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An einem strahlenden Frühlingstag, inmitten blühender Obstbäume, heiratet Sibylle Kolb Karl Wegener. Sie, eine erfolgreiche Journalistin, er ein bekannter Chirurg, Erfinder und Unternehmer am Ende seiner Karriere. Nach einer Zeit überschäumender Freude ziehen Gewitterwolken auf. Sibylle war achtzehn, als sie ihren Sohn Stefan sofort nach dessen Geburt zur Adoption freigab. Der Vater des Kindes, ein Draufgänger und Rennfahrer, verunglückte tödlich. Die Familie verweigerte ihr jede Unterstützung und Sibylle konnte sich ein Leben als allein erziehende Mutter nicht vorstellen. Stefan wurde von Karl Wegeners Schwägerin adoptiert, ohne dass Sibylle etwas davon ahnt, als Karl sie zur Frau nimmt. Es beginnt ein verhängnisvoller Tanz, bei dem Familien zerbrechen und Leben neu justiert werden. Der Roman zeichnet das Bild einer Frau von großer Schönheit, die alles gewinnt, Liebe und Reichtum, um am Ende alles zu verlieren. Er handelt von einer Gesellschaft wo das Geld die Messlatte von Erfolg ist, und in der sich jeder selbst genügt. Von Menschen, deren Träume zerstieben, und sich von einander entfernen. Und anderen, die ihr Leben in die Hand nehmen und glücklich werden.
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2020
An einem strahlenden Frühlingstag, inmitten blühender Obstbäume, heiratet Sibylle Kolb Karl Wegener. Sie, eine erfolgreiche Journalistin, er ein bekannter Chirurg, Erfinder und Unternehmer am Ende seiner Karriere. Nach einer Zeit überschäumender Freude ziehen Gewitterwolken auf.
Sibylle war achtzehn, als sie ihren Sohn Stefan sofort nach dessen Geburt zur Adoption freigab. Der Vater des Kindes, ein Draufgänger und Rennfahrer, verunglückte tödlich. Die Familie verweigerte ihr jede Unterstützung und Sibylle konnte sich ein Leben als allein erziehende Mutter nicht vorstellen.
Stefan wurde von Karl Wegeners Schwägerin adoptiert, ohne dass Sibylle etwas davon ahnt, als Karl sie zur Frau nimmt. Es beginnt ein verhängnisvoller Tanz, bei dem Familien zerbrechen und Leben neu justiert werden.
Der Roman zeichnet das Bild einer Frau von großer Schönheit, die alles gewinnt, Liebe und Reichtum, um am Ende alles zu verlieren. Er handelt von einer Gesellschaft wo das Geld die Messlatte von Erfolg ist, und in der sich jeder selbst genügt. Von Menschen, deren Träume zerstieben, und sich von einander entfernen. Und anderen, die ihr Leben in die Hand nehmen und glücklich werden.
Eckhard Polzer, geboren 1943 in der Tschechoslowakei, wuchs in Deutschland auf. Er arbeitete in den USA, Asien und Afrika. Seit 2003 ist Polzer freier Schriftsteller. Er ist verheiratet, lebt in München. Er hat Die Weltverbesserer, Tod am Sambesi, Dunkle Wahrheiten, Das Kuvert, Suchende und mehrere Kurzgeschichten geschrieben.
Love is not an end but a process through which one person attempts to know another.
John Williams in Stoner
Eines Tages vielleicht, unterwegs in deiner Hölle,
Auf deinen blutigen Wegen, wirst du verstehen,
Dass man nie blindlings glauben darf
Und dass das Wahre dich zur Lüge führen kann
Naum Korschawin
Sibylle
Eine Hochzeit
Die Firma
Karl
Stefan
Entscheidungen
Magnus
Erlösung
Abrechnung
Hybris
Stefan
Klarheit
Karl
Endspiel
Geständnis
Magnus
Erlösung
Verachtung
Verzweiflung
Zwischenspiel
Klarheit
Freundschaft
Abschied
Als er ans Rednerpult tritt, weicht das Summen im Saal gespannter Erwartung. Karl Wegener ist der Star am deutschen Medizin-Firmament. Er spricht flüssig, routiniert, sogar witzig, trotz der trockenen Materie, die er präsentiert.
Sibylle Kolb erkennt ihn sofort. Das Material, das sie über ihn gefunden hat, ist umfassend. Sie mag große, schlanke Männer mit markanten Gesichtszügen. Ende fünfzig vermutlich, denkt sie, das Haar noch dunkel, an den Schläfen schon leicht ergraut. Er hält seinen Körper in Schuss, wirkt durchtrainiert. Seine übertriebene Neigung zum englischen Country-Look stört sie, weil sie diese Art Kleidung auch bei anderen Nicht-Engländern als aufgesetzt empfindet.
Trotz ihrer achtunddreißig Jahre wirkt sie, schön und elegant, noch jung. Ein Lichtschein unter all den Anzugträgern auf dem Ärztekongress. Eine Geschichte hinter der Geschichte soll das Interview mit Wegener erbringen.
Nach dem abgebrochenen Medizinstudium hat sie Journalismus studiert, und ihre Fähigkeit sich in andere Personen hinein zu denken hat sie zur Spezialistin für VIP’s gemacht. Kleine, manchmal auch komplexe Kolumnen, die die Leser ihres Journals mögen, sind ihr Markenzeichen. Vor allem die Leserinnen versprechen sich mehr über die Person, die sie für ihre Kolumne interviewt. Sie suchen die Person hinter der Person.
Sibylle zieht Männer vor, bei Frauen gelingt es ihr weniger, sie aus der Reserve zu locken. Doch mit der Zeit wachsen die Zweifel, ob das Interesse der Interviewten nicht doch eher ihrem attraktiven Busen gilt, als ihren intelligenten Fragen. Vielleicht ist es auch mein strohblondes Haar, das sie anzieht, denkt sie. Simonetta, Botticellis Braut, haben sie mich an der deutschen Schule in Rom genannt.
