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Amelie erwachte in einem Käfig. Völlig nackt saß sie auf einer Matratze. Wo war sie nur? Ihr schossen Presseberichte über Entführungen von anderen Frauen durch den Kopf. Voller Angst blickte sie sich genauer um. An die Wand über ihrer Matratze hatte jemand Buchstaben gekratzt. Der Name Silke war zu entziffern. Auf einen anderen Stein waren senkrechte Striche gekritzelt worden. Ein, zwei … oh mein Gott, es waren neunzehn Striche! Was war danach geschehen? Noch bevor sie weiter grübeln konnte, öffnete sich eine Tür. Vor ihr stand ein Riese von einem Mann …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Autor: Dieter Kleffner Covermotive: Pixabay
Cover designed by Michael Frädrich
Lektorat: Nina Sock/Renate Habets
Originalausgabe: Januar 2023
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-114-4
© Copyright Edition Paashaas Verlag
www.verlag-epv.de
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.
Sollten Ereignisse oder Namen im Buch erscheinen,
welche auf jemanden zutreffen, so ist das ungewollter Zufall.
Die Haftung jeglicher Art wird abgelehnt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Im Jagdrevier des Riesen
Kriminalroman
Wenn du einen Riesen siehst, der mit dir kämpfen will,
dann sei ohne Furcht.
Untersuche zuerst den Stand der Sonne,
dann wirst du sehen,
dass der Riese vielleicht nur der Schatten eines Zwerges ist.
(Asiatische Weisheit)
Wie aus dem Nichts stand ein riesiger Bär mitten auf der Landstraße, die sich durch den dunklen Wald zog. Die junge Frau trat mit aller Kraft auf das Bremspedal ihres Kleinwagens. Genau vor dem ungeheuren Tier kam sie zum Stehen. Der Bär zertrümmerte mit einem Tatzenschlag die Windschutzscheibe und zerrte Amelie aus ihrem Wagen.
Mit einem langen Schrei erwachte sie aus dem furchtbaren Albtraum … Ihr Kopfschmerz erinnerte an einen Kater, wie sie ihn nur einmal nach einer heftigen Party erlebt hatte. Außerdem war ihr schaurig kalt. Die Finger tasteten wie gewohnt nach der Bettdecke, fanden diese aber nicht. Auch die Matratze, auf der sie lag, fühlte sich fremd an. Erst jetzt öffnete Amelie die schweren Lider. Sie schloss diese allerdings rasch wieder, denn das, was sie erblickte, konnte nur ein weiterer Traum sein. Dann jedoch öffnete sie die Augen erneut und richtete sich zögernd auf. Völlig nackt saß sie auf einer Matratze. Aus einem Fenster, das sich hoch oben über einem Waschbecken an der Wand befand, fiel Tageslicht ein. Der kleine Raum hatte kahle Wände aus Stein. Wände, wie sie zu einem Keller gehören könnten. Außerdem war der Teil des Raums, in dem sie saß, durch Holzgitterstäbe vom Boden bis zur Decke abgeteilt. Amelie sprang entsetzt auf. Nein, das hier war kein Albtraum! Ein Teil des Gitters war eine Tür. Diese war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Jenseits des Gitters stand mitten im Raum ein alter Polstersessel, der in die Richtung ihres Käfigs gedreht war. Hinter dem Sessel befand sich in der Wand eine Stahltür, die wohl zu einem Flur oder einem anderen Raum führte. Unter der Decke glühte die Spirale eines Heizstrahlers.
Die junge Frau blickte sich in ihrem Gefängnis verwirrt weiter um. Der Boden war wie in einem Hasenstall dick mit Stroh ausgestreut. Neben ihrer Matratze befanden sich zwei volle Wasserflaschen aus Glas und eine Schüssel mit Obst und rohem Gemüse. In einer anderen Ecke standen ein Schemel, ein alter Nachttopf. Daneben lag eine Rolle Toilettenpapier.
Wo war ihre Kleidung? Was war überhaupt geschehen? Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie mit ihrem Auto auf der Landstraße unterwegs gewesen war. Und dann …?
Wieder hämmerten diese verdammten Kopfschmerzen. Wieder zitterte ihr Körper vor Kälte – oder viel mehr aus panischer Angst? Sie begann hysterisch zu schreien. So lange schrie sie um Hilfe, bis ihr speiübel wurde. Sie lauschte, doch so lange sie auch wartete, niemand regte sich, nichts war zu hören. Wo war sie nur? Erst jetzt schossen ihr Presseberichte über Entführungen und Missbrauch von anderen Frauen durch den Kopf. Voller Angst blickte sie sich genauer um. An die Wand über ihrer Matratze hatte jemand Buchstaben gekratzt. Der Name Silke war zu entziffern. War sie wohl auch eine Gefangene in diesem Keller gewesen? Auf einen anderen Stein waren senkrechte Striche gekritzelt worden. Sie zählte diese in Gedanken: Ein, zwei … Oh mein Gott … Das sind neunzehn Striche! Was hatte man mit Silke in dieser Zeit gemacht? Was war danach mit ihr geschehen? War sie befreit worden?
