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Bei einem Feuer auf einem Reiterhof erleidet Raik Wulf schwerste Verbrennungen. Nach vier Wochen sind seine Wunden wie durch ein Wunder ohne Narben verheilt. Er scheint auch sehr viel älter zu sein, als er tatsächlich aussieht. Das Herz einer jungen Ärztin schlägt mehr und mehr für diesen geheimnisvollen Mann, der plötzlich verfolgt und gekidnappt wird. Der Medizinerin ist klar, dass ein solches Naturphänomen nicht nur die Presse, sondern besonders die Pharmakologen und Biogerontologen interessiert. Träumen nicht alle Menschen von der ewigen Jugend oder wenigstens einer deutlichen Verlängerung derselben? Lassen sich mit Wulfs Stammzellen vielleicht Milliarden verdienen? Ein Kampf um Leben und Tod beginnt ... mit ungewissem Ausgang.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Autor: Dieter Kleffner Covermotive: Pixabay und privat
Cover designed by Michael Frädrich
Lektorat: Nina Sock/Manuela Klumpjan
Originalausgabe: Januar 2024
ISBN: 978-3-96174-136-6
© Copyright Edition Paashaas Verlag
www.verlag-epv.de
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.
Sollten Ereignisse oder Namen im Buch erscheinen,
welche auf jemanden zutreffen, so ist das ungewollter Zufall.
Die Haftung jeglicher Art wird abgelehnt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zeitlos
„Aus ferner Zeit, da komm‘ ich her
und bring euch gute neue Mär,
von heldenhaftem Schwerterklang,
Mut und hohem Minnesang,
von wahrem Glauben, Ritterehr‘,
von Tugend und von Vielem mehr.“
Magister Reinholdus Lupus
Der Motorradfahrer fuhr mit offenem Visier, genoss den Fahrtwind. Die BMW legte sich forsch in die Kurven der bewaldeten Passstraße. Auf der Gegenfahrbahn stolzierte ein berittenes Pferd. Kurz bevor das Motorrad Ross und Reiterin passierte, stieg das Tier hoch und scherte zur Gegenfahrbahn aus. Der Biker lenkte seine Maschine hart nach rechts, bremste und stieß in die Sträucher der Böschung. Zum Glück konnte die Maschine wegen der stabilen Packtaschen nicht so weit kippen, dass Benzin aus dem Tank lief. Der Fahrer fluchte. Dann sah er, dass das wildgewordene Pferd versuchte, seine Reiterin abzuwerfen. Panisch zog die Frau an den Zügeln, gab Kommandos, doch das Tier ließ sich nicht beruhigen. Ihre Kappe flog im Bogen durch die Luft.
Der Motorradfahrer legte seinen Helm ab, ging auf das keilende Pferd zu und machte mit dem Mund seltsame Laute. Geschickt wich er den Hufschlägen aus, griff zur Kandare. Unter geheimnisvoller Ansprache kam das Tier zur Ruhe. Es schnaufte noch ein paar Mal, dann stand es still.
Die Reiterin stieg aus dem Sattel, wischte sich mit dem Ärmel den kalten Schweiß von der Stirn.
„Danke!“, keuchte sie. „Ich weiß nicht, was das Tier hat. Ist Ihre Maschine stark beschädigt?“
„Nein, die Natur hat mich wohlwollend gebremst.“
Der Mann trug lange Haare, die im Nacken zusammengebunden waren. Er betrachtete die schlanke Frau. Sie mochte um die Dreißig sein. Die Stute stupste mit den Nüstern die Wange des Fremden. Der streichelte ihre Mähne, schaute die Reiterin an. „Ihr Mädel hier ist sehr schreckhaft. Hat sie schlechte Erfahrung im Straßenverkehr gemacht?“
„Ich weiß es nicht. Ich mache hier auf einem Reiterhof Urlaub. Man hat mir die Stute erst heute Morgen zugeteilt. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, aus einer Großstadt, und reite nur im Urlaub.“
Ein Sportwagen raste hupend vorbei. Das Pferd begann nervös zu tänzeln. Der Biker tätschelte der Stute den Hals und flüsterte ihr wieder geheimnisvolle Worte ins Ohr. Das Tier beruhigte sich.
Die Reiterin zeigte auf seinen Handrücken. „Sie haben sich verletzt. Ich möchte mir das mal ansehen. Ich bin Chirurgin.“
Er übergab der Blonden die Zügel, zog ein Tuch aus der Hosentasche und presste es auf die nässende Wunde. „Der kleine Kratzer ist halb so wild. Er stammt von dem Dornbusch, in den ich gerutscht bin. Selbst schuld. Beim Motorradfahren hat man vernünftigerweise Handschuhe zu tragen. Wichtiger ist mir, dass Sie mit der Stute nun alleine klarkommen.“
„Ich komme zurecht. Das Gestüt ist nicht mehr weit von hier. Vielleicht lass ich mir morgen ein anderes Pferd geben.“
Sie blickte zu der gekippten BMW. „Wie ist es bei Ihnen? Können Sie die schwere Maschine alleine aufrichten?“
Er hob ihre Reiterkappe vom Boden auf und reichte sie weiter. „Kleinigkeit. Epona schütze euch beide.“ Er schritt zum Motorrad.
„Wer ist Epona?“
„Das ist die keltische Göttin der Pferde!“
„Wieso erwähnen Sie eine keltische Göttin?“, fragte sie und stieg in den Sattel.
„Weil sie euch Glück bringen kann.“
Der Mann wuchtete seine Maschine kraftvoll aus den Büschen, stellte sie auf den Ständer.
Die Reiterin blickte ihn nachdenklich an. „Sie sprechen in Rätseln! Der Reiterhof Equitana ist ganz in der Nähe. Würden Sie mir das bitte bei einer Tasse Kaffee näher erklären? Als Ärztin möchte ich mir dort auch Ihre verletzte Hand ansehen. Solche Kratzer können böse Entzündungen hervorrufen.“
Der Biker blickte durch die dichten Bäume in ein Tal, in dem sich eine Hotelanlage mit Reitstall ausdehnte.
Darüber trugen die Berggipfel immer noch weiße Wintermützen. Die Aprilsonne ließ die Schneefelder mehr und mehr schrumpfen. In den Tälern wurde es grün. Winter und Sommer kamen sich sehr nah.
Er stimmte zu: „Warum nicht. Eine Tasse Kaffee tut gut, und ich kann mir dort die Hände waschen. Damit Ihre Stute nicht wieder nervös wird, fahr` ich voraus.“
Er setzte seinen Helm auf, startete die Maschine, rollte in weitem Bogen an Pferd und Reiterin vorbei.
Das Hotel Equitana bestand aus drei Gebäuden. Das mehrstöckige Haupthaus präsentierte sich in südbayrischem Stil. Das ausladende Dach überragte blumengeschmückte Balkone. Durch die riesigen Fenster der Reithalle strömte Sonnenlicht. Das dritte Gebäude bestand aus Stallungen und einer Scheune.
