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Benno Holzapfel ist Mitte vierzig, etwas korpulent und arbeitet als Lektor in einem großen Verlagshaus. Er bekommt überraschend von seiner Verlegerin den Auftrag, vertretungsweise einen Kriminalroman für die erfolgreiche, hauseigene Krimireihe zu schreiben. Der bisherige Autor wird für lange Zeit ausfallen. Es herrscht Termindruck. Das Erfinden eines spannenden Krimis ist für den eher schüchternen Benno neu. Unter Termindruck erscheint ihm das erst recht unmöglich. Plötzlich bringt ihn das zufällig mitgehörte Gespräch einiger Verlagskolleginnen auf eine Idee. Rasch füllt sich sein Manuskriptentwurf. Nicht nur das. Entsprechend seinem Roman gibt es bald ein erstes Opfer. Es bleibt nicht dabei. Als Benno unter Verdacht gerät, entzieht er sich den polizeilichen Ermittlungen ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel: Drehbuch für einen Täter
Autor: Dieter Kleffner
Covermotive: Pixabay
Cover designed by Michael Frädrich
Lektorat: Renate Habets
Originalausgabe: Juni 2024
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-144-1
© Copyright Edition Paashaas Verlag
www.verlag-epv.de
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.
Sollten Ereignisse oder Namen im Buch erscheinen, welche auf jemanden zutreffen, so ist das ungewollter Zufall.
Die Haftung jeglicher Art wird abgelehnt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Drehbuch für einen Täter
Thriller
Widmung:
Für Manuela, die Krimis liebt
und selbst gern schreibt
(Dieter Kleffner)
Die Totenstille wirkte unheimlich. Nur hin und wieder platschte ein Wassertropfen aus dem Hahn. Die große Wanne war fast randvoll. Schaum bedeckte die Wasseroberfläche wie ein Teppich. Zwei kräftige Knie ragten heraus. Tropf … Tropf … Tropf … Tropf … Das monotone Platschen erinnerte an eine tickende Uhr, die Unheil ankündigt. Die Zeit verstrich: Eine Minute … zwei Minuten … drei Minuten …
Jäh schoss ein massiger Oberkörper aus dem Schaumteppich hervor. Wie ein Fisch an Land rang der Mann nach Luft. Sein gequältes Gesicht und das schaumbedeckte Haar erinnerten an die Fratze in einer Geisterbahn.
Er riss den rechten Arm hoch. Ein gewaltiger Wasserschwall flutete über den Rand und bildete auf den Bodenfliesen eine große Pfütze. Mit dem Blick auf die wasserdichte Stoppuhr verwandelte sich das verzerrte Gesicht zu einem strahlenden Siegerlächeln.
„Drei Minuten und vierzehn Sekunden! Yeah, das ist mein persönlicher Rekord!“
Zufrieden lehnte er sich in der Wanne zurück und genoss das wohltuende Bad. Es duftete intensiv nach Fichtennadeln.
Benno Holzapfels Blick wanderte durch den Raum. Dunkelblaue Wandfliesen erinnerten ihn an die siebziger Jahre. Die keramischen Elemente gehörten jedoch zu einer jüngeren Epoche. Der verchromte Handtuchhalter diente mit seinen Querstreben sogar als Heizkörper. Lässig hing das bunte Duschtuch darüber. Die Luft hatte sich vom heißen Badewasser so erwärmt, dass der Spiegel über dem Waschbecken beschlug. Rinnsale strömten an der Fensterscheibe hinunter.
Benno stemmte sich am Wannenrand hoch und richtete sich zu voller Größe auf. Der Mittvierziger war groß. Kritisch wischte er den Schaum von seinem stattlichen Bauch. Ein Sixpack sah anders aus. Dieser Bauch glich eher einem Sixpack im Speckmantel. Benno war schon länger nicht mehr auf der Waage gewesen, da diese mit Sicherheit immer noch eine dreistellige Zahl anzeigen würde. Seine kräftige Hand griff zum Duschtuch. Er trocknete das Gesicht und rubbelte das dichte Haar.
