flyer, und gut ist.«

»Nein, nein, so schnell entkommen Sie mir nicht! Wir werden das Ticket für Ihren Urlaub gleich gemeinsam ausfüllen …«

»Hören Sie.« Susanne warf einen nervösen Blick auf ihre Armbanduhr. »In zehn Minuten geht mein Zug.«

Dass noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt verstreichen würden, brauchte er nicht zu wissen. Sie war eben gerne überpünktlich.

»Nur kurz! In weniger als fünf Minuten haben Sie quasi Ihr Ticket nach Neuseeland …«

Ein Gewinnspiel also.

»Das wohl kaum. Aber Sie haben dann meine Daten und werden mich mit Werbung überfluten«, hielt sie ihm entgegen. »Außerdem, ich will gar nicht nach Neuseeland!«

»Jetzt kommen Sie schon!« Der junge Mann ließ sich nicht beirren und lotste sie zu einem Stehtisch. »Sie gewinnen doch sicher sowieso nicht ätzende vier Wochen in diesem öden Land, sondern den zweiten oder dritten Preis … eine Komplettausstattung von Kiwi Coast & Mountain: Wanderhosen, Fleecepullis, T-Shirts, Schuhe. Und eine tolle Outdoor-Jacke!«

Er nahm sie auf den Arm, keine Frage. Das Schlagwort Outdoor-Jacke ließ sie jedoch aufhorchen. Noch nie hatte sie Glück bei Gewinnspielen. Aber vielleicht meinte es das Schicksal diesmal gut mit ihr. Die nächsten Jahre in Rosa herumzulaufen, war keine Lösung.

»Was muss ich tun?«

Der Student schob ihr ein Formular zu. »Einfach alle freien Felder entsprechend ausfüllen, fertig. – Haben Sie von Kiwi Coast & Mountain schon mal gehört?«

Während sie Name, Adresse, Alter, Größe und Gewicht eintrug – was die alles wissen wollten! –, hörte sie mit halbem Ohr zu, wie ihr selbsternannter Betreuer die Marke anpries. Noch so ein Outdoor-Ausstatter, dessen Angebot schon allein wegen der Preise für sie niemals infrage käme.

Was? Einen richtigen Bewerbungstext wollen die auch noch?

Susanne fühlte sich ganz und gar nicht in Stimmung für literarische Ergüsse. Doch auf eine neuerliche Diskussion mit dem jungen Mann hatte sie auch keine Lust, außerdem drängte die Zeit. Also schrieb sie:

Mein Name ist Susanne Auer. Ich bin eine voll uncoole Buchhändlerin in einer echten Buchhandlung und verkaufe Bücher (zum Anfassen! Nicht digital!) ganz ohne Windschutz und Wärmeregulierung. In meiner derzeitigen Outdoor-Jacke sehe ich aus wie ein rosa Plastikschwein und mein größter Traum ist es, in überteuerter Funktionskleidung einen neuseeländischen Gipfel zu stürmen. Selbstverständlich werde ich dabei alle zehn Meter ein Selfie schießen, die Vorzüge Ihrer Firma preisen und tausend virtuelle Freunde wissen lassen, dass meine sportliche Höchstleistung ohne diese tolle Ausstattung gar nicht möglich wäre!

Die letzten Zeilen brachte sie in dem Textfeld kaum unter. Egal. Sie drückte dem jungen Mann das Formular in die Hand und setzte ihren Weg zum Bahnsteig fort.

Das Wohnzimmer leerte sich allmählich. Als erstes hatten sich die Hohenbergers von gegenüber verabschiedet, dann die Maierhofers und die Grundls. Die Geräuschkulisse, die hauptsächlich durch die insgesamt siebenköpfige Kinderschar verursacht worden war, hatte sich dadurch schon deutlich reduziert.

Susannes Kopfschmerzen dagegen hielten sich hartnäckig. Seit sie an diesem Sonntagnachmittag das Haus ihrer Schwester betreten hatte, pochten ihre Schläfen. Das Aspirin hatte kaum Linderung gebracht.