Auf der Koppel sprangen zwei Fohlen herum. Genauso spontan wie sie losjagten, wie sie zu allen Seiten auskeilten, so standen sie wieder still. Die Pferde beobachteten Kinder, die am Zaun mit ausgerissenen Grasbüscheln lockten.
„Kommt sofort zu mir!“, schrie ein korpulenter Junge und zappelte am Zaun herum. „Los, ihr blöden Pferde, ihr sollt jetzt sofort herkommen!“
Die Mutterstute unterbrach ihr Grasen, schaute aufmerksam zwischen den Kindern und den Fohlen hin und her. Ihr Schweif schlug drohend nach lästigen Fliegen.
Auf der Hotelterrasse setzte ein Kellner die Sonnenschirme um, da die Mittagssonne bereits auf die Tische schien. Elegant gekleidete Gäste saßen vor Erfrischungsgetränken, Eisbechern, Kaffee oder duftenden Kuchen.
Auf dem Hotelparkplatz konkurrierten noble Karossen, darunter viele luxuriöse Geländewagen. Langsam rollte ein schweres Motorrad heran. Zwei Jungen wendeten sich von den Fohlen ab und betrachteten neugierig die Maschine.
„Das ist eine Kawasaki“, erklärte der korpulente Junge.
„Quatsch, Dicker“, erwiderte der deutlich Dünnere, „du hast doch keine Ahnung. Das ist eine BMW. So eine fährt der Freund meiner großen Schwester.“
Der Dicke schob beleidigt seine Unterlippe vor, klatschte dem Schwächeren tadelnd auf den Hinterkopf und beobachtete, wie der athletische Fahrer die schwarze Maschine auf den Seitenständer stellte.
Der neue Gast zog den Helm vom Kopf, schüttelte die braune Löwenmähne und schritt zur Hotelterrasse. Den Helm stellte er mitten auf einen freien Tisch und warf die Motorradjacke über eine Stuhllehne. Neugierige Blicke taxierten ihn. Gäste steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.
Der Oberkellner trug ein weißes Sakko. Er betrachtete den langhaarigen Fremden missbilligend, denn der wirkte in seinem Holzfällerhemd, in Jeans und Stiefeln auf der Hotelterrasse offensichtlich deplatziert.
„Entschuldigung, Sie haben sich sicherlich geirrt. Dieses Hotel hat kein öffentliches Restaurant.“
„Ich weiß“, sagte der Fremde unbeeindruckt, zog am Tisch einen Stuhl zurück und setzte sich lässig.
„Sind Sie als Gast unseres Hauses angemeldet?“
„Nein, aber bringen Sie mir trotzdem einen Becher Kaffee. Heiß und groß.“
„Wenn Sie kein Gast des Hotels sind, dann muss ich Sie bitten, die Terrasse jetzt zu verlassen!“
„Ich warte auf eine Reiterin, die hier wohnt.“
„Ach – und wer soll diese Dame sein? Hat sie vielleicht auch einen Namen?“
„Diese Dame hat gewiss einen Namen, aber den kenne ich bis jetzt noch nicht.“
Der Fremde betrachtete seinen verletzten Handrücken, auf dem die Wunde immer noch nässte. Er zog sein blutverschmiertes Tuch aus der Tasche und presste es auf die Wunde.
Am Nachbartisch saßen zwei ältere Damen. Sie trugen extravagante Kleidung und funkelnden Schmuck. Ungeniert taxierten ihre Blicke jeden Hotelgast. Über jeden gab es etwas zu tuscheln und zu berichten. Neue Gäste waren für sie besonders interessant. Doch das Individuum, das jetzt in ihrer Nähe Platz genommen hatte, gehörte ja wohl zur ungehobelten Unterschicht.
Der Oberkellner baute sich drohend vor dem Biker auf: Mein lieber Mann, wenn Sie nicht einmal wissen, wen Sie hier treffen wollen, dann gehen Sie jetzt bitte. Wir sind kein öffentliches Restaurant. Wir sind auch keine Absteige für Motorradfahrer. Wir sind hier ...“ Er wurde von dem Ruf einer Reiterin unterbrochen.
Die Frau winkte dem neuen Gast zu. „Hallo, ich bin gleich bei Ihnen!“ Sie lenkte ihre Stute zum Pferdestall.
Der Motorradfahrer winkte zurück.
Der Oberkellner schaute zur Reiterin und fragte den Biker: „Sie kennen Frau Dr. Wiesmann?“
„Wenn das der Name der Dame ist, dann meine ich genau diese.“
Kopfschüttelnd wendete sich der Oberkellner zum Nachbartisch und erkundigte sich nach den Wünschen der neugierigen Damen.
Die Hotelanlage wurde von alten Bäumen begrenzt. Dahinter erhoben sich Berge, auf deren Gipfeln der blaue Himmel ruhte. Zwischen den drei Gebäuden flogen Schwalben und ließen ihren Kot auf die Nobelkarossen platschen.
Der Motorradfahrer beobachtete das Treiben der Vögel schmunzelnd und murmelte: „Das ist die Antwort von Mutter Natur auf den Hochmut der Menschen. Sie haben es nicht besser verdient.“
„Und warum haben die Menschen es nicht besser verdient?“, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm.
Er drehte sich herum und erblickte die Reiterin. Sie hatte ihre Jacke über den Arm gehängt. Bluse und Reithose betonten die sportliche Figur. Sie lächelte. In den blauen Augen stand immer noch die unbeantwortete Frage.
Er zeigte hinauf zu den Schwalben. „Wir Menschen missachten viel zu oft die Natur und die Natur missachtet Produkte, die wir für Statussymbole halten.“
Sie reichte ihm die Hand. „Ich hatte mich in der Aufregung gar nicht vorgestellt. Ich bin Anne Wiesmann. Sagen Sie einfach Anne.“
Er erhob sich, erwiderte ihren festen Händedruck. „Ich bin Wulf. Freunde sagen Raik zu mir.“
„Okay, Raik, bevor wir weiter über die Natur philosophieren, folgen Sie mir bitte ins Haus. Dort will ich mir die Verletzung Ihrer Hand ansehen.“ Sie wendete sich zum Eingang und ging voraus.
Die Innenausstattung des Gebäudes entsprach einem Vier-Sterne-Hotel. Über eine Wendeltreppe gelangten sie in den zweiten Stock. Nach einigen Metern blieb die Reiterin stehen und hielt ihre Key-Card in die Nähe des Schließmechanismus der Zimmertür. Sie traten ein.
Im Vorraum gab eine offene Tür den Blick ins luxuriöse Bad frei. Der Wohnbereich wirkte gemütlich und funktionell. Hinter der Balkontür lockte herrliches Bergpanorama.
„Nehmen Sie bitte Platz“, wies Anne zur Sitzgruppe. Sie öffnete die Tür des Sideboards, zog einen Arztkoffer heraus. „Da ist er ja. Den habe ich immer griffbereit, weil ich nicht zum ersten Mal unfreiwillig vom Pferd gestiegen bin.“
Sie führte Raiks Hand auf den Beistelltisch und tupfte die nässende Wunde mit einem sterilen Tuch ab. Dann streute sie ein pulveriges Antibiotikum darauf.
