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Der geheimnisvolle Bildausschnitt eines Fernglases streift durch die Wohnanlage ‚Drosselpark‘, vorbei an hohen Häusern, einem Frisiersalon, der Boutique, einer Zahnarztpraxis und der beliebten Gaststätte, deren Menschen für sehr viel Lebendigkeit sorgen. Wer gehört zu den Guten, wer zu den Bösen? Raffinierte Intrigen, perfide Mordanschläge, spektakuläre Rettungsaktionen bis hin zu einer Feuersbrunst halten den Leser in Atem. Dabei kommen auch Humor und leidenschaftliche Gefühle nicht zu kurz. Dieser Roman ist zudem eine Hommage an alle mutigen Feuerwehrleute, die dort hineinrennen, wo alle anderen hinausflüchten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Autor: Dieter KleffnerOriginalausgabe Juli 2016 Cover designed by Sonja Kleffner Michael Frädrich Lektorat: Floodland Agency, Harry Michael Liedtke © Copyright Edition Paashaas Verlag www.verlag-epv.de Printausgabe: ISBN: 978-3-945725-68-9
Die Handlung des Romans ist frei erfunden.
Sollte ein Ereignis oder ein Name im Buch erscheinen, welches bzw. welcher auf jemanden zutrifft, ist das ungewollter Zufall. Die Haftung jeglicher Art wird abgelehnt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Stalker von nebenan
01
Zur Wohnanlage „Drosselpark“ gehörten zehn Gebäude. Neun sechsstöckige Häuser umringten kreisförmig ein zentrales Hochhaus, das mit zwölf Etagen und einem Penthaus stolz herausragte. Dieses Gebäude beherbergte im Erdgeschoss den „Frisiersalon Uwe“, die Zahnarztpraxis von Dr. Wehmeier, das „Kosmetikstudio Beatrix“ und die Gaststätte „Zum Drosselpark“. Dank des Rollrasens und einiger umgepflanzter Bäume wirkte das noch junge Bauprojekt bereits einladend. Blumenbeete begleiteten Fußwege zu Hauseingängen und umrahmten einen Spielplatz. Sträucher begrenzten den Besucherparkplatz und die lange Zufahrt zur belebten Straße. Nur im Untergeschoss konnte man erkennen, dass diese Wohnanlage ein zusammengehöriger Baukomplex war. In der weitläufigen Tiefgarage endeten nämlich die zehn Aufzüge aller Häuser.
Der gestochen scharfe Bildausschnitt eines Fernglases wurde über die sechsstöckige Fensterfront des Hauses Nr. 3 gelenkt und erreichte einen Balkon der fünften Etage.
Dort trat eine Frau aus der Wohnzimmertür ins Freie und hob eine Gießkanne an. Das Zoom vergrößerte die Details des Blumenkastens. Bunte Blüten neigten sich unter den Wasserstrahlen. Der Bildausschnitt wanderte von der Hand am Henkel der Gießkanne zum Dekolleté der Frau. Ihr schönes Gesicht hatte hohe Wangenknochen und wurde von kinnlangen, dunkelblonden Haaren umrahmt.
Plötzlich setzte die Frau die Kanne auf den Boden ab und schaute über die Brüstung zum Spielplatz hinunter. Ihre Augen suchten etwas. Langsam zogen sich die Lippen zu einem Lächeln. Die alleinstehende Mutter rief einen Namen und beim Winken bewegten sich ihre Brüste unter dem sommerlichen Stoff. Die Frau wandte sich um und ging in die Wohnung zurück.
Der Fernglasausschnitt wurde auf das Küchenfenster gerichtet. Die Scheibengardine gab tagsüber nur wenig von den Aktivitäten in diesem Raum preis. Vermutlich bereitete Frau Sommer nun das Essen für ihre Kinder zu. Das Fernglas zeigte dem Beobachter auf anderen Balkonen ältere Damen beim Kartoffelschälen und Gemüse putzen. Kater Micky lag neben einem Blumenkasten in der Sonne. Papagei Koko spreizte auf dem Nachbarbalkon die Flügel. Der Beobachter schaute in die Grünanlage hinab. Dort blickte sich ein alter Herr mit Hut mehrmals verstohlen um und streichelte seinen dicken Dackel. Mühsam presste das Tier eine Wurst auf den gemähten Rasen. Der Beobachter schwenkte das Fernglas zu einem Kellerzugang. Zwei Jugendliche saßen auf den Treppenstufen und übten heimlich das Zigarettendrehen. Drei Stockwerke über ihnen lag ein Rentner im geöffneten Fenster auf der Lauer. Er betrachtete eine braun gebrannte Schönheit, die ihr Cabriolet unberechtigt auf dem Schwerbehinderteneinstellplatz einparkte. Schwungvoll warf sie die Autotür zu und eilte mit klackernden Stöckelschuhen zum Hochhaus. Währenddessen machte sich der alte Herr auf dem Balkon mit Genugtuung Notizen, griff zum Schnurlostelefon und meldete der Polizei eine neue Falschparkerin.
Der Fernglasausschnitt wurde auf den Parkplatz gerichtet. Er ertappte drei Köpfe, die sich gerade hinter dem roten Porsche des Zahnarztes Dr. Wehmeier duckten. Diese Köpfe gehörten zur berüchtigten Drosselpark-Bande. Flinke Finger schraubten mit diebischem Spaß an einem Reifenventil. Eine donnernde Stimme hallte durch die Häuserschlucht und die Bande bekam flinke Beine.
Der heimliche Beobachter schwenkte das Fernglas herum und erfasste einen breitschultrigen Mann mit Bart und buschigen Brauen. Der Gesichtsausdruck sah zum Fürchten aus. Eine Faust stieß drohend in die Luft. Hausmeister Overmann verkörperte die Autorität des Drosselparks. Kopfschüttelnd drehte er sich wieder herum und befasste sich mit den Technikern einer Heizungsbaufirma, die neben ihrem Lieferwagen standen.
