Bleibt ein Syrer in Rotenburg (Wümme) - Samer Tannous - E-Book

Bleibt ein Syrer in Rotenburg (Wümme) E-Book

Samer Tannous

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Beschreibung

Mit Herz und Humor blickt der Syrer Samer Tannous auf seine Wahlheimat Deutschland

Bereits seit 10 Jahren lebt Samer Tannous mittlerweile mit seiner Familie in Deutschland. In dieser Zeit hat er viel über die kulturellen Unterschiede zwischen Syrien und Deutschland herausgefunden und die manchmal recht eigenwilligen Facetten seiner neuen Heimat lieben gelernt. Noch immer entdeckt er neue Seiten an seinem deutschen Ich, wie die eigene Ordentlichkeit am Hotelpool oder den eisernen Willen, trotz Erkältung nicht die Jogging-Routine zu vernachlässigen. Mit viel Herz und Humor schreiben Samer Tannous und Gerd Hachmöller in den neuen Texten ihrer erfolgreichen SPIEGEL-Kolumne über deutsche und arabische Eigenheiten. Dabei reflektiert Samer Tannous auch sich selbst und wie ihn das letzte Jahrzehnt verändert hat und stellt sich nach dem Sturz des Diktators Assad die Frage: Ist er noch „ein Syrer“ oder mittlerweile ein „Deutscher mit syrischen Wurzeln“?

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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Samer Tannous wurde in 1970 in Al-Bayda (Syrien) geboren. Fünf Jahre lang studierte er in Nancy (Frankreich) und Damaskus französische Literatur. Von 2007 bis 2015 arbeitete er als Dozent für französische Sprache und Literatur an den Universitäten Damaskus und Hama. Im Dezember 2015 kam er mit seiner Familie nach Deutschland und lebt seitdem mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern im niedersächsischen Rotenburg (Wümme). Nachdem er im Eigenstudium die deutsche Sprache erlernt hat, arbeitet er seit Sommer 2016 als Französischlehrer an verschiedenen Schulen.

Gerd Hachmöller wurde 1972 in Celle, Niedersachsen geboren. Er studierte in Marburg und Hannover Wirtschaftsgeografie sowie an der London School of Economics Volkswirtschaftslehre. Anschließend arbeitete er bei der Europäischen Kommission und in der regionalwissenschaftlichen Forschung. Heute ist er Amtsleiter im Landkreis Rotenburg (Wümme). Im Jahr 2015 leitete er die Einrichtung und den Betrieb einer Notunterkunft für Geflüchtete. Nebenberuflich arbeitet Gerd Hachmöller als systemischer Coach, Teamentwickler, Dozent und Autor. Schwerpunkte seiner Dozententätigkeit sind der Umgang mit kulturellen Unterschieden sowie die Psychologie des Helfens. Gerd Hachmöller lebt in Rotenburg (Wümme), ist verheiratet und hat drei Kinder.

Außerdem von Samer Tannous und Gerd Hachmöller lieferbar:

Kommt ein Syrer nach Rotenburg (Wümme)

Lebt ein Syrer in Rotenburg (Wümme)

www.penguin-verlag.de

Samer Tannous und Gerd Hachmöller

Bleibt ein Syrer in Rotenburg (Wümme)

Angekommen in meiner deutschen Heimat

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Texte dieses Buches sind als Kolumne bei SPIEGEL+ erschienen und wurden für die Veröffentlichung aktualisiert und überarbeitet.

Copyright © 2025 by Penguin Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagillustration: © Bernd Wiedemann

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33193-1V001

www.penguin-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Füllerprüfung

Ich geh schwüm

Ich bin doch keine Maschine

Wanderfrust

Vertraut in euer Land!

Unser täglich Brot

Eine Schlüsselposition

Wir vermissen diese Feiern

Und plötzlich sitzt du auf der Bank

Ich erkenne meine arabische Prägung

Warum?

Keine Tränen mehr

Entweder oder – in Deutschland hat alles seine Ordnung

Eine Waschmaschine in Quarantäne

Sind die Deutschen Monotasker?

Die Deutschen leihen sich unsere Wörter – Maschallah!

Deine Mutter!

