Bildnis der Mutter als junge Frau - Friedrich Christian Delius - E-Book

Bildnis der Mutter als junge Frau E-Book

Friedrich Christian Delius

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Beschreibung

«Eine wundervolle Erzählung.» (Süddeutsche Zeitung) Rom im Januar 1943: Eine junge deutsche Frau steht kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes. An einem sonnigen Tag begibt sie sich auf einen Spaziergang durch die fremden Straßen. Trotz der verwirrend schönen Eindrücke ist sie mit ihren Gedanken woanders. Ihr Mann wurde überraschend an die afrikanische Front abkommandiert. Der Zeitpunkt seiner Rückkehr ist ungewiss. Und auf ihrem Gang durch die Ewige Stadt beginnt die junge Frau zu ahnen, dass der Krieg verloren gehen könnte … «Ein kleines Meisterwerk … und eine Liebeserklärung an die Stadt Rom und an die Mutter.» (Die Zeit) «Ein Meisterwerk an Anmut und historischem Scharfblick.» (Neue Zürcher Zeitung) «Spannung und Elastizität dieser großartigen Erzählung sind gewaltig.» (Die Welt) «Ein großes Zeitbild auf kleinem Raum.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Friedrich Christian Delius

Bildnis der Mutter als junge Frau

Erzählung

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

WidmungLaufen Sie, junge ...Editorische NotizRezensionenBiographische Angaben
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Für U. B.

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Laufen Sie, junge Frau, laufen Sie, wenn Sie wollen laufen, der Kind sich freut, wenn Sie laufen, hatte Dr. Roberto in seinem lustigen Deutsch mit kräftiger italienischer Betonung gesagt,

 

und wie immer, wenn sie sich aufmachte zu einem Spaziergang oder zu einer Besorgung in die Stadt, tänzelten ihr diese Wörter durch den Kopf, die der Arzt nach der wöchentlichen Untersuchung mit freundlich mahnendem Lächeln und geschmeidiger Stimme auszusprechen pflegte,

 

schöne Frau, junge Frau, gesunde Frau, bewegen gut, anstrengen nicht gut, und der Sauerstoff von römische Luft, etwas mehr Gutes nicht gibt in Italien für Sie und der Kind, und alles ohne Geld, die Stadt Roma sich freut, Ihnen und der Kind seine gute Luft zu schenken,

 

kuriose Ermunterungen und lästige Komplimente, die sie schon vor dem ersten Schritt nach draußen begleiteten, als sie vor dem kleinen Badezimmerspiegel das Haar kämmte, flocht und zum Dutt feststeckte, dann skeptischen Blicks ihren einzigen, den schwarzen Hut mit breiter, geschwungener Krempe aufsetzte und mit beiden Händen über den weit vorgewölbten Bauch strich und außer diesem Bauch nichts an sich schön finden mochte, weil die Anrede schöne Frau ihr jedesmal die Röte ins Gesicht schießen ließ, eine Anrede, die dem Arzt trotz seiner Freundlichkeit und Fürsorge nicht zustand, sondern allein ihm, ihrem Ehemann, auf dessen Rückkehr von der afrikanischen Front sie Woche um Woche wartete,

 

und auf Zehenspitzen, es galt noch die Mittagsruhe, über die Terrakottafliesen des Flurs wieder in ihr Zimmer ging, das sie mit einer anderen Deutschen teilte, deren Verlobter in Australien interniert war und die, obwohl schon fast dreißig, Haustochter genannt wurde und in der Küche und bei der Essenausgabe arbeitete, Ilse lag nach dem Mittagsschlaf noch lesend im Bett,

 

während sie, die jüngere Frau, schwarze Schnürschuhe anzog und den dunkelblauen Mantel aus dem Schrank nahm, mit einem Blick ihr gemachtes Bett und den aufgeräumten Tisch musterte und für ordentlich genug befand, sich verabschiedete Bis zum Abendbrot!, die Tür schloss und am Badezimmer vorbei zum Fahrstuhl und zur Haupttreppe ging

