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Der Aufenthalt auf der Klosterinsel Newelstein sollte ein unterhaltsames Treffen von namhaften Autoren werden. Ein Austausch von Ideen in eleganter Umgebung. Doch als endlich alle dort eingetroffen sind, fällt nicht nur der Strom aus. Nach und nach verschwinden einzelne Personen. Misstrauen und Unsicherheit machen sich unter den Gästen breit. Nicht nur die blinde Melly Moon sucht verzweifelt einen Ausweg aus dem Klosterlabyrinth. Sie alle können nur hoffen, einen Weg zu findet, die Insel zu verlassen, die plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten ist. Der Kampf ums nackte Überleben nimmt ungeahnte Formen an. Denn der Mörder verfolgt einen ganz genauen Plan ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Autor: Dieter KleffnerOriginalausgabe Januar 2018 Cover designed by Michael Frädrich © Copyright Edition Paashaas Verlag www.verlag-epv.de Printausgabe: ISBN: 978-3-96174020-8
Die Handlung des Romans ist frei erfunden.
Sollte ein Ereignis oder ein Name im Buch erscheinen, welches bzw. welcher auf jemanden zutrifft, ist das ungewollter Zufall. Die Haftung jeglicher Art wird abgelehnt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Autorenstolz
Ein Thriller von Dieter Kleffner
Anna Opitz lenkte ihren Sportwagen auf den Kundenparkplatz und stellte den röhrenden Motor aus. Sie griff zu einer Ledermappe und verschloss den Wagen. Ihr Blick huschte über die edle Glasfront des Bankgebäudes mit dem auffälligen Säulenportal. Unter energischen Schritten klackerten ihre Schuhe über die Marmorstufen und durch die sich selbst öffnende Tür zur Vorhalle. Ein Blick auf ihre Designeruhr bestätigte, dass sie wie immer absolut pünktlich war. Das Gleiche erwartete Opitz von ihren Geschäftspartnern. Unzählige Kunden eilten zu Schaltern, Bürotüren, Geldautomaten, zum Aufzug, zu einer weiterführenden Treppe.
Finanzmanager Feldmann betrachtete die Dame mit analytischem Blick und schätzte sie auf Anfang Fünfzig. Die Verlegerin trug einen maßgeschneiderten Hosenanzug. Der moderne Kurzhaarschnitt unterstrich ihr selbstbewusstes Auftreten. Der Banker ging mit ausgestreckter Hand auf seine Kundin zu. „Guten Tag, Frau Opitz. Sie sehen blendend aus, wenn ich das sagen darf.“
„Dürfen Sie, Herr Feldmann.“ Sie erwiderte kraftvoll seinen Händedruck.
Er wies auf eine Tür und ging voraus. „Bitte folgen Sie mir in mein Büro. Dort können wir uns ungestört unterhalten.“
Die edlen Pumps der Bankkundin klackerten über den Marmorboden. Der Banker hielt seine Bürotür auf, ließ die Kundin passieren und bot ihr einen Ledersessel an. Er selbst nahm hinter einem Schreibtisch Platz. Er griff zu einem Exposé, öffnete das Hochglanzprospekt und schob es der Kundin aufgeschlagen entgegen. Die Verlegerin nahm eine Brille aus dem Etui, setzte diese auf und betrachtete neugierig das doppelseitige Foto. Die Kulisse zeigte einen romantischen Bergsee. An seiner Rückseite erhob sich eine majestätische Bergspitze. Mitten im See thronte eine bewohnte Insel mit einem saftig grünen Wald. Ein weißes Boot zog helle Wellen und steuerte auf die Insel zu.
Der Finanzmanager erklärte: „Das ist der Newelsteinsee. Dahinter erkennen Sie die Mönchshöhe. Auf der privaten Insel sehen Sie gleich die historischen Gebäude des ehemaligen Klosters Newelstein, das bereits vor fast dreihundert Jahren zu einem Jagdschloss umgebaut wurde. Die Grafen Bergheim genossen dieses Anwesen als Sommerresidenz. Viele Fürsten sind dort ein- und ausgegangen, um sich in der reinen Luft zu erholen.“
Er blätterte weiter. Die Ansicht des Inselschlosses und einer Kirche füllte die neue Doppelseite aus. Auf den nächsten Seiten folgten Fotos von stilvoll eingerichteten Gemächern mit luxuriösen Bädern. Behagliche Kaminzimmer und Speiseräume versprachen gemütliches Zusammensein mit niveauvollen Menschen. Die rückseitige Terrasse lag in der Sonne. Mitten zwischen leuchtend bunten Blumenbeeten sprudelten Wasserfontänen in die Luft. Golfanlage, Tennisplatz und Swimmingpool versprachen sportliche Aktivitäten und erfrischende Abkühlung.