Die Falschparkerin eilte klackernd an dem Hausmeister vorbei und ging auf die Tür zum Kosmetik-Studio zu. Overmann scherzte mit sonorer Stimme: „Sieh mal einer an. Unser Dorf soll schöner werden!“, und die Heizungstechniker stimmten in sein Lachen ein.
Die elegant gekleidete Dame rollte verächtlich mit den Augen, stieß die Glastür zum Kosmetikstudio auf und verschwand. Gleichzeitig öffnete sich die Nachbartür des „Frisiersalons Uwe“. Der glatzköpfige Meister trat heraus und steckte sich genüsslich eine Zigarette an. Schwungvoll näherte sich ein Herr namens Klose mit seinem Elek-trorollstuhl und rief lachend: „Der Glatzkopf, der die Glatze föhnt, hat mit dem Schicksal sich versöhnt! Uwe, du alter Bartschneider, wie laufen die Geschäfte?“
„Hallo, Conrad. Bei dem warmen Wetter ist kaum jemand unter die Haube zu bringen. Ich räume noch den Laden auf und freue mich dann auf ein Bier nebenan. Sieht man sich dort?“
Als der Rollstuhlfahrer gerade zustimmen wollte, klopfte ihm der Hausmeister im Vorbeigehen auf die Schulter und mahnte in überheblichem Ton: „Conrad, auf den Gehwegen musst du dich mit deinem AOK-Shopper immer schön an die Geschwindigkeitsbeschränkungen halten.“
Der Behinderte hielt den Hausmeister am Ärmel fest, zeigte auf ein neues Schild, das mitten auf dem Rasen stand, und fragte: „Overmann, wie ist das Schild dort hingekommen?“
„Ja, wie wohl? Ich habe das dort aufgestellt.“
Klose las den Text der Beschilderung laut vor: „Das Betreten des Rasens ist strengstens verboten!“
Der Friseurmeister stimmte mit ein: „Ja, würde mich auch interessieren, wie das Schild dort mitten auf den Rasen gekommen ist.“
Overmann strich sich über seinen Bart und schaute zwischen den Männern und dem Schild hin und her.
„Ja, was stimmt denn mit dem Schild nicht?“
Klose fragte: „Overmann, wie hast du das Schild dort aufgestellt, ohne dabei deinen edlen Rasen zu betreten? Du musst dich doch als Vorbild an deine eigenen Vorschriften halten.“
„Ach so, die Herren wollen mich verarschen? Das ist der Dank dafür, wenn man sich in dieser Wohnanlage um alles kümmert!“
Der kräftige Mann wandte sich grimmig ab.
Frau Sommer näherte sich leise dem Spielplatz. Im Schutz einer dichten Hecke beobachtete sie amüsiert den Nachwuchs. Ihre fünfjährige Tochter Lisa unterhielt sich im Sandkasten mit der ein Jahr älteren Svenja aus dem Nachbarhaus und gab sich mal wieder äußerst altklug.
„Wir waren im Zoo. Es war ein großer Affe im Käfig. Mein Bruder war auch dabei. Da kann man Tiere sehen, die gibt es gar nicht.“
Svenja antwortete: „Am Wochenende ist mein Papa Sieger bei der Kaninchenschau geworden. Hast du auch ein Kaninchen?“
„Meine Mama hat gesagt, wir haben keinen Platz für Tiere, und deshalb haben wir nur eine Schildkröte. Die macht keinen Krach und lebt im Winter in unserem Kühlschrank. Ich hätte gerne einen Hund, doch Mama mag die nicht. Wenn ich erst aus dem Kindergarten heraus bin, dann heirate ich und kaufe einen Bernhardiner.“
Jemand räusperte sich leise hinter Frau Sommer und sie fuhr ertappt herum. Ein dunkelhaariger Mann mit grauen Schläfen flüsterte lächelnd: „Ich kann Lisas Mutter verstehen, dass sie keine Hunde mag. Ich traue denen auch nicht. Noch vor wenigen Minuten stand ein großer Rottweiler neben mir und hob plötzlich sein Hinterbein. Ich denke, dass der Hund mich treten wollte.“
Frau Sommer betrachtete den Mann von Kopf bis Fuß. Er trug Rad-lerkleidung und einen Rucksack. Sie erklärte: „Ich habe absolut nichts gegen Hunde. Aber ich habe etwas gegen vorwitzige Männer, die sich heimlich anschleichen.“
Der Sechsundvierzigjährige hielt ihr seine Hand entgegen und stellte sich vor: „Ich bin Florian Weber und wohne, von Ihnen aus gesehen, gegenüber im Hochhaus.“
„Woher wissen Sie, dass ich im Hochhaus gegenüber wohne?“
„Ich habe Sie auf Ihrem Balkon gesehen.“
Sie drückte nur zögernd seine Hand uns sagte: „Maite Sommer. Ich bin Lisas Mutter.“
Weber blickte zu dem kleinen Mädchen und wieder zu Frau Sommer. Er meinte: „Ja, Lisa hat das schöne Gesicht von ihrer Mutter. Ihren Sohn habe ich übrigens auch schon kennengelernt. Ein sehr freundlicher und geschickter Junge. Er hat mir im Fahrradkeller geholfen, einen Reifen zu flicken. Warum ist er so still?“
„Sascha ist etwas verträumt. Ich denke, das wird sich bald wieder geben.“
Im Sandkasten fragte Lisa die Freundin: „Was ist schwarz-rot-gold, summt und fliegt durch die Luft?“
Svenja zuckte nur mit den Schultern und klopfte die Sandburg glatt. Lisa rief: „Ein Marienkäfer mit Goldzahn!“
Weber meinte schmunzelnd: „Ich denke, auch Lisas Papa ist stolz auf ein so helles Köpfchen.“
Frau Sommers Stimme bekam einen abweisenden Tonfall: „Lisas Vater kam bei einem Unfall ums Leben. Und nun wartet meine Küche auf mich.“ Sie drehte sich zu ihrer Tochter herum und rief: „Lisa, wenn ich gleich rufe, dann kommst du sofort nach oben. Hast du gehört?“
Frau Sommer wartete Lisas Nicken ab und ließ Nachbar Weber ohne weitere Beachtung stehen.