Deutsche Wärme

Chanel und Dior? Lieber Balzac und Flaubert!

Deutsche Reflexe am Hotelpool

Erschlagen Deutsche überhaupt noch Fliegen?

Gänsehaut bei der Einheitsfeier

Sind wir bei der Wohnungssuche zu anspruchsvoll?

Keksduft und Rückenmassagen

Klischees unter Zuwanderern

Ich hab den Blues

Bin ich ein Huhn?

Auf der Demo

Rezept gegen Langeweile

Ich liebe diese Sicherheit

Festmahl der deutschen Sprache

Die deutsche Fleischeslust

Lieber Schüler …

Solingen

Ich bin dein Vater

Sehnsucht nach der ersten Heimat

Höre nie auf zu träumen

Ganz vorn in der Schlange

Seit der ersten Klasse musste ich rufen: »Assad für immer«

Die Terminplanung bekommt Risse

Bleibt ein Syrer in Rotenburg (Wümme)

Danke an

Vorwort

Eigene Wege entstehen beim Gehen. Im März 2016 sprach im Rotenburger Heimathaus ein Deutscher einen Syrer an und sie lernten sich kennen. Wir sind einen Teil des Weges gemeinsam gegangen, neun Jahre lang. Wir haben auf diesem Weg 154 Kolumnentexte für SPIEGEL+ geschrieben und dabei ca. 308 Tassen arabischen Kaffee auf Samers Wohnzimmercouch verköstigt. Wir haben auch manches Bier zusammen getrunken. Aber wer betrunken sein möchte, zählt nicht die Gläser, so sagt man in Syrien. Samer hat 154-mal ein Thema gefunden und beschrieben, wir beide haben uns 154-mal darüber ausgetauscht und Gerd hat diese Themen 154-mal ergänzt, bearbeitet, gekürzt und aufgeschrieben. In der SPIEGEL-Redaktion hatten wir über die Jahre neun verschiedene Ansprechpartner. Wir haben in dieser Zeit 49 Lesungen und 23 gemeinsame Workshops abgehalten und sind dabei 17 622 km durch Deutschland gereist. Wir haben dieses Land sowie viele seiner Bewohner kennengelernt. Unterwegs haben wir eine Reihe neuer Erkenntnisse zum Thema Integration und kulturelle Unterschiede gewonnen. Wir waren in Weinkellern, Bibliotheken, Volkshochschulen, Secondhandläden, Unis, Rathäusern, Kirchen, Studentenkneipen, Theatern, einem Stall und einem Tapetenladen. Wir haben in Osnabrück sowohl syrische Gastfreundschaft als auch katholische Askese erlebt, einen Kneipenbummel in Heidelberg durchtorkelt, Unwetter in Siegen überstanden sowie eine waghalsige Taxifahrt in Stuttgart überlebt. Gerds Strukturiertheit ist auf diesem Weg viele Male mit Samers Spontanität kollidiert und noch öfter hat sich beides auf wundervolle Weise ergänzt. Auf den Reisen hat sich Gerd oft über die »gestohlene Zeit« bei Zugverspätungen aufgeregt und ebenso oft hat Samer ihn mit Hinweis auf die dadurch »gewonnene Zeit« wieder beruhigt.

Jetzt hat uns dieser Weg zu einem dritten gemeinsamen Buch geführt, welches eine Trilogie abschließt. Das heißt nicht, dass wir in Zukunft nur noch getrennte Wege gehen. Vielleicht werden wir gelegentlich noch die ein oder andere Kolumne auf SPIEGEL+ schreiben, wenn wir meinen, noch etwas zu sagen zu haben, und die SPIEGEL-Redaktion uns gewogen bleibt. Auf jeden Fall bleiben wir Freunde, wir machen weiter gemeinsame Workshops und Lesungen und tauschen uns sicher auch weiterhin über kulturelle Unterschiede aus. Schließlich haben wir uns gegenseitig viel zu verdanken und der Erfolg unserer Texte ist ein gemeinsamer Erfolg.

