Triathlon der Angst - Dieter Kleffner - E-Book

Triathlon der Angst E-Book

Dieter Kleffner

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Beschreibung

Luise und Jan haben zufällig dasselbe Urlaubsziel. Beide wollen in einen Aktivurlaub starten. Während Jan am ersten Urlaubstag mit dem Joggen beginnt, besucht Luise eine Sauna. Plötzlich ist die Tür verschlossen. Luise schreit vergeblich um Hilfe. Sie verliert das Bewusstsein und erwacht erst im Krankenhaus. Jan kümmert sich rührend um sie. Schon bald entwickelt sich mehr als eine Urlaubsfreundschaft. Als sie zusammen das Krankenhaus verlassen, werden sie von mehreren Motorradfahrern beobachtet und bedroht. Doch warum werden die beiden verfolgt? Warum trachtet man ihr sogar nach dem Leben? Eine halsbrecherische Jagd durch die schönen Landschaften von Vorpommern und der Insel Rügen beginnt. Kann die Zuflucht auf einer Fähre beide vor den Rockern retten oder ist das eine Falle? Triathlon der Angst hält den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in Atem.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Edition Paashaas Verlag

Autor: Dieter Kleffner Covermotive: Pixabay

Cover designed by Michael Frädrich

Lektorat: Nina Sock/Manuela Klumpjan

Originalausgabe: August 2022

Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-110-6

© Copyright Edition Paashaas Verlag

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.

Sollten Ereignisse oder Namen im Buch erscheinen, welche auf jemanden zutreffen, so ist das ungewollter Zufall. Die Haftung jeglicher Art wird abgelehnt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Triathlon der Angst

Thriller

Erben machen Neider.

Neid macht böses Blut.

Böses Blut macht kriminell!

Obwohl der Himmel wolkenfrei war und sich die Sonne hinter alten Bäumen müde zur Ruhe senkte, kündigte ein außergewöhnliches Donnergeräusch Unheil an. An der Landstraße nach Finnental drehten sich Spaziergänger alarmiert herum. Von Weitem tauchten auf der Alleestraße viele Lichter auf. Das Donnern rollte in Form von zahlreichen Motorrädern heran. Mit Hupen und frechen Zurufen rasten die Biker an den Fußgängern vorbei. Auf ihren Lederjacken funkelten silberne Nieten mit dem Schriftzug “The Fire Comets“. Die Motorräder bogen zu einer Gaststätte mit Biergarten ab. Alle Maschinen parkten in geschlossener Reihe ein. Die Vorderräder wurden startbereit zur Fahrbahn ausgerichtet. Auf das Zeichen ihres Anführers drehten die Motoren noch einmal höllisch auf, dann war es totenstill.

Die Rocker-Szene wirkte auf die Gäste im Biergarten faszinierend und bedrohlich zugleich. Mehrere Maschinen waren doppelt besetzt. Die Männer stiegen ab und zogen ihre Helme von den Köpfen. Sie drängten durch die Holzbänke, schoben polternd Tische zusammen und riefen nach der Bedienung.

Endlich kam die erste Runde Bier. Unter Jubeln stießen die Männer an. Mit ihren Zurufen und johlenden Gesängen übertönten sie den gesamten Biergarten. Die restlichen Gäste blickten sich immer wieder verschüchtert nach den Rockern um. Da auch die Bedienung Angst hatte, für etwas mehr Ruhe zu sorgen, saßen die Biker bald allein. Einer von ihnen hatte eine tragbare Musikanlage herbeigeholt. Aus den Lautsprechern dröhnte die alte Rockmusik von Steppenwolf mit dem Titel “Born to be wild“.

Wilhelm Sattler bewohnte in der Klinik seit einigen Wochen ein Einzelzimmer der Geriatrie. Sein Gesundheitszustand war nach eigenem Gefühl schlechter, als man ihm das gesagt hatte. Der zweiundachtzigjährige Kaufmann grübelte über sein vergangenes Leben nach: Er hatte mit seiner Frau Anna seit der Nachkriegszeit ein Lebensmittelgeschäft aufgebaut, das der Familie über viele Jahre Wohlstand beschert hatte. Mit der Geburt ihrer Kinder, Marlies und Dietmar, war das Familienglück komplett gewesen. In der nächsten Generation blieb das Glück jedoch nicht ständig an der Seite der Sattlers. Marlies hatte ihren unehelichen Sohn Birger ohne dessen Vater aufziehen müssen. Vor zwei Jahren hatte der Krebs Wilhelms Frau Anna das Leben genommen und kürzlich auch noch das Leben seiner Tochter Marlies.