Während des Studiums in München probierte sie verschiedene Rollen, die angepasste Studentin oder die aufmüpfige Rebellin, Party-Girl oder Spießerin, zynische Feministin oder Verführerin. Die Rollen funktionierten ein paar Tage, manchmal Wochen oder sogar Monate, dann fielen sie von ihr ab wie zerschlissene Kleider. Übrig blieb eine Frau, die keine Überzeugungen besaß, keinen Glauben und keine Ideen von einer besseren Welt.
Als sie Wegener nach dessen Vortrag daran erinnert, dass er ihr am Telefon ein Interview versprochen hat, erinnert er sich nicht, stimmt aber zu, vorausgesetzt es lässt sich gleich an Ort und Stelle erledigen.
Das Interview verläuft dann nicht so, wie sie es sich wünscht. Die Umgebung stimmt nicht, ein Ecktisch am Rand der Hotellobby. Leute, die Wegener kennen, gehen vorbei, er grüßt sie, und jedesmal ist die Konzentration weg. Es ist laut und nach einiger Zeit hat er genug. Neben dem, was er bereits während seines Vortrags über sich gesagt hat, hat er wenig preisgegeben.
Am Ende des Interviews, beginnt er, sie mit anderen Augen zu betrachten. Sie nimmt es sofort wahr, kann es aber nicht deuten. Es ist nicht die Anmache eines alternden, erfolgreichen Mannes, der ein Abenteuer sucht, eher das Prüfen von Einem, der etwas finden will in seiner Vergangenheit. Dem die Erinnerung aber nur Bruchstücke liefert, die kein vollständiges Bild ergeben. Schließlich, fragt er, wo sie wohne, ihr Tonfall höre sich leicht bayrisch an. Als sie München bestätigt, eher zurückhaltend, um keine falschen Hoffnungen zu wecken, lädt er sie zum Essen ein. Möglichst gleich am nächsten Abend, so lange sie noch in London seien. Er hasse Konferenzen und würde sich freuen, den Abend in anderer Gesellschaft zu verbringen, als mit seinen ärztlichen Kollegen. Der Termin mit einem Freund vom Groote Schur Krankenhaus in Kapstadt hätte sich zerschlagen und er wäre zu haben, sagt er lachend.
Also doch Anmache, denkt sie, und willigt ein, hoffend, in einer anderen Umgebung mehr über ihn zu erfahren, als das, was er in der Hotellobby zu geben bereit ist.
Zum Essen, im Dachrestaurant des Tate-Modern, mit Blick auf das pulsierende London und die Paulskirche, erscheint er mit einer weißen Rose. Sie solle nicht um die Bedeutung rätseln, es wäre nur so eine Regung gewesen, als er an dem Blumenladen vor dem Museum vorbeiging. Er dachte, sagt er, als er ihr die Blume überreicht, es könne vielleicht das Eis zwischen ihnen brechen, aber vielleicht gäbe es da ja auch gar kein Eis.
Sie wundert sich nur kurz, dann gefällt ihr die schüchterne Geste. Sie geht aber nicht weiter darauf ein, nur sein Blick am Ende des Interviews in der Hotellobby, kommt ihr wieder in den Sinn.
Im Laufe des Abendessens beginnt er von Botticelli zu sprechen, wie sehr er dessen Malerei bewundert. Seine Bilder in der Sixtinischen Kapelle gefielen ihm besser als Die Geburt der Venus, für das der Maler so geliebt werde. Die Frau in der Muschel, sein Modell, habe Simonetta geheißen, erwähnt er ganz beiläufig. Botticelli müsse sie verehrt haben, und sie wohl auch ihn, meint er. Anders wäre der fordernde Blick, mit dem sie den Maler betrachtet, nicht zu erklären.
Bis zu diesem Punkt verlief das Gespräch entspannt und locker. Sie erzählte ihm, dass sie als Teenager in Rom zur Schule ging, weil ihr Vater dort an der Deutschen Botschaft arbeitete. Wegener sprach über seine Zeit in Südafrika noch während der Apartheid. Dass er dort Fälle operieren konnte, Schusswunden und Messerstiche, die er in dieser Häufigkeit in Deutschland nie zu Gesicht bekommen hätte. Doch als Karl, ohne große Überleitung Botticelli, und dann auch noch Simonetta erwähnte, merkte sie auf. Vor Jahren hatte sie schon einmal ein Arzt Simonetta genannt.
Sie war siebzehn und vom Vater aus Rom zu seiner Schwester nach München verfrachtet worden. Eine Verbannung aus dem Paradies in Sibylles Augen. Die Familie wollte, dass sie die Beziehung zu Jonas, ihrem italienischen Freund, beendete. München schien ihnen weit genug entfernt zu sein. Sibylle hasste die Stadt, sie fühlte sich entwurzelt und einsam.
Eines Abends ging sie allein in eine Bar, um ihren Frust zu ertränken. Im Halbdunkel saß ein junger Mann vor einem Glas Bier. Sie setzte sich zu ihm und meinte, er sähe aus, wie eine verlorene Figur auf einem Edward Hopper Gemälde.
„Night Hawks“, sagte er, und bot ihr einen Stuhl an. „Eine Kopie hing lange in meinem Zimmer, ich mochte das Gefühl von Einsamkeit, aber jetzt habe ich ja Gesellschaft“, lachte er. Dann erzählte er, dass er hier sei, um eine gelungene Operation zu feiern, alleine, weil sonst keiner mitkommen wollte. Zu viel Arbeit im Krankenhaus.
