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Wenn Menschen anderen Menschen Schmerzen zufügen, dann können diese ganz unterschiedlicher Art sein. Seelische Grausamkeit geht oft mit körperlicher Gewalt einher und zerstört Familien. Aber da viele Opfer schweigen, bleibt so manches Unrecht ungesühnt. Ein Mensch versucht, das Recht in die eigene Hand zu nehmen und so finden die Kommissare Bianca Bonnét und Michael Verskoff einen Toten am Rhein. Als in der beschaulichen Gegend des Rheingaus weitere Leichen gefunden werden, wird der Druck auf die Polizei und Staatsanwaltschaft immer stärker. Die Bevölkerung applaudiert, denn hier ist jemand aktiv geworden, um die Gewalt an den Schwachen zu rächen. Werden die Kommissare den Täter finden? Begleiten Sie die Ermittler an den Rand menschlicher Abgründe.
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Ute Dombrowski
Bis die Gerechtigkeit dich holt
Fall 2
Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Bis die Gerechtigkeit dich holt
Ute Dombrowski
1. Auflage 2017
Copyright © 2017 Ute Dombrowski
Umschlag: Ute Dombrowski
Lektorat/Korrektorat Julia Dillenberger-Ochs
Satz: Ute Dombrowski
Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach
Druck: epubli
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Wenn Gnade Mörder schont, verübt sie Mord.“
William Shakespeare
Romeo und Julia, 3. Akt, 2. Szene
Der Prinz
„Nein, Papa, lass, ich will nicht, dass du mir weh tust. Bitte!“, flehte Nora und versuchte, sich dem harten Griff des Vaters zu entziehen.
Das kleine Mädchen, das fünf Jahre jünger war als ihre Schwester Nora, hatte in ihrem Versteck hinter der Tür den Atem angehalten. Sie wusste, was jetzt kam. Nachdem ihr die Tasse aus der Hand geglitten war, wollte Nora fliehen. Ihr Vater zog sie an den Haaren aus dem Flur in die Küche. Der Kakao, den ihre Mutter ihnen jeden Abend kochte, bevor sie zum Nachtdienst ins Altenheim ging, hatte sich über den Boden ergossen. Sie war noch schnell nach unten in den Keller geeilt, um die Wäsche abzunehmen.
Nora hatte nach dem Abendessen, das sie schweigend eingenommen hatten, das Getränk ins Zimmer mitnehmen wollen. Sie war fünfzehn Jahre alt, sah aber aus wie eine Elfjährige. Nora war klein und schmächtig. Sie hatte eine feine weiße Haut und große blaue Augen. Ihre fast schwarzen Haare waren kurz geschoren. Die kleine Schwester dagegen hatte lange, blonde Locken, die Mutter jeden Morgen mit einem Samtband zusammenflocht. Nora war blass und zitterte am ganzen Körper, ihre Angst war schon zu einer Lebenshaltung geworden.
Das kleine Mädchen hinter der Tür hatte sich irgendwann zu fragen begonnen, warum der Papa immer nur zu Nora so böse war, aber sie hatte keine Antwort darauf gefunden. Jedes Mal, wenn ihrer Schwester ein Missgeschick passierte, wurde sie hart bestraft. Als sie Nora darauf angesprochen hatte, strich diese ihr sanft über das blonde Haar und lächelte.
„Ich bin immer so ungeschickt. Es ist alles nicht so schlimm, Engelchen, frag nicht weiter.“
Heute hatte der Kakao auf dem Boden eine Welle der Gewalt ausgelöst. Die Kleine stand ganz still hinter der Tür und sah durch den Türspalt, wie ihr Vater Noras rechtes Ohr ergriff und sie zu sich heranzog.
„Warum machst du immer, immer, immer, immer, immer wieder so eine Sauerei? Ich will, dass mein Zuhause sauber ist. Auf den Boden! Sofort! Wisch es weg!“
Seine Hand war an ihrem Ohr geblieben, das schon ganz rot war. Bei jedem „immer“ zerrte er voller Wut an dem Mädchen. Nora schrie verzweifelt. Sie kniete sich zu dem Fleck und wischte mit dem Ärmel, den sie über die Hand gezogen hatte, daran herum. Dass sie ihn so nur noch mehr verteilte, trieb den Vater zur Raserei. Er drückte Nora auf den Boden, sodass ihr Gesicht im Kakao landete. Mit einem festen Griff in ihren Nacken, zu dem er das glühend rote Ohr losließ, wischte er ihr Gesicht immer wieder über den Fleck. Das kleine Mädchen hinter der Tür hielt sich die Ohren zu. Jetzt war das Geschrei ihrer Schwester in ein Wimmern übergegangen. Plötzlich ließ der Vater los, Nora erhob sich mühsam. Sie war schmutzig, aber das war ihr egal. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
„Du wirst mir nie wieder weh tun. Nie wieder. Nie wieder.“
Sie flüsterte diesen Satz mehr zu sich selbst, als dass sie erwartete, es würde jemand hören. Niemand hatte sie je gehört. Nicht ihre Schreie, nicht ihr Flehen um Gnade, nicht ihre Gebete, sie zu erlösen. Sie wusste, dass sie das nur selbst tun konnte.
Nora lief zum Küchenschrank und öffnete langsam die Besteck-Schublade. Sie nahm das große Fleischmesser heraus. Jetzt drehte sie sich zu ihrem Vater um. Er hatte sie gar nicht beachtet, sondern sein vor Zorn und Anstrengung gerötetes Gesicht wieder in die Tageszeitung gesteckt.