Er blickte ihr tief in die Augen. „Frau Doktor, haben Sie keine Sorge in Verruf zu kommen, wenn Sie einen fremden Mann mit ins Zimmer nehmen? Einen Mann, der dem Personal des Hohen Hauses nicht angemessen erscheint?“
Sie deckte die Wunde lächelnd ab und verband die Hand. „Bewegen Sie mal den Daumen und die Finger. Der Verband darf die Beweglichkeit nicht einschränken.“
Er streckte die Finger, machte eine Faust, nickte zufrieden. „Danke!“
„Raik ist ein außergewöhnlicher Name. Wo kommt der her?“
„In meinem Pass steht der Name Rainer Wulf. Raik hat mich meine Mutter gerufen.“ Er wies zur Tür. „Ich denke, es ist Zeit für einen Kaffee.“
Es duftete nach warmen Speisen. Doch da zu kalter Frühlingswind über die Terrasse blies, ließen die Mittagsgäste sich ihr Essen im Speisesaal servieren. Anne gab eine Bestellung auf. Schon bald servierte der Oberkellner Kaffee und Gebäck. Er hielt das Milchkännchen bereit und fragte lächelnd: „Frau Doktor, nehmen Sie den Kaffee wie immer?“
„Ja, bitte.“
Der Oberkellner schaute Wulf weniger freundlich an. „Möchte der Herr Milch, Sahne oder Zucker?“
„Bemühen Sie sich nicht. Schwarzer Kaffee passt zu meiner schwarzen Seele.“
Der Oberkellner zuckte mit den Schultern, schaute sich kontrollierend auf der fast menschenleeren Terrasse um und verschwand im Haus.
Raik beobachtete amüsiert die munter springenden Fohlen auf der Pferdekoppel. Die Ärztin betrachtete ihren Gast. In ihren Augen war er sehr attraktiv und hatte ein geheimnisvolles Charisma. Sie schätzte sein Alter auf Anfang bis Mitte Dreißig.
„Raik, so wie Sie meine Stute beruhigt haben, scheinen Sie Profi zu sein.“
„Ich bin mit Pferden aufgewachsen. Sie sind besonders treue Wesen. Als Junge musste ich sie zureiten, bevor mein Vater sie verkaufte. Aber das liegt Ewigkeiten zurück.“ Er lächelte Anne an. „Erzählen Sie mir lieber von Ihrer Arbeit als Ärztin. Ich kann kaum glauben, dass ich eine Doktorin vor mir habe. Nach Ihrem Aussehen dürften Sie höchstens Anfang Zwanzig sein.“
„Danke für die Blumen. Aber da haben Sie sich deutlich verschätzt. Zurück zum Thema Pferde. Sie haben doch bestimmt beruflich damit zu tun. Erzählen Sie mir mehr darüber.“
Raik trank seine Tasse leer und stand auf. „Kommen Sie mit zur Koppel.“
Sie näherten sich dem Zaun. Anne pflückte einen Grasbüschel und hielt ihn Richtung der Fohlen. Die jungen Pferde schauten kurz auf, drehten der Ärztin desinteressiert ihr Hinterteil zu.
Raik machte mit seinem Mund ein seltsames Geräusch. Die Mutterstute drehte die Ohren in seine Richtung. Er rief etwas in fremder Sprache. Neugierig schritt das Pferd zu ihm, beschnupperte das Gesicht des Fremden.
Mit einem Mal drängten auch die Fohlen an den Zaun, fraßen Anne das Gras aus der Hand.
Sie lächelte Raik begeistert an. „Wie machen Sie das? Sind Sie so etwas wie ein Pferdeflüsterer?“
Er strich der Stute über die Mähne. „Vielleicht bin ich so etwas Ähnliches. Ich liebe und schätze Flora und Fauna. Ich versuche ihre Sprache zu verstehen. Manchmal antwortet mir die Natur dann mit einer netten Zuwendung, so wie diese Pferde hier. Jeder Mensch könnte die Sprache der Tiere verstehen, so wie einst unsere Vorfahren. Aber bei der heutigen Massentierhaltung stellt sich der Mensch lieber taub.“
„Raik, wie sehen Ihre Speisegewohnheiten aus? Sind Sie Veganer?“
„Aber nein, man kann Fleisch essen und gleichzeitig Respekt vor den Tieren haben. Tiere fressen andere Tiere. Aber sie nehmen sich nur so viel, wie sie zum Leben brauchen.“
Unter der Anführung des korpulenten Jungen kam eine jubelnde Gruppe Kinder an den Zaun gestürmt. Alle streckten die Arme nach den Fohlen aus. Die Stute stupste Raik an, drehte sich herum und trottete mit den jungen Pferden zur gegenüberliegenden Seite der Koppel.
„Menno, sind die Fohlen doof!“, rief der Dicke enttäuscht und warf Kieselsteine hinter den Pferden her.
Raik fragte im strengen Ton: „Wirft deine Mutter auch mit Steinen, wenn du nicht sofort das tust, was sie von dir will?“
Der Junge schob trotzig die Unterlippe vor, senkte verlegen den Blick. Unter seiner Anführung rannten die Kinder auf einen Stall zu.
Raik bemerkte: „Ich schätze, dieser Bursche ist ein verwöhntes Einzelkind, dem keine vernünftigen Grenzen gesetzt werden.“
„Ja, Ansgars Mutter ist alleinerziehend. Sie ist Schulleiterin und verbringt mit ihrem Sohn in diesem Hotel die Osterferien. Er fällt ständig durch seine Hyperaktivität auf, geht allen Gästen auf die Nerven.“
„Im Grunde genommen kann Ansgar nichts dafür. Er ist das Produkt seiner Erziehung.“
„Raik, spricht da vielleicht aus Ihnen der Pädagoge?“
Er griff demonstrativ in seine Löwenmähne: „Sieht so ein Lehrer aus?“
Anne musterte den Mann erneut von Kopf bis Fuß. Er hatte die Ärmel seines karierten Hemdes bis zu den Ellenbogen aufgerollt, die oberen zwei Knöpfe lässig geöffnet. Die Blue-Jeans wirkte verwaschen. Zum Motorradfahren trug er Stiefel.
Sie lachte. „Nein, Sie sehen wie alles Mögliche aus, aber nicht wie ein Lehrer.“
„Frau Doktor, ich muss Sie enttäuschen. Ich bin tatsächlich Lehrer. Wie sollte Ihrer Meinung nach ein Lehrer aussehen?“
„Ich weiß nicht, irgendwie anders! Welche Fächer unterrichten Sie?“
„Ich unterrichte an einer Privatschule alte Sprachen, Geschichte, Reiten und vertretungsweise Biologie. Das Internat liegt in einem verschlafenen Nest in der Nähe des Bodensees. In den Ferien pack ich meine Taschen und fahre durch die Alpen. Ich gehe gerne wandern und besuche historische Orte.“
„Meine Eltern sind mit mir früher nur zur See gefahren. Die Berge sind mir neu. Können Sie mir besonders interessante Ausflugsziele in dieser Gegend empfehlen?“
„Sind Sie schon mal auf einem Motorrad mitgefahren? Ich könnte Ihnen einige romantische Plätze zeigen.“
„Raik, das geht mir etwas zu schnell. Ich kenne Sie kaum. Wenn Sie hier im Hotel wohnen würden ...“ Sie suchte nach passenden Worten.