Er befand sich auf dem Sprung nach Kapstadt ans Groote Schur, und erzählte wunderbare Geschichten, kleine Cameos, wie sie fand. Seine Souveränität, die Klarheit seiner Ansichten über alles, was ihr eher verschwommen erschien, beeindruckte sie. Nach der zweiten Flasche Sekt, sie fühlte sich großartig, erwachsen und respektiert, der Vergleich mit Botticellis berühmtem Bild machte sie stolz, nahm er sie mit in seine Wohnung. Nur vage konnte sie sich daran erinnern, dass sie miteinander schliefen. Danach hörte sie nie wieder etwas von ihm. Es war ihr auch egal, denn ein paar Tage später verunglückte ihr italienischer Freund tödlich an einem Alleebaum. Sie war überzeugt, dass sein Tod mit ihrem Fehltritt zu tun hatte.
Bald darauf begann die Morgenübelkeit, das würgende Erbrechen, das sie vor der Tante nicht mehr verbergen konnte. Der Arztbesuch ergab, dass sie schwanger war. Ihr Vater schlug vor, den Jungen gleich nach der Geburt zur Adoption freizugeben, und sie stimmte zu. Die Vorstellung mit achtzehn, als alleinerziehende Mutter leben zu müssen, erschien ihr unerträglich.
Danach driftete sie durchs Leben, wie ein Schmetterling der von einer Blüte zur nächsten flog. Es gab einige Männer, Mittzwanziger, noch unfertiger als sie, mit denen sie das Spiel ‚Feste Beziehung’ ausprobierte. Und einmal reichte es sogar für eine Ehe, die noch schneller in die Brüche ging als manch andere Beziehung zuvor. Übrig blieb eine Frau, die keine Überzeugungen besaß und innerlich zutiefst verunsichert war. Manchmal dachte sie sogar an ihren Sohn, den sie verloren hatte.
Der Glockenschlag von St. Paul, auf der anderen Seite der Themse, reißt sie aus ihren Gedanken. Warum erwähnt er Simonetta, denkt sie, und betrachtet ihn genauer, misstrauisch eher. Sie überlegt, ob sie gehen soll, entschließt sich dann aber nachzufragen. „Ist Botticelli Ihre Überleitung zur Eroberung einer Frau?“, fragt sie einen Tick zu scharf. „Zuerst die Blume, dann mit gebührendem Abstand die Kunst, als Überleitung auf ein weites Feld an Möglichkeiten.“
„Erobern?“, fragt er. Die Lachfalten um die Augen vertiefen sich, und um den Mund formt sich ein stilles Lächeln. Auf einmal gleicht er einem großen Jungen, der zu schnell gewachsen ist. „Das gilt nur für Territorien.“
„Ich dachte, Ihre Generation denkt so. Kinder des Vietnamkriegs, oder so ähnlich. Da wollte ich die richtige Formulierung treffen.“
„Touché. Aber ich hatte keine Zeit zu demonstrieren. Und manch einer in meiner Generation lebt auch mit einem Bein im Jetzt. Wie heißt es denn heute?“
„Sich jemand schnappen, nehme ich an“, lacht sie. „Unsinn, erobern ist ganz in Ordnung.“
Er grinst wie ein zufriedener Kater, und kommt auf Botticelli zurück: „Ich bewundere ihn, und ich bewundere Sie. Ihr blondes Haar, Ihre Haut, wie Alabaster, die graublauen Augen. Es sind die einer jungen Frau, die ich einmal eine Nacht lang lieben durfte, und dann aus den Augen verlor. Sie war gegangen, ohne mir ihre Adresse zu hinterlassen. Ich war auf dem Sprung nach Kapstadt und wusste nicht, wie ich sie hätte finden können. Vergessen habe ich sie nie. Verzeihen Sie, das war wohl etwas plump. Aber das ‚schnappen’ hat mich herausgefordert“, lacht er befreit auf und prostet ihr zu.
Nach einem Moment der Befangenheit sprechen sie erneut über ihn, den Werdegang eines Chirurgen und Erfinders, der neben seiner Universitätslaufbahn auch ein Unternehmen gegründet hat. Dabei wächst in ihr das Gefühl, ihn schon einmal getroffen zu haben. Vielleicht auf einer Veranstaltung der Zeitung, denkt sie. Es gibt so viele Menschen, die ich treffe, und dann verschwinden sie wieder aus meinem Blickfeld. Nur Jonas bleibt mir für immer. Die gemeinsamen Fahrten auf dem Motorrad durch die Hügel außerhalb Roms. Der Geruch seines verschwitzten Hemds und der Duft der Zypressen am Wegrand. Und der kleine Junge, den ich nur einmal gesehen habe, als sie ihn mir auf die Brust legten und dann wieder wegnahmen.
Zurück in München überschüttet sie Karl mit Geschenken. Jeden dritten Tag schickt er ihr einen Blumenstrauß, bis sie ihm gesteht, dass sie nicht genug Vasen hat, um sie Flut aufzunehmen. Doch sie genießt es umworben zu werden.