Der alte Mann besaß nach diesen schmerzhaften Schicksalsschlägen keine Kraft mehr. Er dachte an seinen hoffnungsvollen Spross Dietmar. Der war als Kaufmann in Vaters Fußstapfen getreten, hatte Betriebswirtschaft studiert und war seit Jahren Teilhaber eines riesigen Lebensmittelunternehmens. Dietmar genoss beruflichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung. Doch privat gab es nur eine gescheiterte Ehe. Zudem war er kinderlos. Wilhelm Sattler nahm das Handy vom Nachttisch und wählte Dietmars Kontakt. Die Sprachbox meldete sich. Der alte Herr legte das Telefon enttäuscht weg. Anscheinend hatte der Sohn aus beruflichen Gründen heute keine Zeit, am Krankenbett des Vaters zu weilen …

Wilhelm blickte schwermütig zum kalten Licht der Zimmerlampe hinauf. Er schloss die Augen und faltete die Hände über der Bettdecke. Nur selten hatte er Gott um etwas gebeten. Doch es wurde Zeit für ein Zwiegespräch. Er konnte sich jedoch nicht in ein Gebet vertiefen, denn vor der angelehnten Tür waren Stimmen zu hören. Vermutlich würde bald die Visite kommen …

„Dr. Wehmer, was können wir zur Verbesserung von Herrn Sattlers Zustand zusätzlich unternehmen?“, fragte die Krankenschwester. „Trotz der neuen Medikamente wird er immer schwächer. Das Atmen fällt ihm schwer. In der letzten Woche konnte er noch in Begleitung bis zur Toilette laufen. Jetzt hat er kaum die Kraft, vor seinem Bett zu stehen. Er hat auch seit Tagen keinen Appetit mehr.“

Der Mediziner sah in den Augen der Siebenunddreißigjährigen tiefe Sorge und fragte: „Schwester Luise, wie lange arbeiten Sie schon in der Pflege?“

„Wenn ich meine Berufsausbildung mitrechne, dann sind es jetzt fast zwanzig Jahre. Wieso?“

„Wir arbeiten etwa fünf Jahre in dieser Station zusammen. Ich habe Sie als besonders aufmerksame Fachkraft kennengelernt. Gerade von Ihnen können unsere Pflegeschülerinnen lernen, dass das Zuhören und das Beobachten des Patienten mindestens so wichtig sind, wie die Hightech-Diagnostik. Herr Sattlers Gesicht zeigt die typische Blässe, die den Abschied des menschlichen Daseins ankündigt. Mir ist aufgefallen, dass Sie sich um Herrn Sattler ganz besonders gekümmert haben. Ich weiß, dass Sie ihn hin und wieder liebevoll mit Opa Willi ansprechen. Man könnte meinen, dass es Ihr eigener Großvater sei. Genau aus diesem persönlichen Gefühl heraus verschließt sich Ihr objektiver Blick vor den bevorstehenden Tatsachen.“

Schwester Luises Augen wurden feucht. Sie nickte. „Sie haben recht. Manche Dinge sieht man nicht, weil man sie nicht sehen will. Ich kann Ihnen nicht erklären, warum mir gerade dieser Patient so nahe geht.“

Der Arzt legte seiner Mitarbeiterin tröstend eine Hand auf die Schulter. „Machen Sie unserem Willi seine letzten Stunden so angenehm wie möglich. Ich spreche mit dem Stationsleiter und verschaffe Ihnen zeitlichen Freiraum. Ist das in Ihrem Sinne?“

Schwester Luise nickte stumm und lief zu einem Zimmer, dessen Patientin gerade schellte.

Die Tür von Sattlers Zimmer öffnete sich leise. Durch die leicht geöffneten Augen sah der alte Herr, dass es nicht die Visite war. Er senkte die Lider und stellte sich schlafend.

Schwester Luise hatte ihre Patientin versorgt und ging auf die Zimmertür des alten Herrn Sattler zu. Die Tür war nur angelehnt. Leise schob sie diese weiter auf und blickte in den Raum. Wilhelm lag auf seinem Bett wie aufgebahrt, schnarchte und hielt die Augen geschlossen. Daneben machte sich ein korpulenter Mann an der Nachttischschublade zu schaffen.