 

in der Mitte des fünfstöckigen Gebäudes, ein von evangelischen Schwestern aus Deutschland betriebenes Krankenhaus und Altersheim mit einigen Gastzimmern, von denen sie eins bewohnte, bis zur Niederkunft zusammen mit Ilse, danach war ihr eins allein für sich und das Kleine im vierten Stock versprochen,

 

in diesem Haus unter der Obhut der Kaiserswerther Diakonissen hatte sie alles, was sie brauchte und was sie mit geringem Geld bezahlte, einen Arzt und Geburtshelfer, eine Hebamme, Schwestern, regelmäßiges Essen, ein Bett, einen Stuhl, einen kleinen Tisch, eine Schublade für die Briefe aus Afrika, eine Schrankhälfte, einen winzigen Spiegel im Badezimmer drei Türen weiter, eine Andacht jeden Morgen vor dem Frühstück, eine Terrasse auf dem Dach in einer Stadt, in der trotz der häufigen Alarme keine Bomben fielen und wo der Winter eine nebensächliche, überwiegend sonnige und warme Angelegenheit war,

 

und die Hand aufs Treppengeländer legte, hier war sie umgeben und umsorgt von zehn Frauen in dunkelblauer Tracht und weißen Hauben mit Rüschenrand und hoffmannsgestärkten Schleifen unter dem Kinn, eine leitete die Küche, eine die Wäscherei, eine die Bügelstube, eine die Krankenpflege, eine die Verwaltung, und die prachtvollste von ihnen, Schwester Else, leitete das ganze Diakonissenheim, und sie alle widmeten sich den Kranken, den Müttern mit den Säuglingen auf der Entbindungsstation und den Gästen, hier fühlte sie sich aufgehoben und konnte für all das nur unendlich dankbar sein,

 

besonders dankbar, dass hier Deutsch gesprochen wurde und sie keine Mühe aufwenden musste, in der Fremde eine fremde Sprache zu sprechen, was sie gar nicht gekonnt hätte, ausgebildet als Kindergärtnerin und für die Haushaltsführung, sie fühlte sich sprachlich völlig unbegabt, hatte nicht einmal drei Wörter einer anderen Sprache gelernt, dafür im Rechnen und Turnen die besten Noten, hatte in der Schule wie beim Bund Deutscher Mädel ihre Neugier auf die Biologie geworfen, auf die heimischen Pflanzen und Tiere, aber nie auf Sprachen, nicht einmal auf Deutsch, geschweige denn auf Fremdsprachen, und deshalb pries sie von morgens bis abends und nun die Treppenstufen vorsichtig hinabsteigend ihr Glück,

 

mitten in Rom auf einer deutschen Insel zu sein, wo sogar die Italiener Deutsch sprachen, manchmal ein lustiges Deutsch wie das von Dr. Roberto, manchmal ein gestückeltes wie das der Frauen in der Küche, aber alle schienen sich Mühe zu geben, weil sie offenbar gern hier arbeiteten bei den Protestanten oder vielleicht selbst zu den versprengten italienischen Protestanten gehörten, zu den tapferen Waldensern, oder an deutscher Ordnung oder an frommer Ordentlichkeit Gefallen fanden,

 

und ging, am Geländer sich festhaltend, die Treppe hinunter, bis sie in den Eingangsraum kam mit drei schmalen Sesseln und einem Tisch vor dem ärztlichen Sprechzimmer und einer Vase, in der immer frische Blumen standen, heute waren es Mimosen, drei Büschel zarter gelber Januarmimosen, und, nach dem Passieren der offenen Glastür,

 

in die Vorhalle mit der Wartebank und dem Halbzimmerchen für die Begrüßungsschwester, wie man im Hause sagte, meistens war es Schwester Helga, die die Schlüssel und das Telefon verwaltete, Post ausgab, Patienten zur Aufnahme wies und das Anwesenheitsbuch führte und bei der sich abzumelden hatte, wer das Haus verließ und sich aus der Obhut der immer hilfsbereit lächelnden Diakonissen entfernte,

 

schon war es drei Uhr geworden, Ende der Mittagsruhe, und Schwester Helga kam heran, um ihren Wächterposten einzunehmen, sie wusste Bescheid, es war schon besprochen, dass die junge Frau allein zur Kirche in die Via Sicilia zum Konzert gehen und abends auf dem Heimweg von zwei Schwestern durch die Dunkelheit begleitet werden sollte,