Die zwei Jahre jüngere Veronika – oder Vero, wie sie von Kindheit an genannt wurde –, feierte ihren neununddreißigsten Geburtstag ganz traditionell mit Kaffee, einer beachtlichen Auswahl an Torten und der halben Nachbarschaft. In der kleinen Siedlung, in der sie kurz nach ihrer Heirat vor zehn Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Helmut gebaut hatte, waren nahezu alle Jungfamilien miteinander befreundet. Dementsprechend belebt ging es bei den Feiern zu.

»Tante Sanne, komm mit!« Lisa, Susannes achtjährige Nichte, zupfte sie hartnäckig am Arm. »Hanna und ich wollen dir was zeigen …«

»Nix da, ihr beiden! Erstens hat die Tante Sanne Kopfweh, zweitens werden wir jetzt heimfahren! Hanna, morgen hast du Rechenprobe, und ich will mir noch deine Aufgabe anschauen! Hey, stop!« Trudi Baumgartner, dunkelhaarig mit ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, erhob sich vom Sofa und packte ihre Tochter, die schon wieder davonflitzen wollte, gerade noch am Arm. »Hanna!« Ihre Stimme bekam jenen mahnenden Unterton, der signalisierte, dass sie kurz vorm Explodieren stand. »Du holst jetzt deinen kleinen Bruder und ziehst dir Schuhe an.«

»Aber …«

»Nichts aber! Der Papa kommt um sechs vom Fußball, und dann wollen wir ja zu Hause sein.«

Maulend zog Hanna in Richtung Kinderzimmer ab, während Lisa unschlüssig vor der Couch verharrte.

»Kommst du jetzt, oder kommst du nicht? – Ich wollte dir doch das Barbiehaus zeigen.«

»Nachher, Mäuschen.« Susanne strich ihr über den Arm. »Wenn Trudi, Hanna und Tobias weg sind und ich deiner Mama beim Aufräumen geholfen habe.«

»Aber …«

»Nichts aber. Du hast es gehört.« Diesmal ergriff das Geburtstagskind selbst das Wort. »Überhaupt – räum erst einmal das Zeug hier weg! Unser Wohnzimmer ist nicht euer Spieleparadies, das habe ich schon x-mal klargestellt!«

Lisa schnitt ein Gesicht, tat aber dennoch wie geheißen.

»Also, wir packen es jetzt.« Trudi drückte Vero nun, da ihre Kinder startklar waren, zwei Abschiedsküsse auf die Wangen. »Danke für die Einladung. Ich hoffe, wir konnten dich darüber hinwegtrösten, dass dein Mann heute lieber das runde Leder kickt, als mit dir zu feiern.«

»Ach, der Helmut holt das irgendwann schon nach.« Veronika winkte ab. »Es ist ja kein runder Geburtstag. Außerdem geht es um die Kreismeisterschaften. Hoffen wir, dass sie diesmal den Pokal nach Hause holen, dann werden sie wieder ausgeglichener …«

»Es ist ja sowieso ein Irrsinn um diese Jahreszeit.« Trudi schüttelte amüsiert den Kopf. »Mitten im Januar spielen die um einen Meistertitel! Und das nicht mal in der Halle. Da kann ich gleich die Waschmaschine anwerfen, wenn der Markus nach Hause kommt! Am besten, ich stopfe ihn gleich mit hinein!«

Die beiden Frauen lachten gemeinsam, und Susanne fühlte erneut dieses leichte Stechen in ihrer Brust, das sie zusätzlich zu den Kopfschmerzen bereits durch den gesamten Tag begleitet hatte. Vor acht Jahren hatte sie ihre Schwester mit ihrer Chefin bekannt gemacht. Es hatte sich so ergeben, auf einer ihrer Geburtstagsfeiern, zu denen sie damals noch eine größere Runde einlud. Die beiden Frauen – beide verheiratet, ein Kleinkind im selben Alter und zu diesem Zeitpunkt erneut schwanger – verstanden sich auf Anhieb. Dass Trudi zu Veronikas bester Freundin geworden war, verwunderte Susanne keineswegs.