Feldmann lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück, blickte der Kundin in die Augen und sagte: „Dieses Projekt wird ein Urlaubsparadies der gehobenen Klasse. Kein Massentourismus. Hier erholen sich Menschen wie Sie. Menschen, die jeden Tag von morgens bis abends große Verantwortung tragen. Diese Menschen haben es verdient, dass sie sich wenigstens im Urlaub körperlich und seelisch völlig entspannen können. Sie bleiben auf dieser Insel ungestört. Außer den Schlossgästen hat niemand zu der Insel Zutritt. Ein bequemes Boot fährt jederzeit auf Wunsch von der Insel zum Fährhaus. Von dort können herrliche Wanderungen und Ausflüge unternommen werden.“
Die Verlegerin atmete tief ein und seufzte: „Ja, so ein Urlaub täte mir auch gut. Aber ich bin ja nicht zu Ihnen gekommen, um einen Urlaub zu buchen. Kommen wir also zu den Themen Altersvorsorge, Kapitalanlage, meine Investition in ein risikoarmes Projekt.“
Der Herr im Nadelstreifenanzug legte das Exposé zur Seite und griff zu einem Dokument. „Hier habe ich Ihnen einmal ausgedruckt, was Sie derzeit an Zinsen für Ihr hart erarbeitetes Geld auf Ihrem Sparkonto oder Tagesgeldkonto erhalten. Der Zins deckt leider nicht einmal die Inflationsrate. Der Wert Ihres Geldes wird also unter diesen Umständen mit der Zeit weniger.“
Die Verlegerin schob ihre Brille höher und überflog die Daten.
Ihr Berater zog das Blatt zurück und tauschte es wieder gegen das aufgeschlagene Foto der Urlaubsinsel aus. „Frau Opitz, das kluge bei einer Kapitalanlage in dieses Projekt besteht darin, dass Sie nicht nur von den Gewinnen dieses Paradieses profitieren, sondern Sie haben das Recht, dort jedes Jahr vierzehn Tage kostenfrei Urlaub zu machen.“
Die erfahrene Geschäftsfrau blickte ihren Berater ungläubig an und er setzte nach: „Sie haben richtig gehört. Sie erhalten jedes Jahr Gewinne aus Ihren Anteilen und machen noch kostenfrei Urlaub. So funktioniert kluge Finanzwirtschaft, nicht wahr?“
„Wann wird dieses Projekt fertiggestellt sein?“
„Die Renovierung des Schlosses hat begonnen. Die meisten Eigentumsanteile sind bereits vergeben. Damit steht einer pünktlichen Eröffnung in achtzehn Monaten nichts mehr im Weg.“
„Wie hoch sind die Risiken?“
Feldmann lehnte sich gelassen zurück und schmunzelte. „Es gibt zwei große Risiken. Risiko eins besteht darin, dass das Urlaubmachen verboten wird. Risiko zwei wäre, dass es künftig nur noch Menschen der unteren Einkommensklasse geben wird.“
Opitz blieb sachlich: „Habe ich auch die Option, dass ich meine Anteile aus diesem Projekt wieder kurzfristig verkaufen kann?“
„Sobald dieses Projekt nach der Urlaubsaison beginnt schwarze Zahlen zu schreiben, wird man Ihnen Ihre Anteile trotz Wertsteigerung aus den Händen reißen.“
„Ich habe in der Buchbranche namhafte Kolleginnen und Kollegen, die sich meines Wissens ebenfalls sehr für risikoarme Kapitalanlagen interessieren. Dürfte ich denen einen Tipp zu diesem Projekt geben?“
Der Berater nickte wohlwollend und überreichte der Dame mehrere Visitenkarten und Prospekte.
Mit erwartungsvollen Augen blickten Eltern und Kinder zum Pult des Kinderbuchautors Bernd Trautmann, der seine Bücher unter dem Pseudonym Bernd Rauchzahn veröffentlichte. Mit klopfenden Herzen lauschten sie der einfühlsamen Stimme, die je nach Szene und Dialog kindliche, lieblich feminine oder gefährlich herrische Töne annehmen konnte. Der achtundvierzigjährige Schriftsteller hatte warmherzige, blaue Augen und war an den Schläfen grau meliert. Wenn er hin und wieder ins Publikum blickte, zwinkerte ihm so manche hübsche Mama zu.
Der Autor las aus seiner Bestseller-Buchreihe vor. Alle Kinderohren hingen wie gebannt an seinen Lippen.
>Das ängstliche Jammern einer Amsel war fast im ganzen Wald zu hören. Die liebliche Sängerin hatte sich in einem Busch verfangen. Ein riesiger, schwarzer Kater umkreiste mit knurrendem Magen ihr stacheliges Gefängnis. Er stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte die Zweige soweit auseinander zu biegen, dass die Amsel direkt vor seine Zähne plumpsen musste. Plötzlich fauchte hinter ihm etwas Bedrohliches. Der Kater schaute sich um und machte erstaunt große Augen. So ein Wesen hatte er noch nie gesehen. Es war etwas kleiner als er selbst und ähnelte einem überdimensionalen Feuersalamander. Der alte und erfahrene Kater machte sich angriffsbereit, blieb aber äußerlich völlig cool. Mit tiefer Stimme fragte er: „Wer bist du denn? Bist du ein Ausländer? Dich habe ich in diesem Wald noch nie gesehen.“<
Der Autor schaute auf und fragte das Publikum: „Na, liebe Kinder, weiß einer von euch, wer dieses fremde Wesen sein könnte?“
„Das ist der kleine Drache Berni!“, riefen die jüngeren im Chor. Schmunzelnd las der Autor weiter …
>Mein Name ist Berni. Ich gehöre zur Familie der Feuerdrachen. Die größten Feuerdrachen können mit einem Atemstoß einen gesamten Wald verbrennen. Bei kleinen Drachen reicht das Feuer, um einen Baum zu entzünden. Aber um dein Fell in Brand zu stecken, reicht es alle Mal. Nun verschwinde und lass die arme Amsel in Ruhe.“
Der alte Kater lachte: „Du bläst dich hier ganz schön auf. Zeig doch mal, was du wirklich kannst.“
Der kleine Drache holte tief Luft und stieß dem Kater eine große Rauchwolke entgegen, dass dessen Fell ganz grau wurde. Der Rauch brannte in seinen Augen. Während der Kater nichts sah und immer wieder husten musste, bog Berni mit seinen gehörnten Vorderbeinen die Zweige so weit auseinander, dass die Amsel ihre Flügel spreizen und starten konnte. Hustend flog sie in eine sehr hohe Baumkrone.
