Ein Tag für Blinde, Lahme und Verrückte - Dieter Kleffner - E-Book

Ein Tag für Blinde, Lahme und Verrückte E-Book

Dieter Kleffner

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Beschreibung

In der geschlossenen, psychiatrischen Abteilung eines Dorfkrankenhauses bricht der manisch-depressive Patient Ralf Rose heimlich auf, um sich das Leben zu nehmen. Während er sprungbereit auf einem Brückengeländer sitzt und auf den Zug wartet, ziehen die Bilder seines Lebens noch einmal an ihm vorbei. Zeitgleich erfährt Conni Helmer, dass sie Krebs hat und versucht, sich mit diesem schockierenden Thema auseinander zu setzen. Im schlimmsten Fall würde sie ihren Sohn und schwer muskelkranken Ehemann zurücklassen müssen. Andernorts wird die Sekretärin Britta Herzig von drei skrupellosen Skinheads angegriffen. Kein Passant hat die Courage, einzugreifen, bis in dieser aussichtslosen Lage ein Mann auftaucht, für den es scheinbar keine Angst gibt. Wie verrückt muss ein Mensch sein, gegen eine Gruppe gewaltbereiter Jungen vorzugehen und kann er es alleine überhaupt schaffen? In einem Rückblick wird der junge Oliver Schwarz von einem Freund zu einer Spritztour im Cabriolet eingeladen, die jäh in einem schweren Unfall endet. Der Fahrer ist sofort tot, Oliver selbst erwacht in einer Klinik. Seine Augen sind so verletzt, dass er für immer blind sein wird. Er verschließt sich vor der Welt bis er auf seinem Weg zu einer Ausbildung für Masseure auf die hochgradig sehbehinderte Eva Liebig trifft, die ihn mit ihrer Lebensenergie und Zuversicht ansteckt. Das Schicksal führt schließlich alle Protagonisten zusammen. Mit ihren Erfahrungen und unterschiedlichen Lebensstrategien wollen sie Ralf Rose davon überzeugen, dass er trotz seiner psychotischen Episoden ein erfülltes Leben führen kann.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Edition Paashaas Verlag

1. Auflage 2014

2. Auflage 2017

© Edition Paashaas Verlag, Hattingen, www.verlag-epv.de

Umschlaggestaltung und Satz: Sonja Kleffner, Solingen

Umschlagbild: © Cobalt - Fotolia.com

Printausgabe: ISBN: 978-3-945725-91-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Dieter Kleffner

Ein Tag für Blinde, Lahme und Verrückte

Gesellschaftsroman

1.

01 DIE GROSSE LEERE

Das Fenster des Krankenzimmers ließ sich aus Sicherheitsgründen nur einen Spalt breit öffnen. Die beiden Betten des spartanisch eingerichteten Raums standen mit ihrer langen Seite an der Wand, da sich nach Meinung der Psychiater die meisten Menschen mit einer Wand im Rücken sicherer fühlten. Das leere Bett war zum Schutz mit einer dünnen Klarsichtfolie überzogen und erwartete bereits einen neuen Patienten. Auf dem anderen Bett lag ein Mann wie aufgebahrt und starrte ins Leere. Unterhalb des Fensters lud eine gepflegte Krankenhausparkanlage in die frische Luft ein. Hinter den fast blattlosen Bäumen des Klinikgeländes erhob sich der mittelalterliche Wehrturm der Dorfkirche. Die Sonne hatte sich tapfer durch die grauen Novemberwolken gequält, um den Menschen in ihren trüben Herbsttagen Wärme für Leib und Seele zu spenden. Sie ließ ihre Strahlen in die Krankenzimmer und die hektischen Diensträume leuchten und wurde fast überall dankbar aufgenommen. Jedoch in diesem Zimmer konnte sie nicht ihre herzerwärmende Kraft entfalten, da der Patient die Vorhänge des Fensters dicht vor ihr verschlossen hielt. Er mied das Sonnenlicht wie ein Vampir, der bereits beim Kontakt mit dem ersten Strahl zu Staub zerfiel. Vor zehn Wochen war es ihm noch fantastisch gut gegangen. Er hatte sich fast wie ein Gott gefühlt. Seine Ausdauer und seine körperliche Kraft schienen damals keine Grenzen zu kennen. Seine normalen Mitmenschen, diese Langweiler, die ewig über geringste Kleinigkeiten jammerten, hatten für seine hyperaktive Phase nicht das geringste Verständnis gezeigt. Im Gegensatz zu ihnen hatte er ohne Unterbrechung funktioniert. Er hatte höchstens drei Stunden Schlaf pro Nacht benötigt. Wenn er gewollt hätte, wäre er sogar ganz ohne diesen unnützen, unproduktiven Schlaf ausgekommen. Und nun? Nun, wo er ganz unten angekommen war, blickten diese angeblich Normalen schon wieder auf ihn herab.

Ralf Rose hätte voller Spott über dieses verrückte Dasein lachen können, aber seine Mundwinkel zogen sich seit Tagen nicht mehr nach oben. Sein Gesichtsausdruck glich einer Maske, die auf einen Gleichgültigkeitsmodus eingestellt war. Die große Leere hatte sich wieder in ihm ausgebreitet. Er war schon mehrmals in seinem Leben in ein solches Nichts hineingezogen worden. Ein Nichts, das für Rose keinen Sinn, keine Kraft, keinen Atem zum Leben hatte. Sein Antrieb war auf Null. Den momentanen Zustand empfand er als völlige Auflösung seines menschlichen Seins.

Plötzlich wurde nach kurzem Klopfen schwungvoll die Zimmertür geöffnet. »Puh, ist hier eine verbrauchte Luft. Herr Rose«, fragte die engagierte Schwester Vera mit fröhlicher Stimme, »haben Sie Ihre Tabletten genommen?«, und sie zog gnadenlos die Vorhänge des Fensters zurück. Die Sonne wollte umgehend das müde Gesicht des Mannes wachküssen, doch der fühlte sich gepeinigt. Er blieb in gleicher Haltung auf seinem Bett liegen und schaute weiter desinteressiert zur Zimmerdecke. Nachdem ihn die Schwester noch zweimal freundlich nach seiner Tabletteneinnahme gefragt hatte, nickte er gelangweilt.

»Sie haben sich noch nicht gewaschen. Machen Sie sich jetzt bitte frisch und ziehen Sie sich ordentlich an. In dreißig Minuten bringe ich Sie zur Beschäftigungstherapie«, und dann stellte die Schwester zur Ermunterung auch noch das Radio an. Sie kniff dem missmutigen Patienten verschmitzt ein Äuglein und verließ winkend das Zimmer.

Einen Augenblick später verstummte im Radio die Musik und es meldete sich der Moderator: »Montag, 9. November 2009. Es ist 9:30 Uhr. Die Nachrichten. Heute vor zwanzig Jahren öffnete sich die Mauer zwischen Ost und West. Viele Politiker…«, verstummte der Apparat, da der Patient aus dem Bett gestiegen war und das Radio ausgeschaltet hatte.

