Aufzeichnungen II 1980 - 1993 - Eckhard Polzer - E-Book

Aufzeichnungen II 1980 - 1993 E-Book

Eckhard Polzer

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Beschreibung

In den achtziger Jahren des letzten Jahrhundert wurden eine Reihe von Weichen gestellt, deren Ergebnis die Menschheit noch heute beschäftigt und verunsichert. In den USA, in Europa, vor allem aber in China. In den USA kam Ronald Reagan an die Macht und gab seinem Land neues Selbstbewusstsein, das durch die Geiselnahme der US-Botschaftsangehörigen in Teheran empfindlich gelitten hatte. Europa brach das Sowjetimperium zusammen und der Westen bereitete sich auf die Osterweiterung vor. Dabei begab er sich auf den Pfad einer immer engeren politischen Vereinigung, eine Richtung, die England, dann 2015 nicht mehr bereit war mitzugehen. Vor allem aber nahm die Globalisierung ungeheuer an Fahrt auf, auch weil sich China unter Deng Xiao Ping dem Welthandel öffnete und in kurzer Zeit zu einem seiner wichtigsten Mitspieler wurde. In diesem weltpolitischen Umfeld gründete der Autor die US-Niederlassung eines deutschen Medizintechnik-Konzerns, dessen Führung er dann Anfang der neunziger Jahre übernahm. Für ihn begann eine Zeit der Bewährung, getrieben von der Angst zu scheitern.

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Seitenzahl: 494

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1980

1981

1982

1983

1984

1985

1986

1987

1988

1989

1990

1991

1992

1993

Vorwort

Im Herbst 2022 sah ich zusammen mit Susan und Freunden den Film „The Woman King“, ein Märchen über eine königliche Prätorianergarde aus Frauen, die den jungen König Dahomeys, einem Reich an der Westküste Afrikas, beschützten. Der Zeitpunkt der Handlung ist 1823, dem Höhepunkt des Sklavenhandels.

In mir löste dieser Film eine Fülle von Gedanken aus, darüber, wie sehr sich die Welt seit meinem Aufenthalt in Ghana, dem Nachbarstaat Dahomeys, in 1970, verändert hat.

Damals war ein Film über die Sklaverei, getragen von schwarzen Produzenten, Regisseuren und Schauspielern unvorstellbar. Wer hätte so etwas sehen wollen. Heute sind wir an dem Punkt angelangt, wo Afrika umworben, und Schwarzsein zum Schönheitsideal in der Kultur und der Mode erhoben wird. Und wir Europäer kommen nicht mehr umhin, uns mit unserer Vergangenheit und dem sich daraus ableitenden Selbstverständnis zu beschäftigen. Dabei scheinen wir auf dem richtigen Weg zu sein, was die Rückgabe der Benin-Bronzen an Nigeria beweisen.

Umso mehr erscheinen Allgemeinplätze wie: Die Deutschen, die Amerikaner, die Europäer, wie sie zuhauf in den folgenden Aufzeichnungen vorkommen, nicht mehr zeitgemäß. Das hat nichts mit „wokeness“ zu tun, sondern eher mit einer Neubestimmung unserer Kultur, unserem Platz in der sich neuformierenden Weltgesellschaft. Dem Hinterfragen der Rolle der weißen, alten Männer im Kolonialismus und dem Sklavenhandel im Besonderen.

1989 erhielt Polen eine nicht kommunistische Regierung, während die Sowjetunion an den unüberbrückbaren inneren Gegensätzen zerbrach, die nicht mehr mit Gewalt unterdrückt werden konnten. Die deutsche Frage lag bedrohlich auf dem Verhandlungstisch und wartete darauf, gelöst zu werden. Nordkorea signalisierte Gesprächsbereitschaft, und auf dem Tiananmen Platz wurden protestierende Studenten in ihren Zelten von Panzern niedergewalzt. Der gesamte Ostblock suchte eine neue Basis. Die Europäische Gemeinschaft entwickelte sich von einer Ansammlung aus Krämerseelen in ein politisches Gebilde, nicht weil die Politiker so weitsichtig waren, sondern weil die Menschen, die in Europa lebten, es immer drängender verlangten.

Und Voyager 2 verließ mit einer Geschwindigkeit von 30000 Meilen pro Stunde das Solarsystem. Ist es der neuzeitliche Columbus, oder nur eine technische Verirrung. In jedem Fall ist alles zusammen Geschichte, habe ich damals geschrieben.

Heute, unter ähnlich verwirrenden Vorzeichen wie in 1989, stellt sich vor allem die Frage zu Europas Position in seiner Beziehung zu China. Eine Frage, die vermutlich das kommende Jahrhundert bestimmen wird. Hier wird mit Sicherheit die verengte Sicht auf Maos kleines rotes Buch, und die Exzesse der kommunistischen Partei, auch gegen seine eigene Bevölkerung, nicht mehr ausreichen.

Und über allem wölbt sich heute der Krieg in der Ukraine, wo eine Nuklearmacht, mit Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, sich das Recht herausnimmt, mit Gewalt über die Zukunft eines Nachbarlands zu bestimmen. Ein entsetzlicher Rückschritt in die Zeit, als das Recht des Stärkeren das Handeln bestimmte.

Der Ausgang dieses Konflikts wird nicht nur Europa, vermutlich auch seine Beziehung zu Amerika auf immer verändern. Tut es vielleicht schon jetzt, ohne dass bereits absehbar wäre, wo wir letztendlich als Gemeinschaft landen. Denn immer drängender stellt sich auch die Frage, ob Amerika auf Dauer als Demokratie bestehen bleibt, zu krass und zu unversöhnlich ist das Land im Inneren zerrissen. Die Verhältnisse sind im Fluss und verändern sich mit einer nie zuvor gekannten Geschwindigkeit.

Auch deshalb habe ich Ansichten und Formulierrungen in den Aufzeichnungen stehen lassen, die mir heute fremd, wenn nicht sogar unverständlich sind. Aber wer könnte heute noch mit ruhigem Gewissen die Empfehlungen der Neoliberalen der Neunziger Jahre als Leitfaden in die Zukunft verstehen. Einer Zukunft, die vor allem davon bestimmt sein wird, ob es der Menschheit gelingt sich selbst zu bescheiden.

Eckhard Polzer, 1. Januar 2023

1980

Das Jahr ist der Beginn einer Dekade, die die Welt verändert und mit dem Niedergang der Sowjetunion und dem Fall der Berliner Mauer endet.

In den USA wird ein wenig talentierter Filmschauspieler zum Präsidenten gewählt. Er wird Amerika in eine Richtung drängen, die sich Anfang der Jahrtausendwende als fatal herausstellt, als sich das neoliberale Gedankengut Milton Friedmanns als Holzweg erweist.

Am Ende der achtziger Jahre glaubten viele Menschen, das Zeitalter der Moderne, der Aufklärung, des Rationalismus sei an sein Ende gekommen. Das „Danach“ nur noch mit „Post“ beschreibbar wäre. Und als die großen Krisen am Beginn des nächsten Jahrtausends anstanden, erinnerten sich manche an die Weissagungen der Cree Indianer: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, dann werdet ihr sehen, dass man Geld nicht essen kann.“

Für uns beginnen die achtziger Jahre als Erlösung - Elena läuft eigenständig, die Gefahr eines Lebens im Rollstuhl ist gebannt. Es ist Susans Leistung, die das Kind nie aufgegeben hat.

Die Befreiungsaktion der Geiseln in Teheran durch eine Hubschrauber- Staffel der US-Marines endet im Fiasko.

Jean-Paul Sartre stirbt, ‚Die Wörter’ waren eines der Bücher, die dem Verfasser dieser Zeilen den Einstieg in die Literatur ermöglichten. Auch Tito, Hitchcock und John Lennon sterben in diesem Jahr.

Rhodesien wird zum unabhängigen Zimbabwe, es hindert die Rebellen um Mugabe nicht daran weiter voran zu marschieren.

Mount St. Helens explodiert und legt eine riesige Aschedecke auf Teile Idahos.

Die G 7 streiten sich über den Kurs der internationalen Politik, versuchen aber wenigstens das wirtschaftliche Wachstum vom Ölverbrauch zu entkoppeln.

Der Schah stirbt im Exil in Ägypten, in Danzig, Polen, streikt die Solidarnosz, und in der Türkei putscht das Militär. Saddam Hussein beginnt einen achtjährigen Krieg zwischen Irak und Iran.

Auf dem Münchner Oktoberfest wird ein Anschlag mit dreizehn Toten verübt. Die Wehrsporttruppe Hoffmann wird dahinter vermutet. Die Untersuchungen verlaufen im Sand.

Papst Johannes Paul II wird in der Bundesrepublik begeistert empfangen.

Der Dollar stürzt ab und Deutschland bangt um das Leben der Kinder Kronzuckers, eines namhaften Journalisten.

Der ‚Growian’ eine erste, moderne Windkraftanlage geht in Betrieb, und in Almeria, in Südspanien, wird eine Solar-Versuchsanlage gebaut.

Januar: Wir haben uns so daran gewöhnt, dass es uns immer besser geht, dass wir weniger arbeiten, dafür mehr verbrauchen. Das scheint beim schnellen Hinsehen sehr unlogisch, Keynes hat es aber für logisch erklärt, ganze Völker haben danach gehandelt und sind wirtschaftlich erblüht, und jetzt ist es tatsächlich unlogisch.

Es geht uns nämlich nicht mehr besser. Wir werden manipuliert. Was wir mehr verdienen frisst die Inflation, und außerdem ertrinken wir im eigenen Abfall.