Der Kater öffnete endlich seine Augen und blickte verdutzt in den leeren Busch. Verärgert fragte er: „Wo ist mein Frühstück?“
Berni tat so, als wenn er kauen würde. Schmatzend sagte er: „In meiner Heimat gibt es ein altes Sprichwort: Nur der frühe Drache fängt den Vogel.“
Kopfschüttelnd trottete das Katzentier davon. Als er auch aus der hohen Baumkrone nicht mehr zu sehen war, flog die Amsel einige Äste tiefer und rief immer noch hustend: „Vielen Dank, kleiner Drache. Da haben wir aber Glück gehabt, dass mein Busch kein Feuer gefangen hat.“
„Ehrlich gesagt kann ich noch gar kein Feuer speien. Dazu gehört ein Zauber. Diesen Zauber kann mir nur die Feuerfee geben.“
„Kleiner Drache, wie ist denn dein Name?“
„Ich heiße Berni Rauchzahn. Erst wenn ich Feuer speien kann, darf ich mich Feuerzahn nennen.“
Die Amsel fragte voller Neugier: „Wo wohnt denn die Feuerfee?“
Traurig antwortete Berni: „Ich weiß es nicht. Die großen Drachen haben gesagt, sie wartet auf mich hinter den Abenteuern.“
„Berni, um dir eine Freude zu machen, würde ich dir gerne etwas singen. Aber im Moment kann ich nur husten.“<
Die Kinder im Publikum lachten und manche hübsche Mama schenkte dem Autor Bernd Rauchzahn wieder ein verlockendes Lächeln.
Nach der Lesung gab Bernd Autogramme und signierte auf Wunsch die Bücher, die seine Mitarbeiterin Steffie Klas im Hintergrund verkaufte. Klas hatte alle Hände voll zu tun, da nicht nur Bücher, sondern auch sämtliche Figuren aus Rauchzahns Märchenwelt in groß und klein, in Plüsch und Hartgummi zum Angebot gehörten. Die Ständer mit den Hörbüchern wurden regelrecht leergefegt. Mehr und mehr legte sich der Lärm euphorischer Kinderstimmen. Rauchzahn brachte die letzte Familie persönlich zur Tür. Der Veranstalter klopfte ihm begeistert auf die Schulter. „Bernd, das war wieder große Klasse! Übrigens sind für dieses Jahr bereits alle deine Lesungen in unserem Haus ausverkauft.“ Der Mann hielt inne und suchte in seiner Jacke. Er zog einen Briefumschlag hervor und reichte ihn Trautmann. „Der ist hier ohne Anschrift für dich abgegeben worden. Ist bestimmt Fan-Post.“
Trautmann bedankte sich, öffnete den Brief und las.
‚Sehr geschätzter Herr Trautmann, hiermit laden wir Sie zu einer Autorentagung in das Kloster Newelstein ein. Der neue Zensur-Verlag versammelt zwölf namhafte Autorinnen und Autoren, um Konzepte für niveauvolle Literatur zu erarbeiten. Die Tagung beginnt im November am Totensonntag und dauert vierzehn Tage. Für kostenfreie, bequeme Unterbringung und Verpflegung wird selbstverständlich gesorgt. Ferner bieten wir Ihnen eine Aufwandentschädigung von 3.000 Euro. Über Ihre Zusage bis zum 01. September würden wir uns freuen.“
Absolute Finsternis. Kein Lichtstrahl erhellte den Innenraum des Saals. Es war so dunkel, dass niemand der fünfzig Besucher seine Hand vor den Augen sehen konnte. Hin und wieder hörte man in den unsichtbaren Stuhlreihen angespanntes Atmen. Jemand hustete in die geheimnisvolle Stille. Unterdrückte peinlich den nächsten Reiz. Ein Stuhl knarrte. In der hintersten Reihe flüsterte jemand.
Vor den Besuchern raschelte eine Folie. Endlich erklang wieder die einfühlsame Stimme der Autorin Melanie Moon: „Meine lieben Leserinnen und Leser, Hörerinnen und Hörer, ich komme nun zum Ende meiner Dunkellesung. Ich hoffe, dass Ihnen der Abend gefallen hat. Dass Ihnen der Aufenthalt in völliger Dunkelheit nicht zu sehr zugesetzt hat. Bitte denken Sie daran, wenn Sie gleich hinausgehen, dass viele blinde Mitmenschen permanent in dieser Dunkelheit leben. Das klingt zwar bedauerlich, doch eine Erblindung muss kein trauriges Leben zufolge haben. Blindheit schult das geistige Auge und alle übrigen Sinne. Um das verständlich zu machen, schließe ich mit einem Gedicht. “ Moon räusperte sich und trug mit einfühlsamer Stimme vor:
„Das Auge zeigt dem Geist ein Bild
von der realen Außenwelt.
Am Spektrum voller bunter Farben
kann sich auch die Seele laben.
Das Auge liebt perfekte Formen,
diktiert der Schönheit strenge Normen -
und was in diese Norm nicht passt,
ist dummen Augen gern verhasst.
Bei Stress zuckt es mit seinen Wimpern,
lässt sie bei Schüchternheit auch Klimpern.
Mal strahlt es mit verliebtem Herzen,
es tränt beim Trauern oder Scherzen.
