Hochmut, Hass und Liebe: 50 Jahre Familie - Dieter Kleffner - E-Book

Hochmut, Hass und Liebe: 50 Jahre Familie E-Book

Dieter Kleffner

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Beschreibung

Der Gesellschaftsroman begleitet in fünf spannenden Kapiteln eine frei erfundene Familie zwischen den Jahren 1969 und 2019. Die Handlungsorte befinden sich zwischen Waterkant und Alpenrand. Es werden Momentaufnahmen aus jeweils einem Jahr eines Jahrzehnts gezeigt, dann springt der Romanstoff mit jedem neuen Kapitel um zehn Jahre weiter. Diese Zeitsprünge erzeugen einen besonderen Spannungsbogen, der die Neugier weckt. Jeder Mensch stellt sich irgendwann die Fragen: Wo bin ich in zehn, zwanzig, dreißig Jahren? Wie geht es dann meinen Kindern, meinen Eltern? Da aufgrund der Romanstruktur alle Altersbereiche des Menschen vorbeiziehen, werden die sonnigen und dunklen Lebensabschnitte der Romanfiguren hautnah präsentiert. Es geht um die Kindheit mit dem Bedürfnis nach Geborgenheit und Zuneigung, um die Pubertät mit ihrer Schüchternheit, Aufmüpfigkeit und den Schulsorgen. Es warten die erste Liebe, witzige Polterabende und romantische Hochzeiten. Der Ernst des Lebens beginnt mit der Verantwortung im Beruf und dem Aufbau einer Familie. Auch die Epoche der Midlife-Crisis lässt niemanden unberührt. Manche packen ihren Rucksack neu, lassen sich scheiden oder sitzen alle Probleme einfach aus. Letztendlich hält das Alter das Glück wahrer Reife oder den Frust über die verblühte Jugend bereit. Am Rand der Handlung werden auch die jeweils aktuellen Themen der Presse und populären Musik erwähnt. So wird der Leser zu einem Zeitreisenden durch 50 Jahre Familiengeschichte. Der Inhalt dieses Buches entspricht dem gesamten Inhalt der beiden gleichnamigen Taschenbücher, die diesem Sammelband vorausgingen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Edition Paashaas Verlag

Autor: Dieter Kleffner Covermotive: Pixabay

Cover designed by Michael Frädrich

Lektorat: Nina Sock / Manuela Klumpjan

Originalausgabe November 2021

Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-095-6

© Copyright Edition Paashaas Verlag

www.verlag-epv.de

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Sollten Ereignisse oder Namen im Buch erscheinen, welche auf jemanden zutreffen, so ist das ungewollter Zufall.

Die Haftung jeglicher Art wird abgelehnt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Hochmut, Hass und Liebe

50 Jahre Familiengeschichte

Eine moderne Familiensaga zwischen Waterkant und Alpenrand

Gesellschaftsroman

Für Bela, die auch mit dem Herzen sieht

Narzisstische Menschen gleichen einer stolzen Eiche.

Wer im Schatten ihrer prächtigen Krone wurzelt, findet kaum Licht und Wärme.

Im Jahr 1969

Die alte Kirmesschiffschaukel schwenkte den tapferen Kapitän Hauke weit hin und her. Er fühlte sich wie Klaus Störtebeker auf hoher See. Zwischen knochigen Bäumen senkte sich rasch die Abendsonne. Direkt über dem Meer wurde der Feuerball glutrot. Am Horizont breiteten sich Flammenzungen aus. Unzählige Wellen spiegelten das zauberhafte Licht. Ein Zweimaster bewegte sich auf die versinkende Sonne zu. Die romantische Szene wechselte viel zu schnell und erinnerte nur noch an ein verblasstes Schwarzweiß-Foto.

Opa Kuddels Kate lag günstig auf einer Anhöhe hinter dem Deich, sodass die bildschönen Sonnenuntergänge zu seinem begehrten Besucherprogramm gehörten.

Der achtjährige Hauke schaukelte fleißig weiter, obwohl Oma Heidemarie ihn schon das zweite Mal ins Haus rief: „Komm, meen Jung, das Badewasser wird kalt!“, und dieses Mal versuchte sie betont Hochdeutsch zu sprechen.

Der mit Strandsand gepuderte Hauke war für sein Alter schon recht groß, hatte blonde, gelockte Haare und verschmitzte Augen. In seiner Badehose sah der schnell wachsende Junge viel zu dünn aus. Deshalb hatte die Oma ständig Sorge, dass das Kind verhungern könnte.

Wenn er abends ins Haus sollte, wurde er so schwerhörig, wie es sich für einen Jungen seines Alters gehörte.

Seine vier Jahre ältere Schwester Svenja blickte mit ihren meerblauen Augen immer noch in die Richtung, in der die Sonne untergegangen war. Ihre blonden Haare fielen in Locken um das sommersprossige Gesicht. Das bunte Strandkleid flatterte in der Brise. Für ein zwölfjähriges Mädchen war sie schon sehr weit entwickelt. So war sie stolz, wenn ihr Alter auf vierzehn oder gar fünfzehn Jahre geschätzt wurde. Pubertäre Launen kannte sie an sich noch nicht.

Svenja sagte zu ihrem Großvater: „Opa Kuddel, Papa hat gesagt, dass die Sonne schon acht Minuten vorher untergegangen ist, bevor wir den Untergang sehen. Das Licht braucht acht Minuten, bis es auf der Erde ankommt. Wusstest du das?“

„Nee, mien Deern, so etwas brauche ich nich to weeten. Daaför hann wir ja dien Vadder. Daaför hann ick den Herrn Lehrer schließlich to’r Schaul geschickt“, antwortete der alte Seebär in seiner Mundart mit tiefer Stimme.

„Opa, dafür kannst du die besten Geschichten erzählen.“ Svenja lachte und sprang an dem muskulösen, weißhaarigen Kapitän hoch. Mit seinem zotteligen Vollbart sah er für sie aus wie der Bruder vom Nikolaus. Aber nur im Gesicht. Seine alte Kapitänsmütze setzte Opa anscheinend nie ab. Vielleicht schlief er sogar damit? Sein kurzärmeliges Hemd war immer weit aufgeknöpft, sodass einige graue Brusthaare neugierig daraus hervorlugten. Auch die helle Seemannshose und die Segeltuchschuhe bildeten mit ihm ein immer gleiches Bild. Die Gesichtshaut war dem Küstenklima Frieslands angepasst. Tiefe Falten zeugten von Abenteuern. Seine Augen strahlten unerschütterliche Selbstsicherheit und Güte aus.

Liebevoll schloss er seine Enkelin in die Arme. Auf dem rechten Unterarm hatte er einen Anker tätowiert, auf dem Linken eine barbusige Meerjungfrau. Der alte Seeräuber konnte auch im hohen Alter noch so mit seinen Unterarmmuskeln spielen, dass die Schönheit auf seinem Arm scheinbar einen Bauchtanz machte. Für diese Vorführung hatte sich Kuddel früher in den Seemannsspelunken so manches Mal einen lütten Klaren ausgeben lassen.

Dat wa man ne dolle Tied, dachte Kuddel und schon fiel ihm wieder eine Geschichte ein, die er den Lütten nach dem Abendessen unbedingt erzählen müsste.

Mit der Abenddämmerung verblasste das saftige Grün der Sträucher und Hecken, die Opa Kuddels Grund und Boden begrenzten. Die Obstbäume kündigten eine gute Ernte an und der Rasen musste auch bald wieder gemäht werden. Hoch über dem Fischteich kreiste eine Möwe, um sich für den nächsten Tag den Speiseplan zusammenzustellen. Der alte Kater “Captain Cook“ schlich auf leisen Pfoten zu seinem Nachtwächterrundgang. Er kontrollierte die Mauselöcher der diebischen Kleinsiedler, die sich hier ohne Aufenthalts-genehmigung niedergelassen hatten.

In Oma Heidemaries Rosen spannte eine dicke Spinne ihr Netz, um nächtliche Flugobjekte aufzufangen. Wenn es den Brummern nach ihrer Notlandung im Netz zu kalt war, wurden sie von der fleißigen Spinne warmherzig eingesponnen. Ja, die ganze Natur konnte Kuddel seinen Enkelkindern auf diese Art erklären. Im Gegensatz zu ihrem zerrissenen Zuhause sollten sich die beiden hier geborgen und wohlfühlen.

Kuddel kniff die Augen zusammen und schaute ziellos über das Meer. Zwei tiefe Sorgenfalten gruben sich senkrecht zwischen den buschigen Brauen ein. Dunkle Gedanken sorgten ihn.

Das Zuhause dieser Kinder war frostig geworden. Sein Sohn Carl lebte mit der schönen Schwiegertochter Carmen in Scheidung. Die Zukunft der Enkelkinder war ungewiss.

Kaum hatte sich Svenja neben ihren Großvater auf die Gartenbank gekuschelt, da kamen die Mückengeschwader, um sich ihre Abendmahlzeit zu holen. Das Mädchen klatschte abwehrend auf ihren nackten Beinen herum und sagte: „Diese Mücken gibt es auch in Bayern auf dem Bauernhof, wo wir im letzten Sommer Urlaub gemacht haben.“

„Klar, mien Deern. Daarum hann die auch ehren Schuhplattler und Watschentanz erfunden“, sagte Kuddel in seinem friesischen Dialekt. „Datt hann wir hier ganz anners gelöst.“ So griff er in seine Brusttasche und holte seine Piepe heraus. Aus der anderen Tasche kramte er den Tabak hervor und begann zu stopfen. „Die stechen dich gliek neet mehr“, sagte er bestimmend, gab sich Feuer, zog tief ein und blies wie ein Dampfer wieder aus. Schützend legte er seinen Arm um die Enkelin, drückte sie fest an sich und nach mehreren kräftigen Qualmstößen hielt das summende Fluggeschwader Abstand. Ein feiner Vanilletabakduft zog durch den Garten. Es wurde dunkler, immer stiller. Leise rauschte das Meer. Aus der Ferne hörte man einen kleinen Kapitän in einer Badewanne singen.