Hier und jetzt jedoch ging es um das eigene Überleben! Wie könnte sie entkommen? Wie ein Tier im Käfig lief Amelie hin und her. Ihr Blick fiel auf das Kellerfenster. Rasch nahm sie den Schemel und stellte diesen vor das Waschbecken. Mit einem Fuß trat sie darauf und stieg mit dem anderen auf das Keramikbecken an der Wand. Nun konnte sie durch das vergitterte Kellerfenster schauen, das allerdings nur zu einem Lichtschacht führte, der voller altem Laub und Dreck lag. Oberhalb des Schachts war noch ein grobes Gitter zu sehen. Ihre Faust schlug mehrmals gegen die Scheibe. Endlich zog sich mitten durch das Glas ein Riss. Doch knackte es nun auch unter ihr. Das Becken brach aus der Wandhalterung, zerbrach über dem Hocker und verteilte seine Scherben im gesamten Raum.
Sie stürzte zum Glück nur auf die nahe Matratze und zog sich dabei einige Schrammen zu. Amelie gab indes nicht auf und kam wieder auf die Beine. Instinktiv rüttelten ihre Hände an den massiven Holzstäben, die an Querbalken am Boden und der Decke verschraubt oder in sie genagelt waren. Sie zerrte und drückte. Die groben Holzstäbe waren fast so dick wie ihr Handgelenk und gaben nicht nach. Gehetzt von Panik und Wut trat sie mit dem nackten Fuß immer wieder dagegen. Die verfluchten Dinger mussten sich doch mit Gewalt lösen lassen. Beim letzten kräftigen Tritt verstauchte sie sich so schmerzhaft den Knöchel, dass sie mit tränennassem Gesicht auf die Matratze sank.
Plötzlich hielt sie die Luft an. Wurde jetzt das Schloss der Stahltür bewegt? Ja – langsam und quietschend öffnete sich diese in den Raum …
∞
Kai Sörensen stand vor einem neuen Lebensabschnitt. Nicht zum ersten Mal ging er gezwungenermaßen völlig neue Wege. Wege, die ganz anders waren als die der sogenannten normalen Menschen. Kai hatte mit Mitte vierzig die Diagnose Retinitis Pigmentosa bekommen, eine Augenerkrankung, bei der die Sehnervenzellen der Netzhaut immer mehr ihren Dienst versagen. Sein Gesichtsfeld wurde mit der Zeit kleiner und kleiner, bis er nur noch wie durch ein Schlüsselloch sehen konnte. Kai hatte einst Adleraugen gehabt und konnte sich nicht vorstellen, irgendwann einmal nichts zu sehen. Der degenerative, abbauende Verlauf seiner Erkrankung war jedoch extrem schnell vorangeschritten. Als ehemaliger Polizeibeamter konnte er zu Anfang noch im Innendienst Verwaltungsaufgaben bewältigen. Er lernte Lupenbrillen und Zoom-Systeme am PC-Monitor kennen. Er hatte sogar angefangen, Blindenschrift zu erlernen. Doch das alles konnte seine Frühpensionierung nicht aufhalten. War er einst der coole Bulle gewesen, so hatte sich Kai mit der Erblindung lange Zeit nicht mehr allein aus dem Haus getraut. Damals fühlte er sich vom Schicksal aufs Übelste betrogen. Als Super-Bulle hatte er sich für so unentbehrlich gehalten, dass er für seine Frau kaum Zeit und ein offenes Ohr gehabt hatte. In der jetzigen Situation hätte er mehr als genug Zeit für sie, doch die Scheidung war bereits vor zwei Jahren erfolgt. Der Polizeipsychologe hatte ihm nahegelegt, bei einem Blindenstammtisch Rat und Anregungen zu suchen. Selbsthilfegruppen gebe es in fast jeder Stadt.
Aus Einsamkeit, Frust und Trotz hatte Kai zu Anfang nur Rat bei Weinbrand, Whisky und Kräutergeist gesucht. Alle drei machten jedoch auch noch sein geistiges Auge blind – und üble Kater. Letztendlich war es ein Kalenderspruch, der Kai nicht mehr aus dem Kopf ging: „Wer nichts ändern will, sucht Gründe. Wer etwas ändern will, sucht Wege!“
Dank des Ratschlags eines befreundeten Beamten, der Polizeihunde ausbildete, beantragte Kai einen Blindenführhund, bestand die Gespannprüfung nach einem Jahr mit Bravour und durfte allein mit seinem Golden Retriever Larry Spaziergänge unternehmen. Jetzt stand ihm die Welt wieder offen. Gemeinsam gingen beide einkaufen, zum Friseur, zum Dorffest, und auch ihre Wanderungen wurden länger und gewagter.
Jeden Tag liefen Kai und Larry mehrere Kilometer dieselbe Strecke durch den Eggemann-Forst. Kai genoss den Duft der Pflanzen, stellte sich aus der Erinnerung deren Farben und Formen vor. Im Wald sog er den Geruch von Erde und Harz tief ein, strich mit den Fingern über die Rinde der Bäume, um deren Gestalt nicht zu vergessen. Auch Larry schnupperte in alle Richtungen und zog sein Herrchen auf dem schmalen Waldweg voran. Ja, von Kilometer zu Kilometer wurde ihre Teamarbeit besser und besser. Irgendwo plätscherte ein Bach, klopfte ein fleißiger Specht.