„Ich beginne gerade mit meinem Urlaub und habe noch keine Unterkunft gewählt. Meinen Sie, dass in diesem ehrenwerten Haus noch ein Zimmer für mich frei ist?“
„Ostern ist Hauptsaison. Aber fragen kostet nichts.“
Beide durchquerten den Haupteingang des Hotels. Eine Bedienstete der Rezeption telefonierte gerade, gab Zeichen, dass sie jeden Augenblick bereit sei.
Der Oberkellner stand in der Tür zum Speisesaal. „Falls Sie ein Zimmer suchen, wir sind leider ausgebucht!“ Er grinste Wulf süffisant an.
Die Frau an der Rezeption legte den Telefonhörer auf und blickte den neuen Gast an. „Bitte schön, mein Name ist Wesler. Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich hätte gerne ein Zimmer, aber Ihr Türsteher mit der weißen Jacke meinte bereits, dass für mich in diesem Haus kein Platz ist.“
Anne mischte sich ein: „Schauen Sie bitte nach. Für den Notfall gibt es immer eine Möglichkeit!“
Die Angestellte tippte auf der Computertastatur, blickte zum Monitor. Dann schüttelte sie den Kopf. „Auch bei bestem Willen finde ich kein freies Zimmer. Ich könnte bei einem Nachbarhotel anrufen oder bei der Touristeninformation nachfragen.“
Raik sah, dass der Oberkellner verschwunden war. Er zog eine Geldbörse aus seiner Jeans, fingerte einen Fünfzig-Euro-Schein heraus und legte ihn auf die Tastatur der Bediensteten. „Mir reicht eine Kammer für Hilfspersonal. Schauen Sie mal unter dieser Rubrik.“
Anne blickte die Dame der Rezeption ebenfalls erwartungsvoll an. „Nun geben Sie sich einen Ruck. Wenn Sie Ärger mit Ihrem Vorgesetzten bekommen, dann stehe ich Ihnen selbstverständlich bei. Herr Wulf ist ein guter Bekannter von mir.“
Frau Wesler errötete. Doch dann nahm sie rasch den Geldschein. „Okay, Frau Doktor, ich verlasse mich auf Ihr Wort.“ Sie reichte dem neuen Gast einen Schlüssel. „Herr Wulf, Sie haben das Zimmer 96 im Dachgeschoss. Es gibt aber nur eine Etagendusche und Etagentoilette.“
Raik stellte die Packtaschen des Motorrads in seinem bescheidenen Zimmer ab. Dann wartete er mit einer Motorradjacke über der Schulter im zweiten Stock an der Wendeltreppe.
Endlich kam Anne aus ihrem Zimmer. Sie hatte sich umgezogen und blickte verunsichert an ihrer Kleidung herunter. „Ist mein Outfit so okay?“
„Lederjacke, Jeans und Wanderschuhe sind fürs Motorradfahren passend. Wir müssen nur noch für einen zweiten Helm sorgen. Den finden wir im Nachbarort, dort gibt es einen Motorradverleih.“
Als sie aus dem Foyer in die Sonne traten, standen Kinder um das Motorrad herum. Der dicke Junge drehte hektisch am Gasgriff und machte mit seinem Mund das Motorgeräusch nach.
Raik pfiff auf zwei Fingern so schallend, dass den Gästen auf der Terrasse fast die Tassen aus den Händen fielen. Die noble Gesellschaft schüttelte über das primitive Benehmen des neuen Gastes die Köpfe. Der dicke Junge und seine Bande ergriffen augenblicklich die Flucht.
Raik reichte der Sozia seinen Helm. „Setzen Sie den bitte auf, bis wir für Sie gleich einen eigenen gefunden haben.“ Er schwenkte sein Bein über die Sitzbank.
Anne blickte auf den riesigen Tank. Mit einem Mal schauderte ihr vor der Größe des Motorrads.
„Frau Doktor, der Sattel Ihrer Stute war noch viel höher. Also keine Sorge. Außerdem bockt dieses Pferd nicht.“
Anne zog den Helm über den Kopf, bestieg die Sitzbank und umklammerte zögerlich die Taille des Sozius. Der Motor sprang an. Das Zweirad rollte langsam am Zaun der Pferdekoppel entlang. Schon bald erreichten sie die Straße.
Raik sagte: „Ich werde jetzt mal vom Trab in den Galopp übergehen. Einverstanden?“
Sie umfasste seine Taille noch fester. Die Maschine beschleunigte. Der Fahrtwind griff in Raiks Löwenmähne.
Nach einem Kilometer erreichten sie ein Dorf. Der Biker steuerte eine Tankstelle an. Auf dem Parkplatz standen mehrere Motorräder zum Verleih. Raik wartete, bis die Sozia von der Maschine gestiegen war und stellte die BMW auf den Seitenständer.
Im Geschäftsraum des Motorradhändlers schaute sich Anne die Leihhelme an. Raik sah, wie sie angewidert das Gesicht verzog und fragte: „Sie mögen keinen Helm aufsetzen, den schon mehrere Leute getragen haben?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Okay, dann schauen wir doch mal nach einem neuen Helm. Was für eine Signalfarbe würden Sie bevorzugen?“
Anne betrachtete in einem Regal das Angebot mit neuen Helmen, nahm einen knallgelben heraus und zog ihn über den Kopf. „Der passt mir wie angegossen“, sagte sie. Ihre Stimme klang Dumpf hinter dem geschlossenen Visier. Dann blickte sie in einen Wandspiegel und lächelte zufrieden.
Für einen Moment schloss die Ärztin die Augen. Zweifel überkamen sie. Was tat sie hier gerade? Als Unfallchirurgin waren ihr bisher alle Motorradfahrer suspekt gewesen. Selbst ihre männlichen Kollegen bezeichneten diese Spezies als rasende Organspender. **Doch was tat Sie? Sie war im Begriff, ebenfalls voller Leichtsinn auf eine Motorradtour zu gehen.
Raik sah im Spiegel, dass Anne die Augen geschlossen hielt und ganz in Gedanken war. „Frau Doktor, ich sage es nochmal. Das Motorrad ist auch nur ein Pferd. Der einzige Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass man mit Pferden sprechen kann.“
Lachend zog sie den Helm vom Kopf und schritt damit zur Kasse.
Raik wählte eine alpine Strecke, so dass sich die Maschine während der Fahrt mal weit nach links und mal nach rechts in die Kurven legte. Nadelbäume und wechselndes Sonnenlicht zauberten Muster auf den Asphalt. Über den Wäldern leuchteten weiße Bergspitzen. Entgegenkommende Biker hoben grüßend die Hände.