Verliert der Mensch das Augenlicht,
bekommt das Hören mehr Gewicht.
Das Gehör, der zweite Sinn,
gibt sich den Geräuschen hin.
Sind knurrend böse Tiere nah,
dann warnt das Ohr rasch vor Gefahr.
Ein liebes Wort ins Ohr gesprochen,
lässt das Herz viel höher pochen.
Musik ist auch ein Ohrenschmaus,
und wirkt sich auf die Seele aus.
Mancher Rhythmus geht ins Blut
In Moll, in Dur, - ach, tut das gut!
Die Nase ist das Riechorgan,
das manchen Stoff erschnuppern kann.
Sie warnt vor üblen, faulen Speisen
und lässt uns Blumendüfte preisen.
Sie weiß, ob die Chemie auch stimmt,
wenn man sich einen Partner nimmt.
Sie atmet tief bei Unbehagen
und nießt, wenn die Bazillen plagen.
Der Mensch hat oft die Nase voll,
rot wird sie gern durch Alkohol.
Auch die Brille stützt sie noch,
für Ringe bohrt man ihr ein Loch.
Der vierte Sinn ist der Geschmack,
sagt, welche Speisen man gern mag.
Er differenziert klar den Genuss
von bitter, salzig, sauer, süß.
Er unterscheidet sehr, sehr fein
den billigen vom teurem Wein.
Er mag die Speisen scharf und deftig,
die dem Magen viel zu heftig.
Er erfreut sich am Konfekt
und wenn das Salzgebäck gut schmeckt.
Er erhebt auch keine Klage,
steigt der Mensch ‚schwer‘ auf die Waage.
Die Haut grenzt ab zur Außenwelt,
umgibt den Körper wie ein Zelt.
Ihr Tastsinn hat ein Feingespür,
verwendet dieses am Klavier,
am Pinsel oder Zeichenstift,
erkennt sogar die Blindenschrift.
Die Haut kann Wärme, Kälte messen,
Um sich mit Kleidung anzupassen.
Bei Scharm wird die Gesichtshaut rot,
zeigt Gänsehaut bei Angst und Not.
Ihr Streicheln schmeichelt jeder Seele
Und gibt erotische Gefühle.“
Zögernd begannen die ersten Hände zu klatschen, dann setzte tobender Applaus ein. Behutsam wurde das indirekte Licht im Saal heller und heller. Erleichtert atmeten die Gäste auf. Wieder gab es stürmischen Applaus. Die blinde Autorin Melanie Moon saß an ihrem Lesepult und sortierte Punktschriftfolien. Die vierundvierzigjährige hatte ein hübsches Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer Stupsnase. Den grünen Augen war keine ernsthafte Erkrankung anzusehen. Das sportlich kurze Haar war blond, ihre Figur fraulich schlank. Die Erblindung dieser stilvoll gekleideten Frau fiel nur auf, wenn sie sich mit ihrem weißen Stock einen Weg durch den Saal ertasten musste.
Frau Moon blickte auf und fragte in das Gemurmel hinein: „Meine Damen, meine Herren, haben Sie Fragen zu meinen Schriften, Büchern oder meiner Person?“
Jemand rief von hinten: „Dass Sie die erhabenen Punkte der Blindenschrift ertasten, habe ich verstanden. Aber wie können Sie schreiben?“
Die Autorin erklärte: „Es gibt die technische Möglichkeit, die Brailleschrift selbst zu drucken. Doch wenn ich damit ein Manuskript erstellen wollte, dann wäre das extrem mühsam. Heute hilft die Computertechnik. Das Screenreader-Programm ist in der Lage, die Schrift im PC-Monitor zu erkennen und in Sprache umzuwandeln. Das hört sich an wie die Stimme eines Navigationsgeräts im Auto. Auch die künstlichen Stimmen der Telefonansagen klingen ähnlich. Wenn ich also mit der normalen Computertastatur ein Wort getippt habe, dann wird das Wort vom Computer gesprochen. Auch Leerzeichen, Interpunktionen usw. werden mir vorgelesen. So schreibe ich ganze Romane.“
Das Publikum zeigte sich beeindruckt. Es wurde getuschelt, wurden neue Fragen gestellt und beantwortet. Irgendwann war es dann fast still.
„Liebe Gäste“, fuhr Frau Moon fort, „meine Freundin Gabi betreut meinen Bücherstand. Dort finden Sie fast alle meine Buchtitel. Gerne schreibe ich Ihnen auch ein Autogramm in die gekauften Bücher.“
Die Besucher drängten sich um die Buchständer und das Pult der Autorin. Eine Mitarbeiterin des Restaurants verteilte Sekt und kulinarische Häppchen.
Gabi Heil reichte ihrer Freundin vorsichtig ein Glas. „Melly, du musst doch schon vertrocknet sein. Der Sekt ist direkt vor deiner Nase. Spürst du das Prickeln?“
Dankbar nahm Moon das Glas und kostete genussvoll.