Mit festen Schritten ging Nora um den Tisch herum und rammte das Messer mit ganzer Kraft in den Nacken ihres Vaters. Dann zog sie es heraus, wobei sie vor Anstrengung zitterte, um es noch einmal von der Seite in seinen Hals zu stoßen. Der Vater hatte sich umgedreht und versuchte, nach dem Messer zu greifen, aber beim zweiten Stich sprudelte unheimlich viel Blut hervor. Der große, kahlköpfige Mann griff sich an den Hals und kippte seitlich vom Stuhl. Er zuckte noch einige Sekunden, dann lag er regungslos auf dem Boden. Die große Menge Blut breitete sich auf dem hellen Laminat-Boden aus und versuchte, in den Ritzen zu versickern, als wollte es sich vor der Grausamkeit verkriechen.
Nora hatte alles mit Genugtuung beobachtet. Nun atmete sie erleichtert auf.
„Nie wieder!“, sagte sie noch einmal mit fester Stimme.
Dann schaute sie aus unendlich traurigen Augen durch den Türspalt zu ihrer kleinen Schwester. Sie drehte sich um, öffnete das Küchenfenster im elften Stock des Hauses und stellte einen Stuhl unter das Fensterbrett.
„Engelchen, es tut mir leid. Ich liebe dich.“
Die Kleine sah, wie Nora auf das Fensterbrett kletterte, dann hielt sie sich die Augen zu. Als sie sie wieder aufmachte, war das Fensterbrett leer. Der Winterwind bewegte die Gardine und frische Luft strömte herein. Sie eilte ans Fenster, kletterte auf den Stuhl und schaute hinaus.
Unten auf dem Weg lag Noras eigentümlich verrenkter Körper in den Resten vom Schnee, der sich nun dunkel färbte. Sie fiel rückwärts vom Stuhl in die Küche und begann zu schreien.
Die junge Frau mit den blonden Haaren saß am Rheinufer in Rüdesheim und hielt ihr Gesicht in die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings. Er hatte sich Zeit gelassen und den ganzen März hindurch mit dem Winter gerungen. Nach unendlich vielen Tagen mit Schnee, Sturm, Eisregen und dunklen Wolkenbergen hatte die Wärme der Sonne den Winter bezwungen. Von einem Tag auf den anderen war es Frühling geworden.
Die Menschen eilten mit leichten Jacken an ihr vorbei. Sie saßen auf Bänken, führten ihre Hunde spazieren oder spielten mit ihren Kindern.
Lisa hatte die Augen geschlossen. Sie war erst vor kurzem in den Rheingau gezogen. Nach der Arbeit auf dem Weg von Wiesbaden nach Hause hielt sie immer noch am Rhein an und lief den geraden, von alten Bäumen gesäumten Weg entlang. Ihre Mutter war vor einigen Jahren gestorben. Seitdem war sie ganz allein auf dieser Welt. Sie wusste nichts über ihren Vater oder darüber, ob sie Geschwister hatte. Sie wusste nur, dass sie vor vierzehn Jahren nach einem Unfall aus dem Koma, das sie lange Zeit mit Dunkelheit erfüllt hatte, erwacht war. Die Frau an ihrem Bett hatte geweint, als sie die Augen aufschlug.
„Wer sind Sie?“, hatte Lisa gefragt.
Die Frau schluchzte nun noch heftiger.
„Erkennst du mich nicht? Ich bin es, deine Mama. Du hattest einen schweren Unfall.“
Lisa hatte verwirrt geschwiegen. Jetzt kamen die Ärzte und kümmerten sich eilig um sie. Einer leuchtete in ihre Augen. Der nächste maß ihre Temperatur. Jemand befestigte kleine Metallplättchen auf ihrem Kopf, um die Hirnstromwellen zu messen. Sie gaben kurze Anweisungen, sprachen aber sonst nicht mit dem zehnjährigen Mädchen. Lisa begriff, wer sie war, aber alles, was vor dem Unfall lag, war in der Dunkelheit geblieben. Die Ärzte wussten auch nicht, ob sie sich irgendwann wieder an ihre Vergangenheit erinnern würde.
Sie ging mit der fremden Frau in eine Wohnung, die ihr Zuhause sein sollte und aß Essen, das ihr Lieblingsgericht sein sollte. Sie wohnte in einem ihr unbekannten Zimmer und schlief in einem fremden Bett. Der kleine blaue Bär, der im Krankenhaus neben ihr gelegen hatte, war ihr einziger Freund und Vertrauter. Mit ihm besprach sie alles, was ihr wichtig erschien.
Langsam nahm der Alltag seinen Lauf. Lisa saß in der Schule und lernte fleißig. Mit den anderen Kindern hatte sie kaum Kontakt. In den Pausen stand sie allein und unauffällig in einer Ecke des Schulhofes und war froh, dass niemand Interesse an ihr zeigte. Sie machte ein gutes Abitur, studierte mit großem Erfolg Pharmazie und hatte vor einem Jahr begonnen, in der Krankenhausapotheke zu arbeiten. Der Verlust der Mutter hatte sie nicht sehr berührt, denn die Frau mit den blonden Locken war ihr fremd geblieben. Anderen Menschen ging sie, so weit dies möglich war, aus dem Weg. Lisa war gern allein. Sie empfand das Alleinsein nicht als bedrückende Einsamkeit, sondern als friedlichen Ruhebereich für ihre Seele.
Niemand hatte ihr jemals erzählt, was bei dem Unfall geschehen war. Ihre Mutter weigerte sich. Später hatte sie es vergessen und wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, danach zu fragen.
Lisa war aufgestanden und wollte heimgehen, als eine Joggerin an ihr vorbeilief und wie immer freundlich nickte, wenn sie sich hier begegneten. Sie war etwa im gleichen Alter wie Lisa und trug die langen, blonden Haare zu einem Knoten verschlungen, der mit einem blauen Band zusammengehalten wurde. Lisa lief in die gleiche Richtung.
Wie immer war sie nach der Arbeit hierher gekommen und hatte ihr Auto nebenan im Wohngebiet abgestellt. Wenn es schön war, setzte sie sich noch auf immer dieselbe Bank. Zweimal hatte dort in der Mitte der drei glatten Bretter eine alte Frau gesessen und sie grimmig von der Seite angeschaut, als Lisa sich auf die Kante dazusetzte.