Auf dem Flur begegnete Schwester Vera dem Oberarzt der psychiatrischen Intensivstation. Dr. Lampe sah die blonde Mittvierzigerin von oben bis unten an. Sie trug einen weißen Kittel und die nackten Füße steckten in Sandalen. Die Zehennägel funkelten grün wie ihre Augenfarbe.

»Stimmt etwas nicht?«, schaute sie an sich herunter. Dr. Lampe lächelte: »Ganz im Gegenteil. Wie geht es Rose?«

»Er macht bisher keine Fortschritte. Völlige Abulie. Er ist dieses Mal ganz unten. Jeden Handschlag muss man ihm abfordern. Er lässt sich völlig hängen. Ich will hoffen, dass er heute bei der Beschäftigungstherapie mitmacht.«

»Lassen Sie ihm Zeit. Wir kennen ihn doch seit Jahren. Wenn er durch diesen depressiven Zyklus durch ist, reißt er in einigen Monaten wieder euphorisch die Bäume aus. Dann scheucht er die langweiligen Normalen solange hin und her, bis sie völlig genervt aufgeben.«

Schwester Vera lächelte: »Er ist in seiner normalen Phase äußerst sympathisch und hilfsbereit. Dann hat er ein ganz anderes Wesen. Er tut mir leid!«

»Deshalb tun wir ja für ihn, was wir können. Ich denke, dass wir in Kürze auch die passende Medikamenteneinstellung ausgependelt haben. Wenn der Gute seine Tabletten nicht eigenmächtig abgesetzt hätte, dann wäre er auch nicht in eine so tiefe Depression gefallen. Wenn unsere Patienten grundsätzlich rechtzeitig kommen würden, dann könnten wir auch mit wesentlich kürzeren Klinikaufenthalten aufwarten«, drückte Lampe die Türklinke des nächsten Krankenzimmers.

Ralf Rose hatte sich gewaschen und einen Jogginganzug angezogen. Nicht, weil er das wollte, sondern weil man ihm das abverlangte. Er konnte die Wünsche dieses Personals zurzeit nicht nachvollziehen. Waschen, rasieren, anziehen, Beschäftigung und was diese Leute sonst noch alles von ihm wollten. Wofür? Welchen Sinn hatte das? Reichte es nicht, hinter dunklen Vorhängen auf einer Couch oder einem Bett zu liegen? Die Welt hatte sich bereits vor der Entstehung des Menschen gedreht und sie würde sich auch nach dem Verschwinden der Menschheit weiterdrehen…

Ralf Rose blieb unrasiert und verbarg hinter dem Bart seine angenehmen Gesichtszüge. Er war hochgewachsen und hatte blonde, an den Schläfen ergraute Haare. Ein Mann in den besten Jahren, dem die Frauen seines Alters gerne ein Lächeln schenkten.

Wie ferngesteuert folgte er der Schwester durch die vielen Klinikgänge. Edelstahlwagen eilten mit klapperndem Geschirr in Richtung Spülküche. Andere Krankenschwestern stellten vor den Zimmern Ständer mit Infusionsflaschen auf. Reinigungsfrauen wischten sich den Schweiß von der Stirn und spannten neue Wischmöpse auf die Gestänge. Mal roch es nach Desinfektionsmitteln, dann wieder nach Putzmitteln und aus den Ritzen der geschlossenen Raucherzimmertür quoll ein Hauch von Tabakduft. Telefone klingelten und medizinisches Personal wurde durch verborgene Lautsprecher aufgerufen.

Soviel Lebendigkeit war für Rose kaum zu ertragen. Vor allem diese Schwester Vera, die ihm nun vorauseilte, sprühte voller Tatendrang.

Sie hielten an dem Raum mit der Aufschrift »Beschäftigungstherapie«. Ein Mitarbeiter öffnete und bat Herrn Rose freundlich herein.

»Rufst du bitte an, wenn Herr Rose fertig ist? Er darf die Station zurzeit noch nicht alleine verlassen«, strahlte Vera den Kollegen an und schon war sie mit einem kurzen Winken wieder fort. In der Beschäftigungstherapie saßen Patienten und Patientinnen an ihren Arbeiten. Einige erstellten Kunstwerke aus Holz, andere kneteten und formten Ton und wiederum andere stickten Bilder.

Lustlos betrachtete Rose seine Mitpatienten und konnte über deren angeblich kreatives Schaffen nur den Kopf schütteln.

»Herr Rose«, riss ihn der Ergotherapeut aus den dunklen Gedanken, »ich gebe Ihnen nun eine Knetgummimasse in die Hand und Sie formen bitte spontan eine Figur daraus.«

Um diesem Spuk gleich zu Anfang ein Ende zu machen, rollte Rose zwischen den Fingern zwei kleine Knetgummiwürste und steckte sich diese demonstrativ in die Ohren. Dann schloss er die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Endlich war die vorgegebene Zeit in der Beschäftigungstherapie herum. Schwester Vera nahm Herrn Rose in Empfang und machte sich auf den Weg zu ihrer Station. Vor den Aufzügen drängelten sich mehrere Personen. Ein älterer Herr im weißen Kittel, dessen Stethoskop zum Teil aus seiner Tasche baumelte, drückte nervös wieder und wieder auf einen der Knöpfe und fluchte: »Mein Gott, wie lange dauert das denn noch?«

»Dr. Müller«, lächelte Vera, »über die Treppe geht es bestimmt schneller«, und sie nickte mit dem Kinn zur Tür des Nottreppenhauses.

Der Arzt stapfte kopfschüttelnd davon. Im gleichen Augenblick hielt der Aufzug und eine Frau des Reinigungsdienstes stieß einen klappernden Wagen heraus, der mit Eimern, Wischern und Putzlappen ausgerüstet war. Sie trug ein Kopftuch und einen grünen Kittel. Als ihr Wagen an der Bodenkante zwischen Aufzug und Etagenboden holperte, fiel ein Putzeimer herunter und nahm seinen eigenen Weg.

Endlich stiegen die wartenden Fahrgäste ein. Ruckend setzte sich der Aufzug in Bewegung. Erschreckt wurde eine kleine, füllige Frau aus ihren Gedanken gerissen. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern. Der Patientin stand die pure Angst ins Gesicht geschrieben und Vera sprach sie freundlich an: »Ich bin Schwester Vera. Sie sehen sehr blass aus. Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich ihnen helfen?«

Die Patientin senkte den Blick und meinte mit zitternder Stimme: »Nein, danke. Sehr nett von Ihnen. Ich habe nur gerade etwas Schlimmes erfahren. Es geht gleich wieder.«

Mit einem Ruck hielt der Aufzug im nächsten Stockwerk. Schwester Vera legte der kleinen Frau mitfühlend ihre Hand auf die Schulter: »Ich wünsche Ihnen alles Gute«, wandte sich um und zog den unrasierten Herrn mit dem leeren Blick mit sich hinaus. »Kommen Sie, Herr Rose, wir sind da!«

Der depressive Patient war erleichtert, dass Vera ihn wieder in sein Zimmer brachte. Er wartete auf einem der Stühle, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Dann stand er auf, zog die Vorhänge vor das Tageslicht und legte sich mit geschlossenen Augen in sein frisch gemachtes Bett. Wenige Augenblicke später schlief er ein.