Zwanzig Minuten später strömte Kaffeeduft durch das Fachwerkhaus. Die Maisonne war hinter dem Fenster schon hoch aufgestiegen und versprach einen heiteren Sonntag. Benno frühstückte mit Genuss. Am Vortag hatte er Schokoladenplätzchen gebacken. Die besten Schokoladenplätzchen der Welt. Das Rezept stammte von seiner verstorbenen Großmutter, die ihm dieses alte Haus vererbt hatte. Gott sei Dank waren von diesem Schmaus noch einige Exemplare übrig geblieben. Er biss beherzt hinein.
Gegen Mittag trat Benno mit Jeans und Karo-Hemd bekleidet aus der Tür zum Garten. In der einen Hand trug er einen Quadrocopter und in der anderen dessen Fernsteuerung. Behutsam wurde das Fluggerät auf die Terrasse gestellt. Dann setzte er sich in einen bequemen Gartenstuhl und legte die Fernbedienung vor sich auf den Tisch. Die Videobrille hing von einem Band gesichert am Hals. Erwartungsvoll setzte er diese vor die Augen. Geschickte Finger aktivierten mit der Fernbedienung das Fluggerät. Vier Rotoren setzten sich in Bewegung. Wie von Geisterhand stieg der Quadrocopter senkrecht auf.
Benno fühlte sich in seinem Gartenstuhl wie in einem Pilotensitz. Die Videobrille und die Kamera des fliegenden Auges vermittelten ihm den Eindruck, als würde er selbst schweben. In seiner virtuellen Wahrnehmung blickte er vom Giebel des alten Hauses auf sich selbst herab. Ein seltsames Gefühl. Dann zog die fliegende Kamera einen weiten Bogen über das Grundstück. Die Obstbäume standen zum Teil schon in Blüte. Omas ehemaliges Gemüsebeet war vom Enkel deutlich vernachlässigt worden. Ja, Großmütter hatten anscheinend mehr Zeit für solche Arbeiten als berufstätige Enkel. Hinter Opas alter Werkstatt müsste Benno mal wieder aufräumen.
Die Drohne stieg höher. Das Haus der Familie Holzapfel wurde optisch scheinbar kleiner. Es stand am Waldrand. Hier endete die asphaltierte Straße. Ein Wanderweg schloss sich an. Dieser versteckte sich mit Beginn des Frühlings unter einem immer dichteren Blätterdach. Dort gab es für eine Drohne nichts Interessantes zu beobachten. Sie verließ das Grundstück und folgte hoch über der Straße einigen Sonntagsspaziergängern. Einer von ihnen führte einen großen Hund an der Leine. An einem Vorgarten, der nicht eingezäunt war, blickte sich das Herrchen verstohlen in alle Richtungen um. Es flüsterte dem Hund anscheinend etwas zu. Gehorsam hockte sich der Vierbeiner mit aufgerichteter Rute ins Blumenbeet.
„Erwischt!“, rief Pilot Benno. Er machte vom Herrchen und Hund samt der frischen Schäferwurst ein Foto. Solche Bilder setzte er gleich bei Facebook ein. Zwischen gleichgültigen Hundehaltern und Gartenfreunden entbrannte anschließend oft ein amüsanter Austausch.
Benno ließ die Drohne weiterfliegen. Eine Siedlung mit noblen Häusern kam ins Bild. Hohe Hecken und Zäune verwehrten Fußgängern die Sicht in die Grundstücke. Keine Hindernisse allerdings für ein fliegendes Auge. Der Frühling ließ die Bäume in schönster Farbenpracht blühen und Beete leuchten. Heute hatte die Sonne bereits eine erstaunliche Kraft. So kamen die ersten Sonnenanbeter in Sicht. Benno erspähte auf einem privaten Rasen eine breite Relax-Liege. Eine Frau machte es sich dort bequem. Sie zog ihr Oberteil aus und begann, sich einzucremen. Plötzlich hielt sie inne. Ihr Blick suchte den Himmel ab. Abrupt sprang sie wie eine Katze auf und hielt sich mit einer Hand ihre Bluse vor den nackten Busen. Die andere Hand gab einer Person am Haus hektische Zeichen und wies verärgert nach oben.
Bennos fliegendes Auge verließ eilig die Position und verschwand hinter benachbarten Bäumen.