Eine Weile haben wir geglaubt, wir hätten uns zumindest politisch stabilisiert. Europa, die Wirtschafts-Insel, Amerika der nukleare Schutzschild, was sollte sich da Europa um die eigene Verteidigung kümmern. Russland, ist nur der unbeholfene, etwas unberechenbare, aber letztendlich doch gutmütige Bär. 1968, Tschechoslowakei, damals war die Betroffenheit noch groß. Bücher wurden über Nacht geschrieben, schlecht zwar, aber trotzdem gekauft, weil das Entsetzen uns im Nacken saß. Ungarn, 1956, die Welt litt mit, die Zeitungen schwappten über vor Protesten in der freien Welt. 1953, Berlin, ein Aufschrei ging durch die Welt. Geändert hat das alles nichts. Vorher gab es Rheinlandbesetzung, Sudetenkrise, Österreich-Anschluss, Polenfeldzug, das waren andere Uniformen, und die Welt hat genauso gestöhnt, wie nach dem Blutbad des Zweiten Weltkriegs. Heute stöhnen wir wieder, wenn wir die Besetzung Afghanistans sehen. Wir stöhnen, reden viel, wohl mehr wie Kinder, die im dunklen Wald zu pfeifen beginnen, und dann hoffen wir, dass alles so schnell wie möglich wieder vergessen, normalisiert ist.

Es gibt keine Landroute nach Indien mehr. Das schmerzt nur ein paar Hungerleider, die sich den Flug nicht leisten können. Es gibt keine Lammfellmäntel und keine verrückten Stammesfehden mehr. Wir können alles entbehren.

Aber wenn Russland mit gut geplantem Rundschlag Teile des Irans kassiert, um sich am Persischen Golf festzusetzen, dann haben wir uns das eigene Bein abgehackt, und das vergessen wir dann sehr lange nicht.

Drei Wochen, ich kann es kaum glauben, drei Wochen haben wir, alle vier zusammen in der Karibik. Wir können im Sand spielen, schnorcheln, faulenzen, Bücher lesen und einfach nur leben. Unglaublich. Unfassbar auch, wie schnell Washington DC verblasst.

Kissinger Memoiren: Die 60er Jahre bildeten das Ende der amerikanischen Unschuld. 1969 war Amerika am inneren Siedepunkt angelangt. Liberale Tauben und kriegsversessene Vietnam-Patrioten zerfleischten sich in einmaliger Zurschaustellung individueller Freiheit.

Those prepared to deprive themselves over decades may be able to achieve military dominance; sooner or later superior power almost inevitably produces political advantages for the stronger side. This is a challenge; the industrial democracies dare not fail to meet. (Memoiren 1, Seite 151).

The FRG was like an imposing tree with shallow roots, vulnerable to sudden gusts of wind (Seite 97), Situation der FRG (Federal Republic of Germany), 1969, Ende der großen Koalition.

Januar: Gold: Ganz kleine Tröpfchen Bräunungsmittel strich er sich auf die immer noch geschmeidige Haut. Er wusste, dass er jünger aussah, als die 55 Jahre, die er abgesessen hatte in New York, nicht sehr lange in Washington, und danach wieder in New York.

Ganz bedächtig, fast liebevoll, massierte er das Öl in die Poren. Er fand sich noch ganz fit, wohl auch gutaussehend, aber das war ihm eigentlich egal.

Als er aufsah, stand das kleine Mädchen vor ihm, keine zwei Meter entfernt, und sah ihm zu. Sie stand nur da, und sah zu, wie er das Öl bedächtig über seinen Körper verteilte. Er wollte etwas sagen, aber ihre großen, staunenden Augen hielten ihn davon ab. Was soll es auch, es wäre doch nur eine von den Floskeln geworden, die man kleinen Kindern hinwirft wie Knochen, und sie hätte wohl nicht geantwortet. Außerdem mochte er keine Kinder.

Sie hatten keine Zeit gehabt, Nancy und er damals in New York. Zumindest glaubten sie das, beide am Anfang ihrer Ehe. Später, als Nancy sich von ihm scheiden ließ, war einer ihrer Hauptgründe der, dass er keine Kinder haben wollte. Eigentlich hat er überhaupt nie dran gedacht Kinder zu haben, sie waren viel zu wenig manipulierbar. Heute bedauerte er es zuweilen, dass er keine Kinder hatte. Aber es war weniger Sehnsucht nach den Kindern, als ein unausgesprochenes Selbstmitleid. Er wusste, dass es nichts anderes war als diese lästige Einsamkeit. Meist schaltete er dann den Fernsehapparat an, am nächsten Morgen wachte er auf, immer schlecht gelaunt. Besser so, als mit schreienden Kindern oder deren permanenten Fragen zu frühstücken. Er hatte es gern still am Morgen und hasste die Serviererinnen im Hotel, wenn sie fragten, was er zum Frühstück wolle. Er hasste ihre aufgesetzte Freundlichkeit, ihre routinierte Morgen-Aktivität. Aber er musste es ertragen, wenn er auf Reisen war.

700.000 Dollar hat er vor zwei Tagen in Gold angelegt. Die Inflation und die Russen hatten ihn mehr und mehr beunruhigt. Der Preis für eine Unze Gold lag bei 700 $ und es wurde erwartet, dass er weiter steigt. Das war, als er abreiste. Er hatte die Nase voll von New York, vom Winter, von den Leuten, die mit glasigen Augen zu den U-Bahn-Schächten strömten. Selbst fuhr er nie mit der U-Bahn, sie war ihm zu schmutzig, zu unsicher.

Damals Anfang der 50er Jahre, als die Zeitungen voll waren von ätzenden Kommentaren gegen alle Kommunisten, fing er an in Aktien zu spekulieren. Die Russen, mit all ihrem Gebrüll über Weltherrschaft, halfen ihm schnell zum Erfolg. Das Waffengeschäft blühte wieder auf, und er war dabei. Bald hatte er sein eigenes Auto, sein eigenes Büro und dann fuhr er auch bald mit dem Taxi zur Arbeit. Es war bequemer, und die Taxifahrer waren besser als jede Zeitung. Heute machte ihm das Taxifahren keinen Spaß mehr, zu oft traf er auf irgendeinen arbeitslosen Akademiker, der sich mit Taxi-Fahren über Wasser hielt. Er spürte, dass sie in hassten. Nicht, weil sie seinen Erfolg beneideten, da schienen sie eher Mitleid mit ihm zu haben. Sie hassten ihn, weil er anders war, sie hassten seine Fassade, seine Selbstsicherheit, seine Skrupellosigkeit. Vielleicht sollte er sich einen Chauffeur halten. Aber warum würde ausgerechnet der ihn lieben?

Das kleine Mädchen stand noch immer vor ihm und sah zu, wie er sich fertig einölte. Sie hatte wirklich schöne Augen. Es war ihm etwas unwohl dabei, er hatte das Gefühl, in einen riesigen Spiegel zu sehen, der völlig unverzerrt sein Inneres offenlegte. Es gab nichts worauf er stolz sein konnte.

Als er die Zeitung durchblätterte sah er, dass das Gold um 100 $ die Unze gefallen war. Ärgerlich, dachte er, ich werde wohl alt. Vor ein paar Jahren wäre es mir nicht passiert, dass ich eine große Spekulation total verschlafen hätte. Er wusste, er würde verkaufen müssen, um nicht noch mehr zu verlieren. Er würde telefonieren und die Stimme seines Brokers hassen, und ihm graute vor all dem.

März: US-Wahlkampf: Seit einem halben Jahr zerfleischen sich die einzelnen Kandidaten um die Gunst der Wähler und der Wahlmänner für den Nominierungs-Konvent. Es wird eine Menge Leim brauchen, um das zertrampelte Porzellan wieder zu kitten. Amerika ist in dieser Zeit des Vorwahlkampfs, und erst recht im eigentlichen Wahlkampf, paralysiert und total auf sich selbst fixiert. Groteskerweise bringt dieser mörderische Ausscheidungsprozess nicht die besten Männer hervor.

Derjenige, der am besten blufft, am besten lügt, und am meisten dem idealen Mittelmaß entspricht, das vom Fernsehen geprägt wird, gewinnt.

Amerika hat bessere Männer, als Carter und Reagan, auf die es letztendlich wohl hinauslaufen wird. Aber das Land will sie nicht, nicht jetzt.

Es ist irrational zu sehen, wie die Massen einen alternden Schauspieler mit starken Sprüchen, und einen ungeliebten, zaudernden und wankelmütigen Präsidenten in den Ring stellen. Wohlwissend, dass, wer immer der Sieger ist, keines der Probleme gelöst sein wird.

Edward Kennedy, der letzte von dreien aus der Familie, war auch dabei, wird es später heißen. Zu Anfang mit der Arroganz des Siegers, so wollten es ja auch die Auguren, dann zunehmen mehr mit der starrköpfigen Sturheit des Verlierers. Jetzt schon fast wieder edel in der Art, wie er ein liberales Glaubensbekenntnis vertritt. Doch die verlogene Moral dieses Landes, wohl auch der Mehrheit jeden Landes, vergibt ihm Chappaquiddick nicht. Man muss heute einer aus der grauen Masse sein, um als einer der ihren angenommen zu werden.

Aber Amerika will nicht liberal sein. Es will wieder stark sein, nach den Demütigungen unter Carter. Es fühlt sich überall übervorteilt, und ist resigniert ob seiner Ohnmacht, die ihm die Geiselnahme im Iran gezeigt hat.

„Jimmy Carter nähert sich der Risikoschwelle. Für die Verbündeten naht der Augenblick der Wahrheit“, schreibt Theo Sommer in der ZEIT vom 18. 4. 80, fast sechs Monate nach der Gefangennahme der Geiseln in Teheran.