»Hallo Ralle?«, wurde Rose von einem neuen Mitpatienten geweckt, der plötzlich mitten im Zimmer stand. »Mensch, ist ja klasse, dass ich dich hier antreffe. Wie geht es dir, du alter Draufgänger?«

Auch Schwester Vera kam hinzu: »Die Herren Stefan Wunderlich und Ralf Rose kennen sich bereits aus den Vorjahren. Herr Rose, Sie liegen ja schon wieder auf dem Bett und haben die Vorhänge zugezogen. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie in der nächsten Nacht kein Auge schließen können. Ich denke, die Anwesenheit von Herrn Wunderlich wird Ihnen gut tun.« Dann riss sie die Vorhänge auf und kippte das Zimmerfenster.

»Leider lassen sich die Fenster aus guten Gründen nicht weiter öffnen, aber so wird die verbrauchte Luft nicht alle einschläfern«, lachte sie und eilte hinaus.

Die Sonne zog sich beleidigt hinter die Novemberwolken zurück. Die ersten Regentropfen trommelten rhythmisch auf die Blechfensterbank. Der Wind spielte frech mit der Gardine.

Stefan Wunderlich wirkte auffällig schüchtern. Der Vierzigjährige war durchschnittlich groß und trug Brille, Jeans und Karohemd. Die Lederjacke hatte er ordentlich über einen Stuhl gehängt. Er öffnete die freie Kleiderschrankseite und begann, den Inhalt seiner Reisetasche pedantisch genau einzuräumen.

»Wie lange bist du schon hier, Ralle?«, versuchte Herr Wunderlich ein Gespräch zu beginnen. Nur an den kurz geöffneten Augen des Mitpatienten erkannte er, dass Ralf zuhörte und so redete er weiter: »Mann, dich hat es ja dieses Mal schlimm erwischt. Als wir uns vor drei Jahren hier getroffen haben, warst du gerade in einer manischen Phase. Heh, war das teilweise ein Spaß. Du hast die gesamte Station auf Trab gehalten. Weißt du noch, wie der dicke Bademeister in der Physiotherapie gemeckert hat?«, stand Stefan nun neben Roses Bett und schaute ihn grinsend an. »Du hast aus dem Bewegungsbad ein Wellenbad gemacht. Du hast dich auf der einen Seite im Becken an der Stange festgehalten und hast mit deinen Beinen wie ein Raddampfer getrampelt. Das Wasser schwappte wie bei einem Tsunami über den Rand. Die Mädels sind in ihren Badeanzügen wie aufgescheuchte Hühner schreiend herumgelaufen und alle Umkleidekabinen standen unter Wasser.« Wunderlich klatschte dem Bettlägerigen auf den Unterarm. »Und du Blödmann hast dich vor lauter Lachen gar nicht mehr eingekriegt.«

Ralf Rose zeigte keine Regung. Das Gespräch war ihm gleichgültig. Der neue Patient ging zum Schrank und sortierte weiter seine Sachen ein: »Ich bin hier, weil sie wieder da sind«, und Wunderlich blickte, auf eine Reaktion hoffend, zu seinem Mitpatienten hinüber. »Ich meine, die Stimmen sind wieder da. Dieses Mal kann ich sogar beweisen, dass es sie gibt. Sie hängen mit den Typen zusammen, die ihre Kameras hier versteckt haben.« Er schob die leere Tasche auf den Schrankboden und schloss die Tür. »Ralle, dir ist es bestimmt nicht aufgefallen, aber auch hier im Zimmer sind versteckte Kameras. Totale Überwachung. Ich habe Dr. Lampe erklärt, dass selbst die Klinik nichts davon weiß. Aber wenn die Hausleitung mitspielt, werden wir sie entlarven. Der Doktor hat seine Hilfe zugesagt. Dieses Mal ist er auf meiner Seite.« In Stefans Stimme schwangen Hoffnung und Erleichterung mit. Da Rose nichts sagte, schaute er nur noch stumm aus dem Fenster.

Der Regen hatte nun auch die hartnäckigsten Patienten aus dem Garten vertrieben. Der frische Wind zerrte an den restlichen, braunen Blättern. Was blieb, schien nur noch aus Grautönen zu bestehen.

Die Herren Wunderlich und Rose wurden über den Zimmerlautsprecher zum Mittagessen in den großen Speisesaal gerufen. Als die Männer den Raum betraten, deckten andere Patienten die Tische ein.

»Morgen hast du Küchendienst!«, knurrte eine Patientin mit grimmigem Gesichtsausdruck Ralf Rose an und knallte ihre Teller widerwillig auf den Tisch. Eine andere Patientin kam in den Saal gestürmt. Sie mochte Mitte dreißig sein und sah überdurchschnittlich gut aus. Ihr langes, schwarzes Haar fiel über die Schultern und das T-Shirt zeigte einen großzügigen Ausschnitt. Als sie den neuen Mitpatienten Stefan Wunderlich erblickte, eilte sie auf ihn zu: »Stevie, mein Schatz, das ist ja toll, dass du auch wieder hier bist! Wie habe ich dich vermisst!«, und sie fiel dem überraschten Mann hemmungslos um den Hals. Ihre Lippen suchten gierig die seinen und der schüchterne Patient konnte sich nicht von ihren viel zu kräftigen Umarmungen befreien.

Schwester Vera kam mit einem Tablett herein, sah sich um und rief: »Frau Sunder, Sie lassen sofort Herrn Wunderlich los, sonst bekommen wir beide riesigen Krach. Wir haben heute Morgen noch über dieses Thema gesprochen!«, und sie reichte das Tablett an einen sehr verängstigten jungen Mann weiter, der die Szene mit hochrotem Kopf verfolgt hatte.

Frau Sunder ließ Herrn Wunderlich los, kniff ihm frech in die Wange, hüpfte wie eine Zehnjährige um den Esstisch herum und begann, euphorisch zu klatschen und zu singen: »Und dann die Hände zum Himmel, kommt, lasst uns fröhlich sein …«

Nach dem Mittagessen gingen Herr Wunderlich und Herr Rose zurück in ihr Zimmer. Stefan ließ sich genüsslich auf sein Bett fallen. Ein Schläfchen nach dem üppigen Essen würde gut tun. Zum anderen verhielt sich sein Zimmernachbar Rose so, als hätte er ein Schweigegelübde abgelegt. Ralf zog die Vorhänge zu und schaute nur durch einen schmalen Spalt aus dem Fenster. Draußen sah es aus wie in seinem Innersten. Die Wolken waren mittlerweile eher schwarz als grau. Die Regentropfen fielen schwer wie Wasserbomben und zerplatzten in tausend kleinen Spritzern auf der Fensterbank. Die letzten Blätter der Bäume, die der Wind nicht herunterzerren konnte, wurden nun ebenfalls mit Tropfen bombardiert.

Das monotone Rauschen lockte Stefan in den Dämmerschlaf. Er glaubte, schon wieder unwirkliche Stimmen zu hören. Doch tatsächlich war es eine menschliche Stimme. Die leise Stimme von Ralf Rose.

»Meine manische Phase gefällt mir besser«, sah Ralf durch einen Spalt zwischen den Vorhängen den segelnden Wolken nach und seine Lippen zeigten den Ansatz eines spöttischen Lächelns. »Das ist ein völlig anderes Leben. Man ist nur gut drauf. Man hat Energie ohne Ende.« Dann verfinsterte sich sein Blick.