∞
“Zur Leseratte“ stand über der Eingangstür des historischen Fachwerkhauses, das sich in einer Nebengasse der Altstadt versteckte. Im einzigen Schaufenster standen und lagen aktuelle Bücher von Bestsellerautoren. Ein Plakat listete Termine zu Lesungen auf, die in diesem Laden einmal pro Monat veranstaltet wurden. Eine ältere Dame trat durch die Tür. Die nostalgische Klingel meldete Besuch. Alle Wände waren mit Buchreihen bedeckt. Taschenbücher, Hardcover-Bücher und aufwendig in Stoff und Leder gearbeitete Unikate hofften auf die Aufmerksamkeit der Kundin. In einer Spielecke für die kleinsten Leseratten lagen Bilderbücher aus dicker Pappe und gepolsterten Kunststoffhüllen. Vor der Gondel mit Hörbüchern stand ein alter Ohrensessel, über dem ein Kopfhörer hing. Hier durften Kunden in Tonträger lauschen. Auf den Querbalken freigelegter Fachwerkwände drängte sich Dekor. Von der hohen Decke leuchtete warmes Licht.
In der hinteren Sofaecke legte die Buchhändlerin das Lesezeichen in ein Buch und ging auf die Kundin zu.
„Guten Tag, Frau Altmeier, wie hat Ihnen der letzte Roman gefallen?“
„Danke, das war eine ausgezeichnete Empfehlung. Endlich mal ein Buch völlig ohne Gewalt und Hinterlist. Ich kann nicht verstehen, dass Krimis und Thriller unser Land überschwemmen. Selbst im Fernseher gibt es nur noch Mord und Totschlag.“
Die Buchhändlerin zeigte zur Sofaecke: „Nehmen Sie bitte Platz. Seien Sie nicht so streng mit den Krimi-Freunden. Der selige Loriot hat angeblich einmal gesagt, dass bei einem Krimi-Autor das Böse in guten Händen ist. Übrigens, ich wollte mir soeben einen Tee aufgießen. Möchten Sie eine Tasse?“
„Frau Franke, Sie sind immer so herzlich besorgt um Ihre Kunden. Ja, ich nehme gerne einen Tee mit etwas Süßstoff. Mein Hausarzt schimpft über meine hohen Zuckerwerte. Wie läuft übrigens das Geschäft?“
Die Buchhändlerin ging in den Nebenraum. Dort klapperte bald Geschirr. Ein Wasserkocher begann zu rauschen. „Frau Altmeier, was soll ich Ihnen dazu antworten? Ich möchte meinen Kunden nichts vorjammern. Andererseits hat sich ja herumgesprochen, dass die Online-Shops den kleinen Händlern furchtbar zusetzen.“ Rosemarie Franke trat mit einem Tablett an die Sofaecke und stellte zwei Tassen auf den niedrigen Tisch.
Frau Altmeier schob einige Bücher zur Seite, in denen zuvor neugierige Nasen gestöbert hatten.