Die enge Freundschaft der beiden störte sie nicht. Im Gegenteil, sie genoss dadurch den Vorteil, dass sie die zwei Menschen, die ihr seit dem Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren am nächsten standen, oft im Doppelpack genießen konnte. Situationen wie diese führten ihr allerdings schmerzhaft vor Augen, was sie vom Rest der Gesellschaft trennte. Einer alleinstehenden, kinderlosen Frau über vierzig am Land fehlten einfach die Gemeinsamkeiten. Sie hatte keinen Mann, der mit den Männern ihrer Freundinnen Fußball spielte, und keine Kinder, die mit denen der Freundinnen die Schule besuchten. Auf Dorffesten fühlte sie sich oft wie Veros Anhang. Auf dem letzten Feuerwehrball vor drei Jahren, zu dessen Besuch sie überredet worden war, hatte sich Helmut ein paar Mal erbarmt, mit ihr zu tanzen. Ansonsten wäre sie den ganzen Abend nur herumgesessen.

»Sag mal, was ist eigentlich wirklich mit dir los?«

Die Türe war hinter Trudi und den Kindern ins Schloss gefallen; Lisa und ihr kleiner Bruder Florian tobten dem Gekreische nach im Kinderzimmer herum. Susanne schob die verschiedenen Tortenreste auf einer Platte zusammen, als die direkte Frage ihrer Schwester sie in der Bewegung innehalten ließ.

»Ich habe Kopfschmerzen, weiter nichts. Liegt sicher am Wetter.«

»Ach, komm!« Vero schüttelte so heftig den Kopf, dass sich die Haarspange löste und zu Boden fiel. Ihr schnurgerades, feines Haar, das auch im Farbton dem von Susanne glich, reichte inzwischen bis knapp zu den Schultern. Seit sie ihre Kurzhaar-Phase überwunden hatten, sahen sie sich wieder zum Verwechseln ähnlich – zumindest von fern. Aus der Nähe betrachtet war Susannes Gesicht schmäler und ihre Lippen dünner. Außerdem hatte Vero keine Sommersprossen.

»Diese Kopfschmerzen hast du in letzter Zeit recht häufig. Und heute hast du kaum was geredet. – Gefällt es dir nicht mehr auf meinen Feiern? Ich verstehe ja, wenn dir das zu viel ist … mit den ganzen Kindern … Für dich muss das die Hölle sein mit diesem permanenten Gekreische und dem Trubel!«

Genau das ist das Thema.

Susanne legte die Alufolie weg, mit der sie gerade die Tortenstücke hatte bedecken wollen, und drehte sich langsam um. »Dass ich kinderlos bin, weiß ich selbst, das müsst ihr mir nicht immer unter die Nase halten!« Ihr Tonfall klang patziger als beabsichtigt. »Darum geht es doch gar nicht! Du weißt, dass ich Kinder mag! Eure zumindest. – Ich komme mir oft einfach nur so«, sie suchte nach dem passenden Wort, »randständig vor! Als hätte ich den Anschluss verpasst. Ich meine: Bei euch geht alles vorwärts. Das Haus ist bald abbezahlt, die Kinder werden älter, du hast nach deiner Karenz schon zweimal den Job gewechselt und jetzt einen wirklich tollen Arbeitgeber, Helmut übernimmt im nächsten Jahr, wenn sein Chef in Rente geht, das Fliesengeschäft … nur bei mir tut sich gar nichts! Alles bleibt immer gleich.«

»Ja, freu dich doch!« Susanne lachte verständnislos. »Diesen Bewerbungsmarathon, den ich hinter mich bringen musste, wünsche ich wirklich keinem. Und während du einfach nur zwanzig Minuten gemütlich mit dem Auto nach Eisenstadt fährst, muss ich für meine Arbeit täglich zwei Stunden pendeln! So witzig ist das auch nicht. – Überhaupt … was das Haus betrifft: Unser Elternhaus hast du geerbt, nicht ich!«

Sie will mich nicht verstehen.

Susanne seufzte resigniert.