22. April: Es ist kein Charakteristikum der USA, diese Massenveranstaltungen zur Huldigung eines idiotischen Themas. Wohl aber ein Zeichen unserer völlig vertechnisierten Gesellschaft. Da sitzen mehr als 100 Regierungsbeamte und eine ganze Anzahl hochbezahlter Leute aus der Industrie in einem stinkenden Saal auf ihren fetten Ärschen und schaukelt sich gegenseitig hoch, mit Fragen über Nutzlast, Gewichtseinsparung, und Reichweite eines winzigen, automatisch gesteuerten Flug-Körpers.

Es ist fast Begeisterung, die manchmal durchklingt, wenn es gelungen ist, da oder dort die gesetzten Forderungen zu über- oder zu unterbieten. Das Ganze findet in einem gesichtslosen, fensterlosen, klimatisierten Saal statt, in dem jede menschliche Regung im Ansatz erstickt wird.

Wenn ich aber die Anzahl der Teilnehmer sehe, so muss etwas Interessantes an diesen Sitzungen sein, um solche Scharen zusammenzubringen. Das Programm leidet eher unter diesen Massen. Aber die Amerikaner teilen die Aufgabengebiete so detailliert auf, dass jeder von denen, die hier sitzen, immer nur einen Mikro-Ausschnitt bearbeitet. Von dem, was neben ihm vorgeht, hat er nicht die geringste Ahnung.

Wenn das so weitergeht, haben wir bald nur noch Überwacher. Es fragt sich nur, ob es dann noch etwas zu überwachen gibt. Ein irrsinniger Zeit- und Geldverschwendender Nuschel-Zirkus.

Kann Amerika überhaupt noch anders, als den Konflikt im Iran mit Waffen lösen? Monatelang hat Carter gezögert, verhandelt und besonnen reagiert. Jetzt steigt der Druck von Innen, dass etwas geschehen muss, um die Geiseln freizubekommen. Nur was? Khomeini, der menschenhassende Fanatiker, agiert bar jeder Vernunft. Es sieht so aus, als wolle er den Konflikt vom Zaun brechen. Es wird gegen alles und jeden gekämpft.

Als Hitler damals das Rheinland besetzte, da hätte er noch ohne großes Blutvergießen in seine Grenzen gewiesen werden können, sagen heute viele Historiker. Die Iran-Situation ist nicht direkt vergleichbar in ihrer weltpolitischen Auswirkung. Wohl mehr ist es die Situation vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Balkan, und die darauffolgende Verwicklung der damaligen Großmächte. Etwas Ähnliches scheint sich erneut anzubahnen. Und es ist tragisch, denn heute sehen wir täglich, wie sich der Zustand verschlimmert. Wir sitzen vor dem Fernseher und beobachten fast gelassen, zumindest aber hypnotisiert, wie sich der Sturm zusammenbraut. Und es ist nichts dagegen zu machen.

25. April: Heute Nacht haben die USA ein Kommando-Unternehmen gestartet, das irgendwo in der Wüste, 200 Meilen von Teheran entfernt, abgebrochen werden musste. Abgebrochen deshalb, weil drei von den acht eingesetzten Hubschraubern ausfielen. Das zumindest sagt Secretary of Defense, Harold Brown. Er klingt arrogant, die Rede gespickt mit Allgemeinplätzen über die Tapferkeit derer, die das Unternehmen in den Bach gefahren haben. Dabei sind die Mannen nicht nur an der Technik gescheitert, sie haben sich auch noch selbst erledigt. 8 Tote gab es, ohne dass auch nur der leiseste iranische Versuch des Widerstands unternommen worden wäre. Aber die Tragödie ist mehr eine politische. Der Präsident der Vereinigten Staaten schließt im November ausdrücklich militärische Aktionen aus, in einem unnötigen und nur den Spielraum der anderen Seite fördernden Statement. Gleichzeitig plant und bereitet er eine militärische Aktion vor. Heute nennt er es ‚rescue action‘. Später setzt Carter sämtliche befreundeten Nationen unter Druck, ihn bei wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Iran zu unterstützen, obwohl vorhersehbar war, dass dieser Kurs nicht zur Geiselbefreiung führen, vielmehr die Positionen nur noch verhärten würde. Dazwischen agierte er in dilettantischer Weise undiplomatisch, und lässt sich wie ein Schuljunge wiederholt an der Nase herumführen.

Und plötzlich startet er aus blauem Himmel ein Kommando-Unternehmen, das sich wie eine Räuber Story ausnimmt, wäre es nicht so traurig und gefährlich. Die Argumente Browns, warum gerade jetzt, und nicht erst nach dem Abwarten der Ergebnisse der gemeinsamen Wirtschaftssanktionen, sind dürftig. Das Wetter wird heißer und die Nacht wird kürzer, sagt er, und glaubt wohl, dass er es mit lauter Idioten zu tun hat.

Es bedarf des iranischen Außenministers, Ghozbadeh, um den Hinweis zu hören, dass diese ganze Krise dazu dient, Carter möglichst sicher für vier weitere Jahre im Weißen Haus zu lassen. Da sitzt ein Haufen ängstlicher Wahltaktiker am Ruder der USA, denen der Angstschweiß ausbricht, wenn wieder eine Vorwahl verloren gegangen ist. Es wird schwer werden, nachzuweisen, dass die für Carter verlorene Vorvorwahl in Pennsylvania, die Entscheidung, jetzt ‚etwas’ zu tun, maßgeblich mitbeeinflusst hat.

Und wie geht es weiter?

Die USA müssen jetzt agieren. Die Krise wird eskalieren, denn es sieht nicht danach aus, als ob der Iran klein beigeben wird. Und Russland wird sich nicht zurücklehnen und Daumen drehen. Und wir in Europa haben keine andere Wahl, als zähneknirschend mitzulaufen, mitzukämpfen und mitzusterben. Brown hat es angedeutet, als er sagte, dass die USA jede Chance wahrnehmen werden, die Geiseln zu befreien. Es geht jetzt nicht mehr um das Leben dieser 50 Menschen, so oft das auch beteuert werden mag. Es geht um das Image, und den verletzten Stolz einer Supermacht. Die Presse wird fragen: Warum gelangen Entebbe und Mogadischu? Warum können wir das nicht auch? Das wird die Regierung weiter unter Zugzwang bringen. Und dann ist die Wahl, ist Afghanistan, Israel, die Inflation und schließlich die Versuchung, alles mit einem großen Bang zu lösen.

10. Mai: Die Phasen der Hilflosigkeit, der Hoffnungslosigkeit, sie kommen immer häufiger, je mehr Einblick in die Zusammenhänge der Job bringt. Es ist nicht die strahlend klare Wahrheit, die sich da in der Ferne als Lichtbündel abzeichnet. Nein es ist eine Wüste von unkontrollierbaren Faktoren, die alle stärker oder schwächer auf jede persönliche Aktion Einfluss haben. Da ist die eigene Stärke, sie gilt nur solange die anderen, mit denen man zusammenarbeitet, mitspielen. Sie müssen motiviert werden, unter Druck gesetzt werden, überzeugt werden. Und wer weiß letztendlich, was sie tatsächlich denken.

Da ist die Familie. Interessen, die zunehmend schwerer unter einen Hut zu bringen sind. Die finanzielle Abhängigkeit von der Firma, dort wieder vom Wohlwollen Einzelner.

Die Grenzen der eigenen Moral? Was von dem, das ich tue, ist noch vertretbar vor mir selbst, vor jenen, auf deren Urteil ich Wert lege? Wo fängt die berufliche Prostitution an? Wo liegen absolute Werte?

Nichts als Fragen. Noch existieren sie nur im Unterbewusstsein, in Phasen der Aktivität, aber sie sammeln sich an und werden hochgespült, sobald sich Ruhe einstellt, und etwas nicht mehr richtig funktioniert. Dann schlägt dieser Wust an Fragen umso gewaltiger über dem Kopf zusammen.

Wo ist die Grenze zwischen persönlicher Ambition und tatsächlicher Leistungsfähigkeit? Es wird weder besser, noch klarer, je weiter man auf einer imaginären Leiter nach oben steigt. Einige werden genügsam, andere raffgierig, wieder andere ertränken sich in Überaktivität, und Einige, wenige im Verhältnis zur Zahl der Getretenen, steigen aus. Es ist nicht ihr Leben, das sie hier führen müssen. Sie sind nur Stellvertreter, ohne Aussicht auf den eigentlichen Posten.

18. Mai: Eine Hochzeit in Annapolis. Navy Kadetten, der Charme derer, die noch keinen Krieg mitgemacht haben, die nur mit dem Handwerk spielen. Sie sind alle blutjung, und die Säbel, die sie über dem Brautpaar kreuzen, bedeuten ihnen mehr als ihr Leben. Es ist das Amerika des Aufbruchs, unangekränkelt von Selbstzweifeln. Zwischen den gesichtslosen Blöcken der Naval-Akademie mit den Namen großer Schlachtenlenker wird geheiratet, das Familienfoto gemacht, und vergessen, dass im Iran Geiseln sind, in Afghanistan gekämpft wird, und sie einen Präsidenten haben, der immer nur eine Sache nach der anderen machen kann.

Es ist Amerikas wohlhabende Mittelklasse, die sich solche Hochzeiten leistet. Die Brautjungfer findet es selbstverständlich aus Kuwait anzureisen, um bei der Hochzeit der ‚Room Mate‘ dabei zu sein. Welch eine verzerrte Perspektive. Wie kann Amerika je Völker verstehen, deren Menschen zum Großteil immer noch in Dörfern wohnen und am Hungertuch nagen.