Schwester Luise fragte mit strengem Ton: „Was tun Sie da?“

Der achtundzwanzigjährige Rotschopf fuhr sichtlich ertappt herum. Er hielt mehrere Geldscheine in der Hand. Er antwortete mit provokantem Unterton: „Ich besuche meinen Großvater. Darf ich das etwa nicht?“

„Da Ihr Großvater schläft, nehmen Sie sein Geld ohne sein Wissen. Das ist Diebstahl, Herr Sattler!“

Der einen Kopf größere Koloss ging auf die Schwester zu, drängte sie brutal zur Seite und sagte: „Das geht dich doch wohl einen Scheißdreck an. Das Geld gehört der Familie. Wenn ich es nicht nehme, dann steckt ihr euch das Geld selbst in die Tasche!“ Er eilte dem Ausgang der Station entgegen.

„Ich werde das dem Chefarzt und der Verwaltung melden, Herr Sattler! Verlassen Sie sich darauf!“

Im gleichen Moment hörte die Schwester, dass der alte Mann ihren Namen rief, und sie kehrte in sein Zimmer zurück. Der Patient hatte den Kopf gehoben und machte mit der Hand eine kraftlose Geste, dass sie näherkommen soll.

Schwester Luise setzte sich schweigend neben das Bett und wischte Sattler mit einem Tuch über Stirn und Wangen.

Der weißhaarige Mann lächelte. „Luise, weißt du, dass du wunderschön bist? Meine selige Anna hatte genauso rotbraune Haare und grüne Augen wie du. Ja, du siehst ihr sogar erstaunlich ähnlich.“

Die Schwester schwieg. Der Händedruck zwischen ihnen sagte mehr als jedes Wort.

Der alte Herr fuhr mit dünner Stimme fort: „Ich möchte dir für alles danken, was du für mich getan hast. Im Gegensatz zu meiner Familie warst du in den letzten Jahren immer für mich da und hast Dinge getan, die weit über deine beruflichen Aufgaben hinausgingen.“ Seine Stimme wurde deutlich schwächer. „Mein Kind, ich werde meinem Sohn Dietmar sagen, dass er für dich …“ Mitten im Satz löste sich der Händedruck des alten Mannes und sein Kopf kippte zur Seite.

Alarmiert tastete die Krankenschwester nach dem Puls, fand ihn nicht und drückte die Alarmschelle.

Der Stationsleiter Gregor und Dr. Wehmer eilten fast gleichzeitig durch die Tür. Mit bleichem Gesicht beobachtete Luise, wie der Arzt den Patienten untersuchte. Dann schloss er Herrn Sattler die Augen.

Luise sagte: „Gott sei Dank war sein Enkel Birger vor wenigen Minuten noch bei ihm.“ Was sie in dem Zusammenhang Übles gesehen hatte, behielt sie für sich.

Der Pfleger erwiderte: „Ach was? Birger Sattler war sowieso nur wegen Willis Geld hier. Künftig muss dieser Taugenichts woanders schmarotzen gehen!“

Ein Radfahrer stieg völlig erschöpft vom Sattel und lehnte sein Mountainbike an eine Parkbank. Er setzte sich auf das sonnengewärmte Holz. Sein Herz raste, die Schläfen pochten. Der Schweiß lief dem Zweiundvierzigjährigen in Bächen über das Gesicht.

„Jan, du forderst dich wie ein Vollidiot“, murmelte er selbstkritisch vor sich hin. „Wenn du so weiter machst, ist dir ein Herzinfarkt sicher. Warum tust du dir diese verdammte Strapaze an?“

Er nahm den Helm ab, strich sich über das dunkle Haar, das an den Schläfen grau wurde, und wischte sich den Schweiß aus den Augen.

Die Parkbank stand auf dem höchsten Punkt eines bewaldeten Hügels und bot gute Sicht über das Dorf Finnental. Aus der Mitte zahlreicher Fachwerkhäuser ragte ein stolzer Kirchturm empor. Das zweite große Gebäude war das Altenheim. Ein kleiner Fluss schlängelte sich durch das Tal. Die Umgehungstraße wimmelte voller Autos und Lkw, die mit ihrem Hupen zur Eile drängten. Weiter hinten stieg der nächste Hügel an.

Jan Krämers Herzschlag beruhigte sich. Freigesetzte Endorphine erfüllten den Sportler mit steigendem Glücksgefühl. Ein gelbes Cabriolet näherte sich und hielt an. Die

Fahrerin sprang flink heraus, zeigte hinter sich und wetterte: „Ich musste die ganze Zeit hinter einem sturen Bauern herfahren. Der hat mich nicht vorbeigelassen.“

„Biggi, reg dich nicht auf und setz dich. Ich fühle mich prächtig. Nur das zählt.“

Die Blonde nahm Platz. Er küsste sie auf die Wange. Sogleich wich sie zurück: „Oh Mann, stinkst du nach Schweiß!“