Rosemarie Franke fuhr fort: „Tatsächlich kann ich mich mit dem Buchverkauf kaum über Wasser halten. Ich habe eine Ausbildung als Übersetzerin und arbeite nebenbei für ein großes Verlagshaus. So schaffe ich mir ein zusätzliches Einkommen. Wenn hier Leerlauf ist, dann bleibt mir Zeit für solche hochkonzentrierten Arbeiten. Ursprünglich wollte ich als Simultan-Übersetzerin arbeiten. Solche Leute reisen mit Managern aus Politik und Wirtschaft durch die Welt. Leider fehlte mir schon immer die erforderliche Selbstsicherheit. Also habe ich mich bis heute hinter den Mauern und Türmen meiner Bücher versteckt.“
Die alte Dame seufzte. „Die Welt dreht sich viel zu schnell. Ich kann nicht verstehen, dass sich jemand für diese seltsamen E-Books begeistern kann. Ein echtes Buch fühlt sich doch irgendwie lebendiger an.“ Sie griff zu einem Taschenbuch und ließ die Blätter am Daumen vorbeilaufen. Ein kleiner Luftzug entstand. „Spüren Sie, Frau Franke, wie das Buch atmet?“
Ein Lächeln zog über das freundliche Gesicht der Buchhändlerin. „Meine Oma hat diesen Laden gegründet. Sie meinte, dass Bücher echte Freunde sind. Freunde, die einem Geschichten erzählen, die Ratschläge geben, durch ihre Anwesenheit der Einsamkeit trotzen.“ Sie machte eine weite Armbewegung und fuhr fort: „Alle diese Bücher hier sind voller Gedanken. Hinter jedem Buch stecken Menschen, die daran gearbeitet haben. Sie sind durch ihr greifbares Buch für mich wesentlich präsenter, als wenn sie als Datensatz in einem E-Book zwischen unzähligen anderen Datensätzen verborgen bleiben.“ Sie nahm ein Taschenbuch vom Tisch. Auch sie ließ die Blätter an ihrem Daumen vorbeilaufen. Sie hielt das Buch vor die Nase. „Bücher riechen nach frischem Druck, später nach der Umgebung ihrer Besitzer und nach vielen Jahren nach einer geheimnisvollen Vergangenheit. Alles das kann ein E-Book nicht bieten.“
„Genauso habe ich das gemeint. Ich hoffe, dass die Menschen einsichtig werden und dieser elektronische Schnickschnack aus der Literatur wieder verschwindet.“
Die Buchhändlerin goss aus einer nostalgischen Kanne duftenden Tee ein. „Frau Altmeier, so gern wir beide ein gedrucktes Buch in der Hand halten, so müssen wir doch daran denken, dass der Fortschritt auch viele positive Seiten mit sich bringt. E-Books können mittlerweile nicht nur Texte und Bilder darstellen, sondern sie vergrößern nach Belieben die Schrift. Sie haben auch sprechen gelernt. Sehbehinderte Menschen können sich E-Book-Formate an Computern und Smartphones vorlesen lassen. Das ist doch wunderbar. Meinen Sie nicht auch?“
„Sie sind eine Frau, die erst in Ihrer Lebensmitte steht, und haben bereits die Weisheit des Alters. Auch das erreicht man meistens durch viel Lesen. Wir kennen uns schon einige Jahre. Deshalb erlaube ich mir eine andere, sehr persönliche Frage. Leben Sie alleine, oder gibt es jemanden, der Ihre Interessen teilt?“
Rosemaries Augen glitten über die vollen Bücherreihen der Wände und Standregale, als würde sie dort eine Antwort suchen. Ihr Blick endete auf ihren Knien: „Der wahre Märchenprinz kam nie vorbeigeritten. Und wenn ich ihn gesehen hätte, dann hätte ich mich aufgrund meiner Unsicherheit rasch geduckt.“ Sie straffte sich, klatschte in die Hände und lief auf einen Stapel Bücher zu. „Ich zeige Ihnen einen Liebesroman einer völlig unbekannten Autorin. Sie hat die Sprache der Poesie wiederentdeckt. Das müssen Sie unbedingt lesen.“
Frau Altmeier räusperte sich: „Wenn Sie doch sprachlich begabt sind und regelmäßig übersetzen, dann erfüllen Sie sich doch Ihre Jugendträume. Sie sind noch jung genug, mit etwas völlig Neuem anzufangen. Außerdem darf man seine Unsicherheit zeigen. Gerade unsere Schwächen lassen uns warmherzig und menschlich sein.“
Rosemarie hielt demonstrativ ein Taschenbuch hoch. „Themenwechsel. Kommen wir nun zu dieser ergreifenden Liebesgeschichte.“
∞
Die junge Mitarbeiterin der psychotherapeutischen Praxis steckte ihren Kopf durch die Bürotür: „Entschuldigung, Frau Anderson, ein Herr Benno Holzapfel ist hier. Er hat bei Ihnen jetzt einen Termin zum Einzelgespräch. Soll ich ihn hereinlassen?“
Die Psychotherapeutin blickte von ihrem Schreibtisch auf und nickte stumm. Bald darauf schob sich ein kräftiger Mann durch die Tür. Frau Anderson ging auf ihn zu und drückte ihm fest die Hand. Sein Händedruck war sehr zurückhaltend. Die Handinnenflächen wirkten feucht.