Während eines Abendessens im Norden Schwabings, Fabelwesen vor der Tür eines futuristischen Gebäudes in einer ansonsten tristen Umgebung, fragt er eher beiläufig, warum sie ihr Medizinstudium abgebrochen habe. „Noch dazu kurz vor dem Examen.“
Sie zieht die Schultern hoch und lacht ihn an. „Ich hab mich schon gefragt, wann du es wissen willst. - Es war eine spontane Entscheidung. Mich graute vor der Anatomie. Jedesmal, wenn ich sezieren musste, kamen mir Bilder meines Freundes in den Sinn.“
„Der mit dem Motorrad?“
„Ja, ich sah ihn ohne Kopf. Mein Vater hatte mir verboten ihn vor der Beerdigung zu sehen. Seine Reste, die sie nach dem Unfall vom Baum schälten, wären nicht sehr ansehnlich gewesen, hieß es. - Alles - Es war einfach zu viel.“
„Alles?“
„Ich war nur siebzehn. - Warum hast du mich Simonetta genannt? Sind alle Frauen mit langem, blondem Haar und graublauen Augen Simonetta für dich. Ich finde es ungewöhnlich.“
„Warum?“
„Weil mich vor Jahren, kurz vor Jonas’ Tod schon einmal jemand Simonetta nannte. Ein junger Arzt, er war auf dem Sprung nach Südafrika. Kann es sein, dass du das warst?“
„Und wenn es so wäre?“
Sie betrachtet das Treiben im Saal, die aufgesetzte Freundlichkeit der Kellner und die devoten Gesten der jungen Frauen, die die Speisen anrichten. Plötzlich erträgt sie das ganze Brimborium nicht mehr. Das Stimmengewirr, ein Tisch mit Männern, die den Niedergang der Politik beklagen. Alternativlos, lacht einer, während die anderen ernst nicken. Frauen an einem anderen Tisch, deren helle, schrille Stimmen den Gesprächslärm übertönen. Wortfetzen über einzelne Artikel, die sie gelesen haben. Immer geht es um irgendeinen Verlust, um Geld, um Gesundheit, um das Land, als würde es ihnen gehören. Sie leben in der Vergangenheit, denkt Sibylle, und plötzlich ist Jonas wieder da, greifbar fast und schmerzhaft. Warum musste er ausgerechnet an einem Alleebaum sterben, denkt sie, während das Raunen um sie herum zum unverständlichen Rauschen verschwimmt. Sie legt ihre Serviette auf den Tisch und geht ohne Erklärung zur Toilette. Dort wäscht sie sich die Hände und schüttet etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Mit einem der gerollten Handtücher trocknet sie sich ab, wirft sie in den Weidenkorb neben dem Waschbecken und zieht den Lippenstift nach. Zurück am Tisch legt sie Karl die Hand auf die Schulter, lächelt, und setzt sich auf ihren Stuhl.
„Ich hab mir Sorgen gemacht“, sagt er.
„Seit wann weißt du es?“
„Seit unserem ersten Interview. Es gab zu viele Gemeinsamkeiten. - Bist du mir böse?“
„Wegen was? Wegen der gemeinsamen Nacht? Weil du dich nicht mehr gerührt hast? Weil du so lange nichts gesagt hast, obwohl du sicher warst, dass ich es war, die du damals verführt hast. Auf was soll ich böse sein?“
„Auf mich, auf alles was mich ausmacht. Den Kerl, der dich damals genommen hat, obwohl du betrunken warst. Den Mann, der so tut als wäre es sein Geburtsrecht, eine schöne junge Frau an sich zu binden. Dabei ist alles nur halbwahr. Ich war berauscht von dir, deiner Jugend, deiner Schönheit. Im Flugzeug nach Kapstadt habe ich mich gehasst. Noch heute wache ich auf und denke an dich. Ich gehe zu Bett und denke an dich. Ich muss mich zügeln meiner Sekretärin nicht andauernd von dir zu erzählen.“
„Deiner Sekretärin?“, lacht sie. „Komm lass uns gehen, wir müssen reden, das geht nicht hier.“
Er nickt, als wäre das nur logisch. Er ruft den Kellner und bittet um die Rechnung. Ohne zu prüfen legt er ein paar Scheine auf den Tisch, die den geforderten Betrag weit übersteigen. „Das ist für das entfallene Dessert“, sagt er, als ihn der Kellner fragend ansieht.
Karl steht auf und reicht Sibylle die Hand: „Wohin?“
„Zu mir, ich hoffe, das ist dir nicht zu intim.“
Sie wohnt in einem Altbau, in einer Wohnung, die sie von ihrer Tante geerbt hat.
Es gibt keinen Aufzug, aber die Holztreppe, breit und ausladend geschwungen, geht sich gut. „Schön“, sagt Karl, leicht außer Atem, als er durch die Eingangstür tritt. „Du willst mich testen?“
„Nein, du sollst wissen, wer ich bin. Danach kannst du immer noch die Flucht ergreifen. Möchtest du etwas trinken?“
„Ein Kaffee wäre wunderbar. Wir sind ziemlich abrupt aufgebrochen. Dich hat das Lokal genervt, ich sah’s dir an. Ist auch nicht mein Stil, aber ich wollte dich beeindrucken.“
„Brauchst du nicht. Komm in die Küche, wir machen den Kaffee gemeinsam.“
„Wenn du erlaubst, setze ich mich gerne für einen Moment hin und sehe mich um“, sagt er und steuert auf einen der Ratan-Stühle zu, die um einen niedrigen Couchtisch aus Glas gruppiert sind. „Hast du die Wohnung schon lange?“, ruft er in die Küche.
„Ich hab sie von meiner Tante geerbt. Als Klara starb, habe ich die Wohnung behalten. Die Lage ist gut, ich mag den Blick auf den Park, auch wenn es lauter geworden ist, seit ihn die Flüchtlinge übernommen haben.“
„Wann bist du nach München gekommen?“
Das müsste er eigentlich wissen, denkt sie. „Ein paar Wochen, bevor ich dich im Night-Club traf. Sie hatten mich aus Rom verbannt, weil sie Jonas für unter meiner Würde hielten. Und dann merkte ich, dass ich schwanger war. Ohne Klara hätte ich diese Zeit wohl nicht überstanden. Das Kind habe ich dann hier zur Welt gebracht. Das war vor zwanzig Jahren.“
„Dein Kind?“
„Von Jonas, der sich umbrachte. Ich hab dir von ihm erzählt.“
„Dem Rennfahrer!“
„Ja. Er war ein zu guter Fahrer und hatte dieselbe Kurve tausendmal geschafft. Er wusste also, wie er sie nehmen musste. Ich glaube nicht, dass es ein Unfall war.“
„Wo ist das Kind? - Entschuldige, das hätte ich nicht fragen dürfen.“
„Doch, deshalb sind wir ja hier, damit du erfährst wer ich bin. Es war ein Junge, ich habe ihn sofort zur Adoption freigegeben. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber jetzt erscheint es mir wichtig, dass du alles über mich weißt.“
„Kennst du seine Familie?“
„Nein, ich wollte es nie wissen, aber in letzter Zeit verfolgt mich der Gedanke, dass es einen Menschen gibt, der ein Teil von mir ist, und ich rein gar nichts über ihn weiß.“
„Möchtest du mit mir über diesen Jonas reden?“
Wie kann er so etwas fragen, denkt sie. Und diesen Jonas, hat er gesagt, als wäre er ein Wettbewerber unter vielen. Es geht ihn nichts an. „Ich war siebzehn, Karl, da ist die Welt ein offenes Buch.“
„Und deshalb hast du auch mit mir geschlafen, um die Seiten deines Tagebuchs füllen zu können.“ Er scheint ihr keinen Vorwurf zu machen, doch er klingt traurig.