Samer hat in den neun Jahren einen langen, manchmal steinigen und mit vielfältigen Erlebnissen und Herausforderungen bestückten Weg zurückgelegt, dessen letzter Teil in diesem Buch beschrieben wird. Das Staunen und die Neugier sind ihm dabei nicht abhandengekommen. Er hat Arbeit gefunden, Deutsch gelernt, den Führerschein gemacht, ein Auto erworben und endlich auch eine größere Wohnung für sich und seine Familie gefunden. Und Samer kann jetzt endlich in seinem eigenen kleinen Garten arbeiten. Wie Voltaire am Ende seines Romans Candide sagte: »Il faut cultiver son jardin« (Man muss seinen Garten bestellen). Samer wird diesen Garten gut pflegen, auch wenn er noch kein deutscher »Gartenstreber« ist. Er wird dort mit seiner Frau Hala ausspannen, mit Freunden »saltaneh« (große Euphorie) erleben, mit dem weltgrößten Ronaldo-Fan Christina Fußball spielen und mit Cilina turnen. Die Nachbarn wird er spontan einladen und sie ansonsten möglichst nicht stören, das hat er nach neun Jahren in Deutschland sehr verinnerlicht. Samer hat nun endlich auch ein Arbeitszimmer nur für sich. Die Wände dieses Zimmers schmücken viele Leserbriefe. Der syrische Diktator Assad wurde endlich gestürzt und Samer ist kein Flüchtling mehr, sondern ein deutscher Staatsbürger.

Ist Samer überhaupt noch wiederzuerkennen? Ist er noch »ein Syrer« oder nun zu einem »Deutschen mit syrischen Wurzeln« geworden? Letzteres hätte nicht auf unser Buchcover gepasst und deshalb sprechen wir, vielleicht letztmals, noch über Samer als »Syrer«. Teile seines Wandels spiegeln sich in den einzelnen Kapiteln dieses Buches. Am Anfang gibt es einige Kolumnen, in denen Samer merkt, noch recht »syrisch zu ticken«. Im letzten Teil des Buches finden sich Texte, die einen tieferen Integrationsschritt nachzeichnen und in denen Samer das Gefühl hat, angekommen zu sein. Zum Beispiel werden in dem Kapitel »Wanderfrust« aus dem Jahr 2022 die Mühen beschrieben, sich dem deutschen Leistungsdenken anzupassen. In dem später entstandenen Text »Bin ich ein Huhn?« wiederum wird Samer deutlich, dass er in diesem Punkt Teile der deutschen Mentalität bereits in sich aufgenommen hat. Während Samer in dem Text »Unser täglich Brot«, der im Jahr 2022 entstand, noch die Überlegenheit der syrischen Küche preist, revidiert er diese Ansicht ein Stück weit im Text »Die deutsche Fleischeslust«, der im Jahr 2024 erschien.

Das Buch enthält auch einige Texte mit Bezügen zu aktuellen Ereignissen, wie der Gasknappheit nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, dem Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien, dem Anschlag von Solingen oder dem Sturz Assads. Um das Verständnis dieser Kapitel zu erleichtern, haben wir deren Titel zusätzlich mit dem Erscheinungsdatum des jeweiligen Kolumnentextes versehen.

Falls Sie bereits unsere ersten beiden Bände gelesen haben, mögen Sie sich vielleicht schon den passenden Lesestil zugelegt haben: Die Kapitel stehen für sich und bauen in der Regel nicht chronologisch aufeinander auf. Es spricht also nichts dagegen, gelegentlich das ein oder andere Kapitel zu lesen und das Buch danach wieder zur Seite zu legen, um später ein anderes Kapitel aufzuschlagen, dessen Titel Ihr Interesse weckt.

Und nun viel Spaß bei der Lektüre!

Füllerprüfung

Erinnern Sie sich eigentlich noch, wie Sie schreiben gelernt haben? Haben Sie dafür damals ein Zertifikat bekommen?

In Deutschland ist es so: Zum Fahren eines Autos benötigt man einen Führerschein, um auf die Jagd zu gehen, einen Jagdschein. Hundebesitzer müssen in Niedersachsen einen »Hundeführerschein« haben. Zum Bäumefällen im Wald braucht man einen »Selbstwerberschein«. Nach jeder Fortbildung gibt es eine Teilnahmebescheinigung. Zum Führen eines Handwerksunternehmens braucht man einen Meisterbrief. Kinder bekommen in der Schule nach einem eintägigen Kurs mit der Polizei einen »Fahrradführerschein«. Nach einer Chemiestunde kam meine Tochter einmal mit einem »Laborführerschein« nach Hause.