Annes mulmiges Gefühl verwandelte sich mehr und mehr in abenteuerliche Lust. Jetzt konnte sie verstehen, warum viele Menschen von dieser Art zu fahren schwärmten.
Nach einer Stunde Fahrt über Landstraßen bogen sie in einen Forstweg ein. Hinter dichtem Wald breitete sich vor ihnen ein See aus. Am gegenüberliegenden Ufer spiegelte sich eine majestätische Felswand im Wasser.
Raik zeigte zu den Gipfeln. „Dort sind Gämse, die besten Bergsteiger.“
Anne hielt sich eine Hand über die Augen, da die Sonne am wolkenfreien Himmel blendete.
Sie setzten sich auf Steine, ließen das Bergpanorama auf sich wirken. Minutenlang herrschte Stille.
Die Frühlingsluft wirkte besonders klar. Bergblumen, Nadelbäume und das Erdreich grüßten mit intensiven Düften. Selbst das Gewässer hatte scheinbar einen eigenen Geruch. Hin und wieder raschelte es im Unterholz, meldeten sich ferne Tierstimmen.
Anne sagte leise: „Diese Symphonie der Sinne ist ein wunderbares Erlebnis.“
Raik nickte stumm, sog hörbar die klare Luft ein.
Ein Schrei zerriss die Stille. Die junge Frau zuckte zusammen. Raik legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern und zeigte zum Himmel. „Das ist einer der letzten Steinadler. Sie waren früher die Herren der Alpen.“
Der Raubvogel zog ruhige Kreise. Ohne Vorwarnung legte er die Schwingen an und stürzte wie ein Pfeil zur Erde. Er verschwand hinter einer Baumgruppe.
„Raik, meinst du, er hat jetzt Beute gemacht?“ Sie schaute den Hünen entsetzt an.
Er blickte ihr lächelnd in die Augen. „Frau Doktor hat mich gerade geduzt. Bleiben wir jetzt dabei?“
„Okay, bleiben wir beim Du.“ Vergnügt warf sie einen Kiesel ins Wasser. Ringförmige Wellen breiteten sich aus.
Raik ging zu einem mit Kraut umwucherten Felsgestein. Er kehrte zurück und reichte Anne eine weiße Blume. „Das ist eine Schneerose. Sie blüht noch vor dem Frühlingsbeginn.“ Er wies auf einige andere Blumen am Waldrand und fuhr fort: „Die kommen fast alle pünktlich zum Frühlingsfest heraus.“
„Zum Frühlingsfest? Ist das hier eine Tradition?“
„Unsere keltischen Vorfahren feierten um diese Zeit das Vogelfest. Sobald die ersten Zugvögel gesichtet wurden, gab es ein Festmahl. Hasen, Schwalben und Eier waren Symbole, die heute zum Osterfest gehören. Die Kirche hat ihre Feste genau auf die Festtage unserer Ahnen gelegt, um die sogenannten heidnischen Götter vergessen zu machen. Aber gerade dadurch wurden diese sogar unvergesslich.“
„Unsere Ahnen? Ich schätze, dass du als Lehrer viel über die Kelten weißt.“
„Sorry, wenn ich wie ein Pauker klinge.“
Anne warf einen weiteren Kiesel ins stille Wasser. Das Spiegelbild des Bergmassivs bekam wellenförmige Risse. „Soweit ich aus der Schule weiß, ist meine Heimat im Ruhrgebiet ehemals das Land der Germanen gewesen. Aber ich habe auch gelesen, dass im Sauerland, wo die Ruhr entspringt, die Kelten gelebt hätten.“
„Die Germanen haben sich selbst nie als Germanen bezeichnet. Diesen Namen hat Cäsar in die Welt gesetzt. Die Götter deiner und meiner Vorfahren waren im Grunde genommen die gleichen.“
Anne legte sich genüsslich rückwärts ins weiche Gras und hielt die Hände hinter den Kopf. „Erzähl mir von den alten Göttern.“
„Was jedes Lebewesen im Frühjahr spüren kann, ist die Kraft von Ostara. Sie ist die Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit. Alles beginnt in dieser Zeit zu blühen, alles will aus dem Boden heraus. Die Natur verausgabt sich mit ihren Farben und Düften. Die Luft ist regelrecht mit Leben geschwängert. Die Vögel kehren aus dem Süden heim, suchen ihre Partner, und alle Tiere erwachen aus dem Winterschlaf. Spürst du diese Energie? Spürst du, welche Kraft auch dieser stille Ort hat?“
„Ich weiß nicht so recht, was ich deiner Beschreibung nach empfinden soll. Egal ... Du glaubst also, dass die Kirche ihre Feste nach den alten Göttern ausgerichtet hat?“
„Ja, denn Ostern ist schon vor der Zeitenwende das Fest der Wiedergeburt der Natur gewesen. Das nächste Fest der Kelten hieß Beltane und wurde von der Kirche arg bekämpft. Es fand in der Nacht zum 1. Mai statt. Man feierte das Feuer und die Blumen. Heute nennen wir es “Tanz in den Mai“. Langweile ich dich auch nicht mit diesen Gedanken? Einige meiner Schüler wären jetzt bereits schon eingeschlafen.“
„Nein, irgendwie werden diese alten Mythen hier, mitten in der Natur, erst richtig lebendig. Erzähl ruhig weiter.“
„Zu Beltane wurde geschmaust und danach fast nackt getanzt. Es war ein Fest der Liebe. Man ehrte damit den Licht- oder Sonnengott Belt, da die Sommerzeit in Sicht war. Die Kirche machte daraus die Walpurgisnacht. Christenpriester behaupteten, Teufel und Hexen würden in dieser Nacht tanzen, und sie hofften, dass das heidnische Fest damit verschwinden würde.“ Raik blickte Anne erwartungsvoll an und fragte: „Bist du bis Anfang Mai noch hier?“
„Oh, du meinst, um mit dir halb nackt um den Maibaum zu tanzen?“
„Frau Doktor, das ist ein äußerst verlockender Gedanke.“
„Lehrer Wulf, am 1. Mai stehe ich längst wieder am OP-Tisch.“ Anne klopfte sich das Gras von der Jeans, Raik blickte auf die Uhr.
„Gut, schwingen wir uns also auf den eisernen Hengst. Wenn du magst, dann steigen wir als nächstes durch eine rauschende Klamm.“
Als die Biker am späten Nachmittag das Hinweisschild zum Hotel Equitana passierten, bog ein Geländewagen mit Pferdeanhänger auf die Landstraße. Raik hielt an. Seine Stimme klang dumpf unter dem Helm: „Früher zog das Pferd den Wagen. Heute zieht der Wagen das Pferd. Die moderne Welt steht Kopf! Bei diesem Anblick wird sich Epona vor Lachen schütteln.“
„Wer ist nochmal Epona?“
„Sie ist die keltische Göttin der Pferde. Sie wurde sogar von den Römern verehrt.“
Raik legte den Gang ein und lenkte zum Parkplatz des Hotels. Die Biker begaben sich in ihre Zimmer, bereiteten sich auf das Abendessen vor.