»Darum geht es doch gar nicht. Ich weiß, dass ich es gut habe. Eigentlich. Aber vielleicht kannst du …«

»Ha!« Vero stieß einen leisen Schrei der Erkenntnis aus. »Jetzt weiß ich es: Du trauerst noch immer dieser Irmgard hinterher. Deshalb bist du so mies drauf! – Ich habe es dir vor zwei Jahren gesagt, und ich sage es dir gern noch mal: Diese Irmgard war eine …«

»Stopp!« Susanne hob die Hand. Was sie am allerwenigsten brauchte, war die x-te Wiederholung dessen, was ihre Schwester an der Exfreundin gestört hatte. Vero hatte Irmgard, die Grazer Kinderärztin, von Anfang an nicht gemocht. Arrogant, besserwisserisch, abgehoben – das waren noch die positivsten Adjektive, mit der sie ihren Unwillen zum Ausdruck gebracht hatte. »Ich bin über Irmi wirklich hinweg. Einer Beziehung nachzutrauern, die sowieso nur ein halbes Jahr gedauert und sich auf gemeinsame Wochenenden beschränkt hat, wäre auch wohl alles andere als gesund, oder?«

Vero zog die Augenbrauen nach oben. In ihrem Gesicht stand blanke Skepsis.

»Es geht nicht um Irmgard«, fuhr Susanne fort. »Auch nicht um Lara, Nicole, Sonja oder irgendeine andere Frau, wegen der ich in den letzten zehn Jahren schlaflose Nächte und Liebeskummer hatte. Es geht darum, dass mich diese Gesamtsituation allmählich zermürbt! Ich meine, was ist an mir so verkehrt, dass keine Beziehung hält? Warum bin ausgerechnet ich, die doch eine feste Partnerschaft wollte, noch immer allein?«

Unwillkürlich stiegen ihr die Tränen in die Augen. Ihre bisher längste Beziehung hatte gerade einmal zwei Jahre gedauert – mit Sonja, die dann heterosexuelle Läuterung erfuhr und mittlerweile mit einem Gärtner verheiratet war.

»Sanne! Nichts ist an dir falsch.« Vero legte ihr den Arm um die Schultern und geleitete sie fürsorglich zum Sofa. »Du wohnst, was deine sexuelle Orientierung betrifft, vielleicht nur am falschen Ort. In Wien wäre es sicher leichter, eine kennenzulernen.«

Susanne ließ sich in die weichen Polster fallen.

»Ich bin doch eigentlich recht umgänglich. – Ich bin nicht streitsüchtig, ich habe Bildung, ich habe für mein Alter eine ganz passable Figur …«

»Komm, hör auf, du machst dich nur selber fertig!« Vero klopfte ihr auf die Schulter. »Du bist eine wundervolle Schwester! Es tut mir wirklich von Herzen leid, dass noch keine Frau erkannt hat, was für eine tolle, liebevolle Partnerin du wärst – auch auf Dauer. Vielleicht brauchst du einfach nur eine Veränderung. Etwas, was dich aus dem Alltagstrott herausreißt. Ein neues Hobby vielleicht.«

»Ich wüsste nicht, was das sein könnte.« Susanne wischte sich verstohlen Tränen aus den Augen. Ihrer Schwester vorzuheulen und in Selbstmitleid zu ertrinken, änderte nichts, ruinierte aber Veros Geburtstag. »Aber ich denke darüber nach.« Sie brachte ein mickriges Lächeln zustande.

»Bist du …«, begann Vero, doch im selben Moment hörten sie, wie die Haustüre aufgesperrt wurde.

»Hallo!« Helmut streckte den Kopf zur Wohnzimmertür hinein. »Schon alle weg?«

»Na, was glaubst du? Dass alle warten, bis unser Fußballstar nach Hause kommt?« Vero grinste ihn breit an. »Zieh deine Schuhe aus und alles, was sonst noch schlammig ist, und setz dich zu uns! Wir haben dir auch ein Stück Torte übergelassen.«

»Alles ausziehen, was schmutzig ist?« Helmut grinste. »Liebling, wir sind nicht allein, deine Schwester ist noch hier.«

»Nicht mehr lange.« Susanne erhob sich. »Ich wollte ohnehin gerade gehen.«

»Also, so war es jetzt nicht gemeint …« Ihr Schwager wirkte perplex.

»Bleib doch noch zum Abendessen«, versuchte Vero sie zu überreden, doch Susanne stand schon bei Helmut im Vorraum und ließ sich von ihm in die Jacke helfen.

»Interessante Farbe«, stellte er fest. An seinem Schmunzeln war klar abzulesen, was er von ihrem schweinchenfarbenen Notbehelf hielt.