Die Liste ließe sich fortsetzen. In Syrien gibt es die meisten dieser Scheine nicht. Deutschland ist wahrscheinlich Weltmeister in schriftlichen Berechtigungen und Nachweisen. Manches mag auch Ausdruck einer gewissen Überregulierung sein. Meiner Meinung nach ist die Anzahl solcher Nachweise jedoch auch ein Grund für den deutschen Erfolg. Es zeigt, wie gut viele Dinge geregelt und die Rollen verteilt sind, dass Sicherheit immer Vorrang hat und dass an alles gedacht wurde.

Mein Freund Elmar hat zu Hause einen großen Ordner mit all den Erlaubnissen, Nachweisen und Zertifikaten, die er in seinem langen Leben gesammelt hat. Ich war schwer beeindruckt. Ich fragte ihn, ob er auch einen »Füllerführerschein« besäße. Er guckte mich ungläubig an: »Einen was??« Ich freute mich, dass meine achtjährige Tochter einen Führerschein besaß, den selbst der mit allen Wassern gewaschene Elmar noch nicht hatte. Beide meiner Töchter haben jetzt nämlich in der zweiten Klasse gelernt, sauber mit einem Füller zu schreiben, im Anschluss gab es für sie eine kleine Karte mit einer Medaille drauf und der Bestätigung, die »Füllerprüfung« bestanden zu haben. Sie halten das für banal? Dann achten Sie mal darauf, wie viele Menschen einen Stift nicht richtig halten, geschweige denn mit einem Füller schreiben können. Ich zum Beispiel habe das nie gelernt und benutze bis heute nur Kugelschreiber. Ein Lehrer und Autor, der nicht mit einem Füllfederhalter schreiben kann. Ist doch seltsam, oder?

Lesen Sie Weihnachtspost, die mit dem Computer geschrieben und ausgedruckt wurde? Dieser Brauch greift in den letzten Jahren immer mehr um sich. Ich dagegen freue mich stets, wenn ich einen Brief oder eine Karte bekomme, die mit der Hand geschrieben wurde. Dies ist viel persönlicher und drückt Wertschätzung aus. Und man kann hier mehr als nur den Inhalt des Geschriebenen herauslesen: ob der Schreiber konzentriert oder unkonzentriert war, ob er beim Schreiben gestockt hat oder unterbrochen wurde. An welchen Stellen er den Stift besonders fest aufgedrückt hat. Ich liebe es, derlei Dinge in einem handschriftlichen Text zu analysieren.

Deshalb bin ich begeistert vom deutschen Füllerführerschein. Er drückt die gebührende Bedeutung und Wertschätzung für das Handgeschriebene aus. Meine Kinder werden sich dadurch immer daran erinnern, wie sie richtig schreiben gelernt haben. Als ich Gerd davon berichtete, fragten wir uns, was das Schreiben eigentlich für uns als Autoren bedeutet? Wir waren uns schnell einig, dass es für uns ein Genuss und ein Vergnügen ist. Und wenn das Geschriebene auf interessierte Leser trifft, ist die Genugtuung noch größer.

Schreiben ist wie ein Tanz mit Wörtern. Es folgt einer Melodie und hat einen Rhythmus. Wir legen dabei syrische wie auch deutsche Figuren aufs Parkett, diese Mischung scheint gut zu funktionieren. Es gibt lustige, traurige, interessante, hoffnungsvolle und tragische Tänze, die unsere Kugelschreiber dabei aufführen. Schreiben kann für den Autor so erotisch sein wie einer Frau die Hand an die Hüfte zu legen.