Es ist alles feierlich auf dieser Hochzeit. Man ist so gut gekleidet wie es eben geht, nicht aus Geschmackssicht, nur der Geldbeutel zählt. Da gibt es eigenartige Kombinationen. Wenigstens wird kein Tuxedo getragen, diese grauenhafte Mischung aus Operette und Landadel. Und da ist viel Schwung, einfach deshalb, weil viele dieser alten amerikanischen Tanzstücke mitreißend sind.

Trotzdem schwappt plötzlichen in mir die Verachtung hoch. Verachtung für die Verlogenheit solcher Veranstaltungen. Die Zurschaustellung von Geld. Das devote Hofieren der Mitläufer. All das, was unsere ganze verlogene Gesellschaft zusammenhält. Susan fragt mich, ob ich mich als Terrorist fühle. Ich wundere mich, wie genau sie die Stimmung spürt.

Ich habe immer gewusst, dass ich die Gesellschaft verachte, dass ich glücklich bin, allein mit den Kindern, irgendwo draußen, ohne Statussymbole. Andererseits spiele ich die Grundregeln mit, aber es fällt mir zunehmend schwerer zu lügen. Ich schweige und glaube dadurch Neutralität zu erkaufen. Aber derjenige der schweigt, ist die Opposition, ist nicht kalkulierbar, ist der Feind. Es ist die Eingeschlossenheit des Außenseiters, der sich etabliert hat. Wie lange wohl die Nerven halten.

Juni: Amerika, es ist wie ein Schwamm, der mich mehr und mehr aufsaugt, mir meine eigene Mickrigkeit vor Augen hält, und die Scheuklappen herunterreißt. Was mich nicht daran hindert das aufgesetzte Grinsen dieser Stewardess, mit ihrem stinkenden Getränkewagen direkt neben mir, zum Teufel zu wünschen.

Was zählt, ist, ein entspanntes Leben zu führen, das nicht nur den Starken hofiert und den Schwachen so gerade am Leben hält. Vielleicht ist ausschlaggebend, dass es kein allein gültiges Lebensprinzip gibt, kein Dogma, wie Recht und Ordnung z.B., das sich nicht täglich in der Realität selbst widerlegt. Ja, die USA sind aggressiv, militant, nationalistisch, aber auch tolerant, unsicher, selbstkritisch, überschwänglich und opferbereit. Es gibt kein Schema, in das diese überorganisierte, trotzdem konfuse, multirassische Gesellschaft hineinpasst. Die Geschichte wird wohl immer noch von den Eliten geschrieben, aber wer sind diese Eliten heute. Sind es die sich gegenseitig paralysierenden Politiker? Einzelfiguren, den diffusen Lokalinteressen ihrer Wählergruppen unterworfen? Sind es die Wissenschaftler, die Intellektuellen, hoffnungslos frustriert von der akademischen Irrealität ihrer Denkansätze und deren Undurchsetzbarkeit in einem amorphen Machtgefüge? Oder sind es die unkontrollierbaren Eruptionen der Aufstände der Schwarzen in Miami, die gesellschaftliche Verweigerung der Jugendlichen, die zunehmende Gleichmacherei der Massenmedien, die heute ein Land regieren? Wo liegen die Wurzeln der Macht? Noch immer auf dem Land, das wir zunehmend in regierungsbetreute Parklandschaften verwandeln? Bei den 3% Landwirten, die wir verhätscheln, als wären sie aussterbende Vögel? Liegt die Macht in den Städten, zahlungsunfähig, verödet und zum Teil verwüstet, wie sie der Mittelstand den Armen überlassen hat? Oder liegt die Macht bei dem namenlosen, gesichtslosen, meinungslosen Bildungsproletariat, das sich eingepfercht in cubicles, zusammengestellt in riesigen ameisengleichen Waben, ans Erfinden macht? Repetitorisches Denken, nichts anderes kommt dabei heraus, viele Computer können es besser. Trotzdem sind diese Menschen unsere Zukunft. Das, was sie sich ausdenken, oder weiterdenken, vom Elektroauto, zum Satelliten, von der Schweißanlage im Weltraum bis zum sicheren Reaktor, das ist unsere Zukunft. Und es ist nur zu hoffen, dass genügend viele Individuen erhalten bleiben, deren Kopf über die cubicles hinausragt, um zu sehen, was der Andere auf der gegenüberliegenden Hallenseite tut.

Juli: Zum dritten Mal unterwegs nach Dallas, Texas. Hinein in ein paar Wochen Cowboy-Gewimmer, dem monotonen Schlagen der Räder auf den endlosen Betonpisten, und den allgegenwärtigen Klimaanlagen.

Es ist heiß in Dallas, schon seit Tagen über 110 Grad Fahrenheit, die Autos kochen und die Menschen trocknen aus, oder klammern sich an klimatisierte Oasen. Der Süden der USA könnte nicht funktionieren, wie er es heute tut, gäbe es kein Aircondition. Was ist, wenn die Energie ausbleibt? Undenkbar in einem Land, in dem vor 50 Jahren das Öl ungehemmt aus dem Boden sprudelte. Heute wird der Strom zunehmend sparsamer, doch der Verbrauch bleibt gleich, ist sogar beachtlich gewachsen. „Na wir erfinden eben etwas anderes, oder hauen die Araber aufs Haupt“, sagen die Männer mit den großen Hüten, und fahren weiter in großen Schlitten durch die Wüste.

Wenn ich aus dem Auto steige, kriecht die Hitze die Hosenbeine hoch. Nein eher fährt sie hoch, wie ein Hauch aus dem Hochofen, und presst den Körper in ein Korsett aus Schweiß. Er kommt nicht gleich, fast so, als wäre der Körper erschrocken über diesen Hitzeüberfall. Dann aber strömt es, wie das befreiende Weinen eines Kindes, das seinen Kummer zu lange gestaut hat, und jetzt nicht anders kann, als loszuheulen, hemmungslos.

Zwei Tage war ich allein mit Tara und Elena. Susan brauchte sich selbst, sie ging nach New York, Picasso-Ausstellung und Theater. Wir lagen am Strand (Beach four am Lake Barcroft, direkt neben unserem Haus) und lernten schwimmen. Sie sind gute, starke Partner meine beiden Töchter, und sie verdanken davon viel ihrer Mutter.

Ich weiß nicht, wie lange dieser Aufenthalt in den USA dauert, aber es war die beste Entscheidung herüber zu gehen, die ich beruflich machen konnte. Nicht aus Karrieregründen, da sitze ich eher auf einem Abstellgleis, aber für Susan, die Kinder und für mich.

Man kann die USA nicht er-reisen, man kann sie nur erleben. Und erleben braucht Zeit, Geduld und Unvoreingenommenheit. Der Europäer, der über den Atlantik fliegt, und die USA mit seinen eigenen Maßstäben misst, wird enttäuscht sein. Amerika hat andere Maßstäbe entwickelt. Es ist viel variabler in seinen Menschen, seinen Lebensformen, als es oberflächlich den Anschein hat. Was hat die provinzielle Gemütsdusche der Texaner, gepaart mit ihrer Gigantomanie, zu tun, mit der quirligen Selbstironie des New Yorkers. Es gibt wenig Gemeinsames zwischen dem bodenständigen Konservatismus des mittleren Westens und der offenen, selbstbewusst unabhängigen Lebensart der Kalifornier. Sie haben eine gemeinsame Sprache, sie haben im Vergleich zu Europa eine gemeinsame Geschichte, aber auch nur, weil der größte Teil kaum älter als 100 Jahre ist. Alles vorher war zu sehr New England, Little Europe, und geprägt von der Notwendigkeit eines gigantischen Schmelztiegels. Amerika fängt erst jetzt an, sich im Spiegel zu betrachten und stellt fest, dass es die ersten Falten bekommt. So, wie Jimmy Carter im Laufe seiner Amtszeit das penetrante Grinsen verging, so sehr wird sich Amerika jetzt bewusst, dass auch seine Möglichkeiten begrenzt sind.

Seit Wochen kenne ich nichts als Arbeit. Eingesperrt in einem Kasten, inmitten unzähliger anderer Kästen, sitze ich, und helfe mit, eine Waffe zu entwerfen, die wie ein Bienenschwarm über die feindlichen Rader Anlagen herfällt. Es ist zum heulen.

August: Zurück in den USA nach einer Zeit in Europa. Es war wie eine Rückkehr nach Hause, wäre nicht der lästige Einreiseformalismus. Susan und die Kinder marschieren durch mit ihren kleinen blauen Pässen, ich mit meinem harten, grünen, stehe in der Schlange und warte, warte, bis die Beine schmerzen. Die Amerikaner behandeln den Rest der Welt wie Hottentotten, wenn es um die Einreise geht. Sie selbst gehen bei uns ein und aus wie die Herren. Das kommt wohl daher, dass hier Einreise zu häufig mit Einwanderung missverstanden wird. Ich will aber weder auf Dauer hier leben, noch will ich Amerikaner werden.

Dann kam das Immigration Office, das alles macht, Amerikaner aus Mexikanern, Visa Verlängerungen und mehr nutzloses Zeug.

Mensch, ich bin müde. Komme mir vor wie ein Beamter, dem bereits zum Frühstück aufs Haupt gehauen wird, damit er ja für den Rest des Tages kein unbedachtes Wort mehr redet.

Am liebsten würde ich den ganzen Kram hinschmeißen. Dabei planen wir für einen Hausbau, Beruf, Aufstieg. Ich sollte vielmehr den Ausstieg planen, das würde bedeutend mehr Spaß machen.