Zwischen der Wohnanlage und der Hauptstraße standen die letzten, uralten Laubbäume des ehemaligen Drosselparks, um welche die Bewohner des Stadtviertels lange mit Mahnwachen gekämpft hatten. Auch heute hielten die riesigen Buchen die Strahlen der Nachmittagsonne zurück und spendeten Schatten. Doch es war so schwül, dass die Parkbänke vor dem Fischteich noch leer blieben.
Der Fernglasausschnitt erfasste einen Jungen. Mit Hilfe des Zooms war das Gesicht des achtjährigen Sascha zu erkennen. Er saß geduldig am Teichrand und blickte aufmerksam ins Wasser. Goldrote Fische schauten misstrauisch unter den großen Seerosenblättern hervor, um bei der kleinsten Bewegung des Wasserspiegels sofort wieder in Deckung zu gehen.
„Petri Heil“, grüßte eine sonore Stimme.
Der Junge drehte sich mit einem ertappten Gesichtsausdruck herum und erblickte einen Rollstuhlfahrer.
Herr Klose grinste schelmisch unter dem gepflegtem Bart und fragte: „Was ist das für eine tolle Angel? Hast du die selbst gebaut?“
Sascha erklärte: „Den Stiel habe ich von meiner Martinslaterne. Die Schnur besteht aus Nähgarn und als Haken habe ich eine Büroklammer genommen.“
„Und, hast du schon einen Fisch gefangen?“
„Nee, die beißen überhaupt nicht.“
„Hast du denn einen Köder am Haken?“
„Ja, sicher. Ich bin doch nicht doof! Ich habe einen Wurm an den Haken gehängt.“
„Sascha, wenn du dich für Fische interessierst, dann kannst du mich mal besuchen. Ich habe ein riesiges Aquarium mit Buntbarschen in meiner Wohnung. Du weißt, dass ich im obersten Stock eures Hauses wohne?“
„Ich glaube nicht, dass meine Mutter mag, wenn ich in fremde Wohnungen gehe.“
„Da hat deine Mutter recht. Also bringe sie einfach mit.“
Ein Fahrrad rollte heran und die fünfjährige Fahrerin stieg geschickt ab. Sie rief in altkluger Manier: „Sascha, man darf hier gar nicht angeln. Wenn Mama das erfährt, dann kriegst du Ärger.“
Der Rollstuhlfahrer schmunzelte gerührt und sprach das Mädchen an: „Mein Name ist Conrad Klose. Wohnst du nicht in demselben Haus wie ich?“
„Ich bin Lisa und die Schwester von dem da.“
Sie zeigte auf den Angler.
Sascha erklärte: „Die Mama wird auf keinen Fall Theater machen. Die hat gesagt, dass wir sparen müssen. Wenn ich jetzt Fische mit nach Hause bringe, wird sie sich freuen.“
Er zog den Angelhaken aus dem Wasser, an dem ein langer Wurm schlaff herunterhing.
„Iiih, ist ja ekelhaft!“, rief Lisa. „Hoffentlich beißt dir der Wurm in die Finger!“
Sascha tauchte den Wurm wieder ein und erwiderte: „Völliger Quatsch! Regenwürmer können nicht beißen, weil sie vorne und hinten nur einen Schwanz haben. Außerdem hast du keine Ahnung von Fischen!“
Lisa sagte lachend: „Ich weiß sogar viel über Fische! Die Fische legen Leichen ab, um sich zu vermehren. Alle Fische legen Eier. Die russischen sogar Kaviar. Da kannst du Mama fragen. Fange lieber mal ein paar Fischstäbchen!“
Sascha schüttelte den Kopf.
„Mein Gott, sind Mädchen doof. Die Fischstäbchen sind schon lange tot und können nicht mehr schwimmen.“
Klose griff zu seiner Geldbörse und fragte: „Was haltet ihr davon, statt einen Goldfisch zu angeln, nun ein Eis zu essen?“, und er hielt Lisa zwei Münzen hin.
Das Mädchen mit den blonden Zöpfen kniff misstrauisch die Augen zusammen und fragte: „Ich weiß nicht, ob ich das annehmen darf. Meine Mama hat mir das verboten“, und ihr Blick wanderte Hilfe suchend zu dem großen Bruder.
Der zog seine Angel ein und sagte: „Okay, dann kaufen wir ein Eis. Herr Klose wohnt doch in unserem Haus und Mama kennt ihn.“
Hausmeister Overmann eilte von weitem mit langen Schritten heran und wetterte: „Macht ihr Saublagen wohl, dass ihr von dem Teich wegkommt!“
Rollstuhlfahrer Klose zwinkerte den Kindern zu, sich rasch aus dem Staub zu machen. Sascha bedankte sich, ergriff seine Angel und rannte zur Straße, an der ein Eiscafé wartete. Lisa radelte, so schnell sie konnte, hinter ihm her. Mit mürrischem Gesichtsausdruck blickte Overmann den Kindern nach und murmelte: „Die kann man nicht ohne Aufsicht lassen. Früher haben die Mütter noch Zeit für ihre Blagen gehabt. Heute werden die ausgebrütet und andere Leute sollen dann darauf aufpassen. Einen Vater scheint es bei den beiden auch nicht zu geben.“
Conrad Klose erklärte: „Lisas und Saschas Mutter hat ihren Mann bei einem Autounfall verloren. Also kann man ihr nicht anlasten, dass sie alleinerziehend ist. Außerdem hat Frau Sommer eine Dreiviertel-Stelle in der Verwaltung. Sie ist eine fleißige und sorgsame Frau.“
Overmann beobachtete stumm den Teich. Dort wagten sich die Goldfische nun wieder hervor und lauerten auf flügellahme Fliegen, die sich auf dem spiegelnden Wasser niederließen. Klose löste die Bremse, richtete seinen Rollstuhl auf die Gaststätte des Hochhauses aus und meinte fröhlich: „Ein Dichter hat gesagt, dass die Macht des Wassers so gewaltig sei, dass selbst der stärkste Mann es nicht halten kann.“
„Klose, ist das ein Witz?“
„Overmann, das ist die Macht des Harndrangs!“
Der Name „Zum Drosselpark“, der über dem Eingang der Gaststätte im Hochhaus stand, erinnerte an die traditionelle Schenke, die der gigantischen Wohnanlage hatte weichen müssen. Gegen 17:00 Uhr schaute der erste Stammgast in den Schankraum. Sein Rollstuhl blieb in der quietschenden Eingangstür stecken.