 

zumal es vielleicht ein paar Minuten später als halb sechs werden konnte, wenn keine Laternen mehr angeschaltet und die Fenster verhängt wurden wegen der Verdunklung zur Täuschung der Bombenflugzeuge, die über Rom noch nie eine Bombe abgeworfen hatten, und die Löcher und schiefen Pflastersteine auf den Bürgersteigen schlecht zu erkennen waren,

 

Bis zum Abendbrot!, sagte Schwester Helga, Bis zum Abendbrot!, sagte die junge Frau und trat durch das Portal, blieb einen Moment auf der obersten Treppenstufe, beim ersten Atemzug draußen im hellen Januarnachmittag,

 

Dr. Roberto hatte recht mit seinem Lob des römischen Sauerstoffs, diese Luft tat ihr gut, das Sonnenlicht tat ihr gut, die Nachmittagssonne schien auf die richtige, auf ihre Seite der Via Alessandro Farnese und tupfte ein wenig der kostbaren Wärme auf ihr Gesicht, sodass sie den Kopf hob, damit der Hut keinen Schatten auf die Haut werfe, und ging lächelnd, an Agaven und Rhododendron vorbei, sechs Stufen hinab und wandte sich nach links,

 

das hätte sie vor neun Wochen sich nicht vorstellen können, so selbstverständlich und fast ohne Angst ganz allein an einem Sonnabendnachmittag in eine römische Straße einzubiegen,

 

neun Wochen war das her, als sie eben in Rom angekommen war, um endlich, zum ersten Mal nach der Hochzeit, mit ihm, mit Gert für länger zusammen zu sein, und als er bereits einen Tag nach ihrer Ankunft sagen musste, dass er wieder zu den Soldaten befohlen sei, eine plötzliche Versetzung nach Afrika, sofort, und sie es nicht fassen konnte,

 

gerade angekommen und sofort wieder allein, hochschwanger in der gefährlichen Fremde, ein Schock, mit einundzwanzig Jahren selber wie ein Kind, das ohne Hilfe nicht gehen, auf eigenen Beinen nicht stehen kann, ausgesetzt in einer völlig fremden Gegend und einer völlig fremden Sprache,

 

sie sah an den schön geformten Fensterbögen und den grünen Läden des vor Jahren einmal rostrot gestrichenen Hauses die fünf Stockwerke hinauf bis zum Terrassengitter, suchte das Fenster ihres Zimmers und betrachtete, als hätte sie ein Verdienst daran, mit bescheidenem Stolz auf ihre frisch erworbene Weltläufigkeit die Palme davor, von der sie so gern in ihren Briefen berichtete, alles in allem ein stattliches, von Pflanzen umschmücktes Gebäude,

 

eine bessere Zuflucht hätte ihr der geliebte Mann nicht suchen, eine schönere deutsche Insel hätte sie nicht finden können, und bei diesen Gedanken regte sich das Kind in ihr, sie blieb stehen, spürte die klopfenden Bewegungen der Beinchen und Ärmchen, sie nahm das als Zustimmung und antwortete, indem sie mit der Hand unter den Mantel fuhr und langsam über ihr Kleid und den gewölbten Bauch strich,

 

und begann, als die Tritte und Stöße nachließen, ihren Fußweg zu der anderen deutschen Insel, zur Kirche in der Via Sicilia, wo um 16 Uhr das Kirchenkonzert anfangen sollte, es war der vertraute Weg von Insel zu Insel, denn das übrige, das riesige Rom kam ihr immer noch wie

 

ein Meer vor, das sie zu überqueren hatte, gehemmt von der Furcht vor all dem Unbekannten, vor den erhebenden Tiefen dieser Stadt, ihren doppelten und dreifachen Böden und Schichten, vor den vielen täuschend ähnlichen Säulen, Türmen, Kuppeln, Fassaden, Gemäuern und Straßenecken, vor den unendlich vielen Wallfahrtsorten der Gebildeten, an denen sie ungebildet vorüberlief, und den schwer zu enträtselnden Gesichtern der Leute auf den Straßen in den schlingernden Zeiten eines weit entfernten und jeden Tag näher rückenden Krieges,