„Es gibt hier noch mehr Bänke, Mädchen“, hatte sie gesagt und nach links und rechts gezeigt.
„Ich sitze immer hier, das ist die schönste Bank, Entschuldigung.“
Die Frau schüttelte den Kopf, stand auf und ging. Lisa war es egal, was sie dachte und rutschte in die Mitte. Sie saß eine Weile ganz still dort und erhob sich langsam, um sich auf den Heimweg zu machen. Sie war schon in der Nähe des Autos, da fiel ihr Blick zur Seite in die Nähe eines Busches mit winzigen, grünen Blattspitzen. Die Joggerin kniete dort am Boden und redete auf ein kleines Mädchen ein.
Lisa eilte zu ihr und fragte: „Kann ich Ihnen helfen? Was ist denn passiert?“
Dann fiel ihr Blick auf das Mädchen und sie zuckte zurück. Beide Augen waren von blauen Rändern begrenzt, Nase und Lippen waren blutig und geschwollen, sie saß zusammengekrümmt am Boden und presste die Hände auf den Bauch. Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. Die Haare waren zerzaust und oberhalb der Stirn befand sich eine kahle Stelle, als hätte ihr jemand die Haare ausgerissen.
Lisa schluckte und unterdrückte die eigenen Tränen, um das Kind nicht noch mehr aufzuregen. Die Kleine musste etwa acht oder neun Jahre alt sein. Die Kleidung passte überhaupt nicht dazu, denn sie trug ein enges Kleid.
„Wer bist du denn, Kleine?“, fragte die Joggerin sanft und strich ihr über das Haar.
„Hanka.“
„Wollen wir mal zu deiner Mama gehen? Ist sie hier oder bist du ganz alleine?“
„Alleine.“
„Hast du Schmerzen?“
Hanka nickte nur.
„Kannst du aufstehen?“
Hanka schüttelte den Kopf.
Die Joggerin nickte Lisa zu, die nach ihrem Handy gegriffen hatte und den Notruf wählte. Was musste dieses kleine Mädchen für furchtbare Dinge erlebt haben? Sie war sich nicht sicher, ob sie Genaueres wissen wollte.
Zehn Minuten später kam der Rettungswagen den Weg am Rhein entlanggefahren und hielt auf dem Rasen neben dem Busch. Kurze Zeit später hielt ein Streifenwagen dahinter, denn beim Eintreffen des Notarztes hatten sich einige Schaulustige versammelt. Die Polizisten drängten die Menschen in beide Richtungen des Weges zurück. Dann traten sie zu den beiden Frauen, die etwas abseits an einem großen, alten Baum standen und die routinierten Handgriffe des Rettungsteams verfolgten. Lisa weinte nun doch noch, so erschüttert war sie.
„Sie haben die Kleine gefunden?“, fragte der junge Polizist, der jetzt auf sie zukam.
Lisa, die sich die Tränen abgewischt hatte, und die Joggerin nickten.
„Ich bin Lisa Gornst, ich komme nach der Arbeit immer hier vorbei.“
„Ich bin Kendra Thoerent, das ist meine tägliche Joggingstrecke. Was ist mit dem Mädchen passiert? Es sah so aus, als wenn …“
Sie sprach nicht weiter, am Rettungswagen wurde Hanka gerade behutsam auf eine Trage gelegt, ein Tropf war angelegt und ein Monitor maß ihre Herztöne. Die Tür des Fahrzeugs schloss sich summend und dann setzte es sich mit Blaulicht und Sirene in Bewegung. Nun kam der zweite Polizist herüber, er hatte mit dem Notarzt geredet.
„Es besteht der Verdacht auf eine Vergewaltigung und misshandelt hat man sie sehr heftig. Von Schlägen bis zum Haare ausreißen war wohl alles dabei. Die Ärzte bangen um ihr Leben, denn sie hat schwere innere Verletzungen. Sie haben das Mädchen gefunden? Wo genau?“
Kendra zeigte auf das Gebüsch.
„Sie saß wie eine Puppe am Boden, zwischen den Ästen und hat gewimmert, ich habe es nur gehört, weil ich gerade die Kopfhörer aus den Ohren genommen hatte. Als ich mich gebückt habe, kam sie herausgekrochen. Oh, mein Gott, wer tut so etwas?“
„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Haben Sie in der Umgebung etwas bemerkt? Einen Mann vielleicht?“
Lisa sagte nur: „Es war heute nicht so viel los wie sonst, die meisten Spaziergänger waren Frauen, die drei Männer mit den Hunden sind alt und auch immer hier unterwegs.“
Die Polizisten nahmen ihre Personalien auf und verabschiedeten sich.
„Wir wenden uns bei Bedarf noch einmal an sie. Drücken Sie der Kleinen die Daumen, dass sie es überlebt. Und danke, dass Sie so schnell reagiert haben.“
Sie gingen davon und die beiden Frauen blieben erschüttert zurück. Dann sank Kendra plötzlich auf die Knie und schluchzte heftig. Ihre Schultern bebten, als Lisa die junge Frau wieder hochzog und in die Arme nahm.
„Sie wird es schaffen, die Ärzte tun sicher alles für Hanka. Kommen Sie, setzen wir uns kurz auf die Bank.“
Als sie nebeneinander saßen, entschuldigte sich Kendra für den Gefühlsausbruch, aber Lisa winkte nur ab.
Sie streckte der Joggerin die Hand hin und sagte: „Ich bin Lisa. Sie sind die nette, junge Frau, die mir immer zunickt, wenn ich auf meiner Bank sitze.“
„Ich bin Kendra. Ja, ich sehe Sie immer dort sitzen und Sie sehen sehr entspannt und zufrieden aus. Wir können doch Du sagen.“
„Gerne. Was denkst du, wer Hanka das angetan hat?“
„Keine Ahnung, ich hoffe nur, hier an Rheinufer läuft kein Vergewaltiger herum, der kleine Mädchen anfällt.“
Sie verabschiedeten sich und wollten sich am kommenden Tag zu einem Kaffee treffen.