Eine Stunde später war der Saal leer. Frau Heil nahm neben ihrer Freundin Platz und fragte: „Na, war’s anstrengend?“
„Das Publikum war nett.“
Frau Heil erwiderte: „Nett ist auch die kleine Schwester von Scheiße!“
Melanie Moon grinste. „Lass mal, die waren schon ganz in Ordnung. Ich spüre die extreme Anspannung der Sehenden, wenn sie völliger Dunkelheit ausgesetzt sind. Sie atmen anders. Was ich täglich von morgens bis abends lebe, erleben sie für zwei Stunden als Abenteuer. Morgen haben sie ihr beklemmendes Gefühl längst vergessen.“
„Hast du diese Beklemmungen gar nicht mehr?“
„Nein, aber geblieben ist die Abhängigkeit in fremder Umgebung. Das muss ich als persönliche Freiheitsberaubung hinnehmen.“ Sie winkte ab, trank das Glas leer und fragte: „Was machen wir mit dem restlichen Abend?“
Frau Heil griff zu einem Briefumschlag und sagte: „Du hast Post bekommen. Sie wurde sonderbarerweise zu dieser Veranstaltung gesendet.“
Moon bat darum, dass Heil ihr den Brief vorlas:
‚Sehr geschätzte Frau Moon, hiermit laden wir Sie zu einer Autorentagung in das Kloster Newelstein ein. Der neue Zensur-Verlag versammelt zwölf namenhafte Autorinnen und Autoren, um Konzepte für niveauvolle Literatur zu erarbeiten. Die Tagung beginnt im November am Totensonntag und dauert vierzehn Tage. Für kostenfreie, bequeme Unterbringung und kulinarische Genüsse wird selbstverständlich gesorgt. Ferner bieten wir Ihnen eine Aufwandentschädigung von 3.000 Euro. Über Ihre Zusage bis zum 01. September würden wir uns freuen.“
Moon suchte den Blick ihrer Freundin und sagte: „Kloster Newelstein? Sagt mir nichts. Aber ich hatte vor nicht allzu langer Zeit die Möglichkeit in ein Jagdschloss Newelstein zu investieren. Das sollte als Hotel umgebaut werden und versprach den Anlegern hohe Rendite. Opitz hatte mir den Tipp gegeben. Mein eigener Bankberater hatte mir aber abgeraten, zu früh zu investieren. Wenn solch ein Projekt nämlich keine schwarzen Zahlen schreibt, dann wäre mein Geld verloren.“
Heil sagte erstaunt: „Dass du dich mit Kapitalanlagen befasst, hast du mir nie erzählt, Melly.“
„Warum auch? Über Geld soll man ja nicht reden. Übrigens ist mir der Zensur-Verlag nicht bekannt. Wenn die an zwölf Autoren jeweils 3.000 Euro zahlen, dann muss dahinter jemand mit viel Kapital stecken. Irgendwie klingt die Sache suspekt.“
„Mensch, Melly“, rief Heil, „gönne dir doch mal etwas! Zwei Wochen Urlaub in einer romantischen Klosteranlage und ein dickes Honorar, das kommt doch auch bei einer Bestseller-Autorin nicht jedes Jahr vorbei.“
„Nein, das tut es nicht. Aber so etwas muss ich gründlich überschlafen. Lass uns Feierabend machen und dann trinken wir bei mir zu Hause noch ein Glas.“
Gespannt blickten die Zuschauer im Fernsehstudio auf den Moderator Jörn Obmann und seine Gäste, die erfolgreiche Verlegerin Anna Opitz und der Literaturkritiker Dr. Rolf Peter Richter, die seit einer Stunde über die Qualität der Gegenwartsliteratur diskutierten.
Der siebzigjährige Literaturkritiker war ein Pedant und hatte herrische Gesichtszüge. Das noch erstaunlich dunkle Haar war seitlich exakt gescheitelt. Hinter der Hornbrille funkelten wachsame, braune Augen. Der kleine Mund wirkte spitz. Zu seiner schärfsten rhetorischen Waffe gehörte die Ironie. Um diese noch zu unterstreichen, hob er dann deutlich seine Stimme und er näselte etwas. Dr. Richter wirkte meistens so humorlos und angriffslustig, dass nur wenige Menschen wagten, ihm zu widersprechen. Weil seine Auftritte aber ständig für atemberaubende Diskussionen und Pressewirbel sorgten, wurde er zu vielen Talkshows eingeladen.
Obmann fragte mutig: „Herr Dr. Richter, es hat vor einigen Jahren den Aufruf gegeben, dass die Menschen im Land der Denker und Dichter wieder mehr lesen sollen. Die Kinder und Jugendlichen würden nur noch vor dem Fernseher sitzen oder Videospiele machen. Darunter würde die Fantasie leiden, die Kreativität würde in unserem Land völlig verkümmern. Doch mittlerweile erscheinen auf dem deutschen Buchmarkt zu den Leipziger und Frankfurter Buchmessen jährlich hunderttausend neue Titel. Mit diesem Ergebnis müssten Sie als Buchkritiker doch hoch zufrieden sein.“
„Zufrieden?“, fragte Dr. Richter. „Nennen Sie mir mal nach Ihrer eigenen Einschätzung den prozentualen Anteil der Neuerscheinungen, der völlig dilettantischer Schund ist.“
Obmann fragte: „Wen bezeichnen Sie denn als Dilettanten? Da müssen Sie schon konkret werden.“
Richter erklärte mit näselnder Stimme: „Ich meine selbsternannte Schriftsteller aus dem Geldadel. Leute, die genügend finanzielle Mittel haben, um sich mit ihrem Buch ein eigenes Denkmal zu setzen. Sie lassen ihre hohlen Texte für teures Geld drucken und als Staubfänger in die Büchereien stellen. Hauptsache, man hat ein Buch geschrieben und kann sich damit im Bekanntenkreis profilieren!“