Larry zog sein Herrchen auf dem Waldweg an den rechten Rand. Plötzlich stieß Kai mit der linken Schulter hart gegen einen Widerstand. Er war so abrupt aus seinen Gedanken gerissen worden, dass sich sein Puls fast überschlug. Dummerweise hatte er seinen Taststock nicht richtig eingesetzt und sich nur an Larrys Geschirr orientiert. Er klemmte den Stock unter den rechten Arm und ertastete mit der linken Hand das Hindernis. Stand hier etwa ein Kastenwagen? War es ein Geländewagen des Försters? Seine Hand glitt über die rechte Seite des Fahrzeugs. Dieses war mindestens zwei Meter hoch, sehr lang, hatte wie beim Wohnwagen ein Fenster und eine Tür. Als Kai weiter vorne mit dem Gesicht gegen einen Außenspiegel stieß, entstand in seiner Fantasie die Vorstellung von einem großen Wohnmobil. Was machte dieses Ding mitten auf dem Waldweg?
„Hallo, ist hier jemand?“, fragte Kai und klopfte an die Seitenscheibe.
Er lauschte und hätte schwören können, dass im Fahrerraum jemand saß und ihn anstarrte. Als er die Tür des Wagens öffnen wollte, wurde diese rasch von innen verschlossen. Er lauschte erneut, doch nur das Murmeln eines Bachs war zu hören. Der Hund zog ihn voran. War Larry nur neugierig auf die Natur, oder war ihm dieser Wagen unheimlich? Kai gab nach und folgte seinem klugen Tier weiter durch den Wald.
∞
Die bewaldete Anhöhe über der Stadt gehörte zum Land des Bauern Eggers. Da die Wiese zu feucht war, um Ackerbau darauf zu betreiben, diente dieses schöne Fleckchen Erde nur den Kühen und Schafen als Weide. Außerdem stand vor dem Wäldchen im Schutz hoher Buchen ein großer Wohnwagen, dessen Stellplatz Wolf Aßmann gegen eine kleine Pachtgebühr dauerhaft nutzte. Der durchtrainierte Camper war Anfang fünfzig, mittelgroß, hatte dichtes, braunes Haar und trug einen Drei-Tage-Bart. Der Blick aus dem Wohnwagen bot Richtung Norden eine gute Sicht über das Flusstal. Diesseits des Ufers standen dicht gedrängt alte, graue Mietshäuser, in denen die ehemaligen Hüttenarbeiter mit ihren Familien wohnten. Die Eisenhütte war seit Jahren geschlossen. Daher mussten viele dieser Familien seit der Schließung vom Arbeitslosengeld und der Sozialhilfe leben. Der Nachwuchs benutzte das ehemalige Hüttengelände und die verwaisten Gebäude trotz der Verbotsschilder als Spielplatz. Soziale Konflikte wurden in der sogenannten Hüttenstadt auf der Straße ausgetragen.
An das gegenüberliegende Ufer grenzte der Stadtteil der eher wohlhabenden Bürger. Gepflegte Einfamilienhäuser, wunderbar restaurierte Altbauten und bunte Ziergärten prägten diese andere Welt.
Jeden Abend drehte Aßmann eine große Runde mit seinem Fahrrad. Der landwirtschaftliche Weg führte ihn bergab zur Umgehungsstraße der Hüttenstadt. Diese leitete ihn nach zwanzig Minuten gen Süden über eine Brücke in die Welt des Wohlstands, wo die warme Sommerluft die Bürger in die Ziergärten lockte. Grillgeruch lag in der Luft. Viele Zäune und Hecken verhinderten den Einblick in die privaten Grundstücke. Doch die zum Teil edlen Karossen auf den Einstellplätzen wiesen auf ein Leben in Hülle und Fülle hin.
Nach weiteren dreißig Minuten radelte Aßmann über eine Fußgängerbrücke zurück zum nördlichen Ufer, das schon zum alten Hüttengelände gehörte. Er stieg vom Rad und setzte sich an einer Böschung auf eine verwitterte Bank, als die Dämmerung einsetzte. Drei kräftige Jugendliche näherten sich und blieben vor Aßmann stehen. Er kannte nicht wenige der jungen Leute aus der Hüttenstadt, doch diese drei hatte er kaum je gesehen. Der Älteste von ihnen schob sein Kinn vor und fragte in provokantem Ton: „Hast du Kippen für uns?“
Aßmann zog die Brauen zusammen und blickte kritisch von einem Jungen zum anderen. Diese waren mit Jeans und Muskel-shirt bekleidet. Breitbeinig und bedrohlich standen die Kerle da. Der Kräftigste griff einfach in die Brusttasche des Radlers und zog eine Schachtel Camel aus dessen Karohemd. Er bot seinen Freunden Zigaretten an und fingerte dann auch noch das Sturmfeuerzeug aus Aßmanns Brusttasche. Belustigt las der Bursche eine Gravur: From Hellen in love.