Die dunkle Gestalt hinter dem Baum stand vollkommen ruhig da, das einzige, was sich bewegte, war der Zeiger der Uhr, der unaufhaltsam vorwärtsstürmte. Nein, es war nicht das einzige, was sich bewegte: Das Herz klopfte der Gestalt so laut in ihrer Brust, dass es fast zersprang. Hinter ihr floss der Rhein so entspannt dahin, als ob er schon schlief.
In sieben Minuten war es soweit. Die Dunkelheit war undurchdringlich, nachdem der Mond hinter einer Wolke verschwunden war. Die Gestalt schwitzte unter der schwarzen Wollmaske, aber sie wusste nicht, ob es vor Aufregung oder Hitze war. Die Hände steckten in schwarzen Gummihandschuhen, das Messer in der Hand hatte vorhin im Mondlicht noch silbern geglänzt, aber jetzt war es genauso unsichtbar wie alles andere.
Es war kurz vor Mitternacht, in der Ferne waren Schritte von schweren, festen Schuhsohlen zu vernehmen. Die dunkle Gestalt hinter dem Baum straffte sich. Sie war bereit, den zu richten, der Unrecht begangen hatte.
Ein dicker, grobschlächtiger Mann war in seinen Umrissen zu erkennen, er näherte sich unaufhaltsam und mit eiligen Schritten dem Baum. Die Gestalt kam hinter dem Baum hervor und ließ das Messer mit der langen, scharfen Klinge auf die Person, die fast genauso groß war, niedersausen. Erschrocken fasste sich der dicke Mann an die Schulter, schaute hoch und gab der Gestalt die Möglichkeit, das Messer in voller Länge in seinen Hals zu stoßen. Mit einer kurzen, drehenden Bewegung zerriss die Klinge die Hauptschlagader und ein Schwall von Blut sprang aus der Wunde heraus.
Die Gestalt trat zurück und sah dem Todeskampf des Mannes zu. Sie nickte zufrieden und nahm die Maske ab, sie fühlte Erleichterung. Dann wandte sie sich ab. Der tote Körper des dicken Mannes blieb in der Blutlache liegen. Am Morgen wird man ihn finden, dachte die Gestalt, dann ist es endgültig vorbei. Sie holte eine winzige weiße Stoff-Rose aus der Innentasche der Jacke hervor und ließ sie auf die Leiche fallen.
Sie ging heim, unter die Dusche und ins Bett, aber sie fand keinen Schlaf. Dieser Mann hatte kein Recht zu leben. Wer so etwas tat, hatte sein Recht zu leben verloren. Niemand durfte einem Schwächeren ungestraft wehtun.
„Du wirst nie wieder jemandem etwas antun. Ich habe dich bestraft, weil es sonst keiner tun würde. Die Menschen schweigen, aber das ist nicht richtig!“
Ein qualvoller Schrei kam aus ihrer Brust, ein Schrei voller Erinnerungen und Leid, den niemand hörte. Die Gestalt ballte die Fäuste und versuchte zu schlafen. Als in der Ferne die durchdringende Sirene eines Polizeiautos zu hören war, das mit flackerndem Blaulicht durch das Morgengrauen raste, schlief sie endlich tief und fest.
„Sie ist gestorben.“
Kendra liefen die Tränen herunter.
„Oh, nein!“, rief Lisa, die wie jeden Tag auf der Bank saß.
Zwei Wochen waren vergangen, in denen sich die beiden jungen Frauen täglich sahen und meistens noch eine Tasse Kaffee im Café in der Nähe tranken. Sie hatten gehofft und gebangt und waren noch einmal von der Polizei befragt worden. Die Kommissarin war sehr einfühlsam gewesen und hatte, im Gegensatz zu ihrem Kollegen, auch nach ihrem Bauchgefühl gefragt.
„Es war niemand zu sehen, der ihr etwas angetan haben könnte, also ist es vielleicht in ihrem Zuhause passiert und dann ist sie weggelaufen und hat sich versteckt“, hatte Lisa gesagt.
„Das wissen wir nicht genau, niemand hat die Kleine irgendwo gesehen, nicht auf dem Weg, nicht im Ort. Wir kommen nicht weiter“, erklärte der blonde Kommissar sachlich. „Sie hat eine junge Mutter und einen älteren Stiefvater, also ist ein normales Familienleben wahrscheinlich. Sie sind auch nicht beim Jugendamt bekannt, also muss eine fremde Person dort gewesen sein. Bitte denken Sie noch einmal genau nach!“
„Es war wirklich nichts Besonderes. Die drei alten Herren mit den Hunden, die Frau mit dem Kinderwagen, die Joggerin. Glauben Sie mir, ich bin jeden Tag dort und mir würde ein unbekannter Mann auffallen.“
„Schade, ich habe so gehofft, dass Sie uns helfen können.“
So war Lisa wieder gegangen, auch Kendra konnte nichts Hilfreiches aussagen. Nun saßen sie hier auf der Bank und weinten gemeinsam um die kleine Hanka, die die Ärzte nicht retten konnten.