Autorin und Verlegerin Anna Opitz empörte sich: „Also, das kann ich nicht so stehen lassen. Wir fördern in unserem Verlag neue Autoren. Wenn das Lektorat zu dem Urteil kommt, dass ein Manuskript in unser Programm passt, dann wird daraus auch ein ordentliches Buch entstehen. Wir halten mit unseren Autoren grundsätzlich Rücksprache, bis Text und Inhalt fachlich einwandfrei sind. Das sind wir dem Autor und unseren Lesern schuldig. Dem wird unser Verlag immer gerecht.“
Dr. Richter lachte spöttisch. „Meine Liebe, ich spreche nicht davon, dass solche Texte nicht der Grammatik und Rechtschreibung entsprechen, sondern davon, dass diese Bücher nichts enthalten. Bei Büchern, die nichts enthalten, werden Papier, Tinte und Energie verschwendet. Geistlose Literatur belastet die Augen der Leser und die Umwelt. Man kann diesen Papiermüll noch nicht einmal verbrennen, weil das Klima darunter leidet. Wir benötigen in der Literatur nicht hunderttausend neue Bücher jährlich, sondern höchstens zehn Prozent davon. Bücher, in denen sich auf jeder Seite Kreativität, Geist, Wissen, Information und schriftstellerische Leidenschaft widerspiegeln. Ich erspare es mir, hier eine Beispielliste namhafter Klassiker und großer zeitgenössischer Schriftsteller vorzutragen, die einem gebildeten Menschen bekannt sein sollten.“
Die sechzigjährige Verlegerin Opitz wirkte in ihrem Business-Look sehr souverän. Sie schmunzelte. „Selbstverständlich sollte sich vor allem die Jugend ein Beispiel an unserer klassischen Literatur nehmen. Aber neben der schöngeistigen Poesie und dem philosophischen Gedankengut muss es auch die leichte Unterhaltung geben. Nicht jeder Deutsche ist ein Germanist. Das wäre auch äußerst langweilig. Man muss mit der Sprache spielen dürfen. Prosa ist die Sprache der breiten Bevölkerung. Nicht jeder kann sich für Lyrik begeistern. Aber viele Menschen können Geschichten erzählen. Und wenn er oder sie diese mit Liebe zu Papier bringen möchte, warum nicht?“
Der Kritiker schüttelte energisch den Kopf.
„Ich gebe Ihnen als Verlegerin mal ein Beispiel dafür, was alles gedruckt, was alles zu Papier gebracht wird.“ Dr. Richter zog ein Taschenbuch hervor und hielt es dem Kameramann entgegen. Die Vorderseite zeigte eine junge Frau mit nackten, prallen Brüsten und den Titel ‚Vögeln soll man zweimal täglich‘.
Dr. Richter sagte näselnd: „Mein geschätztes Publikum, der Autor Simon Engler ist kein Ornithologe. Er will mit seinem Titel auch nicht darauf hinweisen, dass man Vögeln zweimal täglich frisches Wasser geben soll. Nein, er möchte mit einem großen Repertoire primitivster Wortwahl über Sexualpraktiken beeindrucken. Er feiert in seinem geschmacklosen Werk intime Handlungen, die nur einem kranken Gehirn entspringen können.“
Dr. Richter warf das Buch knallend zu Boden. „Dieser in Pappe gepresste Dreck hat einen Verlag gefunden. Meine liebe Anna, jetzt raten Sie mal, welcher Verlag das ist.“
Frau Opitz straffte ihre Schultern, ihre Stimme wurde schärfer. „Diese Literatur wird nicht in unserem Hauptverlag gedruckt, sondern bei einem unserer Vertragspartner, für den ich nicht die Verantwortung trage. Verlage sind Wirtschaftsunternehmen. Manchmal ist es notwendig, dass ein weniger anspruchsvolles Genre mit hohen Umsätzen die umsatzschwächeren Genres stützen. Dazu gehören zum Beispiel die Literatur der Kunst und Wissenschaft, die Ihnen bekanntlich am Herzen liegen.“
Obmann übernahm das Gespräch: „Meine Dame, mein Herr, wir wollen gemeinsam zur anspruchsvollen Literatur zurückkehren. Frau Opitz, Sie wollen besonders jungen Lesern einen Wegweiser durch den riesigen Dschungel der Literatur in die Hand geben. Ihr Buchtitel lautet ‚Was gehört in eine lesenswerte Bibliothek‘. Bitte geben Sie uns dazu einige Beispiele.“
Applaus schallte aus dem Publikum. Opitz hielt ihr Buch in die Kamera, schlug es danach auf und begann daraus vorzulesen.
Eine Stunde später befreiten die Techniker den Moderator und seine Gäste von den Mikrofonen, die an der Kleidung befestigt waren. Eine Assistentin verteilte Getränke und die Visagistin entfernte die Schminke aus den ermüdeten Gesichtern.
Ein Bote ging auf Richter zu und reichte ihm ein Kuvert. „Herr Doktor, diese Post wurde für Sie abgegeben.“
Dr. Richter riss den Umschlag auf und las:
‚Sehr geschätzter Herr Dr. Richter, hiermit laden wir Sie zu einer Autorentagung in das Kloster Newelstein ein. Der neue Zensur-Verlag versammelt zwölf namenhafte Autorinnen und Autoren, um Konzepte für niveauvolle Literatur zu erarbeiten. Die Tagung beginnt im November am Totensonntag und dauert vierzehn Tage. Für kostenfreie, bequeme Unterbringung und kulinarische Genüsse wird selbstverständlich gesorgt. Ferner bieten wir Ihnen eine Aufwandentschädigung von 3.000 Euro. Über Ihre Zusage bis zum 01. September würden wir uns freuen.“
Der graue Himmel versprach weitere Niederschläge. Der Wetterbericht im Autoradio prognostizierte neue Schneefälle. Bergspitzen verbargen sich in Wolken. Wälder, Felder, Äcker, Wiesen und Häuser wurden von einem weißen Tuch bedeckt. Eine Pistenwalze quälte sich einen Hügel empor und gab diesem völlig neue Muster. Techniker arbeiteten an den Aufhängungen einer Liftanlage, denn die Skisaison würde in etwa vier Wochen beginnen.