Der Wind frischte auf. Er wehte über das Reetdach, das sich wie ein Dreieckszelt über zwei Etagen fast bis zum Boden erstreckte. Dieses Strohdach bog sich auch über die schmal geöffneten Gaubenfenster, hinter denen Omas selbstgenähte Gardinen flatterten. An der Giebelseite zum Garten war ein weit überdachter Balkon. In den Balkonkästen leuchteten tagsüber bunte Blumen. Die roten Ziegelwände resorbierten am Tag die Wärme der Sonne und gaben sie am Abend an die Besucher auf Kuddels Gartenbank wieder ab.

Svenja wurde es trotzdem zu kalt an den Beinen. Sie löste sich vom Großvater, ging mit einer Gänsehaut durch den Fleet in die Küche. Am Herd bereitete die Oma das Abendessen vor. Der alte Holzofen hatte den Raum kräftig aufgewärmt.

„Svenja, decke schon den Disch. Ik treck den Jungen mal wedder aus der Wanne an Land“, sagte Heidemarie.

Kuddel lugte um das Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Er strich mit seiner Hand prüfend über das alte Reetdach und nickte zufrieden. Im Sommer kühlte es gut und im Winter hielt es die Wärme. Aber kein Funke durfte daran kommen, dann wäre alles verloren.

Alte Urkunden belegten, dass diese schöne Kate aus dem 17. Jahrhundert stammte und immer im Familienbesitz der Petersen gewesen war. Hier waren laut Kuddels Erzählungen die besten Seeleute aufgezogen worden.

Nicht nur das … Svenja wusste stolz in der Schule zu erzählen, dass ein ganz entfernter Urahne von Opa Kuddel mit den Wikingern vorbei an Island und Grönland bis nach Nordamerika gesegelt war. Nein, nicht Columbus hatte Amerika entdeckt. Das war ein Stammvater von den Petersens. Die neusten wissenschaftlichen, archäologischen Untersuchungen fanden tausend Jahre alte Wikingersiedlungen an der Ostküste Nordamerikas. Ein anderer Urahne war Steuermann beim Klaus Störtebeker gewesen.

Ja, Kuddel konnte wunderbares Seemannsgarn spinnen. Kater Captain Cook schlich ihm um die Beine. Liebevoll strich der alte Mann über das seidige Fell. Dann drückte er den alten, steifen Rücken durch und ging ins Haus.

Oma hatte heiße Fischsuppe gemacht. Dazu gab es selbstgebackenes Brot. Sie sprach das Tischgebet und wünschte guten Appetit.

Mit kauendem Mund sagte Hauke: „Svenja hat behauptet, dass es einen Hauke-Deich gibt. Wo ist der denn? Können wir da morgen mal hingehen?“

„Quatsch, habe ich nicht gesagt“, fauchte Svenja den Bruder an. „Den Deich gibt es nur in einem Kinofilm. Theo Storms heißt der Schauspieler und der reitet mit einem weißen Schimmel nachts über die Deiche. Der Schimmelreiter heißt Hauke und überprüft die Deiche auf undichte Stellen. Dann kommt 'ne Springflut und alle sind weg.“

„Neet so ganz, mien Leebe“, widersprach Heidemarie der Enkelin. Sie saß ihr mit einer bunten Kittelschürze bekleidet gegenüber. Ihr langes, graues Haar hatte sie zu zwei Zöpfen gebunden, die ihr links und rechts über die Schultern fielen. Sie hatte trotz ihres Alters kaum Falten. Die Augen strahlten mütterliche Wärme aus. „Erstens ist een Schimmel in'n Groten un Ganzen weiß. Ik hew tominnst noch keenen schwatten gesehen. Den wöör man bi uns ook Rappen nennen. Tweetens war der Theodor Storm keen Filmschauspieler, sunnern een Schriftsteller, der im letzten Johrhunnert die Novelle vom Schimmelreiter schreven hat.“

„Opa“, kaute Hauke weiter, „hast du schon mal eine Novelle gesehen?“

„Hach, meen Jung“, brummte der Seebär verlegen, „du kunnst dir gaarnich vorstellen, wie väl riesige Wellen ik gesehen hew. Ehrlich geseggt, ik hew sie nie gezählt.“

„Novellen sünd eegentlich nich Opas Ding, meen Jung. Daarto müsste er nämlich mal in een Buch kieken. Und dat hew ik in all den Jahren noch nich gesehen“, kniff sie Kuddel ein Äuglein.

Opa Kuddel verzog das Gesicht, schob abrupt den Küchenstuhl zurück und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. „Ik gonn man ruut un smok mir ene“, brummte er und war durch die Tür.

Draußen war es bereits dunkel geworden. Mücken drückten sich an der hellen Fensterscheibe neugierig die Nasen platt.

„Oma, gehst du morgen früh mit uns zum Strand? Ich möchte schwimmen“, sagte Hauke.

„Dat wird wohl nich klappen. Morgen früh is Ebbe. Da kannste allenfalls Wattwürmer für Opa to’m Angeln suchen.“

„Man, warum ist das Wasser denn morgen wieder weg? Ich habe es doch heute Abend noch gesehen.“

„Bist du doof!“, spielte sich Svenja auf. „Das sind die Tide, die Gezeiten. Immer wenn der Mond genau über dem Meer steht, dann zieht er das Wasser hoch. Das Wasser, das sich in der Meeresmitte angesammelt hat, fehlt am Ufer. Deshalb ist es morgen früh weg, klar?“

„Und wie zieht der Mond das Wasser hoch? Vielleicht mit einem Strohhalm?“

„Ach, das ist mir doch zu blöd!“, rief das Mädchen und ging mit erhobener Nase hinaus zum Opa.

„Jetzt haste Pech gehabt, Hauke. Nu sind alle wech und du hilfst der Oma beim Schöddel spööln“, sagte Heidemarie.

Hauke guckte grimmig, doch dann nahm er brav das Geschirrtuch und wartete auf den ersten gespülten Teller.

In der Diele wurde es laut, denn Opa kam mit seinem alten Freund Mehnert und Svenja ins Haus.

„Moin, Heideblümchen“, grüßte Mehnert durch die Küchentür. Nur die besten Freunde nannten Oma Heidemarie bei ihrem Spitznamen Heideblümchen. „Oh, der Klabautermann Hauke is ook do.“

Dieser Seebär war so groß wie Kuddel und gehörte zu dessen Altersgruppe. Auch er war kräftig und seine Haut vom Wetter gezeichnet. Statt einem Vollbart trug dieser Mann einen Seehundbart, der bei jedem Lachen lustig wackelte. Auch Kuddels Freund lebte nur mit der Mütze auf dem Kopf.

Svenja zwängte sich durch die Tür an Mehnert vorbei: „Oma, Mehnert hat uns eingeladen, morgen mit seinem Boot aufs Meer hinaus zu fahren.“

„Das geht nicht!“, mischte sich Hauke ein. „Du hast doch gehört, dass morgen früh kein Wasser da ist. Stimmst, Oma?“

„Dat is richtig, meen Jung. Doch die Priele sünd befahrbar“, antwortete Mehnert. „Dat siehst du allens moin und dann macht ihr dat Klabautermannpatent.“

„Da wir sehr früh loslegen, gaht ihr beide nu aver ook to Bett“, mahnte die Oma Heidemarie und erntete lange Gesichter.

„Erst erzählt Opa Kuddel uns noch eine Geschichte“, rief Hauke.

„Nee“, erwiderte die Oma, „die ollen Seebären spinnen nu in der guten Stuuv dat berühmte Seemannsgaarn un darbi können sie dat lütte Zeug nich gebruuken. Svenja, tu dich nu waschen un dann ab in eure Kojen. Hüt lese ik euch wieter die Geschich von Peterchens Mondfahrt vor. So, auf die Plätze, ferdig, los!“

Der Opa wurde noch geknuddelt und dann knarrte die alte Holztreppe unter den stapfenden Kinderfüßen.

Die Kammer unter dem Giebel hatte zwei Kojen, die sich gegenüber standen. In der Dachspitze der Kate entfachte eine Kissenschlacht, dass der Heidefirst wackelte.

Beim Vorlesen der Geschichte von Peterchens Mondfahrt, der vom Namen her ein Petersen gewesen sein musste, klang die Stimme von Heidemarie immer leiser und entfernter. Mit tiefen Atemzügen tauchten die Kinder sanft in ihre Träume ein …

Kuddel und Mehnert hatten es sich in der guten Stube in den Ohrensesseln bequem gemacht und waren bereits beim dritten Bier. Im alten Ofen knisterten Holzscheite und verbreiteten einen angenehmen Duft. Auf dem Dualplattenspieler eierte eine alte, kratzige Seemannsliederplatte, zu der die Seebären manches Mal beherzt mitbrummten.

Die brave Hausfrau schaffte, wie gewohnt, in der Küche.

„Mach mal drei Möwenschiet for us ferdig!“, rief Kuddel in tiefstem Platt zu seiner Frau.

Bald darauf brachte sie ein kleines Tablett mit drei Schnapspinnchen. In jedem war ein guter Weizenkornbrand und oben auf lag eine Scheibe lufttrockene Wurst, auf deren Mitte ein dicker Meerrettich-klecks wie ein Vogelschiss prangte.

„Denn man Prost!“, hob Heidemarie das Glas und es sollte an diesem Abend nicht das letzte sein …

Plötzlich meinte Mehnert: „Die Seefahrer ham nu all Ufer der Meere geschafft. Nu gibt et ganz annere Ufer to entdecken. Ob die Amis hütt Nacht wohl uff dem Mond lannen? Dat wär nen Abenteuer, Kuddel, watt?“

„In mien Geschich, die ich den Lütten vertellt habe, is Peterchen mit sinn Swester graad aufm Mond ankommen“, sagte Heidemarie lachend und die Seebären prosteten ihr zu …

1969 wurde die BRD zwanzig Jahre alt. Wie in der gesamten Republik blühte die Bauwirtschaft auch in der Landeshauptstadt Düsseldorf. Elegante Wohn- und Bürotürme wuchsen in den Himmel. Studienrat Carl Petersen stand im siebten Stock eines Bürohauses hinter einer riesigen Glasfront und schaute zum Rhein. In gleichen Abständen zogen die Lastkähne und Passagierschiffe über den gewaltigen Strom.