Duft erlesener Speisen lag in der Luft des Esszimmers. Alle Tische waren besetzt. Verhaltenes Gemurmel mischte sich mit klassischer Musik der Lautsprecheranlage. Raik trat ein. Er entdeckte Anne in der Nähe des offenen Kamins an einem Zweier-Tisch. Sie winkte. Ihr offenes Haar fiel bis über die Schultern. Sie trug ein Kostüm und hochhackige Schuhe.
Raik war mit schwarzer Jeans und kurzärmeligem Markenhemd bekleidet. Die frisch geföhnte Löwenmähne wirkte noch voller. Einen Moment lang richteten sich viele Blicke auf den athletischen Hünen mit der ungewöhnlichen Frisur. Das Gemurmel verstummte.
„Guten Abend, Frau Doktor“, grüßte Raik und deutete eine stilvolle Verbeugung an.
Anne lachte angesichts dieser übertriebenen Geste. Sie hatte ein Glas Rotwein vor sich stehen und nippte daran.
Das Gemurmel der Gäste wurde wieder lauter. Der Oberkellner, der sich Raik gegenüber am Mittag so abweisend verhalten hatte, trat an den Tisch und fragte steif: „Möchte der Herr etwas zu trinken bestellen?“
Raik zeigte auf Annes Glas. „Bringen Sie mir auch so einen Chateau-Migräne. Außerdem hätten wir gerne die Speisekarte. Frau Doktor verhungert bereits.“
Anne bedankte sich freundlich beim Oberkellner. Nachdem der Mann im weißen Sakko außer Hörweite war, legte sie ihre Hand auf Raiks Unterarm und flüsterte: „Wenn ihr beide euch seht, dann knistert hörbar die Luft. Schließe Frieden mit ihm.“
Im gleichen Moment blickte die Ärztin auf Raiks Handrücken. Der Verband, den sie selbst angelegt hatte, war fort, die tiefe Kratzwunde nicht mehr zu sehen. Nur eine feine Narbe war noch erkennbar. Ungläubig ertastete ihr Finger die verheilte Stelle. „Raik, wenn ich die Wunde nicht selbst versorgt hätte, dann würde ich nicht glauben, was ich da sehe.“
Er zog seine Hand rasch zurück. „Ich hatte Glück, dass ich an eine so kompetente Ärztin geraten bin, die mich spontan versorgt hat.“
„Nein, das hat nichts mit ärztlicher Kunst zu tun. Ich arbeite seit einigen Jahren in der Chirurgie. So schnell verheilt nicht einmal ein minimal invasiver Schnitt.“
Raik hob sein Glas und hielt es ihr zum Anstoßen entgegen: „Warum akzeptierst du nicht, dass mir deine medizinische Kunst so rasch geholfen hat?“
Anne lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihr Gegenüber wie ein seltenes Studienobjekt. „Raik, du bist ein außergewöhnlicher Mensch. Ich weiß noch nicht so recht, was ich von dir halten soll. Die unnatürlich schnelle Heilung deiner Verletzung grenzt angesichts der heutigen Wissenschaft an ein biologisches Wunder.“
„In dem Internat, in dem ich arbeite, gibt es ein Aquarium für Axolotl. Diese putzigen Tierchen zanken sich hin und wieder. Unsere Schülerinnen und Schüler sind fasziniert, wie rasch bei dieser Spezies die Verletzungen heilen. Nicht nur das, verstümmelte Körperteile wachsen sogar nach.“
„Aha – und du glaubst, dass sich die Regeneration eines Axolotl mit der menschlichen Physiologie vergleichen lässt?“
Oberkellner Hans und seine Kolleginnen servierten die Vorspeisen. Die Gäste applaudierten. Raik und Anne konzentrierten sich auf ihre Speisen. Sie sprachen dabei über den Boom der Koch-Shows in den Medien.
Bis zum letzten Gang, einem kunstvoll servierten Dessert, war es draußen stockfinster geworden.
Nach dem üppigen Mahl verabredeten sich Anne und Raik am Hoteleingang zu einem Spaziergang. Vor der Tür war es kalt. Anne schloss ihre dicke Jacke. Zuerst passierten sie die Pferdekoppel und bogen in einen dunklen Waldweg ein. Je weiter sie sich von den Lichtquellen der Hotelgebäude entfernten, umso deutlicher traten scheinbar die Sterne hervor. Der Weg war nur noch schattenhaft zu erkennen. Die Stille wirkte geheimnisvoll. Ihre Schritte machten die einzigen Geräusche. Am Ende des Waldwegs breitete sich eine abschüssige Wiese aus.
„Hier ist es so düster, dass man fast die Orientierung verliert“, sagte Anne leise, „auch der Mond hat so stark abgenommen, dass er kaum noch Licht abgibt. Ein Sterngucker käme hier bestimmt auf seine Kosten. In meiner Heimat kommen die Sterne so selten heraus, dass ich mich nie mit ihnen beschäftigt habe.“
Raik drehte sie sanft an den Schultern herum und erklärte: „Wenn Frau Doktor jetzt hochschaut, dann sieht sie einen hellen Planeten im Sternbild der Jungfrau. Das ist der Saturn. Er steigt am Aprilabend im Osten zusammen mit der Jungfrau auf. Ist das nicht ein romantischer Gedanke?“ Er zog ein kleines Monokular aus der Jackentasche und reichte es ihr. „Versuche es mal hiermit. Wenn du den Saturn in der Linse hast, dann erkennst du sogar seine Ringe.“
Anne hielt sich das kleine Fernglas vors Auge und suchte den Himmel ab. „Tatsächlich, ich sehe die Ringe! Wahnsinn, die habe ich bisher nur auf Bildern oder im Fernseher gesehen.“
Unbewusst lehnte sie sich mit ihren Schultern an Raik. Er schloss seine Arme um ihre Taille.
Sie löste seine Hände und gab ihm das Monokular zurück. „Lehrer Wulf, ich denke, jetzt wird mir der Unterricht zu eng. Andererseits ist es kalt. Wir kehren zum Hotel zurück.“
Als sie das Foyer erreichten, sagte sie: „Danke für die tolle Motorradfahrt und den unterhaltsamen Abend. Ich bin müde und zieh mich zurück.“
„Ich bedanke mich ebenfalls für deine ärztliche Versorgung und die charmante Begleitung. Hast du Lust, morgen mit mir auszureiten?“
„Okay, wir sehen uns beim Frühstück.“
Die Morgensonne strahlte warm durch die Fenster des Speiseraums. Anne trat ein.
„Grüß Gott, Frau Dr. Wiesmann“, grüßte eine Bedienstete, die die ersten hungrigen Gäste bediente.
Raik saß an einem Tisch und las die Zeitung. Als er die Ärztin erblickte, stand er auf und reichte ihr die Hand. „Guten Morgen, du siehst blendend aus. Anscheinend hast du gut geschlafen.“
„In der Tat. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier.“
„Hast du denn schon mal ein Murmeltier in freier Natur gesehen?“
„Nein, in Natura noch nicht.“ Sie gab der Bedienung ein Zeichen, den Kaffee zu bringen.