»Aber diese Normalen kommen damit nicht klar, Stefan, ich hatte eine so wunderbare Frau kennen gelernt. Britta hieß sie und war Sekretärin in einer Maschinenfabrik. Wir sind tanzen und essen gegangen, sind Fahrrad gefahren und haben Ausflüge gemacht. Sie mochte meinen trockenen Humor und mein souveränes Auftreten. Wir kamen tagelang nicht aus dem Bett. Ich war wirklich in sie verliebt. Von mir aus hätte das immer so weitergehen können. Mit einem Schlag wollte sie nicht mehr. Angeblich war sie völlig fertig. Sie wollte eine Beziehungspause, also bin ich gegangen.«

Rose schwieg genauso plötzlich, wie er seine Erzählung begonnen hatte. Er beobachtete, wie die frechen Vögel im Park eine Regenpause nutzten, um die Würmer zu fangen, die verärgert aus ihren überschwemmten Löchern guckten.

»Ich kann es nicht verstehen«, nahm Ralf seine Gedanken wieder auf, »in meiner manischen Phase fliegen die Frauen nur so auf mich, um kurz danach sofort alles hinzuwerfen. Es ist jedes Mal das Gleiche.«

Rose zog die Vorhänge des Fensters ganz zu und legte sich auf sein Bett.

Stefan konnte sich daran erinnern, dass Ralf in seiner manischen Phase ein völlig anderes Wesen hatte. Es war schon fast beneidenswert, wie unbeschwert und hemmungslos dieser Mann dann lebte. Er zeigte keine Furcht, kannte scheinbar keine Sorgen und verhielt sich nur himmelhoch jauchzend. Wie angenehm musste es sein, mal keine Phobien zu haben.

Stefan wurde aus seinen Gedanken gerissen, da Ralf plötzlich weitersprach: »Nach der Manie kam der scheiß Absturz in die Depression. Ich will das alles nicht mehr. Ich habe alles gesehen und kennen gelernt. Weiß Gott, habe ich das! Die Manie ist der Himmel, die Depression ist die Hölle! Es gibt keine normale Frau, die mich mit diesen Schwankungen erträgt. Also kommt die Einsamkeit hinzu. Es gibt keinen Arbeitgeber, der diese Berg- und Talfahrt mit trägt. Also kein Job, nur sozialer Rand. Was soll daran lebenswert sein?«

Stefan wusste darauf keine Antwort und schwieg…

02 LEBENSWENDE

Auf dem alten Schreibtisch des spartanisch eingerichteten Untersuchungszimmers stand ein Computermonitor der ersten Generation mit einer abgegriffenen Tastatur. An dem nostalgischen Telefon hatte der alte Herr Siemens vermutlich noch selbst geschraubt. Die verdiente Untersuchungsliege aus den siebziger Jahren versteckte sich unter gestärkten, weißen Laken. Die Patientin Conni Helmer versuchte auch jetzt, gefasst zu bleiben und den bevorstehenden, dunklen Botschaften mit Vernunft und Beherrschung zu begegnen. Die kleine Frau schob ihre dicke Brille höher und sendete ihre Hoffnungen und Gebete zu dem alten Kirchturm hinaus, der sich hinter dem Fenster in den grauen Himmel erhob. Der Wetterhahn konnte sich heute für keine Richtung entscheiden. Frau Helmers knetende Finger verrieten die innere Anspannung. Sie war nun achtundvierzig Jahre alt. Die Pölsterchen, die sie sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte, wirkten auf ihr Nervenkostüm wie eine schützende Rüstung. Ein bis zwei Stückchen Schokolade hatten ihren Körper täglich angemessen mit Glücksbotenstoffen versorgt. Conni störte es auch nicht, wenn es ab und zu eine Überdosis an Glück gab. Ja, im Großen und Ganzen hatte sie auch allen Grund zum glücklich sein. Ihr Sohn Florian aus erster Ehe war nun achtzehn Jahre alt und würde im nächsten Jahr sein Abitur abschließen. Ein Studium im Fachbereich BWL sollte folgen. Damit trat er in die Fußstapfen seines Adoptivvaters Bernd Helmer. Diese kleine Familie zeigte in ihren Mitgliedern ein extremes Kontrastprogramm. Conni war klein und rundlich, Bernd wirkte zerbrechlich dünn und Florian stach als breitschultriger Hüne von 1,90 m völlig heraus. Die Länge des jungen Mannes entsprach den Genen seines verstorbenen Vaters.

Frau Helmer wurde aus ihren Gedanken gerissen, da sich die junge Assistenzärztin Lena Walters räusperte. Sie las im Monitor das Krankenblatt der Patientin. Bei dem aktuellen Datum, November 2009, musste sie an den Jubiläumstag der Wende in der deutschen Geschichte denken. Das Thema wurde seit den frühen Morgenstunden permanent in den Radionachrichten heruntergebetet. Eine gute Gelegenheit für alle Politiker, sich zu profilieren.

Der jungen Frau lief beim Anblick der alarmierenden Laborwerte ihrer Patientin ein Schauer über den Rücken. Für Frau Helmer gab es nun auch eine Wende. Leider keine zum Guten. Frau Walters blickte der Patientin forschend ins Gesicht und fragte: »Wie fühlen Sie sich im Moment?«

»Schlapp, so wie in den letzten Wochen überhaupt. Normalerweise hatte ich immer eine gesunde Gesichtsfarbe. Doch in der letzten Zeit wurde ich häufig darauf angesprochen, dass ich

blass sei und dunkle Ringe unter den Augen hätte. Das Gefühl, so abgespannt zu sein, hatte ich auf mein Alter oder die hormonelle Umstellung bezogen.«

»Daraufhin sind Sie zu ihrem Hausarzt gegangen?«

»Ja, der hat Blut und Stuhluntersuchungen vorgenommen und mich aufgrund der schlechten Ergebnisse hier in die Klinik geschickt. Jetzt hoffe ich mal, dass da nichts Schlimmes auf mich zukommt.«

»Ich würde Ihnen gerne sagen, dass Sie völlig gesund sind. Aber ich denke, dass Ihnen Ihr eigenes Befinden signalisiert, dass etwas nicht in Ordnung ist. Verantwortlich für Ihr Unwohlsein ist eine Anämie, eine Blutarmut. Die roten Blutkörperzellen halten sich im gesunden Zustand etwa 110 Tage. Bei ihnen, Frau Helmer, werden diese leider schon nach wenigen Tagen abgebaut. Da die roten Blutkörperchen nun zu wenig Sauerstoff transportieren, fühlen Sie sich zurzeit geschwächt. Wir schlagen Ihnen vor, den Mangel mit einer Blutkonserve auszugleichen.« Frau Walters schaute auf den Monitor und erklärte weiter: »Gleichzeitig haben sich Lymphome gebildet. Das sind vergrößerte Lymphknoten, die auf eine Erkrankung ihres Lymphsystems hinweisen. Wenn Sie Fragen haben oder wenn ich etwas wiederholen soll, dann sagen Sie mir das bitte.«