„Hallo, Conrad“, grüßte der fünfundvierzigjährige Wirt Harald Dom. „Schaffst du das alleine oder soll ich helfen?“
„Danke, Harry, ich komme alleine klar. Zapfe lieber mal ein alkoholfreies Weizenbier an. Draußen ist eine Hitze, da möchte man noch nicht mal in deinem Biergarten sitzen. Ich sause kurz in die Behindertentoilette.“
Vierzehn Stunden zuvor hatte der doppelt beinamputierte Klose als letzter Gast diesen geselligen Ort verlassen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte zu dieser nächtlichen Stunde die gesamte ovale Theke noch voller Gläser gestanden. Nun war alles ordentlich aufgeräumt. Stühle und Tische warteten in Reih und Glied auf neue Kundschaft. Die gekippten Butzenglasfenster streuten mit dem eindringenden Sonnenlicht interessante Muster auf den gekachelten Fußboden. Das offene Fachwerk zum Nachbarraum erinnerte ebenfalls an die alte Gaststätte. Es diente mittlerweile als Regal und trug die Pokale des Fußballvereins, der Handballer und des Aerobic-Clubs. Neben der Durchgangstür zu den Toiletten wartete der Sparkasten auf Fütterung. In der Dartscheibe bogen sich gelangweilte Pfeile nach unten.
Conrad Klose kehrte nach zehn Minuten in den Schankraum zurück. Er war ein stabiler Mann von neunundfünfzig Jahren mit gepflegtem Bart und kurz geschnittenem Haarkranz. Seine verschmitzten blauen Augen verrieten großes Wissen und ungebändigte Neugier. Der Wirt räumte am Stammtisch einen Stuhl zur Seite, damit sein Gast bequem zu seinem Lieblingsplatz einparken konnte. Dann fragte er: „Na, hat unser großer Schriftsteller Klose heute Nacht noch etwas zu Papier gebracht, nachdem er in den frühen Morgenstunden gegangen ist?“
„Das Wort ‚gegangen‘ will ich überhört haben“, meinte der Rollstuhlfahrer und machte ein gespielt ernstes Gesicht. Dann antwortete er: „Ich finde unter deinen Gästen immer wieder sehr anregenden Romanstoff und nachts habe ich die besten Intuitionen zum Schreiben. Der einzige Nachteil ist, dass man tagsüber nicht gut schlafen kann, da der Tageslärm stört. Der Hund vom alten Hermann hat sich wieder heiser gebellt, weil sein geliebtes Herrchen die Hörgeräte ausgeschaltet hatte. Auf dem Balkon gegenüber steht neuerdings ein Papagei und pfeift den Mädels hinterher. Aber man kann nicht alles haben. Du kennst ja das Bild vom armen Poeten.“
„Als freier Schriftsteller lebst du doch nicht schlecht. Du kannst frei über deine Arbeitszeit und Freizeit bestimmen. Deine lustigen Romane, Witzbücher und Krimis verkaufen sich doch ganz gut, oder nicht?“
„Solange man keinen Bestseller geschrieben hat, ist die Autorenmarge ein Witz. Was das Finanzamt einem davon noch lässt, ist schwarzer Humor.“
Dom sagte betont mitleidig: „Gut, du armer Poet, ich gebe dir das erste Weizenbier aus.“ Selbst das stumme Gesicht des Dichters konnte Geschichten erzählen. Das Geräusch der aufschäumenden Bierkrone zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. Instinktiv tasteten seine Finger in der Westentasche nach dem Beutel mit dem Pfeifentabak. Mit der Erinnerung, dass das Rauchen nun nur noch draußen im Biergarten gestattet war, verschwand das Lächeln wieder. Klose sprach das leidige Thema an: „Seitdem das Rauchen in den Schankräumen verboten wurde, ist die Zahl deiner Gäste gesunken, nicht wahr?“
Harry Dom sagte verärgert: „Das Thekengeschäft ist kaputt!“ Er zeigte auf das Fachwerk zum Nebenzimmer, dessen Freiräume aufwändig mit transparenten Glasscheiben abgedichtet worden waren, und erklärte: „Unverschämt finde ich von der Regierung, dass man uns Wirten vor wenigen Jahren die Auflage gemacht hat, die Schankräume zu den Speiseräumen mit hohen Investitionskosten rauchfrei abzuschotten, um kurz nach dem Umbau dann das Rauchen trotzdem zu verbieten. Leider muss keiner von diesen honorigen Leuten mit seinem Geld für seine Fehlentscheidungen geradestehen.“
Klose meinte: „Du hättest den alten Kanzler Helmut Schmidt wählen sollen. Den soll es übrigens dieses Jahr in der Adventzeit als handgeschnitztes Räuchermännchen zu kaufen geben.“
Der Wirt hielt ein gespültes Glas gegen das Sonnenlicht und murmelte: „Dass die Mädels auch immer so einen hartnäckigen Lippenstift verwenden müssen. Bei diesen Gläsern putze ich mindestens dreimal so lange wie sonst“, und er polierte erneut den Rand mit dem rötlichen Wellenmuster.