Er gab den anderen Feuer. Alle lachten hämisch. Der Anführer steckte die Zigaretten und das Feuerzeug ein, klopfte dem Radler tätschelnd auf die Wange und sagte herablassend: „Vielen Dank, braver Mann. Nächstes Mal bringst du uns auch was zu trinken mit, klar?“
Aßmann blickte dem Wortführer direkt in die Augen: „Die Kippen könnt ihr behalten, aber mein Feuerzeug bleibt hier.“
„Dein Feuerzeug? Das ist jetzt mein Feuerzeug! Wenn du unbedingt Feuer brauchst, dann können wir dir dieses gerne aus den Augen schlagen!“
Aßmann erhob sich und schaute den Anführer geradewegs an. „Mein lieber Junge, ich sage es nur noch einmal: Gib mir mein Feuerzeug zurück und verschwinde mit deiner Leibwache. Noch könnt ihr gehen!“
Sofort stellten sich die beiden anderen jungen Männer jeweils auf eine seiner Seiten und warfen ihre Zigaretten fort. Der Breitschultrige holte zu einem Faustschlag aus. Aßmann wirbelte blitzschnell herum. Die eine Hand wehrte den Faustschlag ab, die andere traf mit der Handkante sein Gegenüber am Hals. Der Fuß stieß in die Magengrube des rechten Angreifers und der Ellenbogen auf den Solarplexus des linken. Die Burschen gingen in die Knie und keuchten vor Schmerz.
Aßmann beugte sich zu dem Anführer und hielt auffordernd seine Hand auf. „Gib mir meine Zigaretten und mein Feuerzeug zurück!“
Der Bursche streckte ihm beides mit mürrischem Gesichtsausdruck entgegen. Aßmann setzte sich wieder auf die Bank und hielt seine Packung demonstrativ lächelnd hoch. „So, Freunde, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Wolf, und hier ist mein Wolfsrevier. Jetzt rauchen wir zusammen eine Friedenszigarette. Dann können wir gerne in die nächste Runde gehen. Bis dahin erzählt ihr mir, wer ihr seid, woher ihr kommt und warum ihr harmlose Leute attackiert.“
Nur zögernd nahmen sie die Zigaretten an.
Der Breitschultrige sagte: „Ich bin Sascha, und das hier sind Serkan und Wanja. Du schlägst eine verdammt harte Kelle. Fast wie mein großer Bruder. Wo hast du das gelernt?“
„Auf der Straße“, antwortete Wolf und grinste süffisant.
„Nein, von der Straße kommen wir. Bist du bei den Bullen oder der Bundeswehr?“
„Beides nicht. Ich trainiere aber einige junge Leute aus der Hüttenstadt. Die Besitzer haben uns eine alte Halle auf dem ehemaligen Werksgelände zum Üben überlassen, die wir uns selbst eingerichtet haben. Wenn ihr Lust habt, dann kommt vorbei und trainiert mit. Dort lernt ihr, wie man richtig kämpft und nicht nur prügelt. Das einzige Problem ist: Wer unfair kämpft, fliegt raus. Wir trainieren montags und donnerstags von 18:00 bis 22:00 Uhr.“
Sascha nickte. „Ja, mein Bruder Marian hat mir davon erzählt.“
„Marian Slovak ist dein großer Bruder? Sitzt der nicht zurzeit im Knast?“
„Nein, er ist aufgrund guter Führung jetzt wieder draußen.“
„Dein Bruder ist ein sehr guter Kämpfer geworden. Bestell ihm einen Gruß von mir. Ich hoffe, dass ich ihn und euch bald beim Training sehe.“
Misstrauisch blickten die Burschen Wolf an. Der erhob sich, trat seine Zigarette gründlich aus und stieg aufs Rad. Es war fast dunkel geworden. Sein rotes Rücklicht verschwand hinter der nächsten Kurve.
∞
Einen Tag später rollten zwei Mountainbiker aus dem Waldweg des Eggemann-Forstes, der in eine Landstraße mündete. Am Straßenrand parkte ein verlassener Kleinwagen. Der siebzehnjährige Sascha hielt neben dem Pkw an und schaute hinein. Der Zündschlüssel steckte. Sascha fasste an den Griff der Tür und rief begeistert: „Wow, die Karre ist gar nicht abgeschlossen. Es gibt da so einen Paragrafen, der besagt, dass unverschlossene Fahrzeuge als Verleitung zum Diebstahl gelten. Damit macht sich der Halter strafbar. Wir könnten den Halter von seiner Strafe befreien, wenn wir mit der Karre eine Spritztour machen. Die Fahrräder holen wir später wieder ab, okay?“
„Ja, wer von uns fährt zuerst?“, fragte der gleichaltrige Wanja.
„Ich natürlich!“
Die jungen Burschen lehnten ihre Räder an einen Baum und sicherten diese mit Kettenschlössern. Dann setzten sie sich in das Auto. Plötzlich schob sich ein Campingwagen aus dem Waldweg. Ein Riese, dessen Kopf bis unter das Dach ragte, saß hinter dem Lenkrad. Die Jungen beugten sich mit schlechtem Gewissen, so tief sie konnten, in den Fußraum des Wagens und hielten die Luft an. Der Camper hielt einen Moment genau neben dem Pkw. Hatte der Fahrer die Autodiebe etwa schon entdeckt? Endlich aber rollte der Camper weiter die Straße entlang. Die Jugendlichen trauten sich erst wieder aufzuschauen, als sie kein Motorgeräusch mehr hörten.