»Aber«, verschlug es Frau Helmer kurzfristig die Sprache und sie setzte erneut an, »aber wenn ich das richtig verstehe, dann sind diese Lymphome doch eine Art Krebs, oder nicht?«

»Lymphome sind vergrößerte Lymphknoten, in denen sich zu viele bösartige Lymphzellen gesammelt haben.«

Frau Helmer durchlief ein Schauer und sie fragte spontan:

»Muss ich schon bald sterben?«

»Ich denke, für Sie kommt eine Chemotherapie in Frage und danach fühlen Sie sich wieder gesund«, versuchte die Ärztin beruhigend zu wirken. »Jetzt machen Sie sich nicht übermäßige Sorgen. Wir haben große Erfahrungen mit dieser Erkrankung und die Behandlungen sind sehr erfolgreich.« Dann wechselte sie rasch das Thema: »Frau Helmer, ich muss noch ein bisschen über Ihre Familie und ihre Lebensumstände erfahren.«

Offensichtlich war Frau Helmer erleichtert, aus dem dunklen Thema herauszukommen und über ihre Liebsten sprechen zu

können. Also berichtete sie von dem frühen Tod ihres ersten Mannes, der mit Mitte zwanzig an einem Herzinfarkt gestorben war. Sie erzählte, wie sie danach Bernd Helmer, der unter einer extremen Muskelerkrankung litt, kennen gelernt hatte. Trotz seiner Behinderung war er für Connis Sohn bis heute ein wunderbarer Vater, der den Adoptivsohn durch das Abitur pauken und auch noch durch das Studium begleiten würde.

»Was für eine Muskelerkrankung hat Ihr Mann?«

»Es ist eine Muskeldystrophie, die in Schüben voranschreitet.«

»Und wie kommt Ihr Mann im Augenblick damit zurecht?«, machte sich Frau Walters Notizen.

»Nun ja, Bernd ist ein erstaunlich geduldiger und willensstarker Mann, der nie klagt. Das Laufen fällt ihm mittlerweile sehr schwer. Der Bewegungsablauf ist unsicher. Bernd ist in der letzten Zeit bereits mehrmals gestürzt und hat sich dann im Gesicht verletzt.«

»Ist Ihr Mann berufstätig?«

»Ja sicher! Das würde er sich nie nehmen lassen. Er ist Unternehmensberater und sehr erfolgreich«, und endlich huschte ein kleines Lächeln über den Mund der Patientin.

»Sind Sie auch berufstätig?«

»Ich bin gelernte Konditorin. Als Flo geboren wurde und ich meinen ersten Mann während seiner Herzerkrankung pflegen musste, gab ich den Beruf auf. Nach dem Tod meines ersten Mannes heiratete ich Bernd. Da er aufgrund seiner Behinderung im Haus und Garten nicht helfen konnte, wollte er auch nicht, dass ich zusätzlich arbeiten gehe«, und sie ergänzte stolz:

»Aber ich engagiere mich in unserer Kirchengemeinde.«

»Frau Helmer, ich denke, die wesentlichen Dinge haben wir nun besprochen. Auch der Oberarzt wird noch zu Ihnen kommen.« Die Ärztin legte ihre Notizen beiseite und nahm liebevoll die Hände der Patientin. »Als nächstes möchte ich, dass Sie auch mit unserem Psychologen ein Gespräch führen.«

Frau Helmer hob die Brauen: »Halten Sie mich etwa für bekloppt?«, und sie zog eine beleidigte Miene.

»Aber ganz bestimmt nicht, Frau Helmer, doch wenn das Schicksal einen Menschen sehr, sehr heftig belastet, dann sollte man sich zeigen lassen, wie man diese Lasten so verarbeitet, dass die Seele keinen Schaden nimmt«, die Ärztin schmunzelte.

»Sehen Sie, jeder Politiker, Manager und Talkmaster lässt sich heutzutage coachen. Warum sollte das dem Otto-Normal-Verbraucher nicht auch zustehen?«

Conni sah die Ärztin immer noch misstrauisch an. Dann zuckte sie mit den Schultern: »Also gut! Wenn Sie meinen, dass das sein muss.«

Beide erhoben sich und traten in den Flur hinaus. Vor dem Arztzimmer saßen bereits mehrere andere Patienten und starrten die junge Ärztin ungeduldig an.

»Der Nächste kann in meinem Zimmer schon einmal Platz nehmen«, lächelte Frau Walters und verabschiedete Conni Helmer.

Die kleine Frau schlurfte mit schleppenden Schritten in Richtung Aufzug.

Kurz nachdem sie einen Knopf gedrückt hatte, öffneten sich wie von Geisterhand die Schiebetüren. Im Lift stand eine Reinigungsfrau mit Kopftuch hinter ihrem Putzwagen. Sie rollte genervt mit den Augen, da der Aufzug schon wieder nicht bis zu ihrer gewünschten Etage durchgefahren war.

Frau Helmer trat ein, drückte den Knopf für ihre Station und die Türen schlossen sich knarrend. Als sie sich wieder öffneten, drängten mehrere Personen in den Fahrstuhl. Eine blonde Schwester begleitete einen seltsamen Mann, der neugierige Blicke auf sich zog. Der unrasierte Mittvierziger wirkte völlig gleichgültig.

Die fremde Schwester sprach Frau Helmer einfühlsam an:

»Ich bin Schwester Vera. Sie sehen sehr blass aus. Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich ihnen helfen?«

Conni Helmer senkte den Blick und meinte mit zitternder Stimme: »Nein, danke. Sehr nett von Ihnen. Ich habe nur gerade etwas Schlimmes erfahren. Es geht gleich wieder.«

Mit einem Ruck hielt der Aufzug im nächsten Stockwerk. Schwester Vera legte der kleinen Frau mitfühlend ihre Hand auf die Schulter: »Ich wünsche Ihnen alles Gute«, wandte sich um und zog den unrasierten Herrn mit dem leeren Blick mit sich hinaus. »Kommen Sie, Herr Rose, wir sind da!«

Ein sehr alter Herr im Bademantel trat ein und drückte einen Knopf. Während sich die Türen schlossen, nickte er mit dem Kinn hinter dem Patienten Rose her und grinste dann Frau Helmer an: »Ham se den gesehen? Der is von der Beklopptenstation. Datt is son Taugenichts, der sich auf unsere Kosten hier durchfüttern lässt. Datt hätt et früher nich gegeben«, und er drängte umgehend auf Zustimmung. »Oder sind Sie etwa anderer Meinung?«

Frau Helmer antwortete nicht und sah nur verlegen auf ihre Füße. Endlich hielt der Lift vor ihrer Station und sie eilte in ihr Zimmer.

03 ENDSTATION S-BAHN

Da ihre Kollegin aufgrund einer Magen-Darm-Grippe zuhause bleiben musste, hatte Schwester Vera heute geteilten Dienst. Ab November breiteten sich diese ansteckenden Erkrankungen wieder epidemieartig aus und machten auch vor dem medizinischen Personal keinen Halt.