Das Quietschen der Eingangstür meldete neue Kundschaft. Die Köpfe der Männer fuhren herum. Im Rahmen stand Hermann Kuhl, ein kleinwüchsiger, alter Nachbar. Er trug Hosenträger über dem Hemd und hatte grundsätzlich einen Hut auf. Sein fetter Langhaardackel namens Torsten bewegte sich schnuppernd voraus.
„Ach, unser Urmeter Hermann ist wieder unter den Lebenden“, grüßte Klose. „Und er hat seinen krummbeinigen Rohrreiniger auch gleich mitgebracht.“
„Ich geb dich gleich Rohrreiniger!“, erwiderte Kuhl verärgert, zog Waldmann Torsten zu sich heran und strich ihm liebevoll über das Fell. „Watt hat der für dich gesagt? Rohrreiniger? Du bist doch kein Rohrreiniger, ne? Du bist doch Papas Bester, ne?“
Der Hund schloss genussvoll seine trüben Augen. Klose blickte den Dackel straffend an und sagte: „Papas Bester hat um 9:00 Uhr so laut gebellt, dass ich kein Auge zumachen konnte.“
Der alte Herr konterte: „Dann musse dich mal an vernünftige Schlafzeiten halten und nicht dann pennen, wenn anständige Leute längst aufgestanden sind.“
Der Wirt übernahm das Gespräch: „Hermann, vorweg einen Magenbitter oder gleich ein Pils?“
„Bring mich Pils und den Leibwächter.“ Der alte Herr setzte sich zu Klose an den Stammtisch. Dann begutachtete er die Dekoration auf der Fensterbank, strich mit ausgestrecktem Finger über die Heizkörperverkleidung und entdeckte voller Zufriedenheit etwas Spinngewebe. „Harry, wird Zeit, datte dir mal ne Frau zulegst. Als an dieser Stelle noch Ernas alte Kneipe stand, war datt hier besser geputzt.“
Klose erwiderte: „In Ernas alter Kneipe konntest du dich auf keinen Lokus setzen. Und in der Küche hat es sicherlich entsprechend ausgesehen.“
Kuhl ereiferte sich: „Komm, komm, komm! Die alte Erna, Gott hab se selig, war ne ganz feine Frau. Da lass ich nix drauf kommen. Watt ham wer mit der'n Spaß gehabt. Datt war kein Kind von Traurigkeit. Wenn Ernas Kneipe nicht zuvor an dieser Stelle gestanden hätte, dann hätte Harry heute nicht so viele Stammgäste übernehmen können.“
Der Wirt reichte dem alten Herrn seinen Magenbitter, stellte auf einem weiteren Bierdeckel ein frisch gezapftes Pils und meinte: „Das Bier geht aufs Haus. Zum Wohl!“
„Datt is man ein Feldwebel“, lobte der Rentner und stieß seine knollige Nase in den sahnigen Bierschaum. Nach einem tiefen Schluck und einem lauten Seufzer stellte er das Bierglas beiseite. Ehrfürchtig hob er das Pinnchen mit dem Kräuterbitter in die Höhe. Er betrachtete es wie einen teuren Edelstein und nippte nur kurz daran. Klose trank genüsslich von seinem Weizenbier und fragte den Wirt: „Harry, kennst du den Witz schon? Kommt ein Skelett in die Kneipe. Es bestellt sich ein Bier und einen Wischmopp.“
Hermann brummte: „Mann, Mann, Mann, du willst ein Schriftsteller sein? Auf den Witz ham se im Kaiserreich schon Rente gekriegt.“
Wieder öffnete sich die Tür und weitere Gäste traten ein.
Das Klingelbrett des dreizehnstöckigen Hochhauses zählte fünfundzwanzig Druckknöpfe mit Namenschildern. Solch ein Klingelbrett besaß eine magische Anziehungskraft für Kinder, die damit etwa die quälende Langeweile eines schwülen Sommernachmittags überbrücken konnten. Wenn man mehrmals bei sehr genervten Leuten schellte, dann entstand sogleich eine knisternde und abenteuerliche Atmosphäre. Manches Klingeln bewirkte, dass die Lautsprecher der Gegensprechanlage durch die Schimpfkanonaden verärgerter Mieter heftig schepperten. Am gefährlichsten war jedoch der Klingelknopf von Hausmeister Overmann. Der muskelbepackte Mittfünfziger wohnte im ersten Stock und war verdammt schnell auf der Treppe. Der traute sich sogar, achtzehnjährige Jungen am Kragen zu fassen und durchzuschütteln.
Selbstverständlich gab es Klingeln, die gar keine Gefahr verursachten. Deren Besitzer ärgerten sich in ihrer Gelassenheit nur selten über Kinderstreiche und reagierten niemals aggressiv. Besonders kinderfreundlich wirkte der beinamputierte Schriftsteller Conrad Klose, der sich oft spendierfreudig zeigte. Auch der humpelnde, zweiundvierzigjährige Felix Knusper war beliebt, da er den Klingelmännchen Süßigkeiten vom Balkon herunterwarf.