Tagebuch? Wie kommt er darauf?, denkt sie. „Ich ging in diese Bar weil ich verärgert war. Alles um mich herum schien sich aufzulösen. Du gabst mir Selbstvertrauen, ich war nicht betrunken.“
„Bist du wirklich das Mädchen von damals?“
„Ja, ich bin mir sicher. Es gibt zu viele Parallelen, der Night-Club, die zwei Flaschen Sekt, die Spaghetti in Sepia, die ich nie mehr sonst gegessen habe. Du gabst mir ein Gefühl von Geborgenheit, und jetzt ist es wieder so.“
„Wo hast du das Kind geboren?“
„In der Diakonie, nicht weit von hier in der Arcisstraße, meine Tante kannte dort einen Oberarzt. - Warum willst du das wissen? Es schmerzt wie ein offene Wunde.“
„Wir müssen sie schließen.“ Als sie sich umdreht, um die Kaffeetassen zu füllen, tritt er hinter sie und küsst sie auf den Hals. Ganz vorsichtig lässt er seine Hände über ihre Arme gleiten und drückt ihre Hand. Er nimmt ihr die Kaffeekanne ab, stellt sie auf die Anrichte. Nachdem er Sibylle geküsst hat, sagt er: „Wir kriegen sie zu die Wunde, das verspreche ich dir.“
Monate später, als Karl mit einem riesigen Strauß roter Rosen im Arm um ihre Hand anhält, ist ihr klar, dass auch Karl doziert, wie alle anderen zuvor. Er braucht keine Frau, sondern ein Publikum, denkt Sibylle. Die Überraschung besteht darin, dass es ihr nichts ausmacht. Er besitzt eine Fähigkeit, die ihr wie Magie erscheint. Er ist fähig, sich eine Meinung zu bilden und besitzt eine Ansicht zu fast allem, was er hört und sieht. Und weil er zu wissen scheint, was richtig und falsch ist, hat er es nicht nötig sich abzuschotten.
Im Gegensatz zu ihr, die ständig in einem Meer von Informationen zu ertrinken droht, packt er sein ‚kritisches Bewusstsein’ in kleine Päckchen, die er dann großzügig verteilt. Nichts macht ihn sprachlos, nichts schüchtert ihn ein. Er nimmt es mit Krisen und Kriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen auf, verurteilt begangene Fehler, benennt die Schuldigen und kennt die bestmögliche Lösung.
Sibylle lächelt über die Altertümlichkeit seiner Formulierungen, fragt sich, ob er bei seinem Antrag auch noch vor ihr niederkniet. Doch sie ist glücklich, endlich kann sie sich in eine Person verwandeln, für die die Welt ein begehbarer Ort ist. Zum ersten Mal spürt sie festen Boden unter den Füßen.
Sie akzeptiert indem sie ihn in die Arme nimmt und küsst. „Du wirst es nicht einfach mit mir haben“, sagt sie.
„Darauf bin ich vorbereitet. Das Risiko ist es wert. Und Jonas?“
„Den verbannen wir auf eine unbewohnte Insel“, vorausgesetzt er lässt es zu, schiebt sie in Gedanken hinterher.
„Großmogul hast du mich einmal genannt, wird Großmoguln auch ein Harem gestattet?“, fragt er verschmitzt.
„Ich glaube ja, aber es gibt immer eine Frau, die über allen anderen steht, du musst dich also entscheiden, wie viel Kraft zur Schlichtung dir noch bleibt. Und Großmoguln treffen ihre Entscheidungen allein, aber dann müssen sie auch damit leben.“
Und so findet Mitte Mai, die Wiesen ein Teppich aus Löwenzahn und Hahnenfuß, im Obstgarten des Bauernhofs der Wegeners die Trauung statt. In einer kleinen Kapelle, auf einem Hügel hinter dem Hof, am Fuß der Alpen, mit Blick auf die Bodennebel des entfernten Staffel-Sees.
Nur ein kleines, ungutes Gefühl nagt in Karl. Hat er die junge Frau, die er heiraten will, verdient? Er besitzt alles, eine makellose Karriere, Anerkennung als Chirurg, und Wohlstand. Doch eine Ehe hatte er bisher nicht geschafft, zu sehr beherrschte ihn das Streben nach Erfolg.
Sie sind alle gekommen, Kollegen, Geschäftsfreunde und die erweiterte Familie, dazu die Anwälte, Notare und Steuerberater, mit denen Karl häufig zu tun hat. Nur Sibylles Kreis verläuft sich in der Menge. Der flüchtige Beobachter könnte meinen, sie wäre ganz allein. Die wenigen Bekannten, die sie auf Karls Drängen eingeladen hat, kommen aus ihrem Umfeld als Journalistin. Leute, die ihren Aussteiger-Traum wie eine Monstranz vor sich hertragen und mit den Honoratioren aus Karls Umgebung nichts anfangen können.