Vera blickte beim Abendessen im Speisesaal der geschlossenen, psychiatrischen Station zum freien Platz neben Herrn Wunderlich: »Wo ist Ihr Zimmerkollege Rose?«

Herr Wunderlich las gerade laut aus der Tageszeitung vor:

»Montag, 9. November 2009. Vor zwanzig Jahren fiel die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte…« Stefan wurde wieder deutlich von Schwester Vera angesprochen: »Herr Wunderlich, ich habe Sie gerade gefragt, wo Ihr Zimmerkollege Ralf Rose steckt?«

Der Patient räusperte sich verlegen: »Er wollte noch einmal zur Toilette. Mehr weiß ich auch nicht!«

Währenddessen hielt Ralf Rose einer jungen Küchenhilfe freundlich die Eingangstür der geschlossenen Abteilung auf, da sich deren Geschirrwagen bei der Durchfahrt verkeilt hatte. Zwei Teller waren scheppernd zu Boden gefallen und die unerfahrene Mitarbeiterin wurde ganz nervös. Ralf Rose wirkte mit sonorer Stimme und einem verständnisvollen Lächeln beruhigend auf sie ein.

Sie lächelte dankbar zurück, schob den Geschirrwagen in den Stationsflur hinein und der Patient schloss hinter ihr von außen die Tür.

Rose lief durch das leere Treppenhaus zum Erdgeschoss und durchquerte mit langsamen Schritten völlig unauffällig die Eingangshalle des Krankenhauses. In den Sitzgruppen waren Patienten und Angehörige in Gespräche vertieft. Einige hatten Tränen in den Augen, andere hielten sich tapfer. Kleine Kinder rollten gelangweilt das mitgebrachte Obst über den Tisch. Rose grüßte verständnisvoll lächelnd die gestresste Dame an der Pforte und passierte die Ausgangstür. Die geheizte Luft des Gebäudes flüchtete hinaus in die Herbstkälte. Rose zog seine Jacke höher zu und stülpte seinen Kragen nach oben. Der Wind war unverschämt frech geworden. In den Fensternischen begann er zu heulen.

Der Patient blickte sich noch einmal zu dem Klinikgebäude um, dessen viele sterile, kalte Lichter das frühe Abenddunkel erhellten. Sein Zifferblatt zeigte 18:45 Uhr. Die Sträucher und Bäume hatten ihre Blätter fast alle abgeworfen und warteten in ihrer trostlosen Nacktheit auf die eiskalten Wintertage. Die Straßen und Wege waren regennass. Ralf Rose schritt langsam und gleichmäßig mit gesenktem Haupt vor sich hin. Er wich keiner Pfütze aus, sondern ging unaufhaltsam und direkt seinem Ziel entgegen. Er lief und lief. Autos rauschten vorbei und spritzten achtlos das Regenwasser auf die Gehwege. Bald endeten die grauen Fassaden der Mietshäuser. Die Hauptstraße führte aus dem Ort hinaus und bewegte sich in einem langen Bogen auf ein Tal zu, das in den wärmeren Jahreszeiten zu Spaziergängen in üppiger Natur einlud.

Aus einer Gaststätte schallte moderne Musik und ausgelassenes Gelächter. Die Fröhlichkeit anderer Menschen interessierte Rose nicht. Hinter der Kneipe bog er in einen Weg ein, der zu dem Bahngleis führte, das ebenfalls dieses lange Tal durchquerte. Rose blickte nachdenklich zum schwarzen Novemberhimmel hinauf. Die turmhohen Wolken verbargen die Sterne und das Mondlicht. Die letzten Blätter schwebten wie Gespenster vom Wind getragen durch die Luft und strichen über sein Gesicht. Der kalte Wind spielte mit dem Haar und das Rauschen ließ die in der Dunkelheit verborgenen Bäume erahnen. Die

Herbstluft verströmte einen Modergeruch. Rose ging weiter und betrat eine Fußgängerbrücke.

In fünf Minuten, gegen 20:20 Uhr, würde Ralfs S-Bahn kommen. Ihm blieb noch etwas Zeit. Er erreichte den höchsten Punkt der Fußgängerbrücke, die sich über das Gleis der Bahn wölbte. Das Brückengeländer hatte die Höhe von mehr als einem Meter. Ralf schwenkte ein Bein nach dem anderen darüber, setzte sich auf den Handlauf und hielt sich mit den Füßen in den senkrechten Stäben fest. Genau unter ihm blinkten die Schienen im Licht einer Laterne wie poliertes Metall.

Neben dem Bahngleis murmelte das eisige Wasser eines Bachs, der sich in der abendlichen Dunkelheit verborgen hielt. Bevor Ralf Rose sich schon bald fallen lassen würde, streiften seine Gedanken noch einmal die wichtigsten Stationen seines Lebens.

2.

Das ganz normale Leben

01 SUMMA CUM LAUDE

Über dem Haupteingang des Gymnasiums prangte ein großes Transparent mit der Aufschrift ›Abi-Tour 1983‹. In der ersten Reihe der Aula saßen die Honoratioren, wie zum Beispiel der Bürgermeister, seine Stellvertreterin, wichtige Sponsoren, die Lokalpresse und die Schulleitung. In den folgenden Reihen murmelten die stolzen Eltern der diesjährigen Abiturienten. Dazwischen verteilten sich die Jungen und Mädchen, die nun endlich nach dreizehn Schuljahren erfolgreich das Gymnasium verlassen würden, um neue Lebenswege zu erkunden.

Der Oberstudiendirektor Herbert Schunke hatte eine flammende Rede gehalten und den Stolz über seine ›schöne Oberprima‹ zum Ausdruck gebracht. Jubelrufe und Applaus schallten durch die Aula.

Ralf Rose, der unverschämt gut aussehende Stufensprecher, ging nun ans Mikrophon. Er trat wie immer erstaunlich selbstsicher und ruhig auf. Seine blonden Locken bedeckten die Ohren. Die blauen Augen funkelten scharfsinnig und etwas provokant. Um seine Lippen spielte ein geheimnisvolles Lächeln.

Ralf hatte sich in Schale geworfen. Er trug zu einer schwarzen Jeans ein graues Sakko und die auffällige Krawatte war pedantisch korrekt gebunden. Ralfs Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen und er hob seinen rechten Arm zum Zeichen, dass er mit seiner Rede beginnen wollte.

Zahlreiche Mädchenaugen strahlten den großen, schlanken Jungen ungeniert an. Silvia Becker, eine schwarzhaarige Schönheit mit auffallend weiblichen Rundungen, spürte mit Genugtuung, dass Ralf seit einiger Zeit ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie beobachtete sehr genau das Verhalten ihrer Konkurrentinnen und versuchte, den Blick ihres Favoriten einzufangen.

Langsam wurde es ruhig und Ralfs sonore Stimme erzeugte bei einigen jungen Damen eine Gänsehaut.