„Da du meine Cousine bist, dürfte dir das doch egal sein.“

„Sorry, das war nicht so gemeint. Du bist erstaunlich fit geworden. Deine Kondition wird von Woche zu Woche besser. Aus deinem Waschbärbauch wird langsam ein Waschbrettbauch.“

Er schaute stolz an sich herunter. „Ja, wir haben Tauwetter für Dicke. Petra hatte vor zwei Jahren sogar gesagt, mein Bauch glich eher einer Waschtrommel.“

„Petra? Vergiss deine Ex. Die passte sowieso nicht zu dir. Sei froh, dass ihr keine Kinder habt, sonst wäre die Scheidung nicht so problemlos für dich ausgegangen.“

„Aber mit der Waschtrommel hatte Petra doch recht. Ich hätte viel eher mit dem Sport anfangen sollen. Von dem Bürostuhl habe ich nur einen dicken Hintern bekommen. Ich habe mich einige Jahre gehen lassen.“ Jan erhob sich und stellte sein Rad zum Abfahren bereit. „Lass uns das Thema wechseln. Mein Ziel ist nun die Teilnahme an der Triathlon-Meisterschaft im Herbst. Ich muss gar nicht gewinnen, aber ich will wenigstens dabei gewesen sein. Vor einem Jahr wollte ich sogar wieder mit Judo anfangen, aber mit über vierzig sollte man sich nicht mehr aufs Kreuz legen lassen.“

„Wann hattest du mit dem Judo aufgehört?“

„Mit zwanzig hatte ich meine Dan-Prüfung. Kurz darauf bin ich wegen meines Studiums weggezogen und in keinen anderen Verein mehr eingetreten.“ Er stieg auf den Sattel und zog den Kinnriemen des Helms fest.

„Jan, wenn du zur Abwechslung gleich richtige Straßen benutzen würdest, dann wäre das für meinen Wagen gesünder.“

„Biggi, du hättest mir mit deinem Fahrrad folgen können, statt faul im offenen Cabrio hinterher zu fahren!“

„Dass du das hier nicht verwechselst! Du willst für die Triathlon-Meisterschaft trainieren und nicht ich. Du hast mich gebeten, als Fitnesstrainerin und Coach hinter dir herzufahren, deine Fahrzeiten zu messen und dich auf Trab zu halten. Also los, die nächsten fünfzig Kilometer warten.“

Biggi setzte sich hinter das Lenkrad und drückte lachend auf die Hupe.

Im Altenheim öffnete sich die Tür des Abschiedszimmers. In diesem Raum hatte Dietmar Sattler seinen verstorbenen Vater Wilhelm noch einmal sehen dürfen. Pastor Odin drückte dem Hinterbliebenen die Hand. „Ich wünsche Ihnen viel Kraft und Gottes Segen. Wir sehen uns bei der Trauerfeier.“ Dann eilte er zum Ausgang.

Wenige Minuten später sprach Herr Sattler Schwester Luise an, die eine gebrechliche Dame in ihr Zimmer führte. „Schwester, haben Sie bitte einen Moment Zeit für mich?“

„Ja, Herr Sattler, ich komme gleich zu Ihnen.“

Als die Rothaarige wieder aus dem Zimmer der Patientin trat, musterte Herr Sattler sie von Kopf bis Fuß. „Sie müssen Schwester Luise sein. Wenn ich meinen Vater Willi besucht habe, dann habe ich Sie zwar in der Station gesehen, aber leider nicht sprechen können. Vater hat mir häufig von Ihnen erzählt. Sie wären immer so fürsorglich zu ihm gewesen.“ Sattler ergänzte etwas verlegen: „Vater meinte, dass Sie meiner verstorbenen Mutter Anna sehr ähnlich sehen.“

„Ihr Vater war ein lieber Mensch. Man könnte fast sagen, er war der Liebling der Station. Wir werden ihn nicht vergessen.“

Herr Sattler griff in sein Jackett, zog ein Bild aus der Brieftasche und reichte es der Schwester. „Dieses Foto habe ich vorhin aus Vaters Tasche genommen.“

Schwester Luise betrachtete die Aufnahme. Dort lächelte eine Dame mit kastanienroten Haaren und grünen Augen in die Kamera. Luise konnte sich vorstellen, dass sie selbst in dreißig Jahren so ähnlich aussehen könnte.

Sattler nahm das Foto wieder an sich und sagte: „Auf diesem Bild war meine Mutter etwa sechzig.“

Was sollte die Schwester mit diesem seltsamen Gedanken anfangen? Sie wusste aus Erfahrung, dass die Angehörigen in ihrer Trauer sehr ungewöhnlich reagieren konnten und so wartete sie schweigend ab.