„Woher weißt du das denn?“
„Es stand in der Zeitung. Sie wurde mehrfach vergewaltigt und ist vor fünf Tagen an inneren Blutungen gestorben. Die Leute von der Zeitung haben einen widerlich reißerischen Artikel daraus gemacht, aber sie haben nach Zeugen gesucht.“
„Der Kommissar hat gesagt, zu Hause war alles in Ordnung.“
„Ja“, sagte Kendra nachdenklich und wischte die Tränen ab, „das hat man bei uns auch gesagt. Mein Vater hat immer meine Stiefschwester gedemütigt und ihr wehgetan. Ich stand hinter der Tür, als sie ihm ein Brotmesser in den Hals gerammt hat. Danach ist sie aus dem Fenster gesprungen. Im elften Stock. Ich war noch klein, aber ich sehe diese Szene seit kurzem wieder deutlich vor mir.“
„Oh, mein Gott, dann muss dich das mit Hanka ja noch viel schlimmer getroffen haben. Was meinst du mit: Das haben sie bei uns auch gesagt?“
„Meine Mutter hat immer alles schön geredet und mir hat er nichts getan, weil ich sein Engelchen war. Meine Schwester Nora war wohl das Ergebnis eines Seitensprungs und er hat sie immer spüren lassen, dass sie nichts wert ist.“
„Hat dein Vater das überlebt?“
„Nein, Gott sei Dank nicht, er war ein mieses Schwein, das sich an Schwächeren vergriffen hat, aber nach außen hin war alles eine heile Welt. Ich hasse meine Mutter dafür, dass sie sich nicht gewehrt hat, dass sie meine Schwester nicht beschützt hat. Wir sind dann weggezogen. Als ich achtzehn war, bin ich weg. Das Jugendamt war zweimal da, aber die haben sich ja immer schön angekündigt und am Anfang hat er ihr auch nicht ins Gesicht geschlagen, nur dorthin, wo man es nicht sah. Und ich dachte, es ist in Ordnung so. Verstehst du? Ich war ein kleines, dummes Kind, das alles bekommen hat und ich dachte, es ist in Ordnung.“
Ein heftiger Weinkrampf schüttelte Kendra und Lisa legte hilflos den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. Sie konnte sich vorstellen, was in ihr vorgegangen war, als sie Hanka gefunden und die Verletzungen gesehen hatte.
„Ich hoffe, sie finden den Täter und sperren ihn für immer ein“, erwiderte Lisa entschlossen.
„Wenn ich ihn finde, mache ich genau das, was meine Schwester mit meinem Vater gemacht hat. Er wäre davongekommen, weil niemand etwas gewusst hat. Die Opfer schweigen meist ein Leben lang. Ich habe bis vor kurzem nicht mehr daran gedacht, weil ich das Elend erfolgreich verdrängt hatte. Erst als ich Hanka so gesehen habe, kam alles wieder hoch. Komm, ich brauche jetzt einen starken Kaffee und einen Schnaps.“
Am kommenden Tag kam Kendra zu Lisas Bank gerannt und wedelte schon von weitem mit der Zeitung.
„Du glaubst nicht, was passiert ist!“
Sie ließ sich atemlos neben Lisa nieder und hielt ihr Seite eins unter die Nase. Mit großen roten Buchstaben stand dort die Schlagzeile: „Kinderschänder tot!“.
„… hier ist es: Der Stiefvater der neunjährigen Hanka W. hatte das Kind jahrelang missbraucht und geschlagen. Weil keine Anzeige beim Jugendamt gemacht wurde, blieben die Taten unentdeckt. Bei Hankas Obduktion entdeckte der Pathologe zahlreiche alte Knochenbrüche und Narben.“
Bianca Bonnét und Michael Verskoff waren am frühen Morgen an den Rhein geschickt worden. Mitten auf dem Weg hatte ein früher Jogger einen toten Mann gefunden und den Notruf gewählt. Die Schicht hatte gerade gewechselt und Michael war wie immer mies gelaunt, wenn er so früh aus dem Bett geklingelt wurde.
Der Morgennebel hing noch in der Luft, es tropfte von den Zweigen der Bäume und es war empfindlich kühl. Wenn dann die Sonne ihre warmen Strahlen ausbreitete, war die Erinnerung an den Winter schnell verflogen. Es war kurz nach fünf. Der Jogger stand frierend und bleich neben einer Bank, die Streife, die schon vor Ort war, hatte ihn mit einer Decke und einem warmen Kaffee versorgt. Michael nickte Bianca mürrisch zu und ging zur Leiche. Bianca trat zu dem Mann in der Sporthose. Er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen und trat von einem Bein auf das andere.
„Guten Morgen, ich bin Bianca Bonnét von der Kriminalpolizei, das da hinten ist mein Kollege, Kommissar Verskoff. Herr …?“
„Beckert.“
„Herr Beckert, Sie haben den Toten gefunden, warum laufen Sie denn schon so früh hier herum?“
„Ist das jetzt verboten? Ich laufe jeden Morgen vor der Arbeit meine Strecke, dann bin ich frisch genug für einen langen Tag im Büro. Ich komme übrigens wegen Ihnen zu spät.“
Der Jogger hatte genauso schlechte Laune wie der Kommissar, Bianca war das gewohnt und blieb ruhig und freundlich.
„Das tut mir sehr leid, Herr Beckert, aber wir sind gleich fertig. Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt? War etwas anders als sonst?“
„Klar war etwas anders als sonst oder denken Sie, hier liegt jeden Morgen eine Leiche auf dem Weg. Ich dachte erst, es hätte wieder jemand seinen Müll hier abgeladen und bin näher heran. Dann sah ich, dass es ein Mensch war. Das ganze Blut war vollkommen ekelhaft, eine Sauerei. Ich hoffe, ich bin nicht hineingetreten, als ich geschaut habe, ob er noch atmet.“
„Haben Sie ihn bewegt?“
„Nein, als ich das Loch in seinem Hals gesehen habe, wusste ich, dass er hin ist.“
„Wie konnten Sie im Dunkeln ein Loch im Hals sehen?“
„Es war nicht dunkel.“
Er zeigte auf seinen Kopf, wo eine runde Taschenlampe von einem Stirnband gehalten wurde, und schaltete sie ein. Sofort wurde Bianca von einem grellen, weißen Licht geblendet. Sie kniff die Augen zusammen und bedankte sich für die Vorführung.