 

aber wo Furcht ist, hilft der Glaube, auf diese Erfahrung konnte sie bauen, denn auch gegen das undurchschaubare, unheimliche Meer namens Rom half die Bibel, zum Beispiel der bei einer Morgenandacht zitierte Satz aus den Psalmen, Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch auch dort deine Hand führen und deine Rechte mich halten,

 

sobald sie sich diesen Satz ins Gedächtnis rief, fühlte sie sich getröstet und geführt und gehalten, und mit den anfeuernden Sprüchen von Dr. Roberto, Laufen Sie, junge Frau, laufen Sie, und mit der Gewissheit, genau am richtigen und sichersten Ort zu sein zwischen der afrikanischen Küste, wo ihr Ehemann diente, und der Ostseeküste, wo ihre Eltern wohnten, war sie schnell an der ersten Straßenecke,

 

überquerte die Kreuzung, blieb auf der Sonnenseite, schaute auf die Häuser der Nachbarschaft, alle in den ihr inzwischen vertrauten freundlichen Farben zwischen hellem Ocker und dunklen, verblassten und abgewaschenen Rottönen, drei oder vier Etagen hohe bürgerliche Wohnhäuser, manche mit dicken schwarzen Pfeilen zum nächsten Luftschutzkeller weisend, und nach der zweiten, von jungen Steineichen gesäumten Querstraße öffnete sich nach einigen Schritten

 

der Platz mit dem Namen, den sie sich nie richtig merken konnte, Cola di Rienzo, so stand es auf den Steintafeln an den Hausecken, irgendein Fürst oder Politiker, sie hatte sofort vergessen, was Gert ihr vor mehr als zwei Monaten erklärt hatte, sie konnte all diese fremden Namen in der fremden Sprache nicht behalten, es war schon schwierig genug, die Gesten und Blicke der Passanten zu deuten,

 

und schwierig genug, an der Schlange vor der Bäckerei vorbeizugehen und dabei das richtige Gesicht zu machen, es war kurz nach drei, und der Panificio öffnete um halb vier und schloss wie alle Geschäfte wegen der Verdunklung um halb sechs, wie immer am Morgen oder am frühen Nachmittag standen bereits einige Frauen auf dem Bürgersteig, sie wich ihnen aus und ging auf dem Straßenpflaster weiter,

 

das Mehl war knapp, das Brot war knapp, es kostete drei Lire das Kilo, manchmal gab es nur das gelbe Maisbrot, und im letzten Frühjahr, hatte Ilse gesagt, haben sie die Ration von 200 Gramm pro Person und Tag auf 150 herabgesetzt, zwei oder drei Scheiben, und das den Italienern, die an täglich frisches Brot gewöhnt sind, Kuchen und Gebäck durften von den Bäckereien schon seit über einem Jahr nicht mehr verkauft werden,

 

wieder dachte sie daran, wie gut es ihr ging, versorgt mit allem, was sie brauchte, nicht hungern und nicht Schlange stehen zu müssen wie die römischen Hausfrauen oder ihre Dienstmädchen, wie gut sie es hatte, dass sie in dieser Stunde zur Kirche und sogar zu einem Konzert gehen durfte und nur einen winzigen Augenblick lang von der Frage irritiert wurde,

 

warum im Krieg das Brot nicht reicht und immer weniger wird, wo man doch immer mehr Land erobert und immer mehr Siege meldet, wo ist das Brot geblieben, der Weizen wächst doch weiter und der Roggen, man konnte das sehen aus den Eisenbahnfenstern, wie alle Felder blühten und reiften, wo ist das Brot geblieben, aber so durfte man nicht fragen, es war eine Prüfung, es war Gottes Wille, er schenkte das tägliche Brot und verteilte es,