September: Ich fliege, das ist wohl die einzige Zeit, während der ich nachdenken kann, und nichts tun muss. Ich könnte Zeitung lesen, aber welch ein Vertun kostbarer Zeit. Ich fliege gegen die untergehende Sonne, die nicht untergehen will. Ocean to Ocean, von Ost nach West. Hinein in die Zukunft. Dazwischen werden Steak und Shrimps serviert. Endlich ist es gelungen, das Steak so zu kochen, dass es nach absolut nichts mehr schmeckt. Sicher werden irgendwo in den USA spezielle Kleinsteak-, Antigeschmacks-Rinder gezüchtet, um den steigenden Flugbedarf abzudecken. Und wenn die Transportziffern zurückgehen, weil keiner den Fraß mehr ertragen kann, dann werden die Rinder, wahrscheinlich sind auch die Knochen weggezüchtet, einfach an Lateinamerika verkauft, als neueste Errungenschaft des großen Bruders.

Jetzt fängt der Film an und der Ohrenschlauch kostet 3 $. Dann fällt der Film aus und die Mattscheibe ist blank, weiß, flimmernd. Das sind die Filme der Zukunft, matt, weiß, flimmernd. Eine Illusion. Keiner kann sich mehr beschweren, keiner ist betroffen, keiner ist beleidigt, es ist ein neutraler, ausgewogener Film, es flimmert. Die Stewardessen eilen vorbei, und sie sind das Einzige was riecht, unterschiedlich, aber immerhin erkennbar individuell. Nicht wie das Essen zurückhaltend neutral. Auch die Socken meines Nachbarn riechen, nicht gerade zurückhaltend neutral, eine eindeutige Visitenkarte, die er unter den Sitz steckt, dabei kratzt er sich die Kopfhaut und bohrt sich mit der anderen Hand in der Nase. Ein Akrobat.

Picasso Ausstellung im MoMA, New York: Ohne Mitgliedschaft kommt man gar nicht mehr hinein. Die Karten sind seit Monaten ausverkauft, aber auch den Mitgliedern, offensichtlich eine besonders geduldige Rasse, wird es nicht eben leicht gemacht.

Um 8 Uhr morgens windet sich die Schlange für die Eintrittskarten bereits zweimal um den Block zwischen 53. und 54. Straße. Um 9 Uhr werden die ersten Karten ausgegeben, um 10 Uhr macht das Museum auf. Wer glaubt, dass zwischen 9 Uhr und 10 Uhr Zeit ist, Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen, der irrt sich. Denn der Einlass ins Museum ist auf der 54. Straße (die Tickets gibt es auf der 53ten). Eine neue Schlange, die sich diesmal gegenläufig um den Block windet. Eine Schlange für die Karten, eine für den Einlass. Die Einlassschlange behandelt die Ticket-Schlange natürlich etwas herablassend, denn wer weiß, ob die überhaupt Karten bekommen, und damit zu den Auserwählten gehören, die das Ereignis des Jahres sehen dürfen. Drin geht es dann weiter, eine kleine Schlange bei der Taschenabgabe, eine nicht so kleine Schlange bei den Audiophon Geräten, und eine ununterbrochene, amorph quellende Masse innerhalb der Ausstellung.

Es wird Zeit, dass einer eine Doktorarbeit darüber schreibt, was diese unendlichen Massen dazu treibt plötzlich in die Museen zu rennen. Zwei Drittel Frauen, ein Drittel Männer, sie sehen alle sehr gebildet aus, aber wenig Kunst- mehr Konsumbedürfnis quillt aus den Satzfetzen. Der Zwang dabei gewesen zu sein, die Bilder sind zweitrangig.

Draußen vor dem Museum rennt ‚Paul’ auf und ab und verteilt Pamphlete über die ‚Unartkunst’ Picassos. Seine Sachen sollte das MoMA zeigen, Kinetik Art und Mixed-Media, und wahrscheinlich hat er recht. Denn dann könnte man zumindest wieder in die Museen gehen und fände Ruhe und Konzentration. Jetzt bleiben nur noch die Kirchen, aber da war ich schon lange nicht mehr.

Komisch wie selbstverständlich das wird. Dienstag, Mittagessen mit Lockheed, danach die üblichen dummen Witze, viel Bla Bla und ein schwerer Kopf nach dem Sangrita. Danach noch ein Gespräch mit Einem, der nüchtern ist. Bei mir alles konzentriert, dabei lacht das Innere über das eigene Geschwätz, das Wichtigtun. Ab und zu bleckt der eingesperrte Kerl die Zähne, dass sie es außen sehen können. Geh weg du, du hast am Tag heraußen nichts zu suchen. Dann noch etwas Universal-Studio. Ein herrlich blöder Klamauk. Wie die uns doch für blöd verkaufen, und trotzdem spielen alle mit, wollen auf den Bildschirm, Star werden. Diese Selbstbespiegelung wird immer mehr zum Urtrieb kultiviert.

Dann zum Flugplatz, Los Angeles’ endlose Lichterbänder, die sich ineinander verschlingen. Diese Super-Expressways sind in ihrer Dynamik, in ihrer Gesamtheit ein Kunstwerk. Ich bin jedesmal wieder betroffen von dem Eindruck, als Tropfen in diesem nicht enden wollenden Autostrom mitzuschwimmen.

Einchecken, noch etwas essen. Das Restaurant schäbig, der Gesprächspartner simpel. Er hat etwas erreicht im Leben, das will er behalten, die alte Leier. Meine Rede ist langschweifig, etwas wirr, aber er verstünde mich auch nicht, wenn ich präziser wäre.

Dann ins Flugzeug, Red Eye Special, und immer wieder herumsitzen. 4 Stunden Schlaf, Nachtflug, New York Kennedy, das Taxi in die Stadt, MoMA geschlossen, noch viel zu früh. Gleich um die Ecke ist das Hilton, da kenne ich mich aus, Frühstück, Müdigkeit und zurück in die Schlange für die Karten. Stehen, warten. Dann geht es schnell mit dem Ticket. Wieder warten. Die Buchstaben der Zeitung verschwimmen. Ich möchte schlafen. Zurück in die Schlange. Sie ist gewachsen., ganz immens und zieht sich zweimal um den Block. Lauter intelligente Menschen, Bildungsproletariat, Hausfrauen, die ihren Männern mit dem halb vergorenen Kunst-Gequassel auf den Wecker fallen. Touristen, die sowieso nichts anderes vorhaben. Ein paar Verrückte, die eigens gekommen sind, um seit Stunden in der Schlange zu stehen. Und natürlich Busladungen voller Leute, die sich überall hinfahren lassen, ohne wirklich zu wissen warum.

Dann durch die Ausstellung, seit 80 Stunden auf den Beinen. Salbungsvolle Kunststimme im Ohr. Viele Bilder, Menschenmassen davor, ist wohl besser den Katalog genau zu lesen.

Nichts wie weg hier. Das Wasser im Hof plätschert, kriegt aber den Baulärm in der Nachbarschaft nicht unter, und Balzak schaut noch immer heroisch. Wieder ins Taxi, nach La Guardia, ins Shuttle, Washington National, draußen feuchtwarm, ins Taxi, und die Kinder sagen, ich soll mich endlich rasieren. Ist das normal?

Oktober: Seltsam, wie sehr die Nähe zu einem Geschehen uns teilhaben lässt.

Europa ist sehr nah am Mittleren Osten. Der Krieg zwischen Iran und Irak ist auch unser Krieg. Es ist vor allem auch unser Öl, das versiegen könnte, falls der Krieg länger dauert, und unter Umständen sogar eskaliert. Es ist auch unser Blut, das auf den Straßen versickert, wenn ein junger Verrückter wahllos eine Bombe in der Menge des Oktoberfests zündet. Und es ist unsere Scham, wenn wir sehen, wie die Menschen bereits Stunden später wieder denselben Platz bevölkern, und ihre feuchtfröhlichen Lieder und Frotzeleien hinausschreien. Und es ist unser aller Tragödie, wenn in Paris wieder Juden gemordet werden, nur weil sie Juden sind. Sind wir je in der Lage etwas zu lernen? Hat es nicht genügt, dass Millionen durch eine Wahnsinns-Idee hingeschlachtet, zertrampelt wurden wie Müll?

Es hat nichts genützt. Wir sind zu klein, um richtige Katastrophen voll zu erfassen. Wir arrangieren uns mit Ihnen. Was zählt, ist, dass der Magen gefüllt wird, dass wir unsere kleinen, nichtigen Ambitionen erfüllt bekommen. Das andere interessiert, betrifft uns eigentlich nicht, ist eher lästig.

Wenige sind es, die uns zwingen, wegen eines abstrakten Moral- und Rechtsempfindens uns innerhalb traditioneller Verhaltensnormen zu bewegen. Dabei würden wir weit lieber, wie in einem grausamen Buschkrieg aufeinander losgehen und uns zerfleischen. Je länger wir uns im Zaum halten müssen, eben das zu tun, desto schwächer wird die Macht derer, die uns daran hindern. Ihre Anhängerschaft schmilzt und am Ende stehen ein paar heldenhafte, überzeugte Moralisten alleine da, unfähig und viel zu schwach einen nächsten Krieg zu verhindern.

Das Einzige, was hilft, ist der Krieg selbst. Das Leid, die Not und die Erniedrigung vieler Menschen. Nur diese Erfahrung zwingt uns dann wieder für ein paar Dekaden Ruhe zu geben. Aber wenn jene sterben, die noch alles erlebt haben, dann wird die Vergangenheit, das Grauen, reduziert auf die Stufe eines schlecht inszenierten Fernsehkrimis, und die Flut steigt wieder an. Und genau an diesem Punkt sind wir wohl wieder angelangt.