„Sehr gut, Sie können gehen, wenn die Kollegen Ihre Personalien aufgenommen haben. Wir werden uns gegebenenfalls noch einmal an Sie wenden. Bitte melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas einfällt.“
Sie gab ihm ihre Karte und nickte dem Mann noch einmal freundlich zu. Danach ging sie zu Michael hinüber, der gerade mit dem Notarzt sprach, der zuerst vor Ort gewesen war.
„Er war schon tot, als wir eintrafen, und das seit Stunden. Näheres zur Todeszeit können Sie bei der Obduktion erfahren, hier ist für uns Schluss. Man hat ihm die Kehle zerfetzt, er hatte keine Chance.“
„Danke, Doktor. Bianca, was sagt der Mann? Hat er etwas gesehen? Woher hat der Typ einen Kaffee?“
„Lieber Michael, der nette Kollege von der Streife hat ihm aus seiner Isolierkanne etwas angeboten, sicher wirst du nicht in den Genuss dieses Getränks kommen. Der Zeuge hat die Leiche nur gefunden, aber niemanden gesehen. Er hatte genauso schlechte Laune wie du so früh am Morgen. Hast du denn etwas erfahren?“
„Der Kerl ist tot, auf seiner Brust liegt eine kleine weiße Rose aus Stoff. Er liegt schon eine Weile hier und so wie es aussieht, sollte er auch direkt gefunden werden. Wo ist denn dein Schatz von der Spusi?“
„Er ist nicht mehr mein Schatz. Also hör auf zu sticheln. Komm, wir fahren ins Büro und ich koche uns einen schönen Kaffee.“
„Dazu sage ich nicht nein, meine liebe Kollegin.“
Die beiden stiegen in den Dienstwagen und fuhren zurück ins Präsidium. Bianca musste im Auto still vor sich hin grinsen. Vor einem Jahr hatte sie sich zum ersten Mal mit Pit Deicker von der Spurensicherung verbabredet, sie hatten sich öfter getroffen und ineinander verliebt, aber dann stellte sich heraus, dass Pit ein Kontrollfreak war. Er wachte eifersüchtig und cholerisch darüber, mit wem Bianca redete, telefonierte oder Mails austauschte. Selbst den Kellner, bei dem sie ihr Essen bestellte, musterte er argwöhnisch. Sie fühlte sich wie in einem Käfig, aber wenn Pit gerade mal nicht vor Wut platzte, war er liebevoll und ein guter Liebhaber. Vor zwei Monaten hatte sie sich endgültig von ihm getrennt und ging ihm nun so gut wie möglich aus dem Weg. Michael kümmerte sich in dieser Zeit ruhig und besonnen um sie, denn Pit veranstaltete die eine oder andere Aktion, mit der er Bianca beweisen wollte, dass sie nicht ohne ihn leben könnte.
Sie war froh gewesen, dass Pit heute Morgen keinen Dienst hatte und lehnte sich nun entspannt zurück. Michael ärgerte sie ab und zu mit ihrem „Schatz von der Spusi“, aber er durfte das. Seit sie wieder alleine war, benahm er sich freundlicher, war ausgeglichener, weil er das Rauchen aufgegeben hatte und er hatte sich sogar den Bart wieder abrasiert. Jeden Tag duftete er gut und war schlank und drahtig, weil er wieder begonnen hatte zu laufen.
„Wo fangen wir denn an? Weißt du den Namen des Mannes?“
Michael blätterte in seinen Notizen.
„Robert Weißlinger, neununddreißig Jahre, wohnt in Rüdesheim.“
„Weißlinger … Weißlinger … den Namen kenne ich doch … warte … das Mädchen, das neulich im Park gefunden wurde. Sie ist im Krankenhaus gestorben, ihr Stiefvater hieß Weißlinger und stand kurzzeitig unter Verdacht, aber ihm konnte nichts nachgewiesen werden. Er ist beim Verhör vor Trauer zusammengebrochen und hatte berichtet, dass die Kleine immer abgehauen ist, wenn es mal Streit gab. Es lief schon eine Vermisstenanzeige des Stiefvaters, was ihn erheblich entlastet hat. Die Frau, um viele Jahre jünger, hat das bestätigt, aber es kam den Beamten vor, als wäre sie eingeschüchtert gewesen. Auf die Frage, woher die alten Verletzungen und Narben stammten, gab sie an, dass ihr leiblicher Vater sie öfter geschlagen hat. Die Staatsanwältin musste sich geschlagen geben, weil der Oberstaatsanwalt sie zurückgepfiffen hat.“
„DIE Staatsanwältin? Deine Freundin?“
„Ja, meine Freundin Nele war zuständig, aber die Ermittlungen laufen nicht mehr in Richtung der Familie. Sie war sich sicher, dass er der Täter war.“
„Anscheinend hat ihn jetzt jemand dafür bestraft.“
„Die Rose war weiß. Wenn sie rot gewesen wäre, könnte man an ein Verbrechen aus Leidenschaft denken, aber sie war weiß und weiß steht für Unschuld, Reinheit, aber auch Abschied.“
„Ach ja, da spricht die hochsensible Frau. Nun guck nicht schon wieder so böse, ich bin doch froh, dass es dich gibt und du diejenige von uns beiden bist, die mit dem Herzen denkt.“
„Das hast du aber nett gesagt. Dankeschön.“
„Ich bin immer nett.“
Bianca begann zu lachen und rief dann in der Gerichtsmedizin an, um zu fragen, was es Neues gab. Sie brummte ab und zu in den Hörer, hörte lange und geduldig mit verkniffenem Gesicht zu und legte dann auf.
„Und?“, fragte Michael.