Sascha schielte durch das Lenkrad und atmete erleichtert aus. Schon stand ihm wieder das freche Grinsen im Gesicht. Er startete den Motor und rief: „Wow, ist das geil!“
Der siebzehnjährige Fahrer hatte einen Under-Cut-Haarschnitt und trug einen Nasenring. Seinen Kumpel zierte ein Piercing in der rechten Augenbraue. Beide wohnten nördlich vom Fluss, in dem Stadtteil mit den vielen Sozialkonflikten. Während einige Gymnasiasten im reichen Süden zum bestandenen Abitur von den Eltern den Führerschein oder sogar ein Auto finanziert bekamen, fuhren verwegene Burschen des verarmten Nordens manchmal ohne Führerschein oder klauten sogar ein Fahrzeug.
Schon begann die wilde Fahrt.
Nach ein paar Kilometern riss Sascha den Lenker des Autos spontan nach links und bog mit quietschenden Reifen in die verkehrsberuhigte Straße eines Kindergartens ein.
„Hey, fahr die Blagen nicht platt!“, mahnte Beifahrer Wanja, als der Pkw nur knapp an drei Knirpsen vorbeischoss. Er blickte sich alarmiert um und ergänzte: „Hey, Alter, eine der Kindergarten-Muttis regt sich schon auf und hält ihr Handy ans Ohr. Wenn du weiter so fährst, haben wir die Bullen am Arsch!“
Wieder quietschten die Räder.
Der Wagen bog nach rechts ab. Sascha lenkte ihn auf die Hauptstraße und wurde immer schneller. Ungeduldig klopfte er auf das Lenkrad und fluchte: „Die alte Karre hat scheinbar nur 80 PS. Die kann nix. Nächstes Mal suchen wir uns eine, die echt Spaß macht!“
In der Ferne war ein Martinshorn zu hören. Sascha und Wanja blickten alarmiert in die Rückspiegel. Wieder quietschten die Räder, und der Wagen raste in die Hauptstraße Richtung Hüttenstadt. In dieser Gegend waren sie zuhause, kannten jeden Winkel und jedes Versteck.
In einer Nebenstraße winkte ihnen plötzlich jemand zu und versperrte dem Wagen den Weg. Sascha machte eine Vollbremsung und erkannte vor der Stoßstange seinen großen Bruder Marian. Von ferne war immer noch Martinshorn zu hören.
Marian öffnete grob die Fahrertür und fragte in barschem Ton: „Wie bist du an den Wagen von Amelie gekommen?“
Sascha zuckte mit den Schultern. „Welche Amelie?“
„Der Wagen gehört Amelie Klein, du Vollpfosten. Ich kenne das Kennzeichen und die Beule am linken Kotflügel. Die wollte ich ihr damals noch weg machen. Mit Amelie war ich doch zusammen, bevor ich in den Knast musste. Hast du ihr die Karre etwa geklaut?“
„Äh, nein. Der Wagen war am Eggemann-Wald auf der Landstraße abgestellt, und der Schlüssel steckte. Das nennen die Bullen: Verleitung zum Diebstahl.“
Wanja nickte zustimmend. „Ja, wir sind regelrecht verleitet worden. Wir wollten die Karre nach unserer Spritztour wieder am gleichen Platz abstellen.“
An der Kreuzung hinter ihnen raste ein Streifenwagen der Polizei vorbei und bremste hörbar.
Marian zerrte seinen jüngeren Bruder aus dem Wagen und rief: „Die Bullen suchen garantiert euch Idioten. Du und Wanja habt noch keinen Führerschein. Sascha, steig hinten ein. Ich setz mich ans Steuer und rede mit denen.“
Kaum, dass Marian am Lenkrad saß, stoppte der Streifenwagen hinter ihnen. Die Beamten eilten rechts und links zu den Türen des Pkw.
„Guten Tag, die jungen Herren, zeigen Sie bitte Führerschein und Fahrzeugpapiere.“
Marian reichte seinen Führerschein aus dem Türfenster und sagte: „Die Fahrzeugpapiere habe ich leider nicht dabei. Aber der Wagen gehört meiner Freundin Amelie Klein. Das können Sie über Funk sofort prüfen.“
Einer der Beamten ging zum Streifenwagen und rief die Zentrale an. Der andere sagte: „Es liegt eine Anzeige vor, dass Ihr Wagen vor wenigen Minuten am Kindergarten mit hoher Geschwindigkeit vorbeigerast ist und fast drei Kinder überfahren hätte.“
Marian erklärte schelmisch lächelnd: „Ach, Herr Wachtmeister, das sieht manchmal schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist. Da hat sich sicher wieder eine dieser Helikopter-Mamis ins Hemd gemacht und kräftig übertrieben.“
Der zweite Polizist kam vom Streifenwagen zurück und flüsterte seinem Kollegen zu: „Der Wagen gehört tatsächlich einer Amelie Klein, doch die wird von ihren Eltern seit zwei Tagen vermisst. Irgendetwas stimmt hier nicht.“
Die Beamten griffen zu ihren Pistolen und ließen sich den Zündschlüssel des gestohlenen Pkw aushändigen. Die jungen Männer mussten im Wagen sitzen bleiben, bis ein zweiter Streifenwagen hinzukam. Dann wurde das gestohlene Fahrzeug sichergestellt und das verdächtige Trio in Gewahrsam genommen.