»Bloß kein Neid«, konterte sie trocken. »Schau doch mal ins Sportgeschäft – vielleicht haben sie die ja auch in deiner Größe.«

»Tolle Idee. Das verhilft mir dann zu einem ganz neuen Image im Dorf.« Helmut machte ein paar gespreizte Bewegungen und schob in höherer Stimmlage hinterher: »Hallo, ich bin der Helmut und entdecke gerade meine zweite Natur!«

Dann schien ihm bewusst zu werden, dass weder seine Frau noch Susanne lachten.

»Tschuldigung.« Er wirkte aufrichtig zerknirscht. »Ich wollte jetzt nicht homophob rüberkommen …«

»Schon gut.« Susanne winkte müde ab. »Wie gesagt, ich muss heim. Heute ist einfach nicht mein Tag.«

Sie gab ihrem Schwager nicht die Chance, nachzufragen, sondern verabschiedete sich zügig. Vermutlich würde ihm Vero ohnehin alles erzählen und damit ihren Ruf als einsame, traurige Verwandte zementieren.

Knappe zehn Minuten später betrat sie ihr eigenes Zuhause. Sie hatte den Lichtschalter noch nicht betätigt, als sie auch schon ein warmes, haariges Etwas am Bein spürte. Mimi, eine der beiden Katzen, die sie vor rund eineinhalb Jahren auf einem Müllplatz entdeckt hatte, begrüßte sie schnurrend. Karli, Mimis Bruder, lag auf dem Sofa. Er hob den Kopf und miaute, als sie sich mit einem Glas Wein neben ihm niederließ und die Leselampe zurechtrückte. Sie hatte das Buch über die Geschichte einer algerischen Familie während der französischen Kolonialzeit kaum zur Hand genommen, als Karli auch schon auf ihren Schoß wechselte. Es verstrichen keine zwei Minuten, bis sich Mimi dazugesellte.

Ihre niedergedrückte Stimmung vom späten Nachmittag kam Susanne nun lächerlich vor. Wenn sie nach Hause kam, wartete zwar keine Partnerin auf sie, dafür zwei von ihr restlos begeisterte Fellknäuel, ein Glas Merlot und ein gutes Buch. Was hatte sie da schon zu klagen?

Dubai

Auf dem Weg in den Flughafen blies ein frostiger Wind. Als Susanne den Mitreisenden über die Gangway folgte, schlug ihr die Eiseskälte wie eine Wand entgegen. Lediglich die Angst, den Anschluss an die anderen Fluggäste zu verlieren und sich auf dem Weg zum Gepäckband in den unendlichen Weiten des Airports von Dubai zu verirren, hielten sie davon ab, kurz zu stoppen und ihre Jacke aus dem Reiserucksack zu holen.

Wieso ein Land, in dem es derzeit laut Boardbildschirm angenehme fünfundzwanzig Grad hatte, seinen Flughafen durch auf Hochtouren laufende Klimaanlagen in eine Art hochtechnisierten Nordpol verwandeln wollte, war Susanne ein Rätsel. Buchten die meisten Urlauber nicht gerade deshalb Dubai, um dem heimischen Winter zu entfliehen?

Sie selbst hatte gar nicht entkommen wollen. Ganz im Gegenteil. Hätten ihre Schwester und ihre Chefin nicht unisono auf sie eingeredet wie auf ein störrisches Pferd, würde sie jetzt wie jeden Werktag in der Buchhandlung in Eisenstadt stehen und den Kunden darin zustimmen, dass die Winter nicht mehr so waren wie früher, wo das Eislaufen auf dem zugefrorenen Neusiedler See im Februar als Fixpunkt galt und die wenigen Hügel der Gegend zu Rodelbahnen wurden, sobald nur ein paar Schneeflocken fielen. Der Schnee ließ dieses Jahr auf sich warten und am Neusiedler See hatten noch am Vortag ein paar hartgesottene Surfer im Neopren-Anzug ihre Bretter flottgemacht. Im Gegensatz zu ihr suchten sie wohl ein windiges Abenteuer.

Froh, sich nicht verlaufen zu haben, wartete sie am Gepäckband auf ihren Koffer. Warum nur hatte sie sich dazu verleiten lassen, an diesem komischen Gewinnspiel teilzunehmen? Und wenn sie dabei schon gewinnen musste, wieso ausgerechnet den Hauptpreis?! – Über die Outdoor-Ausrüstung hätte sie sich zumindest gefreut!