Auf der anderen Rheinseite lag der landwirtschaftlich geprägte Ort Grimlinghausen, der früher aufgrund seiner Ziegenhaltung “dat Hippelank“ geschimpft wurde. Es war heute ein Teil der Stadt Neuss. Der Vater Rhein und die Erft sorgten einst für guten Fischfang. Die Grimlinger Gemüsebauern und Fischer hatten viele Märkte beliefert, die an der alten Römerstraße zu Städten wuchsen. Die Geschichte dieser Stadt war dem Lehrer gut bekannt. Carl Petersen war Ende dreißig, hochgewachsen und von sportlicher Statur. Er trug eine Kombination aus dunklem Jackett und heller Hose. Der Schlips war exakt gebunden und wie ein Lot ausgerichtet. In den polierten Schuhen spiegelten sich die Deckenlampen. Dieser gepflegte Mann trug kurzes, blondes Haar, hatte markante Gesichtszüge und durchdringende Augen. Seine Haltung war stilvoll. Kurz, ein Mann, dem die Frauen gerne ein sympathisches Lächeln schenkten.

Gegenüber dem Fenster saß Rechtsanwalt und Notar Dr. Günter Starke an einem ausladenden Schreibtisch und machte sich Notizen. Er war einiges über vierzig. Unter der hohen Stirn funkelten scharfsinnige Augen. Der Advokat trug einen Maßanzug, der den Wohlstandsbauch perfekt umspielte. Er fragte Carl: „Seit wann kennen Sie Ihre Frau?“ Sein Mandant blickte aus dem Fenster und reagierte nicht. „Hallo, Herr Petersen?“

„Oh, entschuldigen Sie. Ich war ganz in Gedanken.“ Carl Petersen drehte sich herum und schaute dem Anwalt in die Augen.

„Wie haben Sie sich kennengelernt? Seit wann sind Sie mit Ihrer Frau zusammen?“

„Ich war gerade im letzten Studiensemester und wir besuchten das Neusser Schützenfest. Ein Kommilitone hatte drei junge Damen im Schlepptau. Hänschen hieß unser Frauenheld und war ein Komiker. Er brauchte nur mit den Fingern schnipsen und schon folgten ihm die Mädels. Carmen, meine Frau, war eine von den Dreien.“ Carl Petersen hielt inne und drehte sich wieder zum Fenster. Statt weiter zu erzählen, versank er schweigend in Erinnerungen …

Als Carl Carmen zum ersten Mal gesehen hatte, war sie nicht nur durch ihr gutes Aussehen aufgefallen, sondern ihr Tanz war demonstrativ erotisch. Seine Kommilitonen und die Schützen waren kaum zu halten gewesen. Doch Carmen hatte sich anscheinend nicht für die anderen interessiert, sondern den etwas steifen Carl zum Tanzen aufgefordert. Selbstverständlich hatte Carl zuerst abgelehnt. Er war damals schüchtern und schon gar kein routinierter Tänzer. Sie hingegen hatte ihn mit ihren geheimnisvoll grünen Augen durchdringend angesehen. Mit langem, rotem Haar und einer perfekten Figur war sie die Verlockung selbst gewesen …

Der Anwalt riss seinen Mandanten erneut aus dessen Gedanken. „Bitte, Sie wollten mir von Ihrer Frau Carmen erzählen!“

„Ja, alles auf einen Nenner gebracht: Carmen war damals eine Augenweide. Sie war und ist jedoch nur eine Mogelpackung.“ Wider seiner Natur hatte Carl Petersen plötzlich Dinge ausgesprochen, die er allgemein so gut wie nie von sich gab. Es behagte ihm nicht, seine Gedanken und Gefühle anderen Menschen mitzuteilen. Er fühlte sich in sachlichen Themen wohler.

„Herr Petersen, wann haben Sie geheiratet?“

„Am 14. Februar 1955. Valentinstag, also am Tag der Liebenden.“

„Wann kühlte die Beziehung ab?“

„Nachdem ich von meiner ersten Dienstreise aus dem Ausland zurückkehrte. Da wurden mir peinliche Dinge zugetragen.“

„Was für Dinge?“, bohrte der Anwalt weiter. „Ich muss den Sachverhalt kennen. Bitte fahren Sie fort.“

„Meine Frau brachte Svenja, unsere Tochter, hin und wieder abends zu ihren Eltern und ging dann tanzen. Ein enger Studienfreund hatte meine Frau mehrmals in eindeutigen Situationen beobachtet. Er hielt sich mit diesen Nachrichten anfangs zurück. Zum Schluss fühlte er sich aber verpflichtet, mich nicht wie einen Hornochsen dastehen zu lassen und schilderte mir seine Beobachtungen.“

„Würde Ihr Kommilitone dazu auch eine Aussage machen?“

„Selbstverständlich.“

„Warum fuhren Sie alleine ins Ausland?“

„Ich bin Lehrer für Physik und Geschichte. Als Geschichtswissenschaftler beteiligte ich mich an Projekten und musste im Ausland archäologische Fundorte aufsuchen. Insbesondere erforschte ich die Kelten.“

„Hatten Sie die Möglichkeit, Ihre Angehörigen mitzunehmen?“

„Manches Mal schon. Doch meine Frau hatte kein Interesse mit ihren Stöckelschuhen durch Ruinen zu stapfen. Andererseits wäre mir für die Familie so wenig Zeit geblieben, dass sich meine Frau oft hätte selbst beschäftigen müssen. Das kann sie sehr schlecht. Sie muss ständig bespaßt werden. Sie muss permanent im Mittelpunkt stehen.“ Petersen betonte: „Wenn Carmen das Gefühl hat, dass man ihr zu wenig Beachtung schenkt, dann wird sie sehr unangenehm.“

„Ist Ihnen dieser Charakterzug Ihrer Frau vor der Ehe nicht aufgefallen?“

„Das habe ich mich selbst schon oft gefragt und ich fand keine klare Antwort. Beim Kennenlernen hatte ich sicherlich die rosarote Brille auf.“ Carl zuckte mit den Schultern. „Meine Frau kann sich auch heute noch bewusst längere Zeit vernünftig verhalten. Sie schlüpft gerne in verschiedene Rollen und versteht es, sich perfekt in Szene zu setzen. Wichtig ist, dass es ihren Zielen dient. Aber am liebsten lebt sie ihre Gefühle aus.“

„Haben Sie mit Ihrer Frau darüber gesprochen?“

„Das habe ich versucht. Es gab einem riesigen Krach. Carmen wird leicht jähzornig. Sie wirft dann auch mit Dingen um sich. Sie sagte nicht nur einmal, dass ich verschwinden könne, wenn mir ihre Art nicht gefällt. Ich gab schließlich nach, wir versöhnten uns und im nächsten Jahr wurde Svenja geboren.“

„Sie haben zwei Kinder?“

„Ja, vier Jahre nach Svenja kam Hauke zur Welt.“

Starke machte sich mit seinem goldenen Kugelschreiber Notizen und fragte: „Wie ging es in Ihrer Ehe weiter?“

„Es gab weitere Dienstreisen. Ich hörte weitere Dinge. Aber die Sonderveranstaltungen meiner Frau müssen wir hier nicht noch weiter auflisten. Ich will das nicht.“ Petersen verließ seine Position am Fenster und nahm endlich in einem Sessel Platz. „Meine Frau hat auf eigenen Wunsch die Scheidung eingereicht und ich bin einverstanden. Nur die Bedingungen müssen noch geklärt werden. Darum bin ich ja hier.“

„Sie hatten mir am Telefon erzählt, dass sich Ihre Frau wegen eines anderen Mannes von Ihnen trennen will. Sie habe bereits eine Beziehung mit diesem. Habe ich das so richtig aufgenommen?“

„Ja, sie möchte ihren ehemaligen Chef heiraten. Siegfried Schön, Geschäftsführer der Beauty-Boutique-Kette. Geschieden ist der werte Herr zwar noch nicht, aber das kann mir auch gleichgültig sein.“

„Siegfried Schön und Ihre Frau kennen sich also schon länger.“

„Ja, Carmen war dort bis zur Geburt unserer Tochter als Fachverkäuferin in einer seiner Boutiquen tätig. Wie weit ihr Betriebsinteresse ging, bleibt Ihrer Fantasie überlassen. Es gab auch dort Gerüchte unter den Mitarbeiterinnen. Der “schöne Siggi“, so nennen ihn die Mitarbeiter, schickte meiner Frau seit dieser Zeit zum Geburtstag rote Rosen nach Hause. Ich habe sie darauf angesprochen. Sie machte mir sofort eine Szene.“

„Sind Sie bereit Unterhalt zu zahlen?“

„Für meine beiden Kinder sofort!“, sagte Petersen spontan. „Vorausgesetzt, dass Carmen weiter auf die Kinder besteht. Wenn der schöne Siggi die Kinder aber nicht will, dann wird sie mir ganz schnell Svenja und Hauke überlassen. Das luxuriöse Leben und die Festtafeln locken sie mehr als die Familie. Aber für diese Frau werde ich keinen Unterhalt zahlen. Siggi wollte Carmen unbedingt haben, also soll er sich auch um sie kümmern. Ich bin bereits ausgezogen und habe nur meinen Schreibtisch und meine Fachliteratur mitgenommen. Alles andere kann in der bisher gemeinsamen Wohnung bleiben. Ich will nicht mehr als das, was mir vorher schon gehörte.“

Der Anwalt erhob sich, knöpfte seine Jacke zu und ging zu dem großen Fenster mit dem herrlichen Rheinblick. Petersen drehte sich zu ihm herum und sagte: „Wenn Carmen sich mit dem Unterhalt nur für die Kinder einverstanden erklärt, möchte ich, dass die schmuddeligen Themen gar nicht erst zur Sprache kommen. Auf keinen Fall dürfen die Kinder da mit hineingezogen werden.“

„Wo sind Ihre Kinder jetzt?“

„Sie sind bei meinen Eltern an der Nordsee in Bornsiel, meinem Heimatort. Dort fühlen sie sich geborgen.“

Carl Petersen durchlief eine heftige Gefühlswelle, und er sah in Gedanken das Gesicht seiner Tochter Svenja.