„Das ist das letzte Dorf an dieser Straße“, zeigte der Taxifahrer zu einem Ortsschild mit dem Namen Newelstein. Er schaltete entsprechend der Steigung einen Gang runter und der Diesel stieß ächzend eine Rauchfahne aus.
Ein Zwiebelturm reckte sich stolz zum Himmel. Er stand zwischen traditionellen Häusern, deren Wände mit kunstvollen Lüftlmalereien verziert waren.
„In dreihundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht“, sagte die Stimme des Navigationsgeräts.
Die blauen Augen des achtundvierzigjährigen Fahrgastes leuchteten. Bernd Rauchzahn hatte die zweistündige Anfahrt durch die frühe Winterwelt genossen. Er fragte: „Wie weit ist es noch bis zum Schloss Newelstein?“
„Schloss Newelstein?“, fragte der Fahrer verwundert. „Es ist mehr eine baufällige Klosteranlage. Man munkelt, dass sich ein verarmter Adeliger darin eingerichtet hat. Wie heißt der noch? Warten Sie mal.“ Der Taxifahrer machte ein nachdenkliches Gesicht. „Kuno von Schellenberg, vielleicht auch von oder zu Schlehenberg. Egal! Ich selbst bin da oben nur einmal gewesen. Die Leute dort rufen selten ein Taxi.“
„Ach, reisen die Hotelgäste alle mit eigenen Fahrzeugen an?“
„Ein Hotel gibt es hier nicht. Der Gasthof Hintersee ist die einzige größere Unterkunft für Fremde. Es gibt natürlich auch noch private Zimmervermietungen.“
„Wie weit ist es mit dem Wagen bis zum Kloster?“
„Man fährt eine halbe Stunde dort hin. Vorausgesetzt, dass der schlechte Weg im Sommer nicht durch eine Mure und im Winter durch Lawinen verschüttet ist. Angekommen, muss man dann mit einem Boot zur Klosterinsel übersetzen. Falls eines da sein sollte.“
Rauchzahn murmelte: „Hört sich abgeschieden und einsam an.“
Der Wagen hielt vor dem Haupteingang des Gasthofes. Rauchzahn zahlte seine Gebühr samt einem stolzen Trinkgeld, stieg aus und ließ sich seinen Rollenkoffer geben. Das Taxi wendete rasch und zog eine stinkende Qualmwolke durch die klare Bergluft.
Beim Öffnen der Tür flüchtete warmer Speisenduft ins Freie und der Gast trat ins Haus. Ein Kellner eilte auf ihn zu. „Grüß Gott, Sie sind bestimmt Herr Rauchzahn, denn die anderen elf Herrschaften sind bereits eingetroffen.“ Der Gast nickte.
„Mein Name ist Franz Seibl. Ich darf Ihr Gepäck nehmen und gehe voraus.“
Die Einrichtung wirkte urgemütlich. Rustikale Möbel, Holzschnitzereien an Türen, Zagen, Wänden und Decken. Eine Bedienstete lächelte freundlich. Die Farben ihres Dirndls fanden sich in den handgenähten Gardinen und Tischdecken wieder. Eine riesige Pendeluhr läutete den Abend ein. Der Kellner stellte den Koffer an einer Garderobe ab und führte seinen Gast zum Gesellschaftszimmer. Schon im Flur waren muntere Stimmen zu hören, die alle durcheinanderredeten.
Seidel rief: „Meine Herrschaften, ich melde Ihnen Herrn Bernd Rauchzahn und wünsche weiter gute Unterhaltung.“
Verlegerin Anna Opitz strahlte Rauchzahn an und schloss ihn in die Arme. Sie trug ihren gewohnten Business-Look. Ihr kurzes Haar wirkte natürlich und war nur an den Schläfen etwas ergraut. Sie drückte Rauchzahn einen Kuss auf die Wange. „Schön, dass auch du an der Tagung teilnimmst.“ Flüsternd ergänzte sie: „Ich weiß nicht, wer die alle ausgewählt hat, aber die meisten kennst du bestimmt über meinen Verlag.“
Mit lauter Stimme stellte sie Rauchzahn die übrigen Gäste vor: „Dr. Richter ist dir ja bekannt.“ Der Siebzigjährige blickte mürrisch von einer Lektüre auf. Doch dann hoben sich seine Brauen und er sagte milde: „Kleiner Drache Rauchzahn, versucht er nun in den Alpen zu fliegen? Übrigens, Ihr letztes Kinderbuch war lesenswert. Nur, mein Lieber, bekommen Sie jetzt keinen Höhenflug.“ Noch bevor Bernd Rauchzahn etwas erwidern konnte, blätterte Dr. Richter wieder in seiner Lektüre.