Sibylle spürt, dass sie zwischen den Fronten steht. Dort das etablierte Volk, dem sie jetzt angehört, und hier die prekären Lebensentwürfe, die sich von einem Projekt zum anderen hangeln. Die meisten hier glauben, ich habe mir Karl noch schnell geangelt, bevor sein Stern zu sinken beginnt, denkt sie. Neider, denen Karl zu groß, ich zu jung, und die Apfelblüten zu kitschig sind. Es stimmt alles, die Tafel unter dem Walnussbaum, die Gerichte, eine Mischung aus bodenständig bayrisch und einem Hauch von Toskana, das Silberbesteck, glänzend in der Sonne, und jeder bemüht seine beste Seite zu zeigen. Warum kann ich nicht fröhlich sein, denkt sie, in Gedanken an Rom, den letzten gemeinsamen Abend mit Jonas, in der Trattoria hinter dem Quirinale, wo er den Kellner begrüßte, als wäre er sein Freund. Und jetzt bin ich achtunddreißig, sie halten mich für stolz in dem cremefarbenen Seidenkleid mit dem zu offenherzigen Ausschnitt. Karl wollte, dass ich mich zur Schau stelle. Lass die langen Flechten in der Sonne glänzen, sagte er, als er mir einen Kranz aus Gänseblümchen in die Haare flocht.
Als die Musiker die ersten Lieder aus den siebziger Jahren anstimmen, zieht ein Hauch von Nostalgie durch die Reihen. Sibylles Stimmung wird nicht besser dadurch. Sie denkt an das Baby, das sie nicht behalten wollte. Ein Junge, sagte die Schwester eher widerstrebend, als sie danach fragte.
Karl ist längst in der Menge aufgegangen, Hände schüttelnd, als nähme er Huldigungen entgegen. Seine weiße Smoking Jacke tanzt zwischen den Leuten, wie ein von der Sonne gebleichter Korken auf dem Wasser.
Heide, Karls Schwägerin, sieht, wie Sibylle verloren an der Tafel sitzt und nur noch mechanisch auf die Fragen wildfremder Leute reagiert. Karl sieht nicht, was in Sibylle vorgeht, denkt sie, aber so ist er eben, es hat sich alles immer nur um ihn gedreht. Sie nimmt ihre beiden Teenager zur Hand und stellt sie Sibylle vor. „Ich glaube, du hast Stefan und Marie noch nicht kennengelernt.“
Sibylle, erleichtert, dass sie jemand aus ihren Träumen reißt, steht auf und küsst Marie auf beide Wangen. „Stimmt, sie waren immer unterwegs, irgendwo in der großen weiten Welt. Aber Karl hat mir von euch erzählt. Schön siehst du aus, Marie. Beneidenswerte Jugend.“ Als sie dem jungen Mann, der unbeholfen neben seiner Schwester steht, die Hand reicht, erschrickt sie. „Stefan, dein Ältester?“, fragt sie Heide, bemüht ihre Überraschung zu verbergen. Stefans Ähnlichkeit mit dem Jonas ihrer Erinnerung ist frappierend. „Wie gefällt euch die Veranstaltung?“, fragt sie schnell.
Veranstaltung, denkt Stefan, kein schlechtes Wort für die eigene Hochzeit. Aber vielleicht redet man so, wenn man vierzig wird. Dabei hat sie recht, es ist Karls Veranstaltung, und sie ist nur der Anlass für seine Show. Ein Möbelstück, das besichtigt werden darf. - Ich hasse das Getue dieser Bildungsbürger, ihr Heucheln, ihr Darumherumreden, als wüssten sie auf alles eine Antwort. Ich hätte weg bleiben sollen, aber das konnte ich Mutter nicht antun. Was ist das überhaupt für ein komischer Name? Sibylle, ich dachte das wären Wahrsagerinnen gewesen, bei den alten Römern, zumindest hat das unser Geschichtslehrer gesagt. Aber was wusste der schon, es wäre nicht das erste mal gewesen, dass er Stuss erzählte.
„Ja, Stefan“, sagt er, und blickt auf seine Hand, als könne er darin noch den Abdruck ihrer Finger erkennen.
Auf einmal dringt Karls Stimme durch das Geplätscher aus Stimmen, Lachen und Gläserklirren: „Ruhe bitte, ich muss euch etwas sagen.“ Noch bevor er beginnt, tritt er zu Sibylle und legt ihr den Arm um die Schultern. Dabei dreht er sich zu Heide und den Kindern. „Ihr habt euch also schon vorgestellt. - Unsere Hoffnungsträger, Marie, die in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt und auch Medizin studiert. Du gehst doch noch für ein Semester nach Südafrika, oder hast du deine Meinung geändert?“, fragt er Marie.
„Jetzt lass sie doch erst mal ihr Abitur machen“, sagt Heide. „Dann kann sie immer noch entscheiden, was sie tun will.“
„Und das ist Stefan, Einser-Abiturient mit Hang zum Kapital“, lässt sich Karl nicht beirren. „Bevor es richtig losgeht hat er schon eine kleine Firma gegründet, die Computer-Software erstellt. Was sie genau machen, weiß ich nicht, das Thema Internet übersteigt mein Begriffsvermögen. Ich gehöre schließlich zu den Sauriern, deren handwerkliches Können von Automaten übernommen wird“, fügt er kokett hinzu.
„Wir programmieren Applikationen für die neuesten Mobil-Telefone, damit sich die Nutzer in ihrer Umgebung besser auskennen. Wir helfen ihnen ein Restaurant oder auch ein Hotel zu finden“, sagt Stefan spitz, als hätte er den Verweis erfolgreicher, alter Männer auf ihre Internet-Unfähigkeit gründlich satt. „Wolltest du nicht etwas sagen, Onkel Karl? Die Leute warten“, schiebt er nach, um von sich abzulenken.