Raik zündete die Tischkerze an. „Ich habe vor, in den nächsten Tagen in Österreich über die Glockner-Passstraße zu fahren. An der Franz-Josefs-Höhe könntest du Murmeltiere sehen. Sie sind so zahm, dass sie sich von den Besuchern füttern lassen.“
Die Ärztin ging nicht darauf ein, sondern griff nach Raiks Hand. Sie strich über den Handrücken. „Nicht einmal der Ansatz einer Narbe ist von deiner gestrigen Verletzung zu sehen. Das ist für mich fachlich nicht nachvollziehbar.“
Er zog die Hand zurück. „Ja, der dumme Kratzer ist weg. Die Verletzung war ja nur oberflächlich. Ich hab eine gute Heilhaut. Lass uns über etwas anderes reden.“ Er hielt ihr einen Korb mit duftendem Brot entgegen.
Eine Stunde später betraten beide den Reitstall. Ein hochgewachsener Pferdepfleger hob seine schwarze Reiterkappe und strich sich über das schüttere Haar. „Grüß Gott, Frau Doktor, ich bin Josef Feudl. Tut mir leid, dass Ihnen unsere Stute gestern Probleme bereitet hat. Heute empfehle ich Ihnen unsere Jule. Sie ist sehr erfahren und die Ruhe selbst.“
Anne besah sich das hellbraune Tier und nickte. „Okay, ich denke, Jule und ich werden uns verstehen.“
Raik mischte sich ein: „Josef, was ist mit dem Plattschecken?“ Er nickte mit dem Kinn zu einer anderen Stute und erklärte: „Das ist ein Noriker, ein Kaltblut. Es ist sehr trittfest und besonders nervenstark. Die Kelten haben einst diese Rasse gezüchtet.“
Anne ging auf die gefleckte Stute zu und schwärmte: „Oh ja, die sieht toll aus! Josef, darf ich die heute reiten?“
Der Stallknecht nickte mit etwas beleidigter Miene. „Wie Madam belieben. Dieses Mädchen heißt Hexe. Ab und zu ist sie etwas eigenwillig. Aber wenn sie Hexe unbedingt reiten wollen, dann bitte.“
Raik beobachtete im Augenwinkel, dass Oberkellner Hans von der Seitentür Josef heimlich ein Zeichen gab. Der Pferdepfleger nickte kaum sichtbar. Er winkte Raik zu, ihm zu folgen. Sie blieben neben der Box eines pechschwarzen Hengstes stehen.
Josef fragte: „Wie wäre es mit diesem Rappen? Da Sie sich als Experte geben, dürfte er der Richtige für Sie sein.“
Raik ging um das stattliche Tier herum. Der Hengst beäugte den Hünen misstrauisch, nickte heftig mit dem Kopf, schnaufte, scharrte drohend mit dem Hinterlauf.
Anne zupfte Raik am Ärmel und flüsterte: „Der scheint sehr wild zu sein. Nimm lieber ein anderes Pferd.“
Er machte mit dem Mund ein seltsames Geräusch. Der Hengst drehte die Ohren in seine Richtung und stand abrupt still.
„Josef, das ist ein Halbblut. Der hat bestimmt mächtig Temperament, nicht wahr? Solche Pferde werden von Sonntagsreitern nicht gerne genommen.“
Der Stallknecht zuckte verlegen mit den Schultern. „Sie müssen ihn ja nicht nehmen.“
„Schon gut – wie heißt der temperamentvolle Junge?“
„Das ist unser Lennox.“
„Der gefällt mir. Lennox ist ein keltischer Name. Ich denke, Lennox und ich kommen gut zusammen. Zeigen Sie mir einen passenden Sattel und das weitere Zubehör.“
Eine Viertelstunde später führten sie die gesattelten Pferde aus dem Stall.
Oberkellner Hans stand auf der Terrasse und wartete mit Spannung darauf, dass das Pärchen die Pferde bestieg.
Eine stilvolle, ältere Dame stieß den Kellner an und fragte im Flüsterton: „Ist das nicht dieser wilde Hengst, der in der letzten Woche Ihren Reitlehrer abgeworfen hat?“
Hans sagte verschmitzt: „Ich kenne mich mit Speisen und Getränken aus. Die Pferde unserer Anlage kann ich nicht unterscheiden.“
Raik ließ den Zügel von Lennox los und stellte sich im Abstand einiger Schritte vor das stolze Tier. Er schaute anscheinend knapp an dem Hengst vorbei. Mal blickte er nach links, dann wieder nach rechts. Das Pferd führte seltsamer Weise ähnliche Kopfbewegungen aus. Dann ging Raik auf Lennox zu und hielt ihm seine Rechte unter die Nüstern. Die Pferdezunge leckte mehrmals über die geöffnete Hand. Der Hüne trat gefühlvoll in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Lennox blieb unbewegt stehen. Josef hob seine Kappe an, kratzte sich verwundert am Kopf und tauschte mit Hans stumme Blicke.
Anne bestieg ebenfalls ihre Stute. Beide Reiter setzten sich in Bewegung. Schon bald passierten sie den Waldweg, durch den sie am vorherigen Abend spaziert waren. Als sie die abschüssige Wiese erreichten, ritt Raik neben Anne und hielt sie an. Er zog eine goldene Kette von seinem Hals und reichte diese der Reiterin. „Das ist ein Glücksbringer. Solange du diese Kette trägst, kann dir beim Reiten nichts Schlimmes zustoßen. Wenn du sie nicht magst, dann gib sie mir trotzdem erst heute Abend zurück.“
Anne betrachtete den Kettenanhänger, der eine Frauenfigur darstellte.
„Wer soll das sein?“
„Das ist Epona. Einer meiner Urahnen hat das Amulett mit viel Liebe geschmiedet. Es hat immer Glück gebracht.“
Schmunzelnd hängte sie sich die Kette um ihren Hals. „Danke, ich gebe sie dir nach dem Ausflug zurück.“
Die Reiter genossen das Panorama. Die Wiese vor ihnen führte in ein breites Tal, in dem sich ein Bach schlängelte. Buchenwald begrenzte die Wiese zur Linken. Zur Rechten erhoben sich schroffe Felsen.
Am gegenüberliegenden Bachufer führte ein Waldweg zur nächsten Anhöhe. Dahinter erhob sich ein Berg mit schneebedecktem Gipfel.
„Schauen wir, was dort drüben hinter dem bewaldeten Hügel zu sehen ist!“, rief Anne und gab ihrer Stute die Sporen.
Raik besah sich im größer werdenden Abstand ihren Reitstil. Lennox begann unter ihm unruhig zu tänzeln.