In diesem Jahr brachen drei tapfere Entdecker zu einem neuen Ufer auf. Ihr Reiseziel lag im Meer der Stille. Die über hundert Meter hohe Saturnrakete trug die Apollo-Raumkapsel und Landefähre Eagle auf einer gewaltigen Feuersäule in den Orbit. Die Erdumkreisungen der Apollo 11 wirkten wie die Drehungen eines Hammerwerfers. Mit dieser Energie schossen die drei Abenteurer auf den Mond zu. Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins schauten auf ihre anscheinend schrumpfende, blaue Heimat zurück. Diese Heimat hieß jetzt nicht mehr United States of America, sondern Earth! In dem eisigen Nichts zwischen Erde, Mond und Sternen fühlten sie sich so verloren, wie ein einsames Ruderboot mitten auf dem weiten Atlantik. Bis zur Mondlandung hielt die Menschheit den Atem an. Endlich war es soweit. Neil Armstrong verließ die Landefähre, setzte seinen Fuß in den pulverigen Mondstaub und sagte: „That's one small step for man, one giant leap for mankind.“ Übersetzt bedeutet es: Ein kleiner Schritt für einen Menschen. Ein riesiger Sprung für die Menschheit!

Kuddel Petersen hatte schon um 06:00 Uhr die Nachrichten gehört und konnte es kaum fassen. Er erinnerte sich noch an die Zeit, als die Nachbarn in Bornsiel auf die Dorfstraße gelaufen waren, um eine laut knatternde Kutsche zu bestaunen. Der alte Seebär hatte mit Begeisterung die Entwicklungen vom Doppeldecker bis zum Düsenjäger verfolgt. Kuddel sagte zu sich selbst: „Jo, dat hab ik allet gesehen! Aver een Flog zum Mond? Unbegrieplich!“ Er konnte es kaum erwarten, seinen Enkelkindern von diesem neuen Abenteuer zu berichten. Völlig verschlafen lief Hauke an ihm vorbei und Kuddel rief: „Moin, Hauke, die irsten Menschen sinn hüt Nacht op den Mond gelandet. Is dat nich doll?“

„Weiß ich“, sagte der Junge gähnend, „die heißen Peterchen und Anneliese. Das hat mir die Oma schon gestern Abend vorgelesen.“

Er verschwand in der Küche, wo Heidemarie bereits das Frühstück richtete.

„Kummt Svenja nu ook?“, schaute sie den Kurzen fragend an.

„Nein, das ist ein Mädchen. Die brauchen ewig im Bad.“

„Un hast du dich denn gewaschen un die Zähne geputzt?“

Zögernd sagte er: „Ich glaube schon. Ich habe noch etwas geschlafen und da habe ich das nicht so mitgekriegt …“

„Quatsch! Hauke hat sich gar nicht gewaschen! Sein Waschlappen ist trocken!“, rief Svenja aus der Diele. „Opa will mir von der Mondlandung erzählen. Außerdem esse ich gleich nur Joghurt.“

Ein weißes Motorboot mit Kajüte tuckerte langsam aus dem Hafen von Bornsiel. Das malerische Fischerdorf lag in der Sonne. Es herrschte Ebbe. Der Steuermann lenkte das Boot in den Priel, eine Fahrrinne, die mitten durch das Watt zum offenen Meer führte. Wasservögel hüpften über den Schlamm und verspeisten fette Wattwürmer. Die Fahrrinne roch nach Fisch und Meer. Kuddel atmete diese vertrauten Gerüche tief ein. Ja, so roch nur seine geliebte See. Sie hatte ihn und seinen alten Freund Mehnert immer und immer wieder hinausgezogen. Was war so reizvoll daran? War es die Suche nach neuen Ufern, nach Abenteuern oder nach Freiheit? Als Fischer und als Matrosen hatten die beiden Seebären auf Frachtern und Kriegsschiffen gedient. Sie hatten den Wellen und Stürmen getrotzt und waren so manches Mal in Seenot geraten. Sie waren echte Männer … Doch in den letzten Jahren hatten sie nur noch Touristen zu den friesischen Inseln geschippert.

Am Horizont blies ein Nebelhorn. Die beiden Seebären blickten sich schweigend an und einer las die Gedanken des anderen. Unter ihren Schuhen tuckerte der alte, treue Diesel. Er heizte die Bodenbleche mächtig auf.

„Datt gibt tominnst warme Fööt“, sagte Heidemarie mit dem Blick auf ihre kalten Füße.

Auch Mehnert hatten die Jahrzehnte grau werden lassen, doch in seinem Seemannsanzug behielt er seinen jugendlichen Charme. Seitdem er Witwer war, verbrachte er viel Zeit mit Kuddel.

Mehnert zeigte zum weißen Sandstrand. „Die irsten Campinglüt buddeln all weer den Strandsand um un söken Schätze“, und sein Seehundbart wackelte beim Lachen.

Zwischen den Strandkörben erhoben sich Sandburgen, in denen sich sonnenhungrige Urlauber bräunten. Da zurzeit Ebbe war, hielt sich die Besucherzahl in Grenzen. Die Urlauber wollten lieber Wellen. Der Deich war mit niedrigen Pflanzen bedeckt. Je weiter das Motorboot dem Priel zum Meer folgte, umso frischer blies der Wind. Kuddel zog seine Schirmmütze tiefer ins Gesicht und Heidemarie band sich ein Kopftuch um. Hauke stand vor Mehnert am großen Schiffssteuerrad und durfte lenken. Svenja schaute währenddessen verträumt zu den schattenhaften Inseln am Horizont. Plötzlich tauchte mitten in diesen Gedanken das besorgte Gesicht ihres Vaters Carl Petersen auf. Dachte er jetzt wohl auch an sie?

Das Hafencafé hatte seine Fenster zum Rhein und zur gegenüberliegenden Skyline der Stadt Düsseldorf ausgerichtet. Der Duft von Kaffee und frisch gebackenen Waffeln drang aus der Eingangstür. Er verbreitete sich über die Rheinpromenade, um viele Gäste anzulocken. Auf der blumenumrankten Terrasse genossen geschwätzige Damen ihre Torte und schauten den Schiffen nach. Freche Wespen wurden von einem Kuchenteller zum nächsten gescheucht. Motor- und Segeljachten schaukelten im Hafenbecken. Stolze Freizeitkapitäne fachsimpelten über ihre Schiffe. Leicht bekleidete Nixen genossen auf den Decks die Sonne und zogen mit Genugtuung so manchen männlichen Blick auf sich.

Im Innenraum des Cafés war es warm geworden und fast menschenleer. Nur in der abgelegenen Nische mit Sofaecke saß ein Herr im hellen Sommeranzug. Er rauchte hastig und wirkte nervös. Auf dem Tisch brannte eine Kerze. Der Aschenbecher drohte überzulaufen. Vor dem Tisch stand eine attraktive Frau. Rote Locken umspielten ihr makelloses Gesicht. Darin sprühten grüne Augen voller Zorn. Sie stemmte beide Hände auf die Hüften und wetterte: „Siggi, du bist ein feiges Dreckschwein! Du hast mir versprochen, dass du deine Frau Franziska verlässt. Du hast mir die Ehe versprochen. Wer ist denn hier hinter wem hergelaufen? Na, sag schon! Du wolltest mich unbedingt haben. Ich habe alles hingeworfen. Ich habe Carl nur für dich verlassen. Ich habe sogar schon die Scheidung eingereicht. Carl sitzt garantiert da drüben in Düsseldorf bei irgendeinem Advokat und versucht mich jetzt übers Ohr zu hauen.“ Carmen Petersen zeigte zu dem Fenster, hinter dem sich am anderen Flussufer Bürotürme in den blauen Himmel erhoben. In den Musiklautsprechern des Cafés erklang die Stimme des aktuellen holländischen Kinderstars Heintje. Der sang herzzerreißend: „Mama, du wirst doch nicht um deinen Jungen weinen …“

Carmen Petersen fuhr fort: „Was hast du dir eingebildet? War ich nur ein Bettabenteuer für dich? Du Heuchler!“

Das Getratsche der Damenrunde auf der Terrasse verstummte. Alle Blicke richteten sich zum Innenraum des Cafés.