Opitz fuhr fort: „Berni, komm weiter. Dort haben wir Krimiautorin Silvia Arens, unseren Cowboy David Uhlen und den Historiker Dietmar von Tronje.“
Dann zeigte sie auf einen Mittvierziger mit Glatze und einem seltsamen Blick. Der Mann hatte anscheinend rechts ein Glasauge. „Das ist Simon Engler, der sich der erotischen Literatur widmet. Hier ist die Homöopathin und Hobby-Esoterikerin Betina Norden.“ Die Rothaarige war Mitte fünfzig. Sie trug eine Brille mit rotem Rahmen und mystischen Ohrschmuck. Opitz legte dem nächsten Autor ihre Hand auf die Schulter und sagte: „Uwe Sieger schreibt Aphorismen und Limericks. Manchmal kann er einem mit seinen Sprüchen auf die Nerven gehen.“
Sieger erwiderte: „Liebe Anna, alle Menschen werden als Original geboren, doch die meisten sterben als Kopie.“
Opitz stellte Rauchzahn den nächsten Autor vor: „Dr. Lüttig ist Meeresbiologe und ein guter Kapitän. Er hat die ganze Welt gesehen und publiziert Sachbücher.“
Die Dame neben dem Biologen sah wie ein Model aus, das die Vierzig noch nicht erreicht hatte. Sie wirkte arrogant. Opitz erklärte: „Sabine Zeun schreibt als Frauenrechtlerin für die Zeitschrift Hera.“ Die nächste Dame war Rauchzahn bekannt und er bekam ein mulmiges Gefühl. Opitz fuhr fort: „Zur Krönung haben wir hier unseren Schöngeist Melanie Moon. Euch beide muss ich ja nicht vorstellen.“ Die Verlegerin richtete sich an die übrigen Gäste und erklärte: „Melanie Moon und Bernd Rauchzahn haben vor einigen Jahren mehrere Lesungen zusammen gemacht. Auch eine Radio-Kindersendung haben sie gemeinsam produziert.“
Rauchzahn nahm Moons Hand. „Hi, Melly, ich freue mich, dass du dabei bist. Der kürzere Haarschnitt steht dir übrigens sehr gut.“
Ihre grünen Augen suchten seinen Blick, signalisierten aber Abneigung. „Ich weiß nicht, ob das so angenehm wird. Aber wir werden wohl zwangsläufig das Beste daraus machen müssen.“
Rauchzahn wandte sich anderen bekannten Gästen zu und hielt leichte Konversation.
Kellner Seibl bat die Autoren in einem anderen Raum zu Tisch. Rauchzahn fragte Moon: „Darf ich dich mitnehmen? Hier gibt es viele spitze Ecken, an denen du dich stoßen könntest.“
Moon stand auf, entfaltete ihren Blindenstock und meinte abweisend: „Nein danke, es geht schon!“, und ertastete alleine ihren Weg.
Im Speiseraum knisterte ein behagliches Feuer. Instrumentale Heimatmusik plätscherte leise aus verborgenen Lautsprechern. Die dick gepolsterten Stühle wirkten bequem. Die Damen bewunderten die Ornamente der handgearbeiteten Tischdecke.
Die Bedienstete im Dirndl servierte den ‚Gruß aus der Küche‘ und ihr Kollege füllte die Gläser mit Wein.
Anna Opitz hatte die Gäste so nebeneinandergesetzt, dass sich harmonische Gespräche ergeben sollten. Als Veranstalterin für Lesungen und Events war sie das gewohnt und bewies Geschick. Warum Moon und Rauchzahn als Stuhlnachbarn nicht so gut harmonierten, hatte wohl immer noch mit weit zurückliegenden Missverständnissen zu tun.
Opitz klopfte mit einem Löffel an ihr Glas, bis alle verstummten und sagte: „Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wie Sie in Ihren Einladungspapieren gelesen haben, ist der Veranstalter der Tagung Herr Kunibert zu Schlehenberg. Er hat mir aufgetragen, die Gruppe solange anzuleiten, bis er uns in seinem Jagdschloss Kloster Newelstein empfängt. Wir werden morgen nach dem Frühstück mit einem Bus zum Tagungsort gefahren. Alles wirkt etwas geheimnisvoll, soll aber wohl ein Teil des Projektes sein. Ich wünsche uns nun einen guten Appetit und einen genussvollen Abend.“
Die Kollegen applaudierten verhalten und kosteten von dem kulinarischen Küchengruß.
Nach dem üppigen Mahl trafen sich Anna Opitz und Melanie Moon im Vorraum der Damentoilette. Die Verlegerin zog ihren Lippenstift nach. Moon wartete bereits an der Tür. Opitz fragte: „Melly, wie machst du das als Sehbehinderte, dass du immer so perfekt geschminkt bist? Das sieht dezent und sehr schön aus.“
„Oh, ich war die Schmiererei eines Tages leid und habe mir ein teures Permanent-Makeup machen lassen.“
Opitz blickte genauer hin und war beeindruckt. „Die Adresse kannst du mir mal geben. Ich hatte bisher Angst davor, dass so etwas misslingt.“ Sie steckte den Lippenstift in die Handtasche zurück. Als Moon die Tür öffnen wollte, sagte Opitz: „Einen Moment bitte noch. Ich weiß, dass es mich eigentlich nichts angeht, aber da wir uns schon lange kennen und ich mit sechzig fast deine Mutter sein könnte, frage ich dich trotzdem. Was hast du gegen Berni?“
Moon lachte. „Du könntest meine Mutter sein? Anna, hast du vergessen, dass ich mittlerweile vierundvierzig bin? Da müsstest du recht früh die Männerwelt erobert haben.“
„Das beantwortet nicht meine Frage.“
Ganz einfach. Er ist ein Blender. Er gibt sich als charmanter Frauenversteher. Dabei geht es ihm wie allen Kerlen nur um das Eine.“