Oktober: Das ist das andere Amerika. Graves Mountain Lodge am Fuß der Appalachen in West Virginia. Die Menschen sind freundlich, entspannt, haben Zeit und Witz, und das Essen ist ausgezeichnet. Nie im Leben habe ich so viel gegessen, morgens, mittags, abends. Southern homemade cooking ist das, und besteht fast ausschließlich aus dem was die angrenzende Farm hervorbringt.

Hierher, in diesen wunderschönen Zipfel, hat sich kein McDonald oder Howard Johnson verirrt. Das liest sich dann zwar als ‚unterentwickelte Region’, aber nur für jene, die Entwicklung mit Pro-Kopf-Einkommen und Job-Raten messen. Dafür zwängen sich diese Entwicklungsfetischisten, zum Frühstück im Auto auf dem Weg zur Arbeit, eine Banane zwischen die Zähne, und sind für den Rest des Tages absolut vom Funktionieren der Kaffeemaschine abhängig, die kaum mehr als braunes Wasser produziert.

Sogar die Saga vom miserablen amerikanischen Kaffee wird hier in den Bergen widerlegt. Der Kaffee ist stark und schmeckt ganz ausgezeichnet. Hoffentlich ist diese Lodge nicht die absolute Ausnahme. Sie hat zumindest mehr für mein US-Bild getan, als alle internationalen Flugplätze zusammengenommen, durch die ich bisher geschleust wurde.

Wir haben ein kleines Haus gemietet und die Kinder sind glücklich. Für Susan und mich ist es fast so, als wäre für ein paar Tage die Welt zu Ende. Da sind keine Nachrichten, keine Küchenroutine und kein hektisches Reagieren zwischen unzähligen Telefonaten. Wir pflücken Äpfel, betrachten die Schweine, die sich unnachahmlich im Dreck suhlen. Wir reiten, sehen Kälber brennen, Kälber sterben, bauen Dämme in glasklarem Wasser, alles das, was fast schon verschüttet schien. Es tut gut zu sehen, wie nötig die Kinder diese elementaren Geschehnisse brauchen, und wie wohl sie sich dabei fühlen.

4. November: Amerika hat gewählt. Es war der längste, langweiligste und vielleicht verheerendste Wahlkampf, den die USA je geführt haben. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass Reagan einem Erdrutschsieg entgegensteuert. Morgen früh wird er endgültig einen schwachen, wankelmütigen Präsidenten, Carter, geschlagen haben, der nie so ganz in die Präsidentenkleider Amerikas gepasst hat. Es genügt nicht ein Moralist, Familienvater, mit guten Absichten zu sein, um eine Weltmacht zu führen.

Aber hat Reagan den Sieg wirklich gewonnen? Hat Carter nicht eher die Präsidentschaft verspielt, und da war eben kein anderer da, der sie übernehmen konnte. Anderson's Ehrenhaftigkeit reichte sicher nicht aus, die Amerikaner von einer dritten Möglichkeit zu überzeugen. Zu sehr steckt ihnen das Experiment mit Carter noch in den Knochen. Im Grunde macht Amerika einen frustriert konservativen Schwenk durch. Es ist wieder in, stark zu sein, in einem großen Rundschlag die Welt zu verbessern. Aber muss es gerade Reagan sein. Wen repräsentiert der eigentlich? Nicht die Militärs, wohl kaum die Liberalen, nicht die Wissenschaft. Die Arbeiter sind Demokraten, zumindest in ihrer Parteizugehörigkeit, die Schwarzen, die Hispanos, die Juden, sie alle werden sich hüten mit Reagan gemeinsam zu marschieren. Es ist wohl nur ein massiver Ausdruck der Staatsverdrossenheit und Politikfrustration der Amerikaner. Aber löst das irgendeines der Probleme des Landes?

Ich werde die beklemmende Furcht nicht los, dass alles zusammengenommen, das amerikanische Parteiensystem verkrustet und überholungsbedürftig, die Wirtschaft in ihrer veralteten Selbstgefälligkeit immer neue Konsumorgien erzeugend, die immer mehr Abfall produzieren, die Militärs in ihrer ängstlichen Vietnamverhaftung und die Administration in ihrer Überreglementierung, der Anfang eines schnellen Niedergangs sein könnten. Es gibt zu viele Opportunisten, die sich das Nicken auch in höchsten Posten nicht abgewöhnen können.

Für einen Europäer scheint es fast wie für einen Griechen vor nahezu 2000 Jahren, als die Römer anfingen Gladiatoren zu Kaisern zu wählen. Die Griechen konnten den Kopf schütteln und sich wundern, aber ändern konnten sie den Niedergang des römischen Reichs nicht.

Den Ausschlag für die Wahl Ronald Reagans gab die Debatte, eine Woche vor Abschluss der Wahl. Ein professioneller Schauspieler schlägt einen verkrampften Präsidenten, der nie in der Lage war über seinen eigenen Schatten zu springen. Sogar New York wählte Reagan, der Senat wird eventuell republikanisch, das ganze Land wird konservativ. Mit jedem Staat der mehr an Reagans Siegeskette kommt, sammelt er gleichzeitig auch Mühlsteine an Verpflichtungen gegenüber allen möglichen Fraktionen. Industrie, Militär, Hardhats. Sie alle wollen Amerika da wo sie es sehen, nur sind das überaus gegensätzliche Positionen, und es ist zu hoffen, dass Reagan als Präsident spezifischer wird, als er das in der Debatte war. Dort hat er nichts Substanzielles gesagt, aber ausgezeichnet gespielt. Ich hatte die Debatte nur gehört, da war kein Sieg drin für Reagan. Aber das Fernsehen, diese Hure, hat einen der ihren zum König gekrönt.

Amerika rennt. Vor mir dreht die akademische Creme der American University ihre Runden. Manche gequält schlürfend, andere prustend und schwitzend, viele mit versteiften Knochen, den Gelenken ächzend unter der plötzlichen, ungewohnten Anstrengung. Einige leicht und locker mit eingebauter Grazie, alle aber mit dem Ernst jener, die gekommen sind um zu gewinnen, Energie, Ausdauer, ewiges Leben.

Mittags um das Pentagon herum, da rennt das Militär. Das sieht anders aus. Verbissen meist, und bulldoggenhaft geradlinig. Bäche von Schweiß fließen über den Körper und die Augen quellen aus den Höhlen vor Anstrengung. Das ist nicht mehr die viel beschworene Freude am Laufen. Das sind die Geister des Mittelalters. Jene taten es zur vermeintlichen Ehre Gottes. Diese hier tun es wohl zur Verherrlichung ihrer selbst. Für diesen kleinen Rest von Selbstbestätigung und Selbstbefriedigung, der uns so schmerzhaft abgeht in unserer anonymen Existenz.

Mit dem Wechsel in der amerikanischen Regierung ist auch wieder die Frage des Verhältnisses der USA zu Europa aufgebrochen.

Seltsam, sagen die Amerikaner, als wir die Carter-Regierung hatten, da bezichtigten uns die Europäer, allen voran die Deutschen, der Schwäche, der Wankelmütigkeit, des Ausverkaufs des Westens. Jetzt, wo wir uns anstellen die Weichen umzulegen, kommen bereits die ersten Warnungen. Um Gottes Willen, hoffentlich trampeln die Amerikaner nicht sämtliches Porzellan kaputt, und lassen weltweit ihre Muskeln spielen, heißt es. Was wollen die Europäer eigentlich? Ihre Verteidigungsanstrengungen liegen weit unter jenen der USA. (Da werden eine Menge gezinkter Zahlen gehandelt. Der Anstieg der europäischen Budgets in den letzten 10 Jahre gegenüber der Verringerung in den USA im gleichen Zeitraum wird gerne unterschlagen. Die USA führen an, dass sie von einem weit höheren Sockel ausgehen, und dass sie in Zukunft mehr tun werden. Dabei wird sich zeigen müssen, wie stark diese Bereitschaft in der Realität der Haushaltsverhandlungen zerbröselt.)

Aber die Verteidigung ist bei weitem nicht die einzige Frage fehlender Übereinstimmung. Die Amerikaner sehen ihre wirtschaftliche Vormacht in der Welt zunehmend erodieren. Sie sind geplagt von einer konstant hohen Inflation, die den realen Lebensstandard merklich reduziert. Der Dollar schwankt von einem Schwächeanfall zum anderen, und ihre Produktivität gerät gegen Europa und vor allem gegenüber Japan beachtlich ins Hintertreffen. So sehen es die Amerikaner, und für sie ist es eine nationale Katastrophe, ein Gesichts- und Machtverlust, für eine Weltmacht nicht akzeptabel.

Die Europäer sehen es anders. Die Inflationsrate ist hoch, ja, aber nicht so hoch, dass sie nicht mit der Situation in Europa vergleichbar wäre. Wir sitzen alle in einem Boot, und ein guter Teil unserer galoppierenden Geldentwertung kommt von außerhalb der westlichen Industrienationen. Es ist unser exzessiver Energiebedarf, den wir nicht mehr mit wirtschaftlicher Leistung, sondern zunehmend mit Papier bezahlen. Außerdem sieht Europa in den USA immer noch den großen Verschwender, der sich vom kleiner werdenden Kuchen noch immer gerne zwei Stück nimmt, während er die anderen anhält, sich doch auf ein halbes Stück zu beschränken.

Der Dollar, sagen die Europäer, war im Bretton Woods System viel zu lange überbewertet und befindet sich heute genau dort, wo er wertmäßig hingehört. Seine Schwankungen sind nur der Ausdruck von Zyklen, denen die europäischen Währungen auch unterworfen sind, und bei der Produktivität gibt es aus europäischer Sicht keinen Grund, weshalb die USA besser sein sollten. Schließlich fand die industrielle Revolution in Europa statt, somit hatten wir einen Startvorsprung, der sich, bedingt durch die beiden Weltkriege, in einen Rückstand verwandelte (Aaron), so ist es nur natürlich, dass die Produktivität sich heute weitgehend angepasst hat.