Er blickte auf das Schild am Kittel der Schwester und las den Namen Luise Rosel. Dann fragte er: „Ist Rosel Ihr Mädchenname?“

Sie nickte stumm.

„Ich kannte hier in Finnental eine Inge Rosel. Wir haben vor einigen Jahrzehnten zusammen die Handelsschule besucht. Aber das wird ein Zufall sein.“

„Inge Rosel heißt meine Mutter. Aber nun muss ich mich wieder um meine Patienten kümmern. Herr Sattler, wenn ich Ihnen in der Angelegenheit Ihres Vaters noch etwas helfen kann, dann sagen Sie mir das bitte jetzt.“

„Wer ist Ihr Vater?“

„Werter Herr Sattler, für die Trauer um Ihren Vater habe ich Verständnis. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Und jetzt rufen mich meine Aufgaben.“ Der schrille Ton einer Alarmklingel erlöste sie von dem unangenehmen Gespräch.

Sattler blickte der Schwester nachdenklich hinterher. Dann setzte er sich langsam in Bewegung …

Gegen Mittag klingelte in einem Finnentaler Fachwerkhaus das Telefon. Eine Frau Mitte fünfzig griff zum Hörer. „Luise, ja bitte?“

„Dietmar ist hier“, sagte eine sonore Stimme. „Erinnerst du dich noch an mich?“

Frau Rosel schob ihre Brille höher und antwortete energisch: „Ich kenne keinen Dietmar. Nennen Sie Ihren vollständigen Namen, sonst lege ich wieder auf!“

„Mein Name ist Dietmar Sattler. Wir waren zusammen in der Handelsschule. Erinnerst du dich jetzt?“

Langes Schweigen folgte. Endlich fragte Frau Rosel: „Und was möchtest du, Dietmar Sattler?“

Sattler lenkte seine Limousine über die Dorfstraße und blickte nervös auf das Mikro seiner Freisprechanlage. Wie sollte er weiter vorgehen? Nur selten musste dieser erfahrene Geschäftsmann so lange nach passenden Worten suchen. Er begann zögerlich: „Ich war gerade im Finnentaler Altenheim. Mein Vater Wilhelm ist heute Morgen gestorben.“

Nach einigen Sekunden sagte Inge mit sanfterer Stimme: „Tut mir aufrichtig leid für dich. Aber das ist nicht der Grund deines Anrufs, nicht wahr?“

„Inge, ich habe im Altenheim mit deiner Tochter gesprochen. Schwester Luise hat sich rührend um meinen Vater gekümmert. Die beiden waren sich wohl sehr sympathisch.“

„Dietmar, komme bitte zur Sache. Ich muss gleich ins Büro. Was willst du von mir?“

Sattler parkte den Wagen am Straßenrand, um sich besser auf das Gespräch konzentrieren zu können. „Inge, wir waren damals befreundet. Du und ich …“

Sein Satz wurde barsch unterbrochen: „Du und ich? Hast du vergessen, dass du damals mit dieser Blonden nach Düsseldorf gegangen bist und mich sitzengelassen hast? Selbst deine Mutter Anna hatte bestätigt, wie verletzend du dich mir gegenüber verhalten hast! Egal! Also was willst du nun von mir? Wie gesagt, ich muss los!“

„Inge, wenn ich jetzt sage, dass mir rückblickend mein damaliges Verhalten als Zwanzigjähriger unmoralisch und peinlich vorkommt, dann hilft das wohl auch nicht weiter. Ich bin schon lange geschieden, habe keine Kinder und musste für meine falschen Entscheidungen in jeder Hinsicht teuer bezahlen. Aber das tut nichts zur Sache. Mich quält im Moment eine Frage. Ist Luise unsere Tochter? Ist sie meine Tochter?“

Die nächsten stummen Sekunden wuchsen für Sattler zu gefühlten Minuten. Er setzte erneut an: „Wenn Luise wirklich meine Tochter ist, wieso hast du dich nie mehr bei mir gemeldet? Ich hätte selbstverständlich dafür geradegestanden.“

„Warum sollte sie deine Tochter sein?“

„Weil sie meiner Mutter absolut ähnlich sieht. Anna lebt übrigens auch nicht mehr. Es ist traurig, denn auch sie hätte sich über Luise gefreut. Inge, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, liegt über siebenunddreißig Jahre zurück. Und Luise ist siebenunddreißig, nicht wahr?“

„Luise und ich sind seit dieser Zeit bestens ohne dich zurechtgekommen.“

„Inge, ich habe mich geändert. Darf ich dich unverbindlich in den nächsten Tagen zu einem Essen einladen?“