„Ich bin Anja Anderson. Nehmen Sie bitte Platz.“ Sie zeigte zu zwei bequemen Polstersesseln, die im Winkel zueinander standen.
„Ich bin Benno Holzapfel.“ Er trug eine elegante Stoffhose, ein helles Markenhemd und ein sommerliches Sakko. Schwer ließ sich der Koloss in den Sessel sinken.
Die Psychotherapeutin wirkte mit ihrer bunten Bluse, der engen Jeans und den Pumps sportlich gekleidet. War sie schon vierzig oder etwas darüber? Sie setzte sich und legte die Hände locker gefaltet auf die Knie. Ihre Augen, Mimik und Haltung strahlten so viel Selbstsicherheit aus, dass Benno noch etwas tiefer in seinen Sessel sank.
„Was führt Sie zu mir, Herr Holzapfel?“ Ihre Stimme klang warm und sympathisch.
Ein zäher Frosch klammerte sich auf seine Stimmbänder und ließ sich selbst durch mehrfaches Räuspern nicht abschütteln. Wie peinlich. Bennos Handflächen wurden noch feuchter. Attraktive Frauen hatten ihn schon immer eingeschüchtert. Diese hier war außerdem noch hochintelligent und gebildet. Wie um alles in der Welt war er auf den dämlichen Gedanken gekommen, sich in ihrem Seminar zur Festigung des Selbstwertgefühls anzumelden?
Die Psychotherapeutin machte es ihrem neuen Klienten etwas leichter. Sie schaute ihm nicht mehr in die Augen, sondern ihr Blick wanderte wie zufällig zum Fenster. Sie sagte: „Bei diesem herrlichen Frühlingswetter sollten wir eigentlich nicht in der Stube sitzen, sondern die Lungen mit frischer Luft füllen. Sind Sie gerne draußen in der Natur?“
„Ja, ja , ich bin Hobbyflieger.“
„Ach, das klingt ja spannend. Um welche Art Fliegerei handelt es sich?“
Endlich hüpfte der Frosch von seinen Stimmbändern. „Wie soll ich sagen? Es handelt sich um eine Art Modellflug. Kein kleines Flugzeug, eher wie ein Hubschrauber.“
Anja Anderson vermied es immer noch, ihr Gegenüber direkt anzusehen. Sie schaute auf ihre Hände im Schoß, die mit Fingern und Daumen nun eine Raute bildeten. „Ein Modellfluggerät mit einer Fernbedienung zu lenken, verlangt doch sicherlich hohe Konzentration und viel Geschick, nicht wahr?“
„Oh gewiss! Bei der modernsten Technik, die ich verwende, benutzt man eine Videobrille. Ich steure den Quadrocopter zwar vom Boden aus, doch meine optische Wahrnehmung ist die eines echten Piloten.“ Bennos Gesicht begann zu strahlen. „Mein fliegendes Auge vermittelt mir den Eindruck, als säße ich selbst im Cockpit. Gegenüber dem richtigen Fliegen befindet man sich aber auf dem sicheren Boden.“
„Das klingt abenteuerlich. Wenn ich das richtig verstehe, dann benutzen Sie Kameratechnik.“
Benno nickte.
Sie fragte weiter: „Können Sie damit filmen? Können Sie das, was Sie sehen, auch aufzeichnen?“
„Ja, sicher! Alles, was die Kamera sieht, kann in einem Chip gespeichert und anschließend am Computer bearbeitet werden.“
Andersons Blick bohrte sich plötzlich in das Gesicht des Mannes. „Filmen Sie auch fremde Menschen? Eine hoch fliegende Drohne fällt ja nicht sofort jedem auf.“
Bennos Wangen erröteten.