Die Drosselpark-Bande bestand aus dem vierzehnjährigen Janek, der zwölfjährigen Ronja, dem elfjährigen Kai, der neunjährigen Luna und dem neunjährigen Sven. Sie nahmen nur mutige Mitglieder in ihre Gruppe auf. Wer also aufgenommen werden wollte, musste auf den gefährlichsten Klingelknopf der Wohnanlage drücken. Er durfte erst dann die Flucht ergreifen, wenn bereits der Türöffner gedrückt worden war und Overmanns Stimme in der Gegensprechanlage donnerte. Der achtjährige Sascha Sommer hatte sich nun vorgenommen, endlich seinen Mut vor der Gruppe zu beweisen. Die Drosselpark-Bande beobachtete den Hausmeister im Schutz der Spielplatzhecke. Overmann hatte gerade noch mit Handwerkern gemeckert, die nun ihren Werkstattwagen neben dem Haus einräumten. Er selbst ging in seine Wohnung, wohl um sich die Hände zu reinigen. Neugierig hielten sich die fünfjährige Lisa und die ein Jahr ältere Svenja im Hintergrund. Gerade, als Sascha sich trauen wollte zu klingeln, grüßten zwei fremde Personen und stellten sich mit ihren Zeitschriften vor die Gegensprechanlage des Hauseingangs. Nach kurzem Schellen hörte man Overmanns verärgerte Stimme: „Wenn das wieder ihr Saublagen seid, dann hat der Arsch gleich Kirmes!“
„Wir bringen Ihnen Jesus!“, rief eine der Personen draußen vor der Sprechanlage. „Dürfen wir bitte hineinkommen?“
Overmann fragte spöttisch: „Ihr wollt mir Jesus bringen? Das ist ja interessant! Ich habe aber im Moment keine Zeit. Stellt Jesus unten rechts neben die Eingangstür. Ich hole ihn später rein!“
Der Lautsprecher verstummte. Die Besucher wählten eine andere Klingel und warteten. Immer wieder bekamen sie Absagen. Erst nach dem siebten Klingeln ließ man sie ins Haus. Saschas Herz pochte mittlerweile vor Anspannung bis zum Hals. Fordernd blickten ihn alle Gruppenmitglieder an und zeigten stumm zum leeren Hauseingang. Endlich nahm der Achtjährige seinen ganzen Mut zusammen, spurtete zum Klingelbrett und hielt seinen zitternden Finger auf den gefährlichen Knopf. Es läutete Sturm im Haus und schon wetterte Overmann im Lautsprecher: „Verdammt noch mal, ich habe gesagt, dass ihr euern Jesus vor die Tür stellen sollt! Und nun verschwindet endlich!“
Mehrere Kinderstimmen grölten vor dem Haus: „Overmann, doofer Mann! Overmann, doofer Mann!“
Der Hausmeister schrie im Lautsprecher: „Wartet, ich bin schon da, und jetzt trete ich euch in den Arsch!“
Als die letzten Kinder hinter den Hausecken und Büschen verschwanden, stand Overmann mit schweißnasser Stirn vor dem Gebäude und blickte sich in alle Richtungen um.
„Ich kriege raus, wer das war! Ich werde mir eure Eltern vorknöpfen, verfluchte Saubande!“
In der hintersten Ecke der Tiefgarage hatte die Drosselpark-Bande einen Kreis gebildet. In ihrer Mitte kniete Sascha vor dem vierzehnjährigen Janek. Der Bandenführer tippte mit einem Holzschwert auf Saschas Schultern und rief in feierlichem Ton: „Damit bist du in die Drosselpark-Bande aufgenommen! Schwörst du uns ewige Treue?“
Sascha hob eine Hand und sagte strahlend: „Ich schwöre!“
Jubelnd stürmte die Gruppe aus der kühlen Garage in die schwüle Sommerluft.
Frau Sommer schaute vom Balkon und rief: „Sascha, Lisa, das Essen ist fertig! Kommt bitte schnell nach oben!“
Sie rief noch zweimal, doch ihre Kinder meldeten sich nicht. Verärgert lief Frau Sommer aus dem Haus und suchte als Erstes auf dem Spielplatz. Lisa war nicht zu sehen. Dann erkannte sie Saschas gelbes T-Shirt in der Zufahrt zur Tiefgarage und winkte ihren Sohn heran. Nur zögernd und mit hochrotem Kopf kam Sascha näher. Die Mutter tippte auf ihre Uhr und sagte energisch: „Wir hatten eine feste Zeit ausgemacht und ich habe mehrmals zum Essen gerufen. Was soll das? Wo steckt Lisa?“
Sascha zuckte mit den Schultern und meinte mit dünner Stimme: „Ich habe sie die ganze Zeit gesucht. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich war schon überall.“
Frau Sommer stieß verärgert die Luft durch die Nase aus und schüttelte den Kopf. Aus allen Winkeln kamen nun die Kinder der Drosselpark-Bande herbei und Maite fragte jeden Einzelnen, ob er Lisa gesehen habe. Alle zuckten mit den Schultern. Janek rief: „Wir bilden ein Suchkommando. Los, alle ausschwärmen!“
Maite Sommer eilte in ihre Wohnung zurück, um nach dem Herd zu schauen. Als Nächstes telefonierte sie mit den Nachbarn, bei denen sich Lisa eventuell aufhielt. Doch niemand hatte das Kind in der letzten Stunde gesehen. Besorgt wählte sie Saschas Handynummer. Der Achtjährige meldete sich keuchend: „Mama, ich finde Lisa nicht!“, und er beschrieb, wo er überall gesucht hatte.
Maites Stimme wurde streng: „Du erklärst mir nun noch mal ganz genau, was geschehen ist, als ihr Lisa das letzte Mal vor unserem Haus gesehen habt.“
„Wir haben Klingelmännchen beim doofen Overmann gespielt. Als er rauskam, sind wir alle abgehauen.“
„Und, war Lisa dabei?“
„Mama, ich weiß es nicht! Kann sein, kann auch nicht sein! Ich bin wie alle nur irgendwo hingelaufen, damit der Blödmann uns nicht kriegen konnte.“
„Sascha, mein Gott, du hattest die Verantwortung. Du bist drei Jahre älter. Ich werde jetzt die Polizei anrufen. Danach unterhalten wir beide uns mal sehr ernst. Ich stehe hier mit allem alleine. Das reicht mir jetzt, verdammt, ihr raubt mir den letzten Nerv!“
Nach zwanzig Minuten betraten zwei Polizeibeamte Frau Sommers Wohnung und blickten sich forschend um. Die junge Polizistin fragte einfühlsam: „Wer hat Ihre Tochter zuletzt gesehen?“
„Mein Sohn Sascha müsste Lisa gesehen haben. Die Kinder haben mal wieder bei unserem strengen Hausmeister Klingelmännchen gespielt und sind dann geflüchtet. Ob Lisa überhaupt dabei war, ist gar nicht sicher. Ich habe sämtliche Nachbarn angerufen, zu denen Lisa gehen würde. Da ist sie nicht. Die Kinder haben die gesamte Wohnanlage bis zur Hauptstraße abgesucht. Sie haben Lisa bis jetzt nicht gefunden.“
„Wo ist Ihr Sohn Sascha jetzt?“
Frau Sommer zuckte mit den Schultern. Sie griff zu ihrem Handy, wählte die Nummer ihres Sohnes und lauschte. Die Sprachbox meldete sich: „Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen, dann ...“
Frau Sommer drückte die Auflegtaste. Mit feuchten Augen ließ sie sich in einen Sessel sinken.