Europa wünscht sich ein starkes Amerika. Aber es erhofft sich eine relative Stärke. Keine kraftstrotzende Hemdsärmeligkeit der Nachkriegsjahre, oder die Alles oder Nichts Politik eines Connally. Falls Reagan in dessen Fußstapfen tritt, hat er mehr Schwierigkeit mit Europa zu erwarten als sie Carter je hatte.

Meine Deutsche Welle ist endlich wieder am Abklingen. Dachte ich vor ein paar Tagen, als plötzlich nach Wochen völliger Verkrampftheit und Selbstbespiegelung eine tiefe Ruhe eintrat. Es war, als wäre ich aus einem stickigen Tal aufgestiegen, in eine freie, klarsichtige Höhe. Jetzt, nachdem die Frustration, die Sprachlosigkeit in Wellen wiederkommt, weiß ich, dass es eher eine Gratwanderung ist, die ich vor mir habe. Eine Gratwanderung zwischen der Familie, dem Beruf, der eigenen Schwäche, und den Idealen und Ambitionen meiner Träume.

Der Mangel an Kommunikation, an ehrlichem Gespräch, ist es, der mir am meisten zu schaffen macht. Ich sitze in meinem Büro, streue vorgefertigte Standardsätze um mich, und bin dem Geblö-del der Sekretärin ausgesetzt. Tagelang sitze ich in meinem Goldkäfig und schmiede verhasste Strategien zum Verkauf verhasster Waffen.

Ab und zu spreche ich mit Peter. Aber meine Sprache ist beladen mit Redundanz, mit Unwichtigem und unpräzise. Wir sagen uns nur selten die Wahrheit, und wenn, dann immer mit einer offenen Hintertür, die uns einen beliebigen Ausstieg offenlässt. Ich spüre, wie er seine Angst vor dem alt werden auf mich überträgt, und er spürt meine Verachtung für sein Bemühen noch einmal 20 Jahre alt zu sein. Weil wir beide wissen, dass wir schattenboxen, kommt ein freier Gedankenaustausch selten zustande.

Ähnlich ist es mit Susan. Wir sprechen immer seltener über uns selbst. Wir wissen, dass uns die Kinder in einen endlosen Anpassungsprozess zwingen, der uns immer farbloser werden lässt. Es wird viel Energie erfordern dieser Tretmühle zu entkommen, oder ihr zumindest einen beachtlichen Tritt zu geben, damit sie sich schneller dreht. Aber ich will es versuchen.

1981

Die beiden Deutschland nähern sich an. Kanzler Schmidt besucht Honecker auf Schloss Hubertusstock am Werbellinsee.

In München wird die Neue Pinakothek eröffnet und die Deutschen verfallen ‚Dallas’, der Saga einer texanischen Öl-Familie, deren Mitglieder einander nicht grün sind.

Der Iran gibt die Geiseln frei, sie werden triumphal in Washington DC empfangen. Nur Wochen nach der Amtseinführung überlebt Reagan ein Attentat vor dem Hilton Hotel in Washington DC. James Brady sein Pressesprecher überlebt seinen Kopfschuss nur knapp, bleibt aber auf Dauer behindert.

In Polen kommt General Jaruzelski an die Macht und verhindert damit womöglich ein Eingreifen der Sowjetischen Militärs.

Brixton, im Süden Londons explodiert durch gewaltsame Proteste meist Schwarzer Jugendlicher. Es wird gemeinhin als Ausdruck der Frustration über Rassen-Ungerechtigkeit verstanden.

Papst John Paul II wird bei einem Attentat schwer verwundet. Er überlebt. In Frankreich kommt der erste Sozialistische Präsident, Francoise Mitterrand, an die Macht.

In den Büros und Zuhause ziehen die ersten PC’s ein und verändern die Beziehungen der Menschen untereinander.

Die polnische Solidarnosc erfährt massiven Druck aus Moskau, lässt sich aber nicht einschüchtern.

In den USA wird Sandra Day O’Connor als erste Frau in den Supreme Court gewählt, und in Frankreich nimmt der erste TGV fahrt auf.

Anwar el-Sadat wird ermordet und Dayan, israelischer Kriegsheld stirbt mit 66.

In Polen wird das Kriegsrecht ausgerufen und die streikenden Arbeiter niedergeschossen.

Januar: Warum sind wir Deutsche so anders? Wir haben länger mit unseren Fürsten gelebt, haben sie noch erduldet und auch verehrt, als die Franzosen und Engländer längst Revolution und Republik hinter sich hatten. Wir haben eine Partei und deren Anführer akzeptiert, auch dann noch, als die Unmenschlichkeit des Regimes bereits zum Himmel schrie. Als Millionen sinnlos hingemeuchelt wurden, und als sich die leeren Versprechungen nur noch als die Hirngespinste eines Demagogen erwiesen. Wir haben immer mitgemacht, mit einer hundertprozentigen, kritiklosen Verpflichtung. Sind wir von Grund auf unmoralisch? Opportunistisch und dilettantisch? Wohl nicht als Ganzes. Europas Kultur wäre ohne den deutschen Beitrag unvollständig. Unser Anteil an den Geisteswissenschaften, der Musik, ist nicht wegzudenken. Aber was macht uns so mitläuferisch, so rechthaberisch, ja so aggressiv? Ist es unsere jahrtausendealte Furcht zwischen den Mächten zu stehen, aufgerieben zu werden zwischen den Völkern, im Osten Russland, im Westen Frankreich?

England, in seiner Insellage, konnte sich fast frei von Furcht, von außen erdrückt zu werden, entwickeln. Amerika, als es das Land zwischen den beiden Ozeanen noch nicht besaß, sondern nur einen schmalen östlichen Landstrich, musste erst expandieren, unterdrücken, sich den Rücken frei machen, bevor es zur Weltmacht aufstieg. Dabei hat es in keiner Phase an die hehren menschlichen Ideale der Gründerzeit gedacht. Mit einem einzigen gedanklichen Salto wurden die Indianer zu Tieren und damit Freiwild erklärt. Dem Drang der Weißen, das Land zu beherrschen, gab es keine Grenzen mehr.

Deutschland hat immer wieder dasselbe versucht. Doch unsere Eigenschaften, die uns Schlachten gewinnen lassen, haben auch immer dazu geführt, dass wir Kriege verlieren. Wir sind zu perfekt, zu unnachsichtig gegenüber jenen, die wir besiegt haben. Wir gewinnen nicht nur, wir vernichten.

Es ist nicht zu schwer, im Sommer Deutscher zu sein. Dann lockern sich die Mienen und der Umgang mit den anderen Menschen wird entspannter. Aber jetzt im Winter war ich entsetzt. Unser Fahrstil, schnell und aggressiv. Da gibt es kein Pardon für jene mit den schwächeren Motoren, oder den schlechteren Nerven.

Oder unsere Selbstgerechtigkeit, mit der wir alles besser wissen. Wir hätten die Geiseln im Iran schon längst befreit gehabt, heißt es. Wir würden nie auf die Idee kommen, uns einen Schauspieler ins Zentrum der Macht zu wählen, behaupten wir. So kurz ist unser Gedächtnis, dass wir bereits vergessen haben, dass wir vor knapp 40 Jahren einen dilettantischen Künstler zu unserem ‚Führer’ wählten. Er ist uns nicht aufgezwungen worden. Aber heute sind wir reich, wir haben politisch wieder etwas zu sagen, und die anderen fürchten uns immer noch. Das macht uns nicht nachdenklich, nein, eher stolz. Und mit jedem Zentimeter, den dieser Stolz wächst, gehen unsere Jalousien weiter zu, und unsere Scheuklappen stärker zusammen.

Wir sind ohne einen Funken von Humor. Am besten sind noch jene Mitbürger zu ertragen, die sich bewusst sind, dass sie keinen Humor haben. Jene, die glauben, den Humor gepachtet zu haben, sind humorvoll fast immer nur auf Kosten der anderen, und dann besonders ausgiebig. Geht es darum Kritik, Sarkasmus oder auch nur andere Ansichten zu akzeptieren, dann ist der Humor blitzartig vertrocknet, und zutage tritt ein fast krankhafter Narzissmus.

Was bringt mich auf gegen die Deutschen? Wohl meine eigene schizophrene Einstellung zu unserem Land. Da ist meine Ungeduld, nur mit einer ganz dünnen Haut überzogen. Mein persönlicher Absolutismus, dieses rechthabenwollen, dieses wichtigmachen bei läppischen Kleinigkeiten, dieses sich verlieren und hingeben in die Arbeit, auch dann, wenn das Getane nicht übermäßig hochgeschätzt wird. Diese selbst gezimmerte Moral, gepaart mit Selbstgerechtigkeit. Es gibt Zeiten, da kann ich diesen brodelnden Vulkan in mir nicht mehr zurückhalten. Da bricht er auf und sprudelt heraus in langen, ungeordneten Stoßseufzern. Fast immer gegenüber dem falschen Zuhörer. Entweder er ist gespürlos wie ein Holzklotz, dann denkt er, ich will die USA verteidigen, indem ich Deutschland kritisiere. Oder er hört es neutral, und fragt sich: Was kümmert mich das Thema überhaupt, und Deutschland im Besonderen. Er hat viel mehr Probleme mit sich selbst, seiner Familie seinem Job. Da kommt einer und hält ihm einen Vortrag über das Zusammenleben zweier Völker, über Mentalitätsunterschiede, über unterschiedliche geografische, historische und wirtschaftliche Realitäten zweier Länder.