„Dietmar Sattler, was bildest du dir eigentlich ein? Du platzt hier in mein Leben und erwartest jetzt, dass ich deine Scherben einsammele?“

Dietmar starrte auf das Armaturenbrett mit den Lautsprechern, aus denen die harte Frauenstimme kam und erwiderte: „Ich erwarte von dir höchstens, dass du mir nach so vielen Jahren mein naives Verhalten von damals verzeihst. Wenn ich die Zeit auch nicht zurückdrehen kann, so möchte ich doch für Luise etwas tun dürfen. Gib ihr und mir doch bitte eine Chance.“

„Habe ich mit irgendeinem Wort bestätigt, dass Luise deine Tochter ist? Nein, das habe ich nicht!“

Sattler beobachtete im Innenspiegel, wie sich sein Gesicht entspannte und ein Lächeln über die Lippen huschte. Er sagte leise: „Nein, das hast du nicht. Aber ich weiß jetzt, dass sie es ist. Wäre es dir recht, wenn ich dich morgen Abend gegen 18:00 Uhr zum Essen abhole?“

„Wie bist du eigentlich an meine Telefonnummer gekommen?“

„Inge, wir leben im 21. Jahrhundert!“

Sie atmete tief ein und gab nach: „Mein Terminkalender ist zurzeit voll. Ich schlage deshalb für ein Treffen den Freitag nächster Woche vor. Das Chinarestaurant in Finnental würde sich anbieten. Wäre dir 18:30 Uhr recht?“

„Ich werde den Tisch bestellen. Also bis nächste Woche Freitag. Ich freue mich.“

Die Verbindung endete. Sattler wählte die Telefonnummer seiner Sekretärin: „Frau Müller, bestellen Sie bitte beim Chinarestaurant in Finnental für nächste Woche Freitag um 18:30 Uhr einen Tisch für 2 Personen. Außerdem machen Sie einen Termin für mich bei meinem Rechtsanwalt Dr. Wenzel. Ich bin in einer Stunde zurück in Düsseldorf.“

Vor dem Biergarten “Zum Schluckspecht“ stand heute wieder eine lange Reihe Motorräder. Dem Wirt war diese laute Gruppe unangenehm, doch da diese nur alle paar Wochen auftauchte und bisher relativ friedlich geblieben war, traute er sich nicht, diesen Männern Lokalverbot zu erteilen. Ihre Zeche hatten sie immer beglichen. Selbst Gläser, die beim eifrigen Anstoßen zerbrochen worden waren, hatte der Anführer der Gruppe auf die Rechnung setzen lassen. Heute waren die Jungs wieder in bester Feierlaune. Ihre mitgebrachte Musikanlage dröhnte im Techno-Sound. Andere Gäste hatten den Biergarten bereits verlassen, und der Wirt ließ an den Fenstern die Rollladen herunter.

Eine Harley Davidson donnerte heran und parkte ein. Der rothaarige Fahrer ging mit breitem Grinsen auf die Gruppe zu und grüßte: „Hi, Leute, endlich habe ich euch gefunden.“

Augenblicklich verstummten die Männer. Ihr Präsident kniff die Brauen zusammen und durchbohrte den Ankömmling mit eiskaltem Blick. Seine Grabesstimme klang feindselig. „Dicker, ich bin erstaunt, dass du dich hierher traust. Oder bist du gekommen, um endlich deine Schulden zu bezahlen?“

Ein Kellner bediente den Nachbartisch. Der Rothaarige sprach ihn im Befehlston an: „Bring mal gleich eine Runde Bier für meine Freunde!“ Er ging auf den Anführer der Rocker zu und sagte: „Django, in wenigen Tagen zahle ich meine Schulden zurück. Heute ist mein Großvater gestorben, und ich erbe reichlich Kohle. Aber jetzt trinken wir erst mal einen.“ Er griff in seine Hosentasche und legte einen 100-Euro-Schein auf den Tisch.

Die Mienen der Männer hellten sich auf und Birger setzte sich zu ihnen.