Erst als die zornige Frau Luft holte, nahm der Angegriffene seine Verteidigung auf. „Carmen setz dich bitte und werde wieder ruhiger. Ich habe dich nicht angelogen. Ich wollte dich wirklich heiraten. Doch, wie du weißt, bin ich nur der Geschäftsführer der Beauty-Boutique-Kette. Meine Frau ist die Inhaberin. Sie wirft mich sofort raus, wenn ich mich von ihr trenne. Ihr Entschluss steht bereits fest. Und dann? Wie sollte es mit uns weitergehen? Wovon sollen wir leben? Solch einen Posten, wie ich ihn jetzt habe, finde ich nicht an jeder Ecke. Ich würde Jahre brauchen, um wieder dorthin zu kommen, wo ich heute bin. Unsere Wohnungen und Häuser stehen übrigens auch auf ihrem Namen. Dann ist da noch dieser verfluchte Gütertrennungsvertrag. Verdammt, versteh doch, mir bleibt nichts, gar nichts, wenn ich Franziska verlasse.“

Frau Petersen setze sich auf einen Stuhl, aber nur, weil ihr vor Aufregung die Knie zitterten. „Siggi, das hast du vorher alles nicht gewusst? Für wie bescheuert hältst du mich? Was soll ich nun machen? Wie blamiert stehe ich jetzt da? Du gehst mal so eben zurück, als wäre nichts passiert!“ Sie lachte bitter und drängte: „Sag schon. Was rätst du mir?“

„Carmen, verstehe doch, ich habe mit Franziska geredet und gehe brav zu ihr zurück. Sprich mit Carl. Sag, dass es dir leid tut und dass auch du zu ihm zurückkehrst. Gib dir einen Ruck. Das Leben ist eben so. Carl hat dir doch auch früher immer wieder nachgegeben. Du hast ihn doch immer um den Finger wickeln können.“ Siggi Schön ergänzte mit künstlichem Lächeln: „Schau, wenn der ganze Stress einmal hinter uns liegt, können wir uns wieder treffen. Genieße das Leben so wie es kommt.“

„Ich fasse es nicht! Du hast mich nur benutzt! Du wolltest nur deinen Spaß. Du denkst nur an dich selbst und nimmst keine Rücksicht auf andere. Du verfluchter Egoist!“

Siggi Schön hatte sich längst unter Kontrolle, setzte sein Pokerface auf und sagte: „Liebling, du musst hier nicht die Unschuld vom Lande spielen. So lange, wie ich dich kenne, warst du nie ein Kind von Traurigkeit. Du hast nichts anbrennen lassen. Zeige dich, wie du bist. Die Rolle als Moralapostel steht dir weiß Gott nicht!“

Wutentbrannt sprang Frau Petersen auf, riss ihre Kaffeetasse hoch und schleuderte diese samt Inhalt dem überraschten Mann auf den hellen Anzug. Mit wütenden Schritten stapfte sie zum Ausgang, drehte sich noch einmal zu Schön herum und schrie: „Verdammtes Arschloch!“

Die Damen auf der Terrasse schüttelten die Köpfe und blickten der Furie hinterher. Dank dieses skandalösen Vorfalls würden sie nun für mindestens eine Woche Gesprächsstoff haben.

Siegfried Schön zog die befleckte Jacke aus. Er drehte das saubere Innere nach außen und hängte sich das teure Stück über den Arm. Er bezahlte großzügig die Rechnung und verließ das Café. Auf der Terrasse wünschte er den neugierigen Damen eine guten Appetit und einen sonnigen Tag. Er stieg in seinen Sportwagen und sauste mit einem Kavalierstart davon.

„So ein netter Mensch. So stilvoll und gut aussehend. Den sollte sie besser nicht laufen lassen“, sagte jemand in der Damenrunde und winkte dem Wagen hinterher.

„Und was macht du nun, mein Hippelämmken?“, fragte der alte Fritz Wieland seine aufgebrachte Tochter Carmen. Der rüstige Rentner saß in seinem Hof, sog an einer dicken Zigarre und blies Rauchkringel in den Abendhimmel. Schuhe und Arbeitshose hatten frische Lehmspuren von der Gartenarbeit. Wielands große Hände zeugten von jahrzehntelangen Schlosser- und Schmiedearbeiten. Der Schweiß stand ihm auf dem fast kahlen Haupt und glänzte in der Sonne.

„Papa, du sollst mich nicht Hippelämmken nennen. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?“

Carmen Petersen schwenkte nervös auf der mit bunten Stoffblumen verzierten Hollywoodschaukel hin und her. Im Kastanienbaum zwitscherte eine Amsel. In den Nachbargärten gaben andere Vögel Antwort. Das Haus des Kleinkötters war eineinhalb geschossig und hatte ein graues Ziegeldach. Die alten Holzfenster konnten bei Sturm mit Läden geschützt werden. Dem Wohnhaus schlossen sich eine Werkstatt und Stallungen an. Im einem Stall hatte Wieland früher Ziegen gehalten. Jetzt waren nur noch Kaninchen auf der Wiese. Obstbäume und der Gemüsegarten sorgten jedes Jahr für eine volle Speisekammer. Die alte Kastanie schüttelte im Herbst ihre Früchte ab, damit die Enkelkinder Svenja und Hauke Kastanienmännchen basteln konnten.

Josefine Wieland schaute aus dem Küchenfenster und beobachtete besorgt das grimmige Gesicht ihrer Tochter. Gut, dass sie selbst im Haus geblieben war. Carmen hatte sich von ihrer Mutter noch nie etwas Kritisches sagen lassen. Der alte Wieland war immer mächtig stolz auf seine schöne Tochter gewesen und hatte deren Launen nie getadelt. Hinzu kam, dass Carmen ein Einzelkind geblieben war und bis heute in der Familie die erste Geige spielte.

Frau Petersen schwenkte sanft auf der Hollywoodschaukel hin und her. Das Stoffdach mit den weißen Fransen ließ sie ganz im Schatten. Vor ihr stand der Gartentisch. Der alte Fritz wich dem finsteren Blick seiner Tochter aus. Er schaute zur Teppichstange mit der Kinderschaukel und musste an seine geliebten Enkel Svenja und Hauke denken. Dann fragte er mit ungewohnt strengem Ton: „Hast du schon mit Carl telefoniert? Hast du ihn gefragt, ob er noch einmal bereit ist, mit dir zusammenzukommen?“

„Ja, verdammt nochmal! Ja! Hätte ich das doch lieber nicht getan. Nie wieder werde ich in meinem Leben vor jemandem auf die Knie gehen! Hörst du? Nie wieder!“

Der alte Wieland schlug mit der flachen Hand knallend auf den Gartentisch und sagte: „Jesses, Maria und Josef! Nun krieg dich aber mal wieder in den Griff. Diesen Ton habe ich nicht verdient! Was soll Carl denn so Furchtbares am Telefon erwidert haben?“

Sie holte tief Luft und das Sprechen fiel ihr schwer: „Als erstes habe ich ihn gefragt, warum er damals abgehauen ist. Da meinte er, ich hätte ihm oft genug gesagt, er könne gehen, wenn ich ihm nicht passe. So ein Quatsch! Wenn ich ihm gesagt hätte, dass er in den Rhein springen soll, dann wäre er ja auch nicht gesprungen.“ Carmen putzte sich laut die Nase. Dann sprach sie mit zitternder Stimme weiter: „Du wirst es nicht glauben! Ich habe ihn sehr freundlich gefragt, ob er noch mal bereit sei, eine Partnerschaft mit mir einzugehen. Er meinte, dass er sich mit jeder anderen eine Partnerschaft vorstellen könne, aber mit mir nie wieder.“ Ihre letzten Worte gingen im Schluchzen unter.

Der alte Mann stand gequält auf. Dann setzte er sich neben seine Tochter in die Hollywoodschaukel und nahm sie tröstend in den Arm.

Mutter Wieland hatte hinter dem gekippten Küchenfenster das Wesentliche gehört. Als sie im Wohnzimmer Geschirr in den Schrank setzte, fiel ihr Blick auf ein Hochzeitsbild. Viele Erinnerungen meldeten sich im Kopf der alten Dame …

Carmen und Carl Petersen waren damals ein Traumpaar. Jesus, war Josefine Wieland stolz auf ihren Schwiegersohn gewesen. Ein echter Lehrer, ein Beamter mit Pensionsberechtigung. Ja, bei Carl war ihre Carmen in einem sicheren Hafen angekommen. So gut wie der Tochter war es Josefine in jungen Jahren nicht ergangen. Der kleine Wieland-Kotten hatte in den Zeiten der größten Not zwar für die Grundnahrungsmittel gesorgt, aber die Kriegsängste, die Gefangenschaft von Fritz und die Arbeitslosigkeit vor dem Wiederaufbau waren doch viel größere Sorgen gewesen. Dann hatte Fine zwei Fehlgeburten gehabt. Carmen, die Frucht ihrer dritten Schwangerschaft, war als gesundes Kind wie ein rohes Ei behütet worden.

Der Generation ihrer Tochter ging es heutzutage viel besser. War es nicht deren Pflicht, endlich ein zufriedenes Leben zu führen? Hatte Carmen nicht jeden Willen bekommen? Auch deren beiden Kinder Svenja und Hauke waren Gott sei Dank gesund. Josefine bekreuzigte sich. Warum konnte Carmen nicht ihre Ehe in Ordnung halten? Was hatte sie, Josefine, sich im Laufe ihres Lebens alles von dem groben Schmied Wieland anhören müssen! Wenn sie dann auch jedes Mal alles hingeworfen hätte … Wovon hätte sie leben sollen? Was hätten die Leute gesagt?

Unmöglich! So etwas tut man nicht! Außerdem hatten Carmen und Carl sich vor Gott ewige Treue geschworen. Was würde der Herr dazu sagen? Josefine bekreuzigte sich wieder …

Tränen stiegen in die Augen der alten Dame und sie tastete nach einem Tuch in der Kittelschürze. Endlich rief die Hausfrauenpflicht. Josefine bat Vater und Tochter zum Abendbrot ins Haus.

Fritz kaute den Mund leer und fragte seine Tochter: „Was geschieht mit eurer Wohnung? Wovon lebst du künftig? Was ist mit den Kindern?“

„Carl ist von sich aus ausgezogen, also gehört die Wohnung mir. Ich werde mit den Kindern vorerst in Neuss wohnen bleiben. Sie gehen nach den Ferien weiter in ihre gewohnte Schule. Wenn Hauke in die weiterführende Schule wechseln kann, würde ich gern rüber nach Düsseldorf ziehen. Ewig werde ich es in diesem langweiligen Nest nicht aushalten. Ich brauche die Großstadt! Da Carl arbeitet, kann er sich in der Woche kaum um die Kinder kümmern. Ich werde ihm Besuchsrecht einräumen, wenn er mir und den Kindern genügend Unterhalt zahlt.“ Carmen straffte sich und sagte: „Das wird der Richter ihm schon sehr deutlich klar machen! Das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, flüsterte Josefine.

Vor dem Gerichtssaal 2 saß Hans Kleinert, ein ehemaliger Studienkommilitone und langjähriger Freund von Carl Petersen. Er und einige andere Zeugen waren in der Sache Petersen gegen Petersen geladen worden.