Dass ausgerechnet sie ausgelost worden war, kam ihr mehr als nur spanisch vor. Schließlich hatte sie nicht eines der sozialen Medien angekreuzt, bei denen sie als Teilnehmerin vertreten sein sollte, und ihr Bewerbungstext hatte vor Sarkasmus getrieft.

Wie auch immer. Jetzt stand sie hier auf dem Flughafen von Dubai, dem ersten Zwischenstopp ihres unfreiwilligen Trips ans andere Ende der Welt, und hoffte, dass die Vorfreude auf Neuseeland, die sich laut Vero gewiss einstellen würde, sobald sie erst einmal im Flieger saß, endlich eintrat. Doch statt erwartungsvoller Neugier verspürte Susanne auch nach der Landung nur Nervosität. Selbst als sie ihren Koffer endlich vom Gepäckband zog – entgegen ihrer schlimmsten Befürchtungen war es sogar angekommen, wollte sich diese nicht legen.

Wie auch? Erst einmal musste sie diese Frau von Kiwi Coast & Mountain finden. Letzteres erwies sich als leicht. Das große Schild mit dem KCM-Logo – ein wasserumspülter Berg mit schneebedecktem Gipfel und einem Surfer davor – war nicht zu übersehen. Eine hochgewachsene Blondine in High-Heel-Sandaletten, die sie noch fast zehn Zentimeter größer machten, redete aufgeregt auf eine Frau ein, die das Schild hochreckte und ihre Augen suchend über die Ankommenden wandern ließ.

Susanne erkannte die mit dem Schild sofort. Halblanges, streng nach hinten gekämmtes braunes Haar, ein auffallend großer Mund. Denise Schäfer, die Marketingleiterin von KCM Deutschland, war auf den Unterlagen abgebildet gewesen, die sie vor der Abreise erhalten hatte. Auch die Blondine war ihr schon aufgefallen, beim Umsteigen in Frankfurt und hauptsächlich wegen ihres geschmacklosen Kleidungsstils. Über weinroten Kunstlederleggings trug sie eine Tunika in allen möglichen Blautönen, dazu ein knallgrünes Halstuch. Auch an Make-up hatte sie nicht gespart, und als Susanne näher kam, fielen ihr in glänzendem Gold lackierte Fingernägel auf.

Wenn es sich bei dieser lebendigen Barbiepuppe um eine der anderen fünf am Outdoor-Abenteuer Neuseeland Teilnehmenden handelte, befreite sie das jedenfalls von allen Zweifeln, ob sie selbst für die in Aussicht gestellten mehrtägigen Wanderungen, Wildwasser-Fahrten und Übernachtungen unter freiem Sternenhimmel die richtige Person war. Barbie, die auch in Sachen Oberweite dem Plastikvorbild um nichts nachstand, konnte man sich auf gar keinen Fall dabei vorstellen, wie sie auf einem Campingkocher Suppe wärmte oder in Reptilienschuhen durch ein Bachbett watete.

»Hallo, ich bin Susanne Auer …«

»Oh, Frau Auer, wie schön! Willkommen in Dubai!«

Denise Schäfer schenkte ihr ein professionelles Lächeln. Ihr Händedruck war warm und fest. »Hatten Sie eine angenehme Anreise?«

»Ja, danke.«

»Ich bin Denise, die Tourverantwortliche … mehr oder weniger zumindest. Wir sind hier alle per du, schließlich werden wir uns in den nächsten vier Wochen noch sehr gut kennenlernen.«

»Und ich bin die Babsi aus Kärnten.« Der schrille Paradiesvogel, der die Dreißig gewiss noch nicht erreicht hatte, schüttelte ihr die Hand. »Ich hab dich schon in Wien-Schwechat im Flieger gesehen. Na, wenn ich gewusst hätt, dass du auch dabei bist …!« Sie ließ das Satzende drohend offen, setzte aber ein herziges Lächeln hinzu.

Ihr Dialekt verriet zur Genüge, wo sie herkam, und unterstrich Susannes ersten Eindruck. Eine Bildungsbürgerin hatte sie hier sicher nicht vor sich.