Django strich sich über die Löwenmähne. Sein kantiges Gesicht wirkte misstrauisch, als er sagte: „Sattler, dein Großvater muss schon verdammt reich gewesen sein, wenn du alle Schulden bei mir bezahlen willst. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann steht in eurer Erbfolge an erster Stelle dein spießiger Onkel, oder nicht?“

Birger lachte schmierig. „Haha, ich bin der einzige Enkel. Da wird mich der alte Willi mit Sicherheit bedacht haben. Gib mir noch ein paar Tage, und du bekommst deine Kohle zurück.“

Es war dunkel geworden. Eine Polizeistreife hielt vor der Gaststätte. Polizistin Magarete Breuer und ihr Kollege David Horn stiegen aus dem Wagen, setzten die Uniformmützen auf und betrachteten die geparkten Motorräder, deren Chromteile im Licht einer Laterne funkelten. Sie nahmen ihre Handys und fotografierten die Kfz-Kennzeichen. Dann traten beide an die Tischreihen der feiernden Motorradfahrer. Bis jetzt fiel ihnen kein bekanntes Gesicht auf. Die Männer trugen auch keine Kutten, mit denen sich solche Gruppen oft zu erkennen gaben.

Die Polizistin wirkte selbstsicher und sagte: „Guten Abend, die Herrschaften. Wir sind angerufen worden, da es bereits nach 23:00 Uhr ist und die Nachbarn aufgrund des Lärms kein Auge zu machen können.“

Django antwortete: „Ach wie süß. Ich stelle mir gerade vor, wie du ohne Uniform aussiehst. Ich meine so ganz ohne. Wann hast du denn Feierabend?“

Die Beamtin ließ sich nicht provozieren und fragte: „Wer von Ihnen hat denn vor, noch selbst zu fahren? Ich meine, alle diejenigen müssten dann nämlich mit einer Alkoholkontrolle einverstanden sein. Alle die, die ihr Motorrad stehen lassen möchten, nehmen am besten in dreißig Minuten den letzten Bus.“ Ihre Augen wanderten durch die Reihe der Rocker und sie ergänzte: „Sie können selbstverständlich auch gerne zu Fuß nach Hause gehen.“

Der hünenhafte Anführer stand auf, schaute auf die Frau hinab und meinte gelassen: „Mädchen, blase dich bloß nicht so auf!“ Er nahm ihr die Mütze vom Kopf, setzte diese auf seine Mähne und fuhr fort: „Schau mal, jetzt bin ich der Polizeipräsident. So einfach geht das!“ Herablassend strich seine Hand über ihre schwarzen Locken, die hinter dem Kopf zu einem Pferdeschwanz gebunden waren.

Der Kollege der Polizistin legte die Hand auf seinen Pistolenhalfter und wollte auf Django zugehen. Da stellte ihm jemand ein Bein. Der Beamte stolperte unglücklich über eine Holzbank. Mehrere Rocker stürzten sich auf ihn. Andere überwältigten gleichzeitig die Polizistin.

Birger Sattler zog die Dienstwaffen aus deren Halftern. Eine Pistole schob er in seine Brusttasche. Die andere entsicherte er und bedrohte damit die Beamten. „So, Männer, nehmt den Bullen ihre Handys ab und dann macht euch vom Acker. Ich halte die beiden in Schach!“

Das ließen sich die Rocker nicht zweimal sagen. Einer nahm deren Telefone an sich. Dann eilten alle zu ihren Motorrädern und ließen die Maschinen aufheulen. Sattler schritt rückwärts zu der wartenden Gruppe, zielte aber weiter auf die Beamten. Rocker Sonny hatte Sattlers Maschine gestartet und wartete darauf, dass der hinter ihm auf die Sitzbank stieg. Das gelang dem korpulenten Burschen erstaunlich schnell. Auf Djangos Zeichen fuhren die Motorräder los.

Polizeibeamtin Magarete Breuer kam auf die Beine.

Auch ihr Kollege David Horn sprang auf. Er fragte: „Maggi, bist du okay?“

Sie nickte und eilte zum Streifenwagen. Horn setzte sich hinter den Lenker und startete in Richtung der flüchtenden Motorräder.

Beamtin Breuer rief die Zentrale, berichtete über die Sachlage und forderte Verstärkung an. Das Martinshorn schallte durch die Nacht. Die Blaulichter verwandelten die kurvenreiche Straße, die mitten durch einen Wald führte, in eine gespenstische Landschaft. Hinter der nächsten Kurve sahen sie die Rücklichter von mehreren Motorrädern. Mal fuhren diese in Zweierreihe, mal einzeln. Ein Sozius hatte rote Haare, die im Wind flatterten.

Breuer aktivierte die Videokamera des Einsatzwagens und sagte: „Das ist sicherlich der Kerl, der uns entwaffnet hat.“ Sie gab das Kfz-Kennzeichen dieser letzten Maschine an die Zentrale durch.

Der Sozius machte im Scheinwerferlicht eine Armbewegung. Fast im gleichen Moment schlug etwas auf die Frontscheibe des Streifenwagens.