Wenn ich Heinrich Heine in Deutschland lese, so erzeugt er in manchen Passagen eine verschämte Opposition. Doch hier, von außen, ist vieles, was er über Deutschland fühlt und schreibt sehr viel realer, verständlicher. Er war einer, der das Land geliebt hat, der sich Sorgen machte um Deutschland, der von dem großen Wunsch nach Änderung beseelt war. Er wollte nicht ein Frankreich, noch ein England, aus Deutschland machen. Nein, nur etwas weniger obrigkeitshörig, etwas weniger selbstgerecht, dafür lockerer, toleranter und wohl auch farbiger. Es sind mehr als hundert Jahre vergangen, seit Heine sein Wintermärchen schrieb.

Wir haben tiefste moralische und physische Täler durchwandert, aber nichts scheint uns daran zu hindern immer wieder zu unserer deutschen Hybris zurückzufinden. Mich schaudert, wenn ich daran denke, was Deutschland sein wird, wenn das Trauma des Zweiten Weltkriegs vergessen ist.

Februar: Was tun wir eigentlich im Westen? Kämpfen wir für etwas, oder kämpfen wir eher gegen etwas? Etwas das wir nicht haben wollen, wie wir nicht sein wollen. Was ist das FÜR, falls wir es erhalten wollen, dass wir es so beschützen?

Ist es der Kapitalismus, den es schon längst nicht mehr gibt? Ist es der Wohlstand, den wir verteidigen? Die Konsumgesellschaft, den Achtstundentag, das Auto-Wochenende, die Freiheit, in Grenzen unser Leben zu bestimmen. Für was kämpfen wir? Wahrscheinlich für alles so ein bisschen. Man sagt uns, es wäre uns noch nie so gut gegangen wie heute. Vermutlich stimmt das sogar für einen statistischen Mittelwert. Man sagt uns, wir wären noch nie so gut informiert gewesen wie heute. Aber wer steuert die öffentliche Meinung? Man sagt uns, wir können frei wählen. Aber was ist mit den Abermillionen Amerikanern, die die Wahl hatten zwischen Carter und Reagan, aber keinen von beiden haben wollten. Sie konnten auf Anderson setzen, und waren sicher zu verlieren.

Gut, wir kämpfen also für alles so ein bisschen. Alles zusammengenommen macht das eine ganze Menge Freiheit aus, für die es sich lohnt zu kämpfen. Oder kämpfen wir im Grunde nur dafür, dass wir uns verweigern dürfen, nicht teilhaben müssen an der großen glücklichen Gesellschaftsorgie? Aber können das die anderen, die auf der drübigen Seite des Eisernen Vorhangs sitzen nicht auch? Sie müssen mehr verteidigen, als nur dieses nackte Leben. Leben sie wirklich unter der Tyrannis menschenverachtender Technokraten? Oder haben Sie sich für die Alternative entschieden. Jenen, die Macht zu geben, die Jahrtausende lang gedient haben. Sie haben sich für eine Idee entschieden, eine Idee, die großartig genug war, bestehende Herrschaftsstrukturen wegzufegen. Gute Ideen allein nützen wenig, neue, dauerhafte, alternative Herrschaftsstrukturen zu schaffen. Das können nur Individuen, starke, unabhängige Führer, doch die sind nicht immun gegen die Verlockungen der Macht. Damit entsteht das gleiche, altbekannte Herrschaftsmuster, wie es seit Jahrtausenden besteht. Unterdrückung, Dirigismus, Bevormundung.

Das Allerwichtigste, was wir wohl dann im Westen zu verteidigen haben, sowohl nach außen wie nach innen, ist der Wechsel. Das Recht unsere Herrschenden auszutauschen, sie zurückzuschicken in die namenlose Obskurität der Masse derer, die zuarbeiten, mitlaufen und sich zuweilen fragen: Für was in aller Welt sitze ich in dieser ewig rotierenden Tretmühle. Vermutlich nur deshalb, damit sie sich unendlich weiterdreht.

März: Pfarrer Ensslin hat seine Tochter nicht für Stammheim gezeugt, aber wir, wir alle haben sie dorthin gebracht mit unserer Unfähigkeit zu leiden. Wir ziehen durch ein Leben wie Schaaren blinder Lemminge und glauben, dass wir den Schlüssel zu diesem Leben besitzen. Aber es gibt keine Tür und kein Schloss, in das der Schlüssel passen könnte.

„Wie kann ein Mensch sein Land so lieben und das eigene Volk so tief verachten?“

Manes Sperber, Eine Träne im Ozean

7. 3.: Einsamkeit:

Was ist es, was dieses Wort zu stark macht? Schon lange verbindet sich damit das Bild des Einsiedlers, der hoch oben in den Bergen wohnt, selbstgenügsam, mit dem ganzen Universum im Herzen. Vermutlich hat auch schon der Kauz, der die Nase voll hatte von der mittelalterlichen Gesellschaft, und die Mühen des Höhlenlebens den Mitmenschen vorzog, an chronischer Unterernährung und verfaulten Zähnen gelitten. Trotzdem haben einige Schöngeister, die selbst nicht genug Mut hatten so zu leben, sein Dasein verklärt, damit sie ihn als Alibi behielten.

Heute ist die Einsamkeit modern geworden. Sie hat sich emanzipiert, technisiert. Zuerst haben wir die Familie abgeschafft, und an ihre Stelle die Selbstverwirklichung, den Erfolg des Individuums, das ICH gesetzt. Dann haben wir das Fernsehen erfunden, mit all seinen nicht einlösbaren Versprechungen. Von früh bis spät sind unsere Wohnhöhlen in das unwirkliche Blau der Elektronikröhre getaucht, deren Bilder uns wie Opium gefangen nehmen.

Und weil das auf Dauer niemand aushalten kann, sind die Single-Bars entstanden. Dort kann man sich aussprechen, sich betrinken, Kontakte anbahnen und Mensch unter Menschen sein. Nur ist das eben nicht so. Das Betrinken klappt normalerweise ganz gut, weil der Alkohol und der Barkeeper keine eigene Meinung haben. Beim Kontakt ist es bereits schwerer. Wenn beide Seiten nur ein Bett suchen, geht es noch, dann ist es ein klarer Handel mit festen Regeln. Doch die Einsamkeit geht damit nicht weg, wird nur überspielt und noch vertieft. Mit dem Gespräch wird es dann ganz schwierig. Denn jetzt muss man sich öffnen, Stellung beziehen, eigene Ideen haben. Aber wo soll das alles herkommen? Nicht aus einem Leben, das aus IDT’s (Interactive Data Terminal) besteht, aus Konserven und Mikrowellen-Kochkunst, aus Redewendungen, die uns allabendlich von gewandten Fernsehkommentatoren vorserviert werden. Wir sprechen nur noch in allzu bekannten Sprach-Menüs und merken nicht mehr, dass wir uns verkaufen, ja schon längst verkauft haben.

Das Ergebnis dieser Art von Einsamkeit führt zum Massensterben. Der Einzelne verachtet den anderen Einzelnen, weil er allzu gut um dessen Schwächen weiß, die seine eigenen sind. Wir wollen uns nicht ewig selbst bespiegeln und tun es trotzdem. Wir vermehren uns nicht mehr, weil die Zeugung, und die Sorge um die anderen, zu mühsam geworden sind. Wir wollen uns nicht mehr erhalten, weil wir ahnen, dass alles, was wir jetzt tun, fragwürdig ist, fragwürdig von dem Zeitpunkt, an dem wir näher dem Tod sind, als der kraftspendenden Jugend. Wir ahnen den Tag, an dem uns keiner mehr zuhören will, auch wenn wir noch so erbärmlich wimmern. Denn was da wimmert, ist das eigene, verachtenswert Ego.

Wir könnten vieles ändern, wären wir nur bereit uns einzugestehen, dass wir uns gegenseitig brauchen. Wir brauchen unseren Partner, das erfordert Geduld. Wir brauchen unsere Kinder, das erfordert Toleranz und Selbstaufopferung. Wir brauchen das Bewusstsein, dass es sich lohnt zu leben, das erfordert eine Aufgabe, oder eine Idee, die stärker ist als unser Traum zu leben, und unsere kleinliche Angst um den Körper, der uns doch nur verletzliche Hülle ist.

Welche Rolle spielen die Intellektuellen in der Gesellschaft, welche können sie überhaupt spielen?

Über Jahrhunderte waren sie die Schiedsrichter, die Mäßiger, die Antreiber, das Gewissen der Mächtigen, aber nie die Macher selbst.

Gemacht haben die Starken. Sie sind selten dumm, lassen sich aber nie von der Idee allein beherrschen. Sie brauchen die Tat, das Umsetzen der Idee in Handlung. Und sie brauchen die Bestätigung ihres Egos, ihrer gewaltigen Triebfeder, der Lust an der Macht. Dazu sind die Starken bereit, sich Köpfe zu halten, sich auch kritisieren zu lassen, solange sie wissen, dass die Kritik im Verbalen stecken bleibt. Intelligente Aktion dagegen darf nicht toleriert werden. Sie greift die Wurzeln der sozialen Ordnung an und führt zur Auflehnung.

Gemacht haben aber auch die Schwachen, die allzu Erniedrigten. Jene, die es nicht mehr aushielten in ihrem unsagbaren Elend. Sie taten sich zusammen und wurden stark in der Gemeinschaft. Aus dieser Stärke kam dann der Aufruhr gegen die jeweils herrschenden Starken. Aber was hat das mit den Intellektuellen zu tun?