Klose trank genüsslich von seinem alkoholfreien Weizenbier. Die neugierigen Augen funkelten. Hier in dieser Gaststätte, hier in dieser großen Wohnanlage spielte das richtige Leben. Conrad Klose war ein fantasievoller Autor. Doch er wusste, dass die besten Geschichten vom Leben selbst geschrieben wurden. Die realen Szenen ließen sich mit viel Fantasie zu unterhaltsamen Romanen umschreiben. Der Dichter beobachtete vom Stammtisch aus seinen Nachbarn Peter Kern, der sich seit zwei Stunden mit der Dartscheibe beschäftigte und bei jedem Fehlversuch wie ein Fuhrmann fluchte. Seine Frau, Silke Kern, stand weit entfernt am Tresen und präparierte eine elektrische Zigarette. Sie ließ sich von Roger Lammer ein neues Glas Bier ausgeben. Der ehemalige Amateurboxer war über die Vierzig, sah aber immer noch durchtrainiert aus. Wer erinnerte sich nicht an die berühmte Zeit von „Lammer der Hammer“? Beruflich konnte der grobe Lagerist keine Besonderheit aufweisen, doch er genoss laut der Gerüchteküche des Drosselparks den Ruf eines begehrten Schürzenjägers.
Die blondierte Silke beobachtete ihren Gatten Peter, wie er neben der Dartscheibe mittlerweile das neunte Bier ansetzte. Vor ein paar Jahren hätte sie an dieser Stelle gemahnt, dass er den Taktschlag verlangsamen solle. Mittlerweile trank ihr der aufgeschwemmte Dreiundvierzigjährige nicht schnell genug. Silke stieß ihren Nachbarn sanft an und schaute Roger tief in die Augen. Er hielt ihr sein Bierglas zum Anstoßen hin und fragte verschmitzt: „Wär das okay, wenn ich deinem Mann noch einen Schnaps spendiere?“
Silke blickte wieder zur Dartscheibe, unter der Peter Kern gerade etwas schwankend einen Pfeil vom Boden aufhob. Sie meinte: „Wenn der so weitertrinkt, schläft er spätestens in einer Stunde mit dem Kopf auf der Theke ein. Aber mach, was du willst.“
Die Skatbrüder am Ecktisch bestellten eine neue Runde Bier. Der Kartenmischer nickte in die Richtung der blonden Silke und gab einen neuen Witz zum Besten: „Kennt ihr den schon? Kommt 'ne Blondine in eine Kneipe. Viele Gäste schauen zum Fernseher, wo gerade die Nachrichten laufen. Dort sieht man einen Selbstmörder auf der Dachkante sitzen. Fragt ein Gast die Blondine: ‚Was meinen Sie? Springt der Mann oder springt er nicht? Ich wette zwanzig Euro, dass er springt!‘ Da antwortet die Blondine: ‚Ich wette, er springt nicht!‘ Im gleichen Moment springt der Selbstmörder vom Dach. Die Blondine zieht einen Geldschein aus ihrem Portemonnaie und reicht ihn dem Gast. Er winkt lächelnd ab. ‚Lassen Sie mal. Die Wette war unfair von mir. Ich hatte die Nachrichten bereits vor einer Stunde gesehen und wusste, dass der Mann springen wird.‘ Erwidert die Blondine: ‚Nehmen Sie das Geld ruhig. Ich habe die Nachrichten auch schon gesehen. Aber ich habe nicht geglaubt, dass der Mann jetzt noch einmal springt.‘“
Die Skatbrüder klopften sich lachend auf die Schenkel.
Die Gaststättentür wurde grob aufgestoßen und Hermann Kuhl stand mit hochrotem Kopf im Rahmen. Unter dem Hut des kleinwüchsigen Mannes funkelten zornige Augen. Die Stimme des Neunundsiebzigjährigen bebte: „Welche Sau war das?“
Sein durchbohrender Blick wanderte von einer Person zur nächsten. Die meisten Gäste drehten sich interessiert zur Tür herum.
Der Wirt ging auf den alten Herrn zu und fragte: „Was ist denn los, Hermann? Beruhige dich erst einmal.“
Kuhl wetterte: „Eine gottverdammte Drecksau hat Hundescheiße in meinen Briefkasten geworfen und ich will wissen, wer das war!“
Peter Kern warf seinen letzten Pfeil auf die Dartscheibe. Er schwankte auf den Alten zu und sprach ihn mit schwerer Zunge an: „Die Scheiße gehört sicher deinem eigenen Köter. Der kackt ständig die Wohnanlage voll. Eigentlich müsstest du doch dankbar sein, wenn man dir die Scheiße hinterherträgt. Du bist doch als Halter verpflichtet, die Scheiße von deinem Kleffkasten selbst einzusammeln. Also, worüber klagst du noch? Hick!“
Kuhls Schläfen begannen zu pochen.