»Als Erstes möchte ich mich unseren geladenen Gästen und denen vorstellen, die mich noch nicht kennen. Mein Name ist Ralf Rose und diese tollen jungen Leute hier haben mich zu ihrem Stufensprecher gewählt.« Klatschen, Pfeifen und zustimmendes Grölen erschallte aus den Reihen der Abiturienten. Rose fuhr fort: »Ich darf Sie und unsere Eltern im Namen der Schule und der Schüler recht herzlich begrüßen. Als Zweites richte ich nun unseren Dank an unsere Lehrer und Lehrerinnen, die mit unermüdlicher Geduld versucht haben, ihr Wissen an uns weiterzugeben. Mit welchem Ergebnis das im Einzelnen gelungen ist, wird unser Stufenlehrer, Herr Böhme, im Anschluss berichten. Er stellt Ihnen die Schülerinnen und Schüler vor, die mit Bestnoten abgeschnitten haben. Doch bevor die Laudatio beginnt, erzähle ich Ihnen einige Erlebnisse aus unserer Schulzeit. Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut und eine Abi-Zeitung erstellt, die Sie, liebe Gäste, am Ende unserer Veranstaltung hoffentlich käuflich erwerben.« Ralf machte eine Kunstpause, grinste frech und meinte: »Nein, das war ein Scherz! Ich hoffe das nicht, sondern ich weiß, dass Sie das auf jeden Fall tun werden, dass Sie uns die Zeitung aus den Händen reißen werden«, und seine Mitschüler klatschten und pfiffen wieder zustimmend.

»Der Erlös dient der Finanzierung unseres Abi-Balls«. Er hielt ein Exemplar der Zeitung hoch, auf dem in großen Lettern das Motto ›Abi-Tour 1983‹ stand. Rose schlug die Zeitung auf und las die schönsten Anekdoten aus dem Schulalltag vor. Zwischenzeitig fand er mehrmals den Blickkontakt zu Silvia, die ihn nicht mehr aus den Augen ließ. Sie hatte sich auf der letzten Klassenfete beim Tanzen zu Ralf hingezogen gefühlt. Kein Kuss, keine Berührung hatte es zwischen ihnen bisher gegeben. Da bestand nur gesteigerte Sympathie. Und nun? Dort oben stand dieser junge Mann, der unverschämt selbstsicher, erstaunlich wortgewandt und bestechend anziehend wirkte. Welcher andere Schüler wäre nicht angesichts so vieler Eltern und Würdenträger vor Lampenfieber im Erdboden versunken? Rose hingegen strotzte vor Verwegenheit und Kraft… und Silvia fühlte, dass sich ihre gesteigerte Sympathie in diesem Augenblick in Verliebtheit verwandelte.

Als weiterer Programmpunkt spielte die Schul-Jazz-Band das Instrumentalstück ›Take Five‹. Währenddessen hörte man im Hintergrund Gemurmel, Lachen, Stühlerücken und Nasenschnäuzen. Silvia lief auf Ralf zu, blieb genau vor ihm stehen und blickte zu dem hochgewachsenen jungen Mann auf. Mit funkelnden Augen fragte sie: »Ralle, du warst fantastisch! Sehen wir uns nach der Veranstaltung?«

Er lächelte sie charmant an: »Würde ich gerne, Silvia, aber mein Vater hat irgendetwas mit mir vor. Ich weiß tatsächlich nicht, worum es geht. Was hältst du davon, wenn ich dich heute Abend abhole? Bei meinem Notenschnitt leiht Vater mir vielleicht seinen Wagen. Ich rufe dich auf jeden Fall an, okay?«

»Ich freue mich schon darauf. Also bis später«, kniff sie ihm ein Äuglein und ging mit zufriedenem Lächeln zu ihrem Platz zurück.

Es wurde langsam stiller und Silvias Mutter flüsterte: »Wer ist der nette junge Mann?«

»Das ist Ralf. Aber jetzt hör zu«, legte Silvia den Finger auf ihre Lippen und nickte mit dem Kinn zur Bühne.

Der Stufenlehrer, Oberstudienrat Wilhelm Böhme, betrat die Bühne der Aula. Der humorvolle Mann trug einen dunklen Anzug und hielt eine edle Mappe in den Händen. »Silencium!«, bat er um Ruhe. »Auch ich begrüße unsere Gäste im Namen unseres Gymnasiums recht herzlich. Aber im Mittelpunkt unserer Veranstaltung stehen heute unsere Schülerinnen und Schüler des Abiturjahrgangs 1983.« Dann erklärte Böhme die Bedeutung des Abiturs an sich und dessen Wert in der Gesellschaft. Er berichtete über die derzeitige Schulsituation und beklagte sich bei den anwesenden Kommunalpolitikern über fehlende Mittel, die eine optimale Wissensvermittlung immer schwerer machten. Böhme hob hervor, dass diese jungen Menschen hier in Kürze die Pfeiler der Gesellschaft darstellen würden.

Als sich die ersten Hände vor die gähnenden Münder legten, bat Böhme die drei Jahrgangsbesten auf die Bühne: »Ralf Rose, Marie Stellter und Volker Klein, kommen Sie bitte zu mir!«

Klatschen und Pfeifen begleiteten den Auftritt der drei jungen Leute. Der Oberstudienrat zog einige Dokumente aus seiner Mappe und wandte sich den drei Schülern zu: »Ralf Rose ist der Jahrgangsbeste. Er hat einen Notenschnitt von 1,0 erreicht und das nenne ich ›summa cum laude‹! Herzlichen Glückwunsch, Ralf. Die Schule ist stolz auf Sie!«

Die Stuhlreihen klapperten und alle Zuhörer erhoben sich von ihren Plätzen. Pfeifen und Klatschen ertönte. Ralfs Wangen wurden ungewohnt rot. Dann wiederholte sich das Procedere bei Nummer zwei und drei.

Nach den Gratulationen und Lobhudeleien kamen die Kommunalpolitiker zu Wort. Der Bürgermeister hielt mit übertriebener Gestik und Mimik eine wortgewaltige Rede und hatte nach einer Viertelstunde im Grunde nichts gesagt. Aus reiner Höflichkeit gab es für ihn einen verhaltenen Applaus. Immer öfter schauten die Schüler gähnend auf ihre Uhren. Doch die Schule war gut darauf vorbereitet und endlich gab es zur Belebung Sekt, Cola und duftenden Kaffee.

02 OBEN OHNE

Hans-Jürgen Rose besaß ein erfolgreiches Immobilienmaklerbüro mit mehreren Angestellten. Der ehemalige Banklehrling hatte laut seines Vorgesetzten nicht das Zeug gehabt, um in dem renommierten Geldinstitut Karriere zu machen. Rose gehörte nämlich nicht zu den geschmeidigen Dauerlächlern, die die Kunden einwickeln konnten. Nein, er war nur clever, fleißig und mutig. Wenn Hans-Jürgen heute mit 44 Jahren Bilanz zog, konnte er zufrieden sein. Er lebte mit seiner zwei Jahre jüngeren Frau Uschi und Sohn Ralf in einem stattlichen Bungalow mit Pool. Ein großes Mietshaus mit zwanzig Wohnungen brachte fette Zusatzeinnahmen und zur Erholung diente das Ferienhaus in Neuharlingersiel an der Nordseeküste. Hans-Jürgen genoss die große Genugtuung, dass sein ehemaliger Chef dieses Ziel nicht erreicht hatte.

Frau Rose schätzte elegante Kleidung und sah für ihr Alter sehr attraktiv aus. Die langen rötlichen Haare umrahmten ein schönes Gesicht mit blauen Augen.