»Nachdem wir jetzt vollzählig sind, gehen wir doch gleich zum Wagen. Unser Fahrer wartet in der Tiefgarage.«

»Aber … was ist mit den anderen?«, erkundigte sich Susanne verwirrt.

»Der Flieger mit den deutschen Teilnehmern ist schon vor drei Stunden gelandet. Die haben bereits im Hotel eingecheckt.«

Ihren Koffer hinter sich herziehend, folgte Susanne den beiden Frauen. Ihr fiel auf, dass die Babsi aus Kärnten lediglich einen kleinen Trolley bei sich hatte – und nicht nur ihr. Doch Denise Schäfer richtete das Wort an sie, nicht an die Blondine.

»Ich hoffe, dein Koffer ist nicht voller Klamotten. Bis auf heute Abend wirst du kaum etwas davon brauchen. Schließlich wirst du für den Trip komplett von KCM ausgestattet, schon vergessen?«

Susanne war dankbar, dass sie bereits in der Tiefgarage angekommen waren. Dank des gedämpften Lichts würde den anderen nicht auffallen, dass ihr Kopf gewiss den Farbton einer überreifen Tomate angenommen hatte. Wo auch immer dieser Passus mit der kleidungstechnischen Ausstattung niedergeschrieben gewesen war – sie hatte ihn schlichtweg übersehen.

»Welcome to Dubai.«

Ein dunkelhäutiger Kellner mit asiatischen Zügen lächelte sie freundlich an. In den Händen hielt er ein Tablett mit Cocktails.

»Do you have anything without alcohol?«

Susannes Kopf schmerzte. Ob dies am Jetlag und ihrer daraus resultierenden Müdigkeit oder an der inneren Anspannung lag, die sie noch immer in sich trug, war ihr selbst nicht klar. Die Tablette, die sie vor Kurzem eingenommen hatte, mit Alkohol zu kombinieren – und das auf nüchternen Magen –, schien ihr wenig ratsam.

»Without alcohol …« Der Kellner wirkte im ersten Moment überfordert, fast so, als hätte er von einer europäischen Touristin alles andere erwartet als die Frage nach einem alkoholfreien Getränk. Dann zeigte er wieder seine weißen Zähne. »Of course, Madame, just a moment.«

Er wies auf den Barhocker, während sich sein Kollege hinter dem Tresen daran machte, mehrere Fruchtsäfte in einem Cocktailshaker zu kombinieren. Er tat dies in für Susannes Empfinden qualvoller Langsamkeit.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Gruppe von Leuten, die sich weiter hinten im Barbereich um Denise Schäfer versammelt hatte, immer größer wurde. Ein älterer Mann und ein ganz junger hatten bereits bei ihr gestanden, ehe der Kellner Susannes Getränk zu seiner persönlichen Mission machte, nun gesellte sich eine Frau mit dunklen, knapp bis zu den Schultern reichenden Locken dazu. Auch Barbiebabsi hatte sie schon entdeckt.

Na super. Wegen meines Extrawunsches komme ich nun zu spät zum ersten Kennenlernen …

Blieb nur zu hoffen, dass der unbeholfene Keeper hinter dem Tresen mit dem Cocktail fertig war, ehe ihr Shuttle in Richtung Abendessen bereitstand. Das Restaurant wurde in dem Willkommensbrief, den sie in ihrem Hotelzimmer gefunden hatte, in den höchsten Tönen gepriesen und galt wohl als recht bekannt. Susanne hatte noch nie davon gehört. Woher auch? – Ihre Nachbarn waren die einzigen Leute aus ihrem Bekanntenkreis, die in Dubai geurlaubt hatten, und sie schwärmten jetzt noch vom reichhaltigen All-Inclusive-Angebot ihres Hotels.

Als ihr endlich der Cocktail über den Tresen geschoben wurde, hatten die anderen schon fast ausgetrunken und waren rege miteinander im Gespräch.

Was für ein Start!

Am liebsten hätte Susanne gleich wieder kehrtgemacht. Ein Abend im Hotel mit einem guten Buch und irgendeinem einfachen Gericht, das sie aufs Zimmer kommen ließe, war definitiv verlockender als Small Talk mit Babsi und diversen anderen, die sie nicht kannte.