„Ruhig, mein feuriger Freund“, flüsterte Raik und tätschelte Lennox‘ Hals. „Gib den Mädels einen kleinen Vorsprung. Danach kannst du mir ja zeigen, was du drauf hast.“
Anne blieb vor dem Bach neben dem Buchenwald stehen, drehte sich im Sattel herum und winkte. Auf einmal schallte lautes Bellen durch das Tal. Eine große Bulldogge schoss auf Annes Stute zu und schnappte nach deren Hinterlauf. Das Pferd schlug aus. Die Ärztin konnte sich nur mit äußerster Mühe im Sattel halten. Erneut griff der Hund an.
Raik pfiff schallend auf den Fingern und gab Lennox die Sporen. Der schwarze Hengst ging in einen gestreckten Galopp über.
Während der Hund durch Raiks Pfiffe abgelenkt wurde, ergriff die Stute instinktiv die Flucht. Anne sah darin ebenfalls die beste Lösung und ließ die Zügel locker. Hexe wurde immer schneller, galoppierte ein Stück die Wiese hinauf.
Die Bulldogge folgte ihnen. Der Abstand zwischen ihr und der Stute wurde größer.
Dann machte Hexe eine Wende, galoppierte in die Gegenrichtung. Der Wildbach kam rasch näher.
Anne bekam Panik. Von Weitem hatte das Gewässer schmaler ausgesehen. Die Fluten schäumten über riesige Kieselsteine. Angeschwemmte Baumstämme stauten das Wasser zu tiefen Becken. Für Anne war es kaum vorstellbar, dass Hexe diesen Bach überspringen könnte.
Der verdammte Höllenhund ließ sich nicht abschütteln.
Zum Ufer waren es noch höchstens fünfzig Meter. Was sollte sie tun? Anhalten oder springen? Die Reiterin musste endlich eine Entscheidung treffen. In ihrer weit vorgebeugten Haltung strich das goldene Amulett über ihre Wange.
Anne presste ihr Gesicht in die Pferdemähne und flehte: „Epona, hilf uns!“
Pfeilschnell schoss das Pferd auf die Uferböschung zu.
Dann schien es wie der geflügelte Pegasus über dem Bach durch die Luft zu gleiten. Gischt spritze Anne ins Gesicht.
Hexe setzte knapp hinter dem anderen Ufer auf. Sie galoppierte noch ein Stück und blieb erst am Waldrand zitternd stehen.
Der Hund überquerte das wilde Gewässer nicht. Er sprang nur bellend am Ufer hin und her.
Anne bekam feuchte Augen. Dankbar tätschelte sie den Hals der Stute. Durch den Tränenschleier sah sie, dass Raik auch den Bach erreichte. Jetzt griff der Hund den schwarzen Hengst an. Lennox bäumte sich auf, keilte nach vorne und hinten aus. Der Hund wich nur kurz zurück. Raik stand wie ein Rodeo-Reiter in den Steigbügeln. Lennox drehte sich um die eigene Achse. Blitzschnell trat er mit beiden Hinterläufen nach dem Angreifer und traf. Der Hund wurde im Bogen durch die Luft geschleudert, blieb jaulend im Gras liegen.
Oberhalb des Buchenwaldes stand ein älterer Mann, der wild gestikulierte. Er rief seinen Hund.
Raik traute dem Frieden nicht. Er nahm mit Lennox Abstand von der Bulldogge.
Mit hochrotem Kopf kam der grauhaarige Halter herbeigelaufen. Er bückte sich zu seinem Hund und tastete ihn besorgt ab. Dann stand er auf und schrie den Reiter an: „Der Hund hat die Rippen gebrochen! Ich werde Sie verklagen!“
Raik zeigte hinter sich zu der Reiterin und erwiderte: „Seien Sie froh, dass die Dame sich nicht das Genick gebrochen hat. Ihr Hund hat einen Maulkorb zu tragen und an der Leine zu gehen.“
Der Mann hob drohend die Faust und wetterte: „Das wird noch ein Nachspiel haben.“
„Tun Sie, was Sie wollen“, sagte Raik gelassen.
Er lenkte Lennox ein weites Stück vom Bachufer zurück, wendete, gab dem Hengst die Sporen. Der schoss lang gestreckt durch die schäumende Gischt, setzte sicher am anderen Ufer auf. Neben Anne blieb er endlich stehen.
Die Reiterin schüttelte den Kopf. „Es ist unverantwortlich, so einen großen Hund ohne Leine laufen zu lassen. Was hat der Mann zu dir gesagt?“
„Er will mich anzeigen, weil Lennox seinen Hund verletzt hat.“
„So ein Idiot! So viel Frechheit ist ja unerträglich!“
„Vergiss ihn. Mich hat euer Sprung über den breiten Bach sehr beeindruckt. Hexe und du seid ein gutes Team.“
Anne tätschelte der Stute den Hals. „Eigentlich hat Hexe alles alleine gemacht und ich war nur ein Passagier.“
Als Raik nochmal zu dem Hundebesitzer zurückblickte, sprach der gestikulierend in sein Handy.
Die Reiter lenkten ihre Pferde zum Waldweg, der sich kurvenreich bis zum höchsten Punkt des Hügels hinaufzog. Dahinter wartete die nächste Bergkulisse. Um diese Zeit waren die Forst- und Wanderwege frei von Touristen. Nur selten begegnete ihnen ein heimischer Mountainbiker. Raik hielt an einem kleinen Bach an, stieg aus dem Sattel.
Anne tat es ihm nach.
„Du brauchst Hexe nicht anzubinden“, sagte er. „Solange Lennox hier ist, läuft auch sie nicht weg.“
„Und woher weißt du, dass Lennox nicht wegläuft?“
„Er hat es mir geflüstert.“ Raik blickte Anne tief in die Augen. „Als ich gesehen habe, wie du auf den Bach zugejagt bist, ist mir fast das Herz stehen geblieben. Dein Sprung über diese Distanz war eine grandiose Leistung.“
Anne griff demonstrativ nach dem Schmuckanhänger ihrer Halskette und lachte. „Ich habe Epona beschworen und hatte keine Angst mehr. Hexe hat alles alleine gemacht. Ich brauchte mich nur festzuhalten.“
Raik zeigte auf die goldene Figur in ihrer Hand, die in der Sonne funkelte. „Diese Figur verkörpert auch die große Muttergöttin in Jugendgestalt. Sie ist voller Kraft, jung und schön. So wie du. Mach sie mit deiner Schönheit nicht eifersüchtig, dann wirkt ihr Zauber nicht mehr.“
„Lehrer Wulf, wie vielen Frauen hast du dieses Märchen schon erzählt?“ Sie zog die Kette über den Kopf und hielt sie ihm entgegen. „Mit Dank zurück. Es wird nicht hinter jedem Hügel ein bissiger Köter lauern.“
Er legte das Amulett in ihre Hand zurück und schloss ihre Finger darüber. „Bitte behalte es. Solange du diesen Anhänger über deinem Herzen trägst, schützt Epona dich und die, die du liebst.“
Mit gemischten Gefühlen legte Anne die Kette erneut an. Er zog eine Wasserflasche aus der Satteltasche, reichte sie der Reiterin. Beide setzten sich auf Felsgestein und genossen den Blick ins Tal.