Kleinert war seit seiner Jugend ein Lebenskünstler. Er hatte mit Carl zusammen für das Lehramt studieren wollen, doch das mühsame Einpauken des verlangten Lehrstoffes war mit seinen reizvollen Freizeitaktivitäten nicht kompatibel gewesen. Selbstsicheres Auftreten bei absoluter Ahnungslosigkeit war Kleinerts größtes Talent. Er hatte während des Studiums überwiegend im Wirtschaftsbereich gearbeitet, auch Gastronomie genannt. Mit seiner Gelassenheit und seinem Humor war dieser junge Mann der perfekte Partytiger gewesen. Kleinert hatte die Uni eines Tages ohne Abschluss verlassen und war sehr erfolgreich in die Versicherungsbranche eingestiegen. Gleichzeitig arbeitete er seit einigen Jahren auch noch als freier Journalist für das provokante Magazin “Im Visier“, das prominente Persönlichkeiten aufs Korn nahm. So machte Kleinert dem Namen “Hans Dampf in allen Gassen“ alle Ehre …

Carl Petersen war das genaue Gegenteil von seinem Freund Hans. Disziplin, Genauigkeit, Sachlichkeit, zielgerechtes Arbeiten und Fleiß hatten ihm einen glanzvollen Studienabschluss beschert.

Für Geschichte interessierte sich Carl von klein auf, da sein Vater Kuddel ein großer Geschichtenerzähler war. Sagen und Märchen hatten zwar nicht direkt mit der Wirklichkeit zu tun, doch irgendwann erkannte Carl, dass in ihnen fast immer ein Funke Wahrheit steckte. Er hatte sein Studium der Geschichte in Neuss am Niederrhein begonnen, wo die Gallische Fernstraße einst endete. Dort war Carl nicht nur auf die Spur der Antike, sondern auch auf seine erste große Liebe gestoßen.

Hans Kleinert und Carl Petersen bestanden aber nicht nur aus Gegen-sätzen. Nein, sie hatten gegenseitigen Respekt voreinander. Hans bewunderte Carls Genauigkeit und das disziplinierte Beenden einer angefangenen Aufgabe. Carl bewunderte die unbeschwerte, humorvolle Lebensart von Hans, die auch zu beruflichem Erfolg geführt hatte. Anscheinend zogen sich solche Gegensätze besonders an. Ja, diese Männer waren echte Freunde, die sich stets aufeinander verlassen konnten … und Hans würde hier und heute vor Gericht ganz klar nur zugunsten seines Freundes aussagen.

Kleinert trug eine teure Brille. Das wellige Haar war an den Schläfen ergraut. Zu diesem erfolgreichen Vertreter gehörten selbstverständlich Anzug und Krawatte.

„Darf ich mich auf den freien Platz neben Ihnen setzen?“ Die Stimme einer älteren Dame riss Kleinert aus seinen Gedanken und fuhr fort: „Ich muss als Zeugin in den Gerichtssaal 1, doch dort im Flur ist kein Sitzplatz mehr frei.“

Er stand auf, deutete ihr, Platz zu nehmen und stellte sich höflich vor: „Mein Name ist Kleinert, Versicherungsvertreter und Journalist des Magazins “Im Visier“!“

Die Dame setzte sich und sagte: „Oh, danke schön. Sind Sie auch wegen dieses schrecklichen Unfalls hier?“

Übermäßiger Duft von Kölnisch Wasser stieg in Kleinerts Nase und er bereute bereits, dass er den freien Platz nicht als besetzt ausgewiesen hatte. „Nein, ich muss in den Saal 2, Scheidung, Unterhaltszahlung und der ganze Mist, Petersen gegen Petersen. Ich bin als Zeuge geladen.“

„Und für wen von beiden sind Sie? Wer hat Schuld?“

Kleinert schaute auf die Uhr. Es ging mit der Gerichtsverhandlung anscheinend nicht voran. Ein Schwätzchen könnte die Zeit vertreiben. Also begann er: „Da Sie das Paar nicht kennen, kann ich Ihnen ein bisschen erzählen. Der Ehemann ist ein Studienkollege und guter Freund.“

„Oh, Sie haben studiert?“

„Ja sicher, zehn Semester Wirtschaftspolitik. Aber das tut ja nichts zur Sache. Carl und ich waren fast mit dem Studium durch, da trafen wir auf dem Neusser Schützenfest Carmen, die Dame, die nun Unterhalt fordert. Es wurde getanzt, getrunken und gelacht. Carmen war, nein, sie ist immer noch eine Schönheit. Ich zog alle Register, um sie für mich zu gewinnen. Es nutzte nichts. Sie hatte nur Augen für Carl, der nicht einmal gut tanzen konnte. Zwischen den beiden hatte es sofort gefunkt. Auf jeden Fall weiß ich, dass es bei Carl so war. Die Hochzeitsfeier fand im Hippelank, bei Carmens Eltern statt. Carmens stolzer Vater ließ das Traumpaar mit einer Pferdekutsche zur Kirche fahren. Die strahlende Braut hatte einen großen Auftritt. Sie liebt es auch heute noch, im Mittelpunkt zu stehen. Ganz großes Theater. Das ist ihre Welt! Carls Eltern und Anhang waren von Friesland gekommen. Die Nordlichter und die Hippeländer hatten gesoffen, was das Zeug hielt. Mein Gott, hatte ich damals am nächsten Tag einen dicken Schädel.“

Kleinerts Nachbarin schüttelte den Kopf und fragte: „Wenn die beiden sich so sehr geliebt haben, was hat sie nun entzweit?“

„Die Zeit des Honeymoons verging, doch Carmens Sehnsucht nach Geltung wurde eher ausgeprägter. Sie war schon immer ein heißer Feger. Sie musste auf jeder Party im Mittelpunkt stehen. Wenn man ihr Komplimente machte, dann stiegen die Chancen für ein Abenteuer. Mit Sekt ließ sich das noch begünstigen.“

„Sie meinen, diese Frau hat sich wirklich anderen Männern hingegeben?“

„Wenn Carl mit Kollegen im Ausland für archäologische Untersuchungen in Ruinen buddelte, dann gab Carmen die Kinder abends bei ihren Eltern ab. Sie ging mit Freundinnen zum Tanzen und testete ihren Marktwert aus.“

„War diese Carmen berufstätig? Ich denke da an die künftigen Unterhaltspflichten des Ehemanns.“

„Carls Frau arbeitete bis zur Geburt des zweiten Kindes in einer Boutique. Man munkelt, dass sie mit ihrem Chef eine Affäre hatte. Auf jeden Fall trug Carmen nach Carls Auslandsreisen meistens sündhaft teure Klamotten. Jedes Mal gab es nach seiner Heimkehr Streit deswegen.“

Die Dame öffnete ihre Handtasche und erneuerte ihre Duftwolke mit Kölnisch Wasser. Kleinert verzog das Gesicht, stand auf und ging zum Hauptportal des Gerichtsgebäudes hinaus. Draußen zog er eine Zigarettenpackung hervor, bat einen anderen Herrn um Feuer und fragte diesen: „Sind Sie als Zeuge geladen?“

„Ja, ich bin als Zeuge in der Sache Petersen geladen worden. Unangenehm. Äußerst unangenehme Sache! Ich hoffe, dass ich um eine Aussage herumkomme. Sollen die Petersen ihre schmutzige Wäsche doch alleine waschen und ehrenvolle Bürger da heraushalten.“

Sein Zigarettenrauch stieg zum Dach des Säulenportals hinauf, wo Justitia ihre Waage der Gerechtigkeit hochhielt.

Kleinert betrachtete den Mann genauer. Der steckte sein goldenes Feuerzeug in die Jacketttasche. Dabei wurde am Handgelenk eine teure Designeruhr sichtbar. Irgendwie kam Kleinert dieser Mann bekannt vor. „Sind Sie nicht Herr Siegfried Schön, der Geschäftsführer der großen Beauty Boutique-Verkaufskette?“

Schön lächelte geschmeichelt. „Ja, und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich bin Hans Kleinert und schreibe für das Magazin “Im Visier“. Was schätzen Sie? Wer von den beiden Petersen wird die Verhandlung gewinnen?“

Schön kniff seine Augen zu Schlitzen und fragte misstrauisch: „Sagen Sie mal … Ihr Magazin, ist das nicht so ein Schmierblatt, das Prominente denunziert?“

„Wenn Sie sich nicht für prominent halten, dann müssen Sie sich ja keine Sorgen darüber machen.“ Kleinert lächelte überheblich, trat seine Zigarette aus und ging wieder ins Gerichtsgebäude.

Carmen Petersen war perfekt frisiert und geschminkt. Sie trug einen eleganten Hosenanzug und eine hoch geschlossene Bluse. Sie blickte den Richter fordernd an und sagte: „Ich verlange für mich und meine beiden Kinder eine angemessene Unterhaltszahlung, damit wir weiter standesgemäß leben können.“

„Was meinen Sie mit standesgemäß?“

„Ich meine unseren Lebensstandard. Die Kinder müssen regelmäßig eingekleidet werden, die Miete für die Wohnung muss gezahlt werden, wir müssen in den Ferien unseren Urlaub machen können usw. Das kostet bekanntlich Geld.“

Der Richter fragte Herrn Petersen: „Sind Sie bereit, den Forderungen Ihrer geschiedenen Frau nachzukommen?“

Statt Petersen antwortete Rechtsanwalt Dr. Starke: „Mein Mandant ist bereit, den Unterhalt für seine Kinder zu bezahlen. Für Frau Petersen wird mein Mandant nicht zahlen. Er hat persönliche Gründe, die er hier möglichst nicht vortragen möchte. Diese Gründe sind seiner geschiedenen Frau bekannt. Wir bitten Frau Petersen, freiwillig auf Ihren Unterhalt zu verzichten.“

Der Richter blickte die Klägerin an. Die sprang auf und rief: „Carl, du spinnst wohl! Ich verzichte auf keinen Fall auf meinen Unterhalt. So kommst du mir nicht davon.“

Nun erhob sich auch Herr Petersen. Er blickte seine geschiedene Frau streng an und sagte in sachlichem Ton: „Wenn du nicht freiwillig auf deinen persönlichen Unterhalt verzichtest, dann lasse ich den schönen Siggi hier antanzen. Er wartet draußen. Dann machen wir Tabula rasa. Hans Kleinert sitzt als geladener Zeuge vor der Tür. Er freut sich schon, hier einen Vortrag über deine Sonderveranstaltungen zu halten.“

Frau Petersen schäumte vor Wut. Ihre Anwältin bat den Richter um eine kurze Unterbrechung, damit sie sich mit ihrer Mandantin besprechen könne. Der Vorsitzende gab dem Antrag statt.