„Ein Stich in die Schulter, mit großer Kraft ausgeführt, Täter ist in etwa gleich groß, also eher klein, aber kräftig. Dann ein zweiter Stich in den Hals und der Doktor hat mir gerade erklärt, wie der Täter mit dem Messer in der Wunde herumgerührt hat. Widerlich. Ansonsten war er wohl danach sofort tot, weil es ihm die Halsschlagader zerrissen hat. Da hatte jemand Kenntnisse der Anatomie.“
„Nein, das muss man dafür nicht, denke ich, weil jedes Kind weiß, wenn man einem die Halsschlagader durchschneidet, ist man ziemlich tot.“
Bianca sah ihn grimmig an und erwiderte: „Kinder denken nicht an solche Dinge, nur Erwachsene. Tu nicht immer so überheblich, das bist du nämlich gar nicht.“
Lisa war am Nachmittag zum Supermarkt unterwegs. Es war Wochenende gewesen und am Montag der erste Mai, nun konnten die Leute endlich wieder einkaufen gehen. Dementsprechend voll war der Parkplatz und Lisa musste ihr Auto weit entfernt vom Eingang abstellen. Als sie die Tür öffnete, tat das der Fahrer des benachbarten Fahrzeugs, das rückwärts in der engen Lücke stand, auch gerade und die Türen schlugen krachend gegeneinander.
„Ach du Scheiße!“, rief ein sportlicher Mann Mitte zwanzig. „Meine Schwester erschlägt mich. Haben Sie keine Augen im Kopf?“
„Oh, es tut mir leid, ich habe nicht gesehen, dass da jemand im Auto sitzt. Sie haben mich ja auch nicht gesehen. Was nun? Rufen wir die Polizei?“
Der junge Mann lächelte Lisa aus sanften, grauen Augen an und strich sich eine kastanienbraune, mittellange Haarsträhne hinter das Ohr. Seine schmalen Lippen öffneten sich leicht und er zischte durch die weißen Zähne hindurch, als er die Beule in der Tür sah.
„Mist, das gibt Ärger. Sie müssen wissen, meine Schwester hat mir das Auto heute geliehen, weil ich noch Hundefutter holen will. Sie ist Staatsanwältin und sehr genau. Wir müssen die Polizei holen, sonst macht sie mir die Hölle heiß. Obwohl ich einer so hübschen Frau das gerne ersparen würde.“
Lisa senkte den Blick und errötete. Noch niemals hatte ein Mann so offensiv mit ihr geflirtet und wenn einer damit angefangen hatte, dann war sie schnell weggelaufen. Männer waren ihr im Allgemeinen suspekt, dieser hier war forsch und er gefiel ihr sehr gut. Als sie wieder aufschaute, sah sie sein unwiderstehliches Lächeln und nickte nur. Die Streife kam nach dreißig Minuten und nahm den Unfall auf, dann gab ihr der junge Mann seine Visitenkarte, denn es konnte nicht festgestellt werden, wer die Tür zuerst geöffnet hatte, also sollten sich die Versicherungen damit auseinandersetzen.
„Trinken Sie noch eine Tasse Kaffee mit mir auf den Schreck?“
„Ich … ich … muss einkaufen und … ich weiß nicht.“
„Nicht so schüchtern, das Schicksal hat uns zusammengeführt, es muss etwas bedeuten. Geben Sie sich einen Ruck, ich bin Sascha.“
„Ich bin Lisa, na gut, ich trinke mit Ihnen Kaffee.“
Sie liefen in Richtung Supermarkt und Sascha holte vom Bäcker zwei große Tassen Milchkaffee. Lisa hatte an einem Stehtisch gewartet. Sie unterhielten sich über belanglose Dinge wie das Wetter und den vollen Supermarkt, wobei Lisa zuhörte und Sascha redete. Er sah gut aus in seinem legeren, dunkelgrauen Jackett mit dem schwarzen Shirt darunter, dazu trug er Jeans und Turnschuhe. Außerdem war er locker und unterhaltsam, was man von Lisa nicht sagen konnte, denn sie war in seiner Gegenwart vollkommen eingeschüchtert. Sascha konnte seinen Blick nicht von der kühlen Schönheit mit den blauen Augen abwenden.
„Es wäre sehr nett, wenn wir uns mal wiedersehen könnten, aber Sie scheinen Angst vor mir zu haben. Oder finden Sie mich aufdringlich?“
„Entschuldigung, ich bin sonst nicht so. Sie haben mich eine wenig … ziemlich … durcheinandergebracht.“
„Sehr gut“, sagte er lachend und zwinkerte. „Geben Sie mir auch Ihre Telefonnummer, damit ich Sie anrufen kann, wenn ich noch Angaben für die Versicherung benötige?“
Lisa nahm einen alten Kassenbon aus der Handtasche und schrieb mit dem Kugelschreiber, den er ihr hingehalten hatte, ihre Telefonnummer drauf. Dann erklärte sie, jetzt endlich einkaufen zu müssen und verabschiedete sich. Sascha hielt ihre Hand ein wenig zu lange fest.
Im Supermarkt eilte sie durch die Gänge und suchte die wenigen Sachen zusammen, die sie benötigte. Dann bezahlte sie, nachdem sie eine halbe Stunde an der vollen Kasse warten musste und warf alles in den Kofferraum. Mit einem Seufzen stieg sie ein und fuhr heim nach Erbach, einem kleinen Weinbauort im Rheingau. Sie schloss die Tür auf, trug die beiden Einkaufstaschen in die kleine Wohnung und stieß mit dem Fuß die Tür zu. Ihre kleine Wohnung in dem Haus am Ortsrand war ihre Zuflucht, ihre Ruheinsel, denn hier wohnte nur noch die alte Frau Leisinger, ihre Vermieterin.
Die Wohnung befand sich im Dachgeschoss und hatte zwei Zimmer, eine Küche und ein Bad mit schrägen Wänden. Den Blick aus dem Fenster auf die endlosen Weinberge liebte Lisa sehr. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, in der Stadt zu wohnen, eine tief im Inneren verborgene Erinnerung war das Leben auf den Lande, aber sie hatte nach dem Unfall alles darüber vergessen. Gerne hätte sie gewusst, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte.