In den grünen Augen der Psychotherapeutin las er die wortlose Frage, ob er ein Spanner sei. „Sie … Sie meinen bestimmt, ob ich andere Menschen heimlich filme? Nein, nein, ich beobachte niemanden heimlich. So wie jeder Pilot eines kleinen Flugzeugs oder eines Heißluftballons die Leute unter sich sieht, so sehe ich diese auch.“
„Na ja, ein Unterschied besteht wohl darin, dass man ein Flugzeug schon von weitem deutlich hört und dass ein Heißluftballon kaum zu übersehen ist. Ich selbst möchte keine Drohne über mir haben, wenn ich mich in privater Umgebung in der Sonne bräune.“
Benno Holzapfels Wangen begannen regelrecht zu glühen. Wieso war er hier hergekommen? Wie bescheuert! Zumal diese Frau wohl auch noch Gedanken lesen konnte.
„Ich glaube Ihnen, dass Sie die Drohne aus reinem Spaß am Fliegen einsetzen. Meine Neugier und Bemerkung sollte kein Vorwurf sein. Ich komme zu meiner ersten Frage zurück. Was führt Sie zu mir?“
Benno war erleichtert über den Themenwechsel und atmete tief durch. „Ich bin Mitte vierzig und immer noch Single. Ich war schon in der Schule Mädchen gegenüber schüchtern. Ich weiß nicht, warum. Klar, figürlich hatte ich schon in der Pubertät zu viel auf den Rippen. Aber andere Männer sind noch viel runder als ich und doch in festen Händen.“
„Eine Partnervermittlung kann ich Ihnen nicht anbieten. Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Zu mir kommen Menschen, die Probleme mit ihrer Selbstsicherheit haben, die an ihrer Persönlichkeit etwas positiv verändern wollen.“
„Ja, ja, darum geht es mir doch. Ich hatte mich bei einer Partnerbörse im Internet angemeldet. Das hat meinen Frust nur noch vergrößert.“
„Was hat Sie denn frustriert?“
„Die Frauen, die ich angeschrieben habe, meldeten sich fast nie. Scheinbar haben die das gar nicht nötig. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass viele von denen sich nur angemeldet haben, um ihren Marktwert auszutesten. Ich habe mich von der Börse abgemeldet. Jetzt ist mein Selbstwertgefühl erst recht im Keller. Ich erhoffte mir, in Ihrem Seminar Klarheit über meine Situation zu bekommen. Ich möchte wissen, was bei mir nicht richtig tickt.“
„Herr Holzapfel, neben den virtuellen Partnerbörsen treffen sich Menschen hauptsächlich in der realen Welt. Es gibt Tanzlokale, die Abende für Singles anbieten. Sogar Single-Reisen werden immer öfter beworben.“
„Ich bin nicht weltfremd. Ich weiß, was in Partyzügen, auf Kegeltouren und in berüchtigten Kurorten abgeht. Das ist nicht das, was ich suche oder wo ich hin will.“
„Verurteilen Sie nicht alle Menschen, die sich genüsslich ausleben. Ein freizügiger und gelassener Umgang miteinander ist solange völlig in Ordnung, wie das einvernehmlich ist und niemand verletzt wird.“
Benno wirkte aufgewühlt.
Anderson wechselte das Thema: „Was machen Sie beruflich?“
„Ich arbeite bei einem großen Verlagshaus im Lektorat.“
„Das hört sich sehr interessant an. Benötigt man für diese Aufgabe eine Berufsausbildung oder ein Studium?“
„In dieser Branche sind fast alle Quereinsteiger. Germanisten, Journalisten, gestrandete Deutschlehrer und was weiß ich?“
„Aus welcher Richtung sind Sie ins Lektorat eingestiegen?“
„Ich habe am Gymnasium hauptsächlich den Deutschunterricht geliebt. Ich war und bin ein Bücherwurm. Ich habe in der Schule die Redaktion der Schülerzeitung geleitet und gerne Artikel geschrieben. Nach dem Germanistikstudium wollte ich Journalist werden. Während des Volontariats stellte sich heraus, dass man zum Recherchieren bei Interviews sehr hartnäckig auftreten muss. Das liegt mir nicht. Ich war in der Schule immer der nette Dicke.“
„Wie haben Sie sich mit Ihren Mitschülerinnen verstanden?“