Die beiden Damen verließen den Gerichtssaal und setzten sich in einer Nische auf eine Bank.

„Frau Petersen“, sagte die Anwältin, „ich stelle fest, dass Sie mir nicht alle wichtigen Details mitgeteilt haben. So kann ich Ihnen nicht optimal helfen. Wer ist dieser Herr Schön? Kann er Sie mit seiner Aussage belasten?“

Carmen Petersen zögerte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Unter Schluchzen gestand sie: „Siggi Schön hat meine Situation ausgenutzt. Es war auf einer Betriebsfeier. Ich hatte viel zu schnell getrunken und es war warm. Davon muss mein Mann Carl etwas erfahren haben. Sehr wahrscheinlich hat ihm dieser Schnüffler Hans Kleinert davon erzählt.“

„Haben Sie mit Ihrem Mann darüber offen gesprochen?“

„Nein, mit dem kann man nicht reden. Der ist absolut überempfindlich und stur.“

„Frau Petersen, wenn ich Sie richtig verstehe, dann sind Sie von diesem Herrn Schön zu sexuellen Handlungen genötigt worden, richtig?“

„Ja, ich glaube, so war es.“

„Frau Petersen, also bitte. Wenn dieser Herr Schön Sie genötigt hat, dann sind Sie unschuldig und ich werde diesen Fall neu aufbauen. Sollte sich aber aufgrund von Zeugen ein anderes Bild ergeben, dann zerreißt der Richter unsere Strategie in der Luft.“

Die Mandantin trompetete in ein Taschentuch. Unter Tränen sagte sie: „Ich will nicht, dass Siegfried Schön aussagt. Auch nicht dieser verdammte Kleinert.“

„Gut, wenn Sie also nicht möchten, dass ganz bestimmte Dinge an den Richter herangetragen werden, dann verzichten Sie besser auf Ihren Anspruch auf Unterhalt. Aber wir versuchen, das Maximale für Ihre Kinder herauszuholen.“

Carmen Petersen kam sich vor wie in einem bösen Traum. Die gesamte Welt hatte sich gegen sie verschworen. Kein Mensch sah, was die anderen alles falsch gemacht hatten. Nur ihr wurden unverschämte Vorwürfe gemacht. Erst ließ dieser feige Siggi sie im Regen stehen, und nun würde Carl seinen Verpflichtungen nicht nachkommen. Und diese Rechtsverdreher fanden das auch noch richtig. Ihr Frust schlug in Hass um.

Frau Petersen saß wieder im Gerichtssaal. Doch nur ganz fern hörte sie die Entscheidung des Richters.

„In der Sache Petersen gegen Petersen ergeht folgendes Urteil: Herr Carl Petersen zahlt ab sofort den Unterhalt für seine Kinder Svenja und Hauke Petersen entsprechend der Düsseldorfer Tabelle. Die bisher zu wenig gezahlten Geldbeträge sind umgehend nachzuzahlen. Frau Carmen Petersen hat laut Ihrer Rechtsvertretung auf Ihren Unterhalt verzichtet. Herr Petersen trägt nach Absprache der Rechtsanwälte die Kosten des Verfahrens. Damit ist die Verhandlung geschlossen.“

Svenja schaute über das Watt und die Fahrrinne zu den Inseln am Horizont. Sie grübelte und grübelte. Wie ging es ihrem Papa jetzt? Der war in der letzten Zeit noch stiller geworden, als er das von Natur aus war ... Was machten Oma Fine und Opa Hippelank? Die Großeltern in Neuss und die Großeltern hier in Bornsiel hatten doch auf jede Lebensfrage immer eine kluge Antwort. Warum konnten die ihrer Mama und ihrem Papa nicht sagen, dass die sich wieder vertragen müssen? Mamas und Papas sind schließlich die Kinder von Großeltern.

„Svenja, meen Deern, du drömst!“, rief Mehnert. „Du machst doch hüt dat Klabautermannpatent. Daarto gehürt, dat du een Boot stüren kannst. So, Hauke, nu lass dien Swester mal ans Ruder.“

Hauke verzog das Gesicht. „Oh Mann, jetzt schon?“ Er ließ nur widerwillig das Steuer los und ging zu seinen Großeltern in das Heck. Zum Glück hatte Heidemarie leckere Dinge in ihrem Picknickkorb und schon bald stieg die Stimmung des jungen Matrosen wieder an. Er fragte: „Opa Kuddel? Können wir nicht auch zu einer Schatzinsel fahren? So eine, wie sie in dem Buch “Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson beschrieben ist?“

„Jo, wir sin schon auf dem Weg dohin“, antwortete Kuddel.

Der Leichtmatrose klatschte begeistert in die Hände. „Au ja, wir suchen heute einen Schatz!“

Der Schiffsdiesel tuckerte gleichmäßig unter dem Bodenblech. Die Bugwellen schwappten über das Ufer der Fahrrinne auf das Watt. Dort glänzten ein paar Muscheln in der Sonne. Hauke zeigte dorthin und fragte: „Opa Kuddel, da liegen Muscheln im Schlamm. Woher kommen die?“

„Die hat dat Meer mitgebracht, meen Jung.“

„Ja, und wo ist das Meer jetzt?“

„Dat Meer is Muscheln holen“, sagte der alte Mann lachend und klatschte dem Enkel auf den Po.

Svenja steuerte nun stolz das Boot und schaute zu den beiden schattenhaften Silhouetten am Horizont. Sie fragte Mehnert: „Wie viele Inseln gibt es hier vor der Küste?“

„Oh, da gifft et eene ganze Menge. To unsern bewohnten, friesischen Eilands gehüren von West nach Ost Borkum, Juist, Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog und Wangerooge. Unn denn gifft et noch een paar kleene unbewohnte Eilands. Ach jo, un Kachelotplate is eene Sandbank zwischen Borkum un Juist. Die Eilands Norderney, Baltrum, Langeoog un Spiekeroog sinn bi Ebbe met eener Wattwanderung erreichbar. Kiek dich hier um. Da seechst du et, Svenja.“

Mehnert erklärte und zeigte den Kindern wie man Seemannsknoten macht. Diese mussten sie in der nächsten halben Stunde für ihr Klabautermann-Patent üben. Währenddessen packte Kuddel sein Schifferklavier aus und Heidemarie begann zu singen. Sie ließen die Wattlandschaft hinter sich und blickten gerührt über das scheinbar endlose Meer. Sandbänke und Inseln schoben sich an ihnen vorbei. Alles, was das Fernrohr erfassen konnte, wurde von den Kindern aufgesaugt und kommentiert. Fischerboote, Frachter und Passagierschiffe boten eine abwechslungsreiche Kulisse.

Mehnert steuerte auf der Nordseite einer Insel eine breite Bucht an. Auf dieser Seeseite war der Sandstrand menschenleer. Links und rechts erhoben sich Felsenklippen, an denen sich Wellen brachen. Sie begrenzten die Bucht zu den Nachbarstränden. Da die Küste etwas anstieg, konnte man von hier nicht ins Inselinnere blicken. Sträucher und Gräser schützten den weißen Sand vor Sturm und Wind.

Mehnert steuerte einen Landungssteg an und verstaute das Boot.

Da mittlerweile die Flut einsetzte, wählten die Picknickgäste ein etwas höher gelegenes Plätzchen. Kuddel holte einen großen Sonnenschirm von Bord. Er spannte ihn auf und steckte ihn in den Sandboden. Heidemarie breitete eine Decke auf dem Sand aus und verteilte Badehandtücher an die Kinder. Svenja versuchte unter dem Tuch ihren Badeanzug anzuziehen. Plötzlich fiel das Badetuch herunter und sie stand für einen Augenblick mit freiem Oberkörper da.

Hauke lachte albern und rief: „Ha ha, die Svenja hat ja schon eine Frauenbrust.“

Das Mädchen bedeckte verschämt ihren Busen und zog sich rasch die Träger des Badeanzugs über die Schultern. Mit roten Wangen erwiderte sie: „Jungen sind ja so unglaublich doof! Einfach saudoof!“ Sie rannte so weit sie konnte in das kühlende Wasser. Dann ließ sie sich fallen und begann zu schwimmen.

Die Oma blickte ihren Enkel streng an und sagte: „Hauke, darüber lacht man nich. Et is ganz normaal, dat Deerns in Svenjas Alter Brüste kriegen. Da dat aber och für sie allet noch neu is, geniert sie sich etwas. Tu sie also darwägen nich trietsen. Hast du mich verstahn?“ Heidemarie wartete fordernd auf eine Antwort.

„Ist ja gut.“ Hauke schaute verschämt zu Boden. „Ich meine ja nur, es sah so lustig aus.“

„Wat soll denn daaran lustig utsehen? Ik hev Brüste un deen Mama het Brüste. Sobald die Deern sich to eener Fru warden wachsen ennen Brüste. Dat is ganz normaal, aber nich lustig. Wenn du Frogen dato hest, denn red mit deener Mama oder mit mir. Lass Svenja dormit in Ruhe, ja?“

„Ja, aber ist Svenja denn jetzt kein Mädchen mehr? Ist sie jetzt eine Frau?“

„Jo“, nickte die alte Dame, „in gewisser Hinsicht is sie nu schon ne jung Fru.“ Sie klatschte dem Jungen auf die Badehose. „So, nu geh och in’t Water!“

Kuddel hatte das komplizierte Thema stumm mitverfolgt und war heilfroh, dass er dazu nicht befragt wurde. Selbstverständlich kannte er sich mit Frauen aus. Aber Fragen, die die Pubertät und ihre komplizierten Gefühlsregungen betrafen, waren schließlich schon immer Sache der Mütter gewesen. Bei solchen Fragen wäre der alte Seebär völlig sprachlos und das mochte er gar nicht.