 

während diese Frauen hier standen und erleichtert schienen, dass sie sich nicht auch anstellte, eine Schwangere im achten Monat hätte das Recht auf einen Platz ganz vorn in der Reihe gehabt und ihnen den Weg zu den paar Gramm Brot noch einmal verlängert, aus den halbfeindlichen wurden fast freundliche Blicke, als sie merkten, dass sie weiterging bis zur Ecke Via Cola di Rienzo,

 

dort schaute sie, ehe sie sich nach links wandte, nach rechts hinüber, wo Peterskirche und Vatikan nur eine Viertelstunde entfernt lagen, da wollte sie jetzt nicht hin, da zog es sie nicht hin, da war sie einmal gewesen und hatte den Papst gesehen am Feiertag der Unbefleckten Empfängnis, hatte mit Ilse im Gedränge zwischen Tausenden gestanden und beobachtet,

 

wie der als heilig verehrte Vater auf einem prächtigen Stuhl sitzend durch die Kirche getragen und von der Menge mit stürmischem Beifall begrüßt wurde wie ein Sieger im Olympiafilm oder der Führer in der Wochenschau, und wie die Kardinäle singend hin- und hergingen und vor lauter Getöse kein Singen und Beten zu hören war, alles wirkte so heidnisch, so laut, so äußerlich, eher ein Theater als ein Gottesdienst, und da sie ohnehin nichts verstanden und das Gedränge lieber mieden, erst recht mit dem runden Bauch,

 

waren sie auf den Petersplatz hinausgetreten, wo immer noch Hunderte auf Einlass warteten, und Ilse hatte den Seufzer ausgestoßen Ein Glück, dass wir Martin Luther hatten!, etwas Ähnliches hatte sie auch gedacht und doch nicht auszusprechen gewagt, Ilse sagte meistens schneller, was sie dachte, und beide waren sich einig, wie gut sie es hatten, dass sie evangelisch waren und auf solches Schaugepränge verzichten konnten,

 

und wenn ihr auf der Terrasse des Diakonissenhauses oder bei den Gängen durch die Stadt über den Dächern die imponierende Kuppel der Peterskirche in den Blick rückte, bedauerte sie die Katholiken, die von dieser Steinlast eingeschüchtert, in dieser marmornen Festung zu Statisten, zu Ameisen gemacht wurden und einem angeblich unfehlbaren Papst unterworfen waren, vierhundert Kirchen in Rom, sagte man, eine schöner und prunkvoller als die andere, aber nur eine war die richtige, die in der Via Sicilia, und dahin bog sie ab,

 

nach links Richtung Tiberbrücke, lief über die unverständlichen Buchstaben SPQR und die verständlichen Buchstaben GAS auf den Kanaldeckeln hinweg und an den schwarzen Pfeilen zum nächsten Luftschutzraum und an den mittags geschlossenen schmalen Läden eines Friseurs und eines Geflügelhändlers und an Wandzeitungen vorbei, die auf eine Hausmauer geklebt waren,

 

fast jeden Tag ging sie hier entlang, und manchmal, aber immer seltener, wenn der Händler einmal frische Ware vorzeigen konnte, hingen die ausgenommenen, ausgebluteten und gerupften Hühner mit dem Kopf nach unten im Fensterrahmen direkt neben den Siegesmeldungen auf dem vom Klebstoff noch feuchten Zeitungspapier,

 

es herrschte Mangel überall, an Brot, an Fleisch, an Papier, da war es praktisch, die Zeitungen an die Wände zu kleben für alle, Notizie da Roma, mit fetten Buchstaben kündeten die Überschriften, die meistens aus den Wörtern Vittoria und Vincere bestanden, von irgendwelchen Siegen oder dem Befehl zum Siegen, überall, wo man auf Propaganda stieß, schossen die Wörter Vittoria und Vincere aufdringlich schwarz hervor,

 

sie war froh, dass sie das alles nicht lesen konnte und nicht lesen musste, auch in Deutschland hatte sie keine Zeitung gelesen, es war besser, nicht zu viel zu wissen, nicht zu viel zu sagen, nicht zu viel zu fragen, die schlechten Nachrichten erfuhr man immer noch früh genug, und die guten Nachrichten fanden sich sowieso nur in Briefen, und gerade jetzt, wo es in Russland nicht gut aussah für die Deutschen und die Italiener,