„Wenn es etwas Schweres zu schleppen gab oder ein Fahrradreifen geflickt werden musste, dann wurde ich gerne gefragt. In der Disco beim Tanzen aber nie.“
„Welche Rolle haben Frauen nach der Schule in Ihrem Leben gespielt?“
„Sie möchten wissen, ob ich Freundinnen hatte? Ja, ja, es gab zwei. Beide waren aus heutiger Sicht in ähnlicher Situation wie ich. Wir waren auf dem Partnerschaftsmarkt sozusagen auf der Resterampe. Alle nicht besonders angesagt. Leider hatten wir völlig unterschiedliche Interessen. Irgendwann hatten wir uns nichts mehr zu sagen und trennten uns.“
„Was ist aus diesen Frauen geworden?“
„Frauen finden grundsätzlich schneller neue Partner als Männer.“
Anderson lächelte verständnisvoll und sagte: „Das ist relativ. Erzählen Sie mir bitte mehr zu Ihrer beruflichen Aufgabe. Ich stelle mir vor, dass ein Lektor große Verantwortung trägt. Er entscheidet doch darüber, ob ein Manuskript als Buch erscheint oder nicht.“
„Ob ein Buch in der Verlagsreihe aufgenommen wird oder nicht, entscheidet das gesamte Lektorat als Team. Wobei unsere Verlegerin immer das letzte Wort hat. Meine Aufgabe ist es, jeden Monat aus hundert Manuskriptzusendungen diejenigen herauszupicken, die sich mit den Grundkriterien des Verlags decken. Pornografische, extrem politische und extrem religiöse Texte passen nicht zu uns. Außerdem sollte die Autorin oder der Autor das schriftstellerische Handwerk gut verstehen. Dass die Orthografie in unserer Gesellschaft allgemein eine mittlere Katastrophe geworden ist, ist ja nicht unbekannt. Sie werden nur noch selten einen Zeitungsbericht finden, der fehlerfrei geschrieben worden ist. Somit habe ich die lästige Aufgabe, die Manuskripte vor dem Lektorat zu korrigieren, die wir später als Buch produzieren.“
„Schreiben Sie selbst auch?“
„Ich bin Lyriker. Doch dieses Genre wird nicht von einem breiten Publikum gelesen. Männer, die Gedichte schreiben, werden eher belächelt. Krimi-Autoren hingegen werden hoch gefeiert.“
„Sie haben unzählige Manuskripte gelesen. Ist Ihnen da nie die Idee gekommen, selbst mal einen Krimi zu schreiben?“
„Tatsächlich hatte ich einmal einen Thriller angefangen. Einen richtig bösen.“
„Warum haben Sie diesen mit Ihrer langen Erfahrung als Lektor nicht zu Ende geschrieben und veröffentlicht? Sie wissen doch ganz genau, was Ihr Verlagshaus drucken wird.“
„Die Handlung meines Thrillers wäre für Krimi-Liebhaber sicherlich sehr spannend geworden. Doch was sollen die Leute von mir denken? Wer eine böse Geschichte schreibt, der muss doch böse Gedanken haben.“
„Denken Sie tatsächlich so über Krimi-Autoren? Haben wir nicht alle irgendwann im Leben schon mal böse Gedanken?“
„Wie meinen Sie das?“
„Oh, jeder von uns wurde als Kind, als Teenager auf dem Schulhof schon mal geärgert und hätte den Spöttern gerne die Pest geschickt, nicht wahr?“ Anderson blickte Ihrem Klienten forschend in die Augen. Der nickte stumm, und sie fuhr fort: „Auch als Erwachsener wird jeder Mensch von Zeit zu Zeit Ungerechtigkeiten erfahren. Oft müssen wir dann aus gegebenen Umständen eine Faust in der Tasche machen. Unser Körper setzt bei einer Konfrontation mit einem Aggressor Adrenalin frei. Die aufgestaute Energie kann normalerweise nur durch körperliche Aktivität im Sinne von Angriff oder Flucht abgebaut werden. Jeder Ärger, den wir nicht in körperliche Energie umsetzen, also nach außen transportieren, frisst auf Dauer an unserem Inneren. Die Folge sind innere Unruhe und beste Voraussetzungen für ein Magengeschwür.“
Benno wich ihrem Blick aus und schaute zum Fenster. Seine großen Hände ballten sich kurz zu Fäusten. Die Finger verschränkten und lösten sich wieder. Die gesamte Körpersprache verriet, dass ihm einige unangenehme Szenen durch den Kopf gingen.