„Gut, dass du mich daran erinnerst.“ Karl steckt seine Nase in Sibylles Turban aus Haaren, als wolle er den Duft der Gänseblumen einsaugen. „Gestattest du, dass ich aller Welt gestehe, wie viel du mir bedeutest“, fragt er, greift nach einem Glas, ohne ihre Antwort abzuwarten, und klopft mit dem Löffel dagegen. Als sich niemand darum schert, winkt er der Band und bittet um einen Tusch. Nur langsam ebbt der Lärmpegel ab. Karl breitet die Arme aus, als wolle er die ganze Gesellschaft umfangen: „Ihr könnt gleich weiter reden, aber ein paar Worte von einem glücklichen Bräutigam müsst ihr euch schon gefallen lassen. - Vor ein paar Tagen hatte ich noch befürchtet, dass uns die Eisheiligen das Fest vermasseln, aber dann hat Sibylles Schönheit alles zum Besten gewendet. Und jetzt seht ihr einen Mann, beschienen von zwei Sonnen. Einem Gestirn, das uns allen gehört, und das mich ein Leben lang beschenkt hat. Und einem irdischen Wesen, dessen innere Sonne auf meine alten Tage scheint. Ich weiß, manch einer neidet mir dieses Glück, fühlt sich herausgefordert durch meinen beruflichen Erfolg, aber der zählt jetzt nicht mehr. Ich werde ab heute nur noch Liebhaber sein. Und damit ihr es auch glaubt, will ich Sibylle, vor euch allen als Zeugen, ein paar Zeilen aus Shakespeares Sommernachtstraum schenken.“
Er kramt einen kleinen Zettel aus der Jackentasche, stellt sich in Positur und beginnt zu rezitieren:
O Geist der Liebe, wie bist du reg und frisch
Nimmt schon dein Umfang alles in sich auf,
Gleich wie die See, nichts kommt in ihn hinein,
Wie stark, wie überschwänglich es auch sei,
Das nicht herabgesetzt im Preise fiele
In einem Wink! So voll von Fantasien
Ist Liebe, dass nur sie fantastisch ist.
Als er fertig ist, nickt er, lächelt, und weist auf seine Frau. „Seht, es hat ihr gefallen“, ruft er in die Runde. Dann drückt er Sibylle an sich und küsst ihr eine Träne aus den Augen.
„Was ist das? Hat er es selbst gedichtet?“, flüstert Stefan in Maries Ohr.
„Es ist Shakespeare, Karl hat es gesagt“, antwortet Marie.
„Muss ich überhört haben, und woher weißt du das?“
„Ich lese. Karl hat mich gebeten ein passendes Zitat zu finden.“ Marie lacht kurz auf und erschrickt. Verschämt streicht sie ihre langen Locken hinter die Ohren. „Aber er hätte es wenigstens auswendig lernen können“, fügt sie leise hinzu.
„Hätte ich eigentlich wissen müssen, dass es nicht von ihm kommt. Schau, wie Mutter strahlt. Manchmal denke ich, sie liebt Karl mehr als unseren Vater.“
„Unsinn, die beiden sind Brüder.“
„Ziemlich verschiedene Brüder.“
„Genauso verschieden wie wir beide auch. Aber ich liebe dich trotzdem, auch wenn es mir zuweilen schwer fällt.“
„So ein Quatsch. - Sibylle, Libelle, fliegt auf die Schnelle immer nur ins Helle.“
„Was redest du da, du kennst sie doch gar nicht. Außerdem hörst du dich an, als würdest du Karl beneiden.“
„Was für ein Blech. - Mutter meint, Sibylle kommt ihr wie ein männermordendes Insekt vor.“
„Das glaube ich nicht. So sieht sie wirklich nicht aus.“
„Libellen sind auch schön, schwirren so rum und zeigen ihre schillernden Flügel. Und doch weiß keiner, für was sie eigentlich gut sind.“
„Manchmal bist du unerträglich.“ Marie klingt jetzt richtig verärgert. „Mutter mag sie vielleicht nicht, weil sie Karl bewundert. Manchmal sehen sie sich an, als wären sie ein altes Paar, das sich blind vertraut. Wie ein Nachhall aus der Zeit, als sie als Assistenzärzte zusammengearbeitet haben. Vielleicht ist sie aber auch nur neidisch. So ein Hochzeitskleid unter Apfelblüten, umgeben von einem Teppich aus Löwenzahn hat schon was. Sie und Gerhard hätten bescheiden in einer bayrischen Dorfkneipe gefeiert, hat sie mir erzählt. - Außerdem hast du die ganze Zeit nur auf Sibylles Busen gestarrt. - Ihr beide, du und Heide, seid neidisch“, fügt sie noch schnell hinzu, als wäre ihr peinlich, was sie gerade gesagt hat. Dabei stupst sie Stefan kumpelhaft in die Seite.
„Kreativer Akademiker, 58, 1,85 in MUC, attraktiv, humorvoll, optimistisch, zerrissen, herzensgut mit einem Schuss Brutalität, selbstverliebt und leicht narzisstisch, sucht dich: eine warmherzige, schöne, gelegentlich kühle, berechnend taktierende, selbstbewusste Frau, um gemeinsam durchs Leben zu gehen“, sagt Stefan, und tut, als hätte er die Bemerkung über Sibylles Busen überhört. „So oder so ähnlich muss die Anzeige wohl geklungen haben. Im ‚Zeit’-Magazin, das Mutter so gerne liest und überall herumliegen lässt, finden sich solche Anzeigen. Krass, was die Leute alles von sich behaupten, lauter hochmeinende und sensible Frauen, und Männer, die eigentlich nur vögeln und ihre Einsamkeit vertreiben wollen. Und da erfinden sie sich eben neu, und träumen vom großen Fisch. Vielfältige Interessen habe ich vergessen, ohne die geht es nicht. Oder gab es gar keine Anzeige? Wo hat er sie wirklich aufgetrieben, weißt du das?“, fragt Stefan hartnäckig.
„Blödmann, jetzt hörst du dich wirklich mies an“, sagt Marie, und wundert sich, als Stefan errötet.
Jahre später schlägt Karl Wegener mit der Hand auf den Schreibtisch in seinem Büro, als wolle er ein unbotmäßiges Kind bestrafen. Er hat in den letzten Wochen viel operiert, dazu ein paar Arbeiten für medizinische Fachzeitschriften geschrieben, und dachte, die Hand wäre überanstrengt, aber das Ziehen blieb und verstärkte sich. Als es in ein unkontrollierbares Rütteln überging, erst leicht und sporadisch, dann immer häufiger, konnte er es nicht mehr ignorieren.