Unser zweites Buch trägt den Titel Lebt ein Syrer in Rotenburg (Wümme) und fasst überarbeitete Kolumnen von zwei Jahren zusammen. Ein Journalist hat uns anlässlich der Buchpremiere gefragt: »Was ist Ihre Motivation zum Schreiben?« Wir mussten nicht lange nach einer Antwort suchen. Schreiben ist Kommunikation mit Menschen. Dies ist die wichtigste Motivation für Gerd und mich. Wir kommunizieren mit unseren Lesern und sie antworten in zahlreichen Leserbriefen und Kommentaren. Diese Kommunikation ist uns wichtig und erweitert unseren Horizont jedes Mal aufs Neue.

Der Journalist fragte uns auch: »Wann hören Sie auf mit dem Schreiben?« Wir antworteten mit einem Zitat aus dem Vorwort unseres zweiten Buches: Wir fühlen uns wie ein Bäckerteam, das für sein Stadtviertel Brot backt. Der eine liefert die Zutaten, der andere mengt sie zusammen, der SPIEGEL schiebt das Brot in den Ofen. Solange der morgendliche Duft unserer Brote das Wohnviertel erfreut, werden wir weitermachen.

Kürzlich kam vor dem Unterricht eine Schülerin zu mir ans Lehrerpult. Sie zeigte mir einen Füllfederhalter in einer schönen Schachtel und sagte: »Herr Tannous! Sehen Sie mal, was ich als Geschenk bekommen habe!« Ich entnahm den Füller und betrachtete ihn. Ich fand eine Gravur mit zwei Buchstaben. Das Mädchen sagte: »Das sind die Initialen von mir und meinem Freund. Er hat ihn mir geschenkt.« Später schrieben wir einen Vokabeltest. Ich merkte, dass das Mädchen mit dem Füller auch nach einigen Minuten noch nicht mit dem Schreiben begonnen hatte. Dann nahm sie feierlich den Füller aus der Schachtel und fing mit einem Lächeln auf den Lippen und in Schönschrift an zu schreiben.

Ich geh schwüm

Neulich hatten wir hier in Rotenburg eine Hitzewelle, wie sie selbst in Syrien nicht alle Tage vorkommt. Vielleicht haben auch Sie sich damit gerettet, schwimmen zu gehen – oder »schwüm«, wie man hier in Norddeutschland sagt und wie es im Lied der Gruppe Goldregen heißt.

Kommen Sie mit auf einen kurzen Ausflug in mein Heimatdorf, ich will Ihnen erzählen, wo ich als Zehnjähriger schwimmen gelernt habe. Es gibt dort einen Bach, der direkt von den Bergen kommt und eiskaltes Wasser ins Tal führt. Das Wasser wird von den Obst- und Gemüsebauern unseres Dorfes zum Teil für die Bewässerung genutzt.

An einer Stelle oberhalb unseres Dorfes wurde dieser Bach auf einer Länge von circa zehn Metern aufgestaut, sodass sich ein kleiner Teich gebildet hat. Er ist von Felsen umgeben, von denen man ins Wasser springen kann. Dies war immer eine Mutprobe für die Jungs aus unserem Dorf. Je höher man auf den Felsen kletterte, desto höher war das Ansehen bei den Mädchen, die zusahen.

Es ist absolut herrlich dort und wir Kinder haben in den Sommerferien fast jeden Tag an diesem verzauberten Ort verbracht. Wenn die Kleinen gegen Abend den Teich verlassen, kommen Ältere, um dort entspannt zu baden und sich im Wasser abzukühlen.

Kommen Sie mit! Um dorthin zu gelangen, gehen Sie beim Spaziergang durch das Dorf fünf Minuten entlang einem Bewässerungskanal den Berghang hoch. Vielleicht mit einer Flasche Arak, vielleicht auch mit einem Freund oder einer Freundin, vielleicht mit einer heimlichen Liebe. Der Ort eignet sich auch hervorragend für Jugendliche oder Touristen, um im Sommer am Ufer Tee zu kochen, ein Picknick zu machen oder nächtelange Partys zu feiern.

Das Wasser auf der einen Seite dieses kleinen Teichs ist circa einen Meter tief, auf der anderen Seite des Teichs circa zwei Meter. Als ich klein war und noch nicht schwimmen konnte, konnte ich nur auf der flachen Seite des Teichs baden und musste aufpassen, keinen Schritt zu viel zum anderen Ufer zu machen, um nicht unterzugluckern. Ich bewunderte die Kinder, die sich weiter in den tiefen Teil trauten, weil sie schon schwimmen konnten. Und ich hatte Sorge, dass irgendeiner der pausenlos von den Felsen springenden Jungs auf meinem Kopf landet. Außerdem war das Wasser so gnadenlos kalt, dass man es nicht wirklich lange darin aushielt.