Anderson war es gewohnt, in der Mimik, Gestik und Haltung ihrer Klienten wie in einem Buch zu lesen. Sie erklärte: „Wir müssen uns nicht dafür schämen, dass in uns bei Ungerechtigkeiten und Verletzungen Wut und Zorn aufflammen. Das gehört zu unserer Natur. Wenn ein Tier geärgert oder angegriffen wird, dann sagt ihm der Instinkt, wie es handeln soll. Der Mensch reagiert entsprechend seiner Kultur und Erziehung.“
„Ja, ja, das ist doch das Ungerechte!“, schoss es aus Benno hervor. „Der Klügere soll nachgeben! So lange nachgeben, bis er der Dümmere ist! Und zum Schluss meldet er sich dann bei Ihnen zum Seminar an.“ Benno hatte sich von ihm unbemerkt weit vorgebeugt. Die Haltung seines mächtigen Oberkörpers wirkte wie die eines angriffslustigen Ringers.
Die Psychotherapeutin blieb ruhig. Nur ihre Stimme wurde energischer. „Wenn der Klügere sich zum Dümmeren machen lässt, dann ist seine Strategie falsch gewählt. Sie haben anfangs von der Schule berichtet. Gerade in der Schule, auf dem Schulhof lernen wir den sozialen Umgang mit anderen Menschen kennen. Jede Schülerin, jeder Schüler weiß nach kurzer Zeit, wer sich in der Gruppe sehr leicht unterwerfen lässt und wer sich wehrt. Es wird immer Stärkere geben, die ihre Machtspielchen austesten. Doch an denen erproben sich auch unsere Courage, der Mut und die Tapferkeit. Waren Sie mutig in der Schule?“
Holzapfels kräftiger Körper sank wieder tiefer in den Sessel. Leise meinte er: „Ich habe mich selten körperlich gewehrt. Obwohl ich kräftiger war als die meisten, hatte ich immer Hemmungen zurückzuschlagen. Das ist nicht männlich, nicht wahr? Frauen mögen eher die kämpferischen Typen.“
„Solche Frauen gibt es selbstverständlich. Aber Sie dürfen dieses Frauenbild nicht verallgemeinern. Ich mag zum Beispiel Männer, die hauptsächlich ihren Verstand benutzen. Davon haben Sie eine Menge. In meinem Seminar für Persönlichkeitsmanagement und zur Steigerung des Selbstwertgefühls geht es darum, die eigenen Begabungen zu entdecken, auszubauen und voll auszuschöpfen. Wo ganz natürliche Defizite sind, können diese oft mit klugen Strategien überbrückt werden. Das funktioniert aber nicht, indem ich gute Ratschläge verteile, sondern das kann nur gemeinsam und individuell erarbeitet werden. Deshalb biete ich neben dem Einzelgespräch Gruppenarbeit an. So wie Sie im Moment empfinden, Herr Holzapfel, so empfinden sehr viele Menschen. Die Gruppe besteht bei mir maximal aus acht Personen. Sie ist gemischt. Es gibt keinen Schnupperkurs, in den Sie mal kurz hineinschauen dürfen. Alles, was in dieser Gruppe gesagt wird, ist top secret. Ich rate Ihnen, in Ruhe zu überlegen, ob ich Ihnen mit meinem Seminar wirklich helfen kann.“
Benno nickte nachdenklich. Dann stemmte er sich hoch und richtete pedantisch sein Sakko.
Auch Anderson stand auf. Sie geleitete ihren Klienten zur Tür und sagte: „Ich habe Ihnen gerade erklärt, dass wir oft im Leben eine Faust in der Tasche machen müssen und dass diese Energie abgebaut werden muss. Wir Menschen können uns angestauten Ärger von der Seele reden. Und wir können unseren Ärger sogar von der Seele schreiben. Schreiben Sie Ihren Krimi zu Ende und machen Sie sich mal richtig Luft. Papier ist bekanntlich geduldig. Sie sind ja nicht verpflichtet, das Manuskript zu veröffentlichen.“ Sie reichte Benno die Hand.