∞
Marian Slovak, sein Bruder Sascha und Wanja Gorki saßen im Polizeipräsidium vor dem Büro von Hauptkommissarin Sophie Lauda. Marian blickte seinen jüngeren Bruder Sascha verärgert an und flüsterte: „Ich bin gespannt, in welche Scheiße du mich schon wieder reingeritten hast. Ich bin gerade auf Bewährung aus dem Knast und darf wegen dir sehr wahrscheinlich gleich wieder dort einziehen.“
Die Kommissarin öffnete die Tür und bat Marian zum Verhör. Der kräftige Bursche trat ein und setzte sich am Tisch der Ermittlerin gegenüber. Sie war Ende vierzig, sportlich schlank und wirkte mit dem blonden Kurzhaarschnitt immer noch jugendlich. Ihre blauen Augen erforschten den Verdächtigen mit kriminalistischem Blick.
Nachdem die Personalien aufgenommen worden waren, sagte sie: „Herr Slovak, ich möchte nicht lange herumreden. Ich gehöre zur Mordkommission und ermittle im Fall Amelie Klein. Sie wird seit zwei Tagen vermisst. Sie haben heute den Wagen von ihr gefahren. Von Frau Kleins Eltern wissen wir, dass Amelie Ihnen den Wagen nicht gegeben haben kann, da Sie mit ihr seit Ihrer Haft nicht mehr befreundet sind. Somit sind Sie verdächtig. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern und einen Rechtsbeistand zu bestellen.“
„Auf Grund meiner Vorstrafe wäre es schlecht für mich, gar keine Aussage zu machen. Ich muss aber gleichzeitig die Konsequenzen für meinen kleinen Bruder Sascha bedenken.“
„Sind Sie damit einverstanden, dass unser Gespräch aufgezeichnet wird?“ Er nickte, und sie fuhr fort: „Also, wie sind Sie an das Fahrzeug gekommen?“
„Scheiße!“, fluchte Marian und atmete schwer. Alles überschlug sich in seinem Kopf. Was sollte er nun aussagen? Wenn er die Wahrheit sagte, dann käme Sascha dran, weil der ohne Führerschein gefahren war. Wenn man ihm selbst aber den Diebstahl dieses Wagens anhängte, dann müsste er wohl morgen wieder im Knast sitzen.
„Herr Slovak, lassen Sie mich doch an Ihren Gedanken teilhaben. Ich weiß, dass Sie vorbestraft sind und auf Bewährung entlassen wurden. Die einzige Chance, die Sie haben, um nicht Ihre Bewährung zu gefährden, sind wahrheitsgemäße Aussagen zu dieser Sache.“
„Verdammt, ja!“ Marian machte ein gequältes Gesicht. „Normalerweise geht es gegen meine Ehre, mich nicht schützend vor meinem kleinen Bruder Sascha zu stellen. Aber da er mit Sicherheit nichts mit dem Verschwinden von Amelie Klein zu tun hat, muss er dieses Mal selbst für seinen Mist geradestehen.“ Der kantige Bursche wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und fuhr fort: „Sascha und sein Freund Wanja haben den Wagen von Amelie verlassen auf einer Landstraße gefunden. Angeblich war der Wagen unverschlossen, der Zündschlüssel steckte. In ihrem Leichtsinn haben sie mit dem Wagen dann eine Spritztour gemacht, bis ich sie per Zufall in der Hüttenstadt angehalten habe. Als ich das Auto von Amelie auf mich zukommen sah, habe ich erst gedacht, dass es Amelie selbst sei. Ich hatte ihr vor zwei Jahren den Wagen repariert, kenne ihr Kennzeichen und die Beule im Kotflügel. Von fern war bereits Martinshorn zu hören. Ich habe Sascha sofort hinter dem Lenkrad weggeholt, da er keinen Führerschein hat. Er hat sich dann nach hinten gesetzt und ich hinter das Lenkrad. Im gleichen Moment kam der Streifenwagen hinzu.“
„Wann haben Sie Amelie Klein das letzte Mal gesehen?“
„Bevor ich in die U-Haft musste, hatten wir Streit bekommen. Sie wollte mir nicht glauben, dass ich unschuldig bin. Ich wurde zu Unrecht verurteilt. Aber das interessiert bis heute kein Schwein. Ich habe geglaubt, dass wenigstens sie davon überzeugt wäre. Danach habe ich Amelie nicht mehr gesehen und auch nicht gesprochen. Sie hat mich auch nicht in der Haft besucht.“
„Nach meinen Informationen sind Sie zu sechs Monaten Haft verurteilt worden, weil Sie einen anderen jungen Mann so verprügelt haben, dass der klinisch behandelt werden musste, richtig?“
„Richtig ist, dass dieser Typ seit ewiger Zeit auf Kosten seines Vaters Jura studiert, aber die meiste Zeit betrunken ist und dann andere Leute anpöbelt. Es ist bekannt, dass er sich gerne prügelt. Bei mir ist er an den Falschen gekommen.“
„Sie haben dem Mann das Nasenbein und eine Rippe gebrochen. Scheinbar haben Sie Übung im Prügeln.“
„Der andere prügelt sich regelmäßig auf Festen, zur Kirmes und dort, wo er genügend trinken kann. Ich prügle mich nicht, sondern ich kämpfe. In der Hüttenstadt gibt es eine offizielle Einrichtung für Kampfsport, die von Wolf Aßmann geleitet wird. Er ist eine Art freiwilliger Streetworker und kümmert sich um die Kids, die keine Perspektive haben. Bei einem fairen Kampf können sie ihren überschüssigen Dampf ablassen und schaden niemandem. Dort habe auch ich einige Jahre trainiert. Mein Problem vor Gericht war, dass mein Vater nur ein arbeitsloser Stahlarbeiter ist, der Vater des Klägers jedoch eine große Anwaltskanzlei besitzt.“
„Sind Sie nicht in Berufung gegangen?“
„Warum? Bekanntlich spielen die Richter und namhaften Anwälte doch zusammen Tennis oder Golf. Wer aus der Hüttenstadt kommt, einen Vater hat, der trinkt und prügelt, gilt doch sowieso als Abschaum der Gesellschaft. Einmal unten, immer unten. Einmal oben, immer oben.“ Er blickte ihr provozierend in die Augen.