„Kern, also warst du diese Sau! Ich zeige dich an!“ Er machte eine weite Armbewegung. „Ihr alle seid meine Zeugen!“
Peter Kern stieß verächtlich die Luft durch die Nase aus und höhnte: „Von mir aus zeige mich doch an. Ich habe es gar nicht nötig, die Scheiße von deinem Köter anzupacken. Das können auch die Blagen gewesen sein. Wenn das die Drosselpark-Bande war, dann spendiere ich den Rackern sogar ein Eis extra!“
Kuhl stieß Kern mit der knochigen Faust vor die Brust.
„Du bist ein Drecksack, der seinen Verstand versoffen hat.“
Boxer Lammer ging sanft dazwischen und schob Kern in Richtung Dartscheibe.
„Peter, ich gebe dir noch ein Zielwasser aus. Spiele gemütlich weiter und lass den Alten doch einfach quatschen!“
Der Wirt nahm Hermann Kuhl an den Arm und sagte: „Ich glaube nicht, dass Peter dir die Kacke in den Briefkasten geworfen hat. Nachdem du mit deinem Hund gegangen bist, war Peter den gesamten Abend hier.“
„So, du hältst also zu diesem Säufer? Ich rufe jetzt die Polizei.“
Kuhl löste sich von Harrys Hand und stapfte zornig durch die Tür hinaus. Viele Gäste amüsierten sich über diese Szene und Autor Klose machte sich schmunzelnd Notizen. Erneut öffnete sich die Gaststättentür. Alle Köpfe fuhren neugierig herum und musterten den glatzköpfigen Friseurmeister. Klose winkte und rief: „Barbier, komme er zu mir!“
Uwe Richter nahm am Stammtisch Platz und meinte: „Hermann ist mir gerade entgegengekommen. Der Alte kochte vor Wut. Habt ihr ihn wieder auf die Schippe genommen?“
Noch bevor Klose antwortete, betrat Zahnarzt Wehmeier die Gaststube. Er steuerte gleich den Stammtisch an und klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch.
„Guten Abend, die Herren. Das war vielleicht wieder ein Tag. Ich behandele immer mehr Patienten, und die Krankenkassen kürzen die Leistungen, wo sie nur können.“
Der Dentist ließ sich ermattet auf die Sitzbank plumpsen und gab dem Wirt das Zeichen für eine Bierbestellung.
Klose lachte: „Ja, ihr Zahnärzte habt es verdammt nicht einfach. Ihr lebt auch nur von der Hand im Mund.“
Der Friseurmeister erklärte: „Auch die alten Patienten mit ihren kleinen Renten haben es immer schwerer. Wer soll denn heute noch die hohen Kosten für eine Zahnprothese aufbringen? Ich habe gerade noch eine Annonce gelesen. Darin heißt es: ‚Rentner mit Obergebiss sucht Rentnerin mit Untergebiss zwecks Einnahme gemeinsamer Mahlzeiten.‘“
Dr. Wehmeier erwiderte: „Ich habe euch Lästermäuler verstanden. Die nächste Getränkerunde geht also an mich.“
Die Sonne senkte sich hinter den alten Bäumen. Die Schatten wurden lang und länger. Endlich kühlte sich die schwüle Luft ab, die Temperaturen wurden erträglich. Florian Weber war froh, dass seine schweißtreibende Radtour bald zu Ende sein würde. Am späten Abend tummelten sich am Flussufer nur noch wenige Jogger und Radler. Über den Auen schwebte Grillgeruch. Lachen und Musik kamen näher. Junge Leute hatten auf der Wiese ein Lagerfeuer entzündet. Weber war bei der Berufsfeuerwehr und ein offenes Feuer auf trockenem Gras machte ihm Sorgen. Er radelte zu dem fröhlichen Grüppchen und sah sich die Feuerstelle kritisch an.
„Hi, Florian“, grüßte einer der Jungen und stand auf.
Weber kannte den engagierten Burschen aus der Jugendfeuerwehr.
„Hallo, Tino. Wie ich sehe, hast du euer Feuer mit Steinen gesichert. Das habt ihr gut gemacht.“
„Nicht nur das. Wir haben auch zwei volle Eimer mit Flusswasser hier stehen. Sicher ist sicher. Willst du ein Bier?“
„Danke, aber ich möchte jetzt nur noch eine Dusche. Ich wünsche euch einen schönen Abend.“
Weber bog vom Flusstal in einen Weg ein, der steil zur Wohnanlage Drosselpark hinaufführte. Wie beim Treppensteigen trat er stehend in die Pedalen. Jemand hatte am Wegrand sein Rad in die Büsche geworfen und saß kaum sichtbar auf dem Waldboden. Weber kam durch die Ablenkung aus dem Takt, pendelte und hielt an. Um diese Uhrzeit versteckten sich schon mal die Teenager in diesen Ecken, um erste Tuchfühlungen zu üben. Da wollte der Feuerwehrmann absolut nicht stören. Doch irgendetwas machte ihn stutzig. Er ging auf das Fahrrad zu und fragte die versteckte Person: „Hallo, alles okay bei dir?“
Der Junge hob den Kopf und sagte mit deprimierter Stimme: „Alles in Ordnung. Ich will nur alleine sein.“
„Du bist doch Sascha, der Bruder von der kleinen Lisa Sommer.“
Der Junge antwortete nicht. Er bekam feuchte Augen und er sah übermüdet aus. Weber setzte sich neben ihn auf den Boden und fragte: „Hast du Ärger zu Hause?“
„Lisa ist weg. Ich sollte auf sie aufpassen und jetzt ist sie weg. Mama hat die Polizei angerufen und ist stinkesauer auf mich. Ich habe alles abgesucht. Ich bin sogar ein Stück den Fluss entlanggefahren. Ich war fast bis in der Stadt. Ich finde sie nicht.“
„Weiß deine Mutter, dass du hier bist? Weiß sie, dass du Lisa suchst?“
„Sie hat mich auf dem Handy angerufen, aber ich gehe nicht dran. Ich gehe erst wieder nach Hause, wenn ich Lisa gefunden habe.“