Deshalb habe ich zunächst nicht in diesem Teich schwimmen gelernt, sondern wir haben uns etwas flussabwärts einen kleineren Teil des Bachs gestaut. Hier konnte ich sicher und in Ruhe üben und irgendwann die ersten Kraulzüge meines Lebens machen. Ich habe nie brustschwimmen gelernt, sondern nur kraulen. Danach konnte ich endlich mit den anderen Jungs im »richtigen« Teich schwimmen.

Hier in Rotenburg hat »schwimmen gehen« eine gänzlich andere Bedeutung. Das fängt bei den Kindern an: Die meisten lernen schon als Vorschulkind in einem Kurs das Schwimmen, in der Regel zunächst Brustschwimmen. Bald gibt es Abzeichen wie Seepferdchen und Freischwimmer.

Nachdem meine Tochter Cilina ihr Seepferdchen-Abzeichen bekommen hatte, fragte sie mich beim nächsten Freibadbesuch: »Papa, du kannst gut schwimmen. Aber kannst du auch den Ring dort vom Boden des Beckens heraufbringen?« Ich versuchte es und scheiterte. Meine achtjährige Tochter dagegen konnte es. Da fiel mir auf, dass ich zwar schwimmen, aber nicht tauchen gelernt hatte.

Als ich damals in unserem kleinen Stauteich schwimmen gelernt hatte, war die größte Distanz, die ich danach zurücklegen musste, fünf Meter. Cilina musste für ihr Seepferdchen 25 Meter schwimmen. Und damit deutet sich schon ein Unterschied an: Die meisten Deutschen gehen eben nicht baden, sondern schwimmen. Sie sind eher leistungsbezogen als spaßorientiert.

Wenn ich hier in unserem Freibad in Rotenburg schwimmen gehe, schwimme ich eine Bahn, ruhe mich aus, schaue, ob ich jemanden für eine Unterhaltung finde, was selten der Fall ist. Dann schwimme ich eine Bahn zurück, um mich erneut auszuruhen.

Auf der Nebenbahn schwimmt dann manchmal eine circa 60-jährige Frau. Sie steigt nach der Dusche ins Wasser, zieht eisern eine Bahn nach der anderen und geht nach einer halben Stunde wieder schweigend in die Dusche. Das ist wirklich typisch deutsch. Von der älteren Dame in unserer Nachbarschaft, die zweimal in der Woche im kalten Bullensee schwimmen geht (auch im Winter), hatten wir ja schon im letzten Buch berichtet. Was für eine Leistung!

Natürlich können Deutsche auch Spaß haben beim Baden, insbesondere Kinder. Und es gibt auch in Syrien Menschen, die längere Bahnen schwimmen. Dennoch ist ein Unterschied sehr augenfällig: Im Kopf vieler Deutscher ist ein Leistungsziel, wenn sie »schwüm gehn«.

Auch die Regeltreue der Deutschen macht vor dem Schwimmen nicht halt. Wenn man auf einer Bahn hin- und zurückschwimmt, tut man dies jeweils auf der rechten Seite, um den Gegenverkehr nicht zu stören. Selbst das Ausruhen am Ende einer Bahn wird von den stoischen Leistungsschwimmern in meiner Umgebung gelegentlich schon als Störung empfunden.

Kürzlich traf ich beim Schwimmen unseren ehemaligen Bürgermeister. Er sagte: »Hallo Herr Tannous! Wie lange sind Sie heute schon geschwommen?«

Ich antwortete: »Eine halbe Stunde.«

Er sagte: »Respekt, das sind dann ja circa … (rechnet) … 1300 Meter.«

Ich war etwas überrumpelt, und da ich manchmal ein Problem mit dem Verstehen von Zahlen in deutscher Sprache habe, sagte ich etwas geistesabwesend: »Ja!«

Kurz danach wurde mir bewusst, dass das völliger Quatsch war. 1,3 Kilometer ist vielleicht meine Wochen- oder Monatsleistung. In der vergangenen halben Stunde jedoch bin ich tatsächlich nur 300 Meter geschwommen, ansonsten war ich am Beckenrand.