Lauda zeigte sich unbeeindruckt und fragte weiter: „Was machen Sie beruflich?“
„Ich habe Mechatroniker gelernt und in einem großen Autohaus gearbeitet. Dank meines Urlaubs in der JVA bin ich fristlos gekündigt worden und arbeitslos. Ich bin jetzt zweiundzwanzig und hatte eigentlich vorgehabt, mich als Berufssoldat zu bewerben. Als Vorbestrafter kann ich das auch knicken. So, und nun können Sie mich wieder in den Knast zurückschicken.“
Lauda lächelte. „Warum soll ich das tun? Ich habe Ihre Aussage aufgenommen. Der Verdacht gegen Sie in der Sache Amelie Klein wird erst mal aufgehoben. Ich entlasse Sie als Zeugen. Mit Ihren Bewährungsauflagen sind Sie ja gut zu erreichen und bleiben im Stadtgebiet, nicht wahr?“
Marian kniff misstrauisch die Brauen zusammen. „Sie lassen mich einfach ohne Konsequenzen gehen?“
„Sie haben sich vernünftig verhalten und Ihren jüngeren Bruder hinter dem Lenkrad weggeholt. Danach wollten Sie den Kollegen der Polizei den Wagen übergeben, richtig?“
Marian stand auf und reichte Lauda seine kräftige Hand. „Danke, ich glaube, dass auch Sascha von Ihnen fair behandelt wird.“
„Ihr Bruder hat anscheinend noch nicht den rechten Weg gefunden. Er muss lernen, selbst Verantwortung zu tragen und auch die Konsequenzen seines Handelns. Er ist siebzehn. Sie können nicht sein Leben lang auf ihn aufpassen.“
Vor dem Büro gab Marian seinem Bruder eine Kopfnuss und sagte leise: „Ich gebe euch beiden den guten Rat, die volle Wahrheit zu sagen. Diese Lauda ist fair.“
Saschas Augen begannen zu leuchten. „Du meinst, die lässt uns gleich gehen?“
„Nein, ihr habt Scheiße gebaut, und dafür werdet ihr nun geradestehen, mit allen Konsequenzen. Viel Spaß dabei.“
„Erzählst du Papa und Mama von dieser Geschichte?“
„Die haben Sorgen genug. Aber es kann sein, dass die Polizei sich bei ihnen meldet, weil du immer noch minderjährig bist. Statt auf der Straße herumzulungern, Scheiße zu bauen, solltet ihr beide mal in die Sporthalle kommen. Ich geh auch wieder zum Training.“
∞
Marian verließ erleichtert das Präsidium. Voller Tatendrang stieg er in den nächsten Bus und machte sich auf den Weg zu Amelies Eltern, die in der gleichen Siedlung der Hüttenstadt wohnten wie seine eigenen Eltern. Bernd Klein war einst ein Arbeitskollege seines Vaters gewesen. Beide Stahlkocher hatten sich so lange gut verstanden, bis Marians Vater aus Frust über seine Arbeitslosigkeit immer mehr zur Flasche gegriffen hatte. Bernd Klein war hingegen mittlerweile Hausmeister in der Grundschule der Hüttenstadt geworden. In dieser Funktion kümmerte er sich auch um die alte Gebläsehalle, die heute für sportliche Zwecke genutzt wurde.
Je näher Marian seiner alten Schule und der Hausmeisterwohnung kam, umso mulmiger wurde ihm. Er nahm all seinen Mut zusammen und klingelte an der Haustür.
Kurz danach öffnete Herr Klein und blickte den jungen Mann überrascht an. „Hallo, Marian, hat man dich endlich aus der JVA entlassen, oder bist du nur Freigänger?“
„Man hat mich aufgrund guter Führung schon nach vier Monaten vorzeitig entlassen. Ich habe von der Polizei gehört, dass Amelie vermisst wird. Hat die Polizei Sie schon informiert, dass ihr Wagen gefunden wurde?“
„Nein – woher weißt du das?“
Marian sog verlegen an seiner Unterlippe.