Die Mutter hatte gesagt: „Wir sind weggezogen, weil du nicht an den Unfall und das alles denken solltest.“
Lisa hatte wie immer genickt, wenn die ihr so fremd gebliebene Frau etwas erklärte, denn sie hatte aufgegeben, alles zu hinterfragen. Sie räumte die Lebensmittel weg, öffnete ein Fenster und schaute hinaus. Langsam schlich die Dämmerung über den Horizont und setzte sich zwischen den Reben mit den grünen Blattspitzen fest. Die Sonne hatte sich heute nicht blicken lassen, nun saugte der Abend den Rest des Lichtes in sich auf.
„Sascha“, sagte Lisa mit einem Lächeln zu sich selbst.
Sie schloss das Fenster wieder, ging in die Küche mit den weißen Möbeln und kochte sich eine Tasse Tee zu den zwei Broten, die sie zusammen mit zwei kleinen Tomaten auf einem Brett ins Wohnzimmer balancierte. Dort ließ sie sich auf der breiten, schwarzen Couch nieder und schaltete den Fernseher ein. Der kleine Holztisch vor der Couch war überfüllt mit Büchern, den Fernbedienungen, dem Handy, einer Fernsehzeitung und einem Glas.
Plötzlich sprang Lisa auf und lief in den Flur, um in der Handtasche nach Saschas Visitenkarte zu suchen. Dort standen „Sascha Kritzek – Fotograf“ und seine Telefonnummer. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Lisa eilte zurück auf die Couch sah auf das Display. Es war die Nummer, die auch auf der Visitenkarte stand und ihr Herz begann zu klopfen.
„Ja, bitte?“
„Hier ist Sascha, Ihr Unfallgegner. Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Sie stören keineswegs, ich habe gerade an Sie gedacht.“
Wie gut, dass er nicht sehen kann, wie rot ich bin, dachte Lisa mit glühenden Wangen. Am Telefon fühlte sie sich sicherer als in der Realität. Sascha plauderte fröhlich weiter und hatte das Herz der jungen Frau längst erobert.
„Sie waren so schnell weg, da wollte ich doch mal fragen, wie es Ihnen geht. Ist alles in Ordnung? War ich zu aufdringlich?“
„Nein, es ist nur“, stotterte Lisa, „ich kenne das nicht, dass sich ein Mann für mich interessiert.“
„Nein, nicht möglich! Ich finde Sie atemberaubend. Wie kann ein Mann sich nicht für Sie interessieren? Darf ich Sie wiedersehen? Ich sterbe sonst und Sie wollen doch nicht an meinem Tod schuld sein.“
Lisa sagte lachend zu, als er sie dann noch fragte, ob sie am Wochenende gemeinsam spazieren gehen wollten. Sie verabredeten sich am Schloss Johannisberg, um von dort durch die Weinberge zu laufen und anschließend etwas zu essen. Lisa machte ihr Handy aus und den Fernseher an. Sie sah nicht hin, denn ihre Gedanken waren bei Sascha.
„Bitte, Frau Weißlinger, der Mann ist tot, also reden Sie endlich. Er kann Ihnen nichts mehr tun.“
Bianca saß auf der abgewetzten Couch im kleinen Wohnzimmer des alten Hauses in Rüdesheim Frau Weißlinger gegenüber und versuchte nicht zu atmen. Die Luft war abgestanden, roch nach Alkohol und kaltem Zigarettenrauch. Dazu kam eine unsägliche Mischung aus dem Gestank des nicht ausgelehrten Mülleimers und dem Katzenklo. Biancas sensible Nase und ihre Nerven wehrten sich heftig. Sie schaute Michael an, der am Fenster lehnte und angewidert dreinschaute. Hinter seiner Stirn brodelte es und er hätte diese kleine, magere Frau sehr gerne geschüttelt.
„Ich … er … Hanka … Robert war nicht immer so. Er hat mir und der Kleinen ein Zuhause gegeben, nachdem mich mein brutaler Ex-Freund aus dem Haus geprügelt hatte. Es war gut bis zur Hochzeit, als wir hier eingezogen waren, dann begann er, mich einzusperren und auch Hanka durfte nicht hinausgehen. Aber eines Tages stand die Lehrerin vor der Tür und hat mit dem Jugendamt gedroht, da hat er wenigstens Hanka gehenlassen. Ich habe geputzt und gekocht, alles war sauber und ordentlich. Dann kam ihm der Gedanke, dass wir, Hanka und ich, zu viel Geld kosten und er hat unser Essen rationiert. Wenn jemand zu Besuch kam, gab es immer Kuchen und Wein im Überfluss und er war dann lieb und nett.“
„Hat er Sie geschlagen?“, fragte Michael.
„Nicht immer, nur wenn ich etwas falsch gemacht habe, das habe ich ja auch eingesehen.“
„Verfluchte Scheiße, warum lasst ihr Frauen euch auch noch einreden, es wäre in Ordnung?“
Michael war der Kragen geplatzt, so erregt war er, als die kleine Frau nun auch noch gelächelt hatte.
„Aber wir hatten doch nur ihn. Robert hat uns gut versorgt. Dass er … dass er … Hanka …anfasst … das habe ich nicht gewusst. Ich hatte angefangen, nachts zu arbeiten. Manchmal saß sie heulend im Bett, aber sie hat nichts gesagt.“
„Wahrscheinlich hat er der Kleinen gedroht, ihr oder Ihnen etwas anzutun und dann hat sie geschwiegen“, erklärte Bianca sanft, die gesehen hatte, dass Michael nur noch raus wollte.
Um sie herum war nichts mehr peinlich sauber und gepflegt und die Seele dieser Frau war kaputt, sie hatte seit Tagen nur getrunken und geraucht. Mehrere schmutzige Kaffeetassen standen in der Spüle.