Für Jan Krämer begann die schönste Zeit des Jahres, denn seine Firma machte Betriebsferien. Biggi hatte für ihn Prospekte gewälzt und an der Ostsee einen reizvollen Urlaubsort gewählt, in dessen Region er schwimmen, laufen oder Radfahren könnte. Sie selbst bekam keinen Urlaub.

Zum ersten Mal reiste der Software-Spezialist nur mit der Bahn und dem Fahrrad. Jan wartete am Bahnsteig auf seinen Zug. Neben ihm standen sein Mountainbike, die schweren Satteltaschen und ein prall gefüllter Rucksack. Fahrgäste eilten hin und her. Die Sommersonne trieb den Urlaubern den Schweiß ins Gesicht. Aus einigen Metern Entfernung beobachtete Jan eine Frau mit rötlichen Haaren. Sie mochte Anfang bis Mitte dreißig sein und führte ebenfalls ein Fahrrad mit sich. Die unzähligen Gepäckstücke, die um sie herumstanden, konnten kaum alle zu ihr gehören. Die Frau blickte nervös zur Bahnsteiguhr und der Anzeigetafel der Züge.

Eine Lautsprecherstimme echote: „Achtung! Der Intercity über Bremen nach Hamburg fährt auf Gleis sechs ein!“

Donnernd rollte ein stählerner Lindwurm heran und erzeugte einen mächtigen Luftzug. Haare flatterten im Wind. Menschen und Gepäck kamen in Bewegung. Einige Fahrgäste reagierten hektisch und begannen zu drängeln.

Die Rothaarige eilte mit ihrem schwer bepackten Bike auf den Waggon zu, in dem die Fahrräder untergebracht werden mussten. Hektisch stieß sie ihr Gepäck in den offenen Waggon. Dabei öffnete sich eine Tasche und ein Teil des Inhalts rollte heraus. Panik stieg der Radlerin ins Gesicht.

„Immer mit der Ruhe“, sagte Jan. „Ich fasse gerne mit an.“

Die grünen Augen der Radlerin blitzten ihn verärgert an. Sie fragte gereizt: „Meinen Sie, dass ich das als Frau nicht allein kann? Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Sachen!“ Sie räumte die geöffnete Tasche rasch ein und griff nach dem nächsten Gepäckstück.

Endlich war ihr gesamtes Taschensortiment im Waggon, und auch Jan konnte seine Sachen hineinstellen. Draußen erschallte das Signal zur Abfahrt. Ein Zugbegleiter schloss die Tür.

Jan fand an der Wand einen freien Haken, an dem er das Vorderrad seines Bikes einhängen konnte. An der Haltevorrichtung hingen bereits viele Räder. Die Rothaarige versuchte verzweifelt, ihr Mountainbike in einer Lücke zwischen zwei Hollandrädern zu befestigen. Jan besah sich die Aktion mit etwas Abstand. Beim Anheben des eigenen Fahrrads stieß die Frau ein benachbartes Rad aus der Halterung. Noch bevor ihr dieses auf den Kopf fiel, sprang Jan herbei und hielt es fest.

Keuchend hängte die Frau ihr Fahrrad auf und blickte die Galerie aus Drahteseln vorwurfsvoll an.

Jan sagte: „Ich reise zum ersten Mal nur mit Rad und Bahn. Mit dem vielen Gepäck ist das ganz schön umständlich. Haben Sie so etwas schon öfter gemacht?“

„Nein. Das ist mein erstes Mal und sicherlich auch mein letztes Mal! Aber danke für Ihre Hilfe.“

Sie versuchte ihre Taschen und den Rucksack mit beiden Händen zu greifen. Doch ein Gepäckstück löste sich gleich wieder.

Jan hängte sich seinen Rucksack auf den Rücken, schulterte die Packtaschen und bot ihr eine freie Hand an. „Wenn es Ihnen recht ist, dann trage ich noch ein Teil.“

Sie nickte stumm und hielt ihm eine Tasche hin.

Bald darauf betraten beide ein Abteil für sechs Personen. Die Fensterplätze waren bereits von zwei Reisenden belegt, die wortlos grüßten. Die neuen Fahrgäste setzten sich neben der Tür jeweils gegenüber.

Der Biker lächelte die Rothaarige an und stellte sich vor: „Ich bin Jan Krämer. Ich denke, wir werden einige Stündchen hier zusammensitzen. Sagen Sie Jan zu mir, okay?“

„Ich bin die Lou, Luise Rosel. Verzeihen Sie, dass ich gerade so gereizt war. Aber das hier soll das Urlaub sein?“

---ENDE DER LESEPROBE---