Aus der hinteren Wohnung fragte Frau Klein: „Bernd, wer ist denn da? Weiß die Polizei was Neues?“
„Marian Slovak ist hier. Man hat Amelies Auto gefunden.“
Frau Klein kam zur Tür geeilt und fragte aufgeregt: „Wo ist ihr Wagen? Wo ist Amelie? Und wieso weiß Marian davon?“
Beide Eltern starrten den jungen Mann besorgt und erwartungsvoll an.
„Mein Bruder Sascha und ein Freund von ihm haben den Wagen auf der Landstraße im Eggemann-Forst verlassen gefunden. Die Polizei wird Ihnen mehr dazu sagen können.“
„Du sprichst in Rätseln. Los, komm rein und erzähl der Reihe nach.“
Im Wohnzimmer saßen alle um einen Tisch. Marian erzählte wahrheitsgemäß, wo und wie er Amelies Wagen entdeckt hatte. Er erzählte auch von dem Verhör, bei dem er als Zeuge geladen war.
„Also weiß man doch nicht, wo Amelie steckt?“, sagte Frau Klein und sank in sich zusammen. Tränen füllten ihre Augen.
Klein legte einen Arm um seine Frau. „Beruhige dich, wir werden Amelie finden. Alles wird sich aufklären.“
Marian räusperte sich. „Auch wenn Amelie vor neun Monaten mit mir Schluss gemacht hat, so möchte ich helfen, sie zu finden. Leider weiß ich nicht, wo ich ansetzen soll. Ich habe von ihr ewig nichts gehört.“
Frau Klein blickte ihn vorwurfsvoll an. „Amelie war entsetzt, dass du auf der Kirmes diesen Studenten so brutal zusammengeschlagen hast. Sie arbeitet im Krankenhaus in der Unfallabteilung und muss täglich mitansehen, was dabei rauskommt.“
„Amelie hatte mir keine Chance gegeben, die Sache richtig zu stellen. Denn das war so …“
Marian tauchte wie in einem Film in seine Erinnerungen ein …, sah, was damals geschehen war, war wieder mitten drin:
Die jährliche Herbstkirmes ist für die gesamte Stadt das, was für andere Regionen das traditionelle Oktoberfest ist. Der Spätsommer zeigt sich von seiner besten Seite. Die Temperaturen sind nicht zu hoch und nicht zu niedrig. Eine ideale Voraussetzung für hohen Umsatz an allen Bierwagen, Getränkeständen und angrenzenden Kneipen. Zur Kirmeszeit wird die Dorfstraße fast einen Kilometer lang zur reinen Fußgängerzone, in der ein Schausteller neben dem anderen vergnügliche Dinge anbietet. Autoscooter, Halligalli, Kettenkarussell und Kinderkarussell sind permanent mit jubelndem Volk besetzt. Jeder Schausteller hat seine eigene Musik, die aus riesigen Boxen für eine ohrenbetäubende Kakophonie sorgt. Alt und Jung drängen sich in beiden Richtungen durch diese lebhafte Gasse. Kinderaugen strahlen, betteln, lassen den Eltern keine Ruhe. Fordern mehr und mehr. Finger und Münder kleben von der Zuckerwatte, von Lebkuchen- oder Schokoladenherzen. Es riecht nach einem gigantischen Mix aus gebrannten Mandeln, Pommes Frites und Bratwurst. Andere Stände bieten Waffeln und Gebäck an. Erst gegen Abend sind nur noch Jugendliche und Erwachsene unterwegs. Alle Bierstände werden in Zweier- oder Dreierreihen umringt. Durstige und fröhliche Menschen prosten sich zu. Eine Bierrunde folgt der nächsten. Mancher Gast hat schon wieder ein frisches Bier vor sich stehen, obwohl er noch ein halbvolles Glas in der Hand hält.
Zwei uniformierte Polizeibeamte laufen langsam die gesamte Fußgängerzone auf und ab, schauen hier und dort nach dem Rechten. Die Gasse und zwei Plätze, die mit alldem gefüllt sind, was zu einer bunten Kirmes gehört, sind zur Sicherheit eingezäunt und können nur von drei kontrollierten Zugängen aus betreten werden. An diesen Durchgängen stehen jeweils zwei Leute der Security. Diese haben die Aufgabe, darauf zu achten, dass keine Leute in extrem betrunkenem Zustand die Kirmes besuchen. Früher hatten auch schon mal die Rocker die Kirmes terrorisiert. Seit dieser Zeit investiert die Stadt in die Sicherheit ihrer Besucher.
Vor einem Eingang hält ein Taxi. Drei Burschen im Alter von Mitte zwanzig steigen aus. Der längste von ihnen misst sicherlich 1,90 Meter und wiegt deutlich über zwei Zentner. Er hält eine Whiskyflasche in der Hand, reicht dem Taxifahrer einen Geldschein und sagt in überheblichem Ton: „Für den Rest kannst du nach Malle fliegen“, und tätschelt dem Fahrer den Arm.