Beim Schwimmen in Deutschland komme ich mir vor wie ein russisches Auto. In Syrien fuhren damals viele in Russland hergestellte Autos. Da sie für ein kaltes Land produziert wurden, waren sie im warmen Syrien kaum nutzbar. Der Motor wurde ständig heiß, alle halbe Stunde musste man dann eine Pause machen und Wasser nachfüllen. Ob ich beim Schwimmen wohl jemals so zuverlässig werde wie ein deutscher Mercedes?

Manchmal stelle ich mir vor, wie ein Deutscher, wenn er an den idyllischen Teich in den Bergen bei unserem Dorf in Syrien käme, diesen Teich zigmal schweigend und ausdauernd von der einen bis zur anderen Seite durchqueren würde, bevor er sich abtrocknet und geht. Für die syrischen Kinder auf den Felsen wäre er ein Außerirdischer.

Ich bin doch keine Maschine

Fast alles in unserer modernen Welt lässt sich irgendwie einstellen. Das Handy, der Thermomix, die Spülmaschine, der Wecker, ein Musikinstrument, das WLAN, der Fernseher… Fallen Ihnen noch weitere Dinge ein? Kann man auch einen Menschen einstellen? Deutsche können das durchaus. Das Wort »einstellen« wird in der deutschen Sprache auch in Bezug auf Menschen verwendet, und das ist kein Zufall.

Diese Kolumne schreiben wir im Zug, genauer gesagt im ICE von Bremen nach Stuttgart, wo wir heute Abend eine Lesung haben. Gerade mussten wir in einen anderen Wagen wechseln. Ein Mitreisender forderte uns dazu auf, weil wir im »Ruhebereich« saßen und dennoch miteinander redeten. Der Mann hatte Recht und beharrte auf diesem, da er darauf eingestellt war, in einem völlig stillen Wagen zu sitzen.

Zweimal in der Woche sind unsere Kinder bei ihren »deutschen Großeltern«, unseren Freunden Gitta und Elmar, zum Mittagessen und um zu lernen. Einmal waren die Kinder verhindert und wir wollten die Verabredung verschieben. Gitta und Elmar schrieben uns eine Nachricht, in der unter anderem stand: »Wir waren darauf eingestellt, dass eure Kinder heute zu uns kommen.« Die Textnachricht landete zunächst bei meiner Frau Hala. Sie fragte mich: »Samer, was meinen die damit, wenn sie sagen, sie seien ›eingestellt‹?« Ich musste lachen und sagte: »Schau auf dein Handy. Dort gibt es den Menüpunkt ›Einstellungen‹. Hier kannst du das Handy so programmieren, wie es funktionieren soll. Die Deutschen sind so. Sie können nicht nur Geräte einstellen, sondern auch sich selbst. Sie sind eben manchmal selbst ein wenig wie Maschinen, zumindest im Vergleich zu uns Syrern. Deshalb nennen die Araber auch die deutsche Fußballnationalmannschaft so: die Maschine.« Über diese habe ich gestern übrigens eine Fernsehreporterin sagen hören: »Unser Team hatte für diese WM nicht die richtige Einstellung!« Wieder dieses Wort.

Viele Deutsche lieben Dinge, die eingestellt sind. Das ist nun mal ihre – Achtung Wortwitz – Einstellung. Meiner Frau und mir fällt das immer wieder auf. Beim Konzert kürzlich an unserer Schule: Alle kommen pünktlich, alle nehmen ihre Plätze ein, alle hören gleichzeitig auf zu reden, der Dirigent ist voll konzentriert und steht in einer geistigen Verbindung mit den Schülern, die Instrumente werden gestimmt, alles läuft wie ein Uhrwerk. Hala sah mich an und sagte: »Was für ein eingestelltes Volk.« Wenn uns hier ein Deutscher zugehört hätte, hätte er den Satz wohl nicht verstanden. Ich verstand ihn sofort.