Nachdem ihn Christian, ein Freund und Kollege in der Inneren Medizin, untersucht hat, sagt er, als er ihm den Befund reicht: „Es ist eindeutig, wenn du willst, können wir später darüber reden.“
„Was ich vermute?“
„Ja, im Anfangsstadium.“
Karl überfliegt die Papiere, Parkinson, denkt er, Dr. Dr. Karl Wegener, Professor und Leiter der Chirurgie einer Universitätsklinik, hat Parkinson. Im Anfangsstadium, sagt Christian, weil er weiß, dass ich weiß, wie die Krankheit verläuft. Ein paar Jahre bleiben mir noch, mehr oder weniger, eher weniger. Er hebt den Befund in die Höhe und lächelt, wie einer, der gerade eine Niederlager erlitten hat, die er nicht akzeptieren will. „Kann ich den behalten?“
„Natürlich, es ist deiner.“
„Na dann.“ Karl geht zurück in sein Büro, legt die Papiere auf den abgenützten Schreibtisch und sieht auf die Buche vor dem Fenster, deren Blätter sich bereits verfärben.
Als er den Lehrstuhl übernahm, hatte er einen Schössling aus dem Garten seines Elternhauses hierher verpflanzt und seither zugesehen, wie er sich entwickelte. Karl liebt den Baum im Wechsel der Jahreszeiten, wie er auch die alten Buchen auf dem parkähnlichen Gelände seines Hauses in Grünwald liebt. Sie sind meine ältesten Freunde, auf alle Fälle die verlässlichsten, denkt er. Sie werden älter als wir Menschen, wenn wir sie in Ruhe lassen, und wissen vermutlich längst, was in mir vorgeht. Schließlich haben sie Generationen von uns kommen und gehen sehen. Er atmet tief ein, bläst die Luft durch die Zähne und geht zurück in Christians Büro. „Was denkst du? Wie lange kann ich noch operieren? Gib mir deine ungeschminkte Meinung.“
„Das hängt davon ab, ob noch etwas dazu kommt, und, und…. Du wirst es merken, wenn es nicht mehr geht. Zwei, drei Jahre vielleicht, es kommt in Schüben. Ich würde dir empfehlen eine zweite Meinung einzuholen, um sicher zu sein, wie weit du schon bist. Bei komplizierten, langwierigen Operationen ist es wahrscheinlich besser, du gibst sie gleich ab. Du kannst natürlich weiter zu mir kommen, wenn du willst, aber ich glaube du bist jetzt bei den Neurologen besser aufgehoben. Alles andere, Diät umstellen, weniger Alkohol, all die schrecklichen Dinge, die keinen Spaß machen, kennst du ja sowieso.“
„Danke, ich brauche keine zweite Meinung. Immerhin kann ich mir jetzt schon mal die Karten legen. Ihr habt also noch nichts Neues in eurem Köcher?“
„Leider, es ist immer noch der alte, langsame Killer.“
„Dann weiß ich ja, was mir bevorsteht.“
„Was ist eigentlich aus dem Jungen geworden, den ich deiner Schwägerin zur Adoption vermittelt habe? Ein passendes Kind solle es sein, hast du gesagt, als du mich aus Kapstadt angerufen hast. Als gäbe es die Kinder im Supermarkt“, lacht Christian, dabei versucht er nur Karl abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen.
„Er wächst und gedeiht, ein großer, junger Mann, Stefan heißt er. Ich hätte euch längst miteinander bekannt machen sollen, immerhin hast du eine entscheidende Rolle in seinem Leben gespielt.“
Christian lächelt, als käme ihm die Erinnerung an die damalige Zeit immer noch unwirklich vor. „Hattest du mit Heide etwas?“, fragt er schließlich. „So wie du dich für sie engagiert hast …. Ich hatte mich gewundert.“
„Wir waren einmal zusammen, sie wollte mehr, aber ich nicht. Familie, Kinder, all das, was ich damals nicht brauchen konnte.“
„Und jetzt?“
„Sibylle ist anders.“
„Es war nicht leicht gewesen, den Jungen loszueisen, aber offensichtlich hat es sich gelohnt. - Bedauerst du, keine Kinder zu haben?“
„Ja, gelegentlich. Wenn ich Stefan so ansehe, denke ich manchmal schon, dass er zum Besten gehört, was mir mit deiner Hilfe gelungen ist. Er hätte auch in einem Heim landen können.“
„Wirst du jetzt bescheiden auf deine alten Tage? Mann, Karl, du bist unser Aushängeschild.“
„Das bedenklich wackelt.“ Karl dreht sich um, hebt zum Abschied die Hand und zieht vorsichtig die Tür hinter sich zu. Auf dem Weg ins Büro, versucht er, wie immer, zielstrebig und selbstbewusst aufzutreten. Keiner soll ihm ansehen, was in ihm vorgeht. Aber als er sich an seinen Schreibtisch setzt, spürt er, wie müde er ist.
Das Spiel ist aus, denkt er. Ich habe mich zu sehr darauf verlassen, dass es immer so weiter geht. Der strahlende Karl, dem die öffentliche Anerkennung nur so zufliegt. Der Erfinder, Unternehmer und Held, der im hohen Alter noch eine Frau heiratet, die seine Tochter sein könnte. Und jetzt entgleitet mir alles.
Sibylle betrügt mich wahrscheinlich, wie könnte es auch anders sein, sie ist voller Leben, und ich bin leer und ausgebrannt. Die Firma trudelt nur noch vor sich hin, und Gerhard kriegt sie nicht in den Griff. Routine allein reicht eben nicht. Und jetzt auch noch Parkinson. Wahrscheinlich kann ich mich noch eine Weile durchmogeln, bis mir irgendwann das Skalpell verrutscht.
Er schüttelt sich, drückt auf die Taste der Gegensprechanlage und ruft seine Sekretärin zu sich: „Frau Walter, bitte bringen Sie Ihren Kalender mit, wir müssen neu justieren.“