Uschi Rose kam mit den Wesensschwankungen ihres Mannes nur mühsam zurecht. Es gab Zeiten, da lebte Hans-Jürgen wie ein Workaholiker. Dann folgten Phasen, in denen ließ er sich total hängen. Finanziell spielten diese Schwankungen Dank ausreichender Rücklagen kaum eine Rolle. Dass dieser erfolgreiche Mann keinen Mittelweg fand, verstand Uschi bei bestem Willen nicht. Also kriselte es während der hyperaktiven oder der gleichgültigen Phase ihres Mannes gewaltig im Hause Rose. Doch heute hatte der einzige Spross der Familie mit ›summa cum laude‹ sein Abitur bestanden und Uschi genoss ihr Bad in der heilen Welt. Die Junisonne strahlte von einem tiefblauen Himmel. Hans-Jürgen strahlte ebenfalls. Sein Sohn würde in das Finanzwesen einsteigen und es allen so richtig zeigen! Er würde eines Tages das Geschäft des Vaters übernehmen und mit Sicherheit noch weiter ausbauen.

Herr Rose wartete sehnsüchtig darauf, dass Ralf sich endlich aus der aufgekratzten Schülertraube löste und den Weg in seine väterliche Umarmung finden würde. Ralf ging jedoch zuerst grinsend auf seine Mutter zu und drückte sie liebevoll an sich. Sie überhäufte ihn mit Küssen, zückte bald darauf ein Taschentuch und befreite die Wangen des jungen Mannes von ihrem Lippenstift.

Vater Rose drückte dem Sohn kräftig die Hand. Er flüsterte Ralf ins Ohr: »Zuhause wartet eine Überraschung auf dich. Die wird dich umhauen!«

Als Familie Rose zum Parkplatz schritt, hob Ralf immer wieder die Hand und grüßte auf Zuruf seine Mitschüler. Alle Eltern und Schüler waren in Aufbruchstimmung. Hier und dort wurde übermütig gehupt.

Silvia stand neben dem Wagen ihrer Eltern und rief: »Ralle, du denkst dran?«

Der junge Mann nickte und setzte sich auf den Rücksitz des väterlichen Mercedes. Am frühen Nachmittag rollte der schwere Wagen über den knirschenden Kies auf seine Garage zu. Hinter ihm schloss sich automatisch das schmiedeeiserne Tor zwischen der zwei Meter hohen Grenzhecke. Der weiße Bungalow reflektierte die Strahlen der heißen Sommersonne und die majestätischen Bäume warfen erfrischend große Schatten. Uschis duftende Blumenbeete leuchteten in allen Farben.

»Ralf, mach mal das Garagentor auf«, lächelte Vater Rose mit erwartungsvoller Miene.

»Warum denn, Dad? Du hast eine Fernbedienung!«, verhielt sich Ralf gespielt cool, um die Spannung noch zu erhöhen.

»Nun mach schon!«, drängte Hans-Jürgen und wirkte ungeduldig. Auch Mutter Uschi stimmte nun mit ein: »Schatz, du tust jetzt sofort, was Dad dir sagt, okay?«

Ralf unterdrückte ein Lächeln und stieg aus dem Wagen. Selbstverständlich war ihm klar, dass hinter dem Doppelgaragentor etwas auf ihn wartete. So etwas ließ sich vor einem Neunzehnjährigen kaum verheimlichen. Aber was das genau sein würde, wusste Ralf nicht. Sein großer Traum war ein eigener Wagen. Hin und wieder hatte er seinem Vater Autozeitungen mit entsprechenden Bildern vorgelegt. Vater Rose hatte es stets vermieden, seinen Sohn mit Geldzuwendungen zu verwöhnen. Es gab ein kleines Taschengeld und für Extrawünsche musste Ralf kellnern gehen. Schon das Kleinkraftrad hatten die Eltern ihm verboten, da sie um die Sicherheit des Einzelkindes fürchteten. Vielleicht hatte sich der alte Herr durchgerungen und einen alten VW-Käfer angeschafft?

Der junge Mann tippte an der kleinen Wandtastatur der Garage einen PIN-Code ein und das elektrisch betriebene Tor setzte sich ratternd in Bewegung. Die Eheleute Rose waren ebenfalls ausgestiegen und beobachteten aufgeregt den stolzen Nachwuchs. Dann hallte endlich ein Freudenschrei durch die Siedlung.

»Ein Alfa Romeo! Ist der für mich?«, sah Ralf ungläubig zwischen seinen Eltern und dem gelben Cabrio immer wieder hin und her.

Uschi nickte stumm und kleine Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln.

Hans-Jürgen ging auf seinen Sohn zu und legte ihm den Arm um die Schultern: »Na, gefällt er dir?«

»Ich kann es nicht ganz glauben«, und er strich mit seinen Händen über den Kotflügel bis zur Windschutzscheibe. Dann umarmte er seinen Vater und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Hans-Jürgen fühlte sich gerührt, da solch ein Kuss in dem Alter seines Sohnes die Ausnahme war. Er setzte sich voller Genugtuung auf den Beifahrersitz.

Endlich saß auch Ralf hinter dem Lenkrad seines neuen Autos, drehte den Zündschlüssel und ließ den Motor im Leerlauf mehrmals aufheulen. Schon knirschte der Kies unter den Rädern und Mutter Uschi winkte ihnen besorgt nach.

Um 18 Uhr hupte vor dem Reihenhaus der Familie Becker ein Wagen und Silvia blickte ungläubig durch die Gardinen ihres Zimmerfensters. Sie schaute noch mal und dann zog ein Lächeln auf ihren Mund. Sie schnappte nach ihrer Handtasche, ergriff das neueste Jäckchen und stürmte durch den Hauseingang. »Ich bin mit Ralf weg!«, hörte Mutter Becker, während die Tür ins Schloss fiel.

Der junge Mann öffnete ihr wie ein Gentleman die Beifahrertür: »Einsteigen, Prinzessin, auf zur Jungfernfahrt!«

»Wahnsinn, ist das dein Wagen?«, strahlte sie Ralf an und strich über das zusammengefaltete Verdeck des Cabriolets.

Unterwegs erzählte Ralf, wie ihn diese riesige Überraschung zuhause erwartet hatte. Dann fragte er: »Und was hat dir dein Abi eingebracht?«

»Eine super Stereoanlage. Musst du dir unbedingt mal anhören.«

»Oh, war das gerade eine Einladung in dein Privatgemach?«, lachte Ralf und bog in die Landstraße ein.

Der Motor des Zweisitzers heulte auf und der Wind griff in Silvias Haar. Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein Haargummi hervor, mit dem sie ihre schwarzen Locken hinter dem Kopf zusammenband.

»Na, gefällt es dir, so oben ohne?«, meinte Ralf verschmitzt.

»Du meinst, so ohne Verdeck? Ja, es ist toll. Es hat etwas von Freiheit und Abenteuer.«

Ralf beschloss, zum zehn Kilometer entfernten Hövelstausee zu fahren. Die Straße der Hügellandschaft war sehr kurvenreich. Sie schlängelte sich zwischen Wäldern und Feldern hindurch, die ihre anregenden Düfte in die warme Abendluft atmeten.

---ENDE DER LESEPROBE---