Bleibt uns die Hoffnung - Marie Louise Fischer - E-Book

Bleibt uns die Hoffnung E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Die attraktive Vierzigerin Sabine Miller ist eine dynamische, ehrgeizige Frau und eine liebevolle Mutter. Ihre Familie ist das, wofür sie lebt. Mit aller Macht versucht sie, Probleme von ihren vier Kindern und ihrem Mann abzuhalten. Dies erweist sich für Sabine oft als Schwerstarbeit, da immer neue Schwierigkeiten dem Glück der Familie im Weg stehen. Tochter Ilona muss ein uneheliches Kind großziehen. Sohn Sven ist in eine Drogengeschichte verwickelt. All diese Situationen rufen Sabine auf den Plan. Sie versteht es jedoch, alle Lebenssituationen zu meistern. Ihr Mann und ihre Kinder danken es ihr mit rückhaltloser Liebe, Sabine ist die Größte für sie.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Bleibt uns die Hoffnung

SAGA Egmont

Bleibt uns die Hoffnung

Bleibt uns die Hoffnung

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1973 by Bertelsmann Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718438

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der Tag war ungewöhnlich warm für Ende Mai. Ein kurzer Regen in der Frühe hatte kaum Abkühlung gebracht. Die Luft war schwül, als stünde noch ein Gewitter bevor.

Sabine Miller hatte das Fenster des ebenerdigen Schlafzimmers weit geöffnet und sich aufs Fensterbrett geschwungen. Obwohl sie nur einen kurzärmeligen weißen Kittel über Höschen und Büstenhalter trug, war ihr heiß. Sie schüttelte die Sandalen von den Füßen.

Das Schlafzimmer war immer schon zu eng für die schweren Möbel gewesen, die noch aus den ersten Ehejahren stammten. Millers hatten geplant, es neu einzurichten, sobald die drückendsten Schulden, die sie für den Bau ihres Hauses hatten aufnehmen müssen, getilgt sein würden. Aber so weit war es nie gekommen. Jetzt mußte auch noch ein Kinderbett hier Platz finden.

Ilona, die zwanzigjährige, unverheiratete Tochter, saß auf der Kante des Ehebetts, die dem Fenster zugewandt war, und gab ihrem Baby das Fläschchen. Sie war vollständig angezogen, trug ein schickes, gelbes Polokleid, Perlonstrümpfe, weiße Pumps und wirkte, als wäre sie nur gerade eben auf einen Sprung hereingekommen.

Tatsächlich hatte sie den ganzen letzten Monat bei ihren Eltern in Riesberg verbracht. Gleich von der Klinik aus, in der sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte, war sie nach Hause gekommen. Inzwischen war ihre Schonzeit abgelaufen, und sie mußte nach München an ihren Arbeitsplatz zurück.

Das Fläschchen war leer, und Ilona zog ihrem Baby den Sauger aus dem Mund.

»Wie gut Katja trinkt!« lobte Sabine.

»Ja, sie ist ein wahrer Schatz. Ich werde sie sehr vermissen.« Ilona legte die Hand unter den Rücken der Kleinen, richtete sie auf und hielt sie hoch. »Mach ein Bäuerchen! Ein schönes Bäuerchen!«

Katja verzog das Gesicht, als wenn sie sich Mühe gäbe, der mütterlichen Aufforderung nachzukommen.

»Sieh nur, wie sie sich anstrengt, Mutti!« rief Ilona. »Ist sie nicht süß?«

Sabine Miller beobachtete die beiden mit Rührung. »Sie kommt ganz nach dir«, behauptete sie, »bis auf die roten Haare und die helle Haut… die hat sie von ihrem Vater!«

»Hoffentlich hat sie im Leben mehr Glück als ich!« rutschte es Ilona heraus, aber sie verbesserte sich sofort. »Ich hab’s nicht so gemeint, Mutti, wirklich nicht … ich bin ganz und gar nicht verbittert. Schließlich bin ich jung und gesund und habe ein süßes Baby und eine Mutter, die …«

Sabine fiel ihr ins Wort. »Du solltest dich mit Oswald in Verbindung setzen. Er weiß gar nicht, daß er ein Kind hat … oder doch?«

»Nein. Und er soll es auch nie erfahren.« Ilonas ebenmäßiges Gesicht verdüsterte sich, als sie die Brauen zusammenzog.

»Sei mir nicht böse, aber ich finde deinen Standpunkt ziemlich kindisch!«

»Daß ich mein Kind für mich allein haben will? Daß ich kein Geld von einem Mann möchte, der mich noch vor der Hochzeit betrogen hat?« Ilona warf mit einer heftigen Bewegung ihr tiefschwarzes Haar in den Nacken; ihre Wangen waren von der Frühjahrssonne schon gebräunt, und sie wirkte in ihrer Wildheit fast zigeunerhaft, wenn nicht das Blau ihrer Augen gewesen wäre.

»Es geht ja gar nicht um dich«, wies Sabine sie zurecht, »sondern um Katja!«

»Ich kann allein für sie sorgen!