„Wolltest du och wat datoo seggen?“, fragte Heidemarie amüsiert. Sie sah mit Genugtuung, wie Kuddel das Gesicht verzog und sich hinter seiner qualmenden Pfeife versteckte.

Die Sonne hatte das niedrige Wasser aufgewärmt. Nur weiter draußen wurde es deutlich kälter. Die Kinder tobten in den Wellen und tauchten nach Muscheln. Die älteren Herrschaften machten es sich im Schatten bequem.

„Keene Touristen. Dat hier is man en fein Pläts. Dat Gelände hier gehürt Knut Wuchtig, min Vedder. Allet privat“, sagte Mehnert.

Kuddel kniff seinem Freund ein Äuglein und wies mit dem Kinn zum anderen Ende der Bucht: „Komm, meen Jung, mir ham noch watt Wichtiget to moken.“

Heidemarie schmunzelte und sah mit Freude den planschen-den Wasserratten zu. Sie hatten die Welt um sich herum so vergessen, dass sie nichts mehr von ihrer weiteren Umgebung wahrnahmen. Hauke fing eine Qualle und warf sie der Schwester auf die nackte Schulter. Svenja schrie angewidert auf, stieß den Bruder um und drückte ihn unter Wasser. Kurz darauf tauchte der junge Mann wieder auf. Er spie eine Fontäne aus und fluchte. „Pfui, schmeckt das salzig. Du bist wohl bekloppt!“

„Bleib mal ruhig stehen!“, sagte Svenja und zeigte im Wasser auf ihre Füße. Ein Schwarm kleiner, silberner Fische schwamm neugierig um die Beine der Kinder.

Die Seemänner waren von ihrem Landgang zurückgekehrt. Die Kinder hatten schon lange nicht mehr auf die Erwachsenen geachtet. Kuddel rief zu den Enkeln: „Nu kommt man an Land und wärmt euch op.“

Unter dem Sonnenschirm verteilte Heidemarie ein köstliches Picknick. Danach machten sich die Kinder auf, die Insel zu erkunden. „Blivt in Rufwiede!“, mahnte die besorgte Oma.

Je weiter der Blick ins Inselinnere reichte, desto grüner wurde die hügelige Landschaft. Doch kein Mensch oder Tier waren zu sehen. Svenja und Hauke liefen zu den Felsen, die die Bucht begrenzten. Sie mussten unbedingt wissen, wie es dahinter weiterging. Auf der Klippe flatterten Svenjas lange Haare im Wind. Von hier oben schauten sie über das Meer. In der Ferne sahen sie Segler und ein Passagierschiff. Am Himmel zogen kleine Wolken und kreischende Möwen. In den Wellen spiegelte sich das Sonnenlicht. Die Luft roch nach Seetang.

„Svenja, schau mal, dort im Gebüsch liegt ein Ruderboot versteckt!“, rief Hauke und kletterte die Rückseite der Klippe hinab.

Das alte Holzboot musste von einem großen Schiff stammen. Solche Boote benutzten die Seeleute, um an Land zu gehen. Es war von der Witterung stark angegriffen und nicht mehr seetauglich. Hauke kletterte hinein und untersuchte das Innere. „Svenja, da ist etwas. Guck mal, dort zwischen den Planken!“

Und tatsächlich. Das Mädchen zog eine alte Flasche heraus. Sie bestand aus braunem, undurchsichtigem Glas, sodass man den Inhalt nicht erkennen konnte.

„Ich guck mal, ob da was drin ist“, sagte Hauke und entkorkte die Flasche. Dann zog er mit spitzen Fingern eine Pergamentrolle heraus und entrollte diese.

„Vorsichtig! Zerreiße es nicht. Altes Papier ist empfindlich!“, warnte Svenja.

„Mann, du bist schon wie Papa“, konterte der kleine Bruder. Neugierig drehte er das Blatt von links nach rechts. Aber nichts war darauf zu erkennen.

Hauke ärgerte sich. „So ein Mist! Da ist gar nichts drauf.“

Er wollte das Papier zerknüllen und wegwerfen, doch Svenja rief: „Nicht! Warte mal! Auf dem Pergament kann eine Geheimschrift stehen. Eine, die man mit bloßem Auge nicht sieht. Wer wäre so doof und steckt ein leeres Blatt in eine Flaschenpost? Wir nehmen sie mit und zeigen sie Opa Kuddel. Der kennt sich mit Flaschenpost aus. Der kennt angeblich auch geheime Schriften.“

Sie rollten das Pergament wieder auf und steckten es in die Flasche zurück. Anscheinend gab es an diesem Strand nichts weiter zu entdecken und so machten sich die Kinder auf den Rückweg. Schon von weitem rief Hauke: „Wir haben was gefunden!“, und er begann zu rennen. Völlig außer Atem gab er Kuddel die Flasche. Der alte Seeräuber schaute interessiert. Auch Mehnert kam neugierig hinzu.

„Dat ist ja man en Ding“, murmelte Kuddel sich in den Bart und zog das Pergament heraus. Ganz vorsichtig entrollte er den Fund, roch daran und hielt es forschend gegen das Sonnenlicht. „Dat is ne urolle Kaart. Dat könnt sogar ne Schatzkaart sin“, schaute Kuddel seine Enkelkinder an und nickte zustimmend. „Aver die is mit wat gezeichnet worden, wat man erst sichtbor maken mut. Dat geiht erst tohuus. Jo, Kinner, vielleicht seid ihr bald reich!“

„Toll!“, rief Hauke und machte einen Freudentanz. „Dann schenke ich euch allen etwas. Oh, ich muss heute Abend sofort Mama anrufen. Die freut sich, wenn wir endlich reich sind!“

Svenja und Hauke erfrischten sich mit einem weiteren Bad in den viel kräftiger gewordenen Wellen. Das Wasser stand mittlerweile deutlich höher, als bei ihrer Ankunft. Auch das Boot war neben dem Landungssteg mit der Flut gestiegen. Es wurde Zeit für die Heimfahrt.

Die Reisegruppe packte alles, was sie zum Picknick mitgebracht hatte, ins Boot und Mehnert startete den Diesel. Bald wurde die Bucht scheinbar kleiner. Mit dem Fernglas sah Hauke das verwitterte Landungsboot neben den Felsen liegen. „Opa, guck mal. Da kannst du das gestrandete Boot sehen.“

„Jo, warhafftich“, sagte Kuddel, „dat is ja een ganz ollet Piratenboot. Dat erkenne ik sofort. Mehnert guck du mol.“ Er reichte schmunzelnd das Glas weiter.

Auch der andere Seebär zeigte sich beeindruckt und strich nachdenklich über seinen Seehundbart.

Als sie nach gut zwei Stunden die letzte Insel vor ihrem Heimathafen passiert hatten und auf das Festland zusteuerten, war aufgrund der Flut kein Watt mehr zu sehen. Die riesige Wasserfläche reichte bis zur Küste und dem kleinen Dorf Bornsiel, dass nur mit dem Fernglas gut zu erkennen war. Bojen zeigten dem Kapitän den sicheren Weg durch die Fahrrinne.

Noch bevor die Sonne im Meer versank, machte Mehnert im Hafen fest.

Hinter dem Gartentürchen vor Kuddels Kate wartete bereits Captain Cook mit hochgestrecktem Schwanz auf die Heimkehrer. Er strich ihnen begrüßend mit lautem Miauen um die Beine. Es wurde rasch dunkel.

Nachdem Heidemarie die hungrige Mannschaft gesättigt hatte, übergab Kapitän Mehnert jedem Kind eine Urkunde. In großen Lettern stand darauf: Klabautermannpatent.

Zwischen einer Windrose und einem Anker war in feiner Schrift zu lesen:

Hauke Petersen ist geprüfter Klabautermann. Bornsiel, im Juli 1969.

Das gleiche Zertifikat bekam die Klabauterfrau Svenja.

„Und was ist mit der Schatzsuche?“, fragte Hauke.

„Moin, meen Jung, moin“, antwortete Kuddel. „Ik beklöne mich mit Mehnert hüt Avend, wie wir den Inhalt der Kaarte sichtbor moken. Wenn wir et schapen un et een Schatz givt, denn söken wir en mörgen, okay?“ Er gab Hauke einen liebevollen Klaps auf den Po.

Da die Seeluft sehr müde machte, gab es keine langen Diskussionen an diesem Abend. Der Klabautermann und die Klabauterfrau stapften die alte Treppe zum Dachzimmer hinauf. Bald träumten sie sich weit fort, um einen riesigen Schatz zu heben.

Heidemarie kam mit drei Möwenschiet auf einem Tablett in die gute Stube.

„Dat war man en gauder Tach! Prost!“, brummte Kuddel in tiefer Zufriedenheit. Tabakgeruch unterstrich die gemütliche Abendstimmung der drei kinderlieben Nordlichter …

Das Jungengymnasium wirkte wie in einem Dornröschen-Schlaf. Kein Schülerlärm auf dem Schulhof, kein Gedrängel in den weiten Treppenhäusern, keine gelangweilten Gesichter hinter den Fenstern der Klassenräume, kein Jubeln aus der Turnhalle und keine Klänge aus den Fenstern des Musikzimmers. Die Schule war verwaist. Sommerferien.

Hausmeister Axel Keller hatte leider nicht so lange dienstfrei. Vor ihm lag ein riesiger Berg an Arbeit, den anscheinend niemand wertschätzte. Er musste Stühle, Tische und Tafeln reparieren. Fenster mussten gerichtet und Türen geölt werden. Wasserhähne tropften, Heizkörperventile ließen sich nicht öffnen oder schließen, Türschlüssel waren abgebrochen, Toiletten waren verstopft, Deckenlampen flackerten und, und, und … Im Keller blickte der Hausmeister zu einer Wand in der Toilette. Er stemmte die Fäuste auf die Hüften. Was hatte da einer dieser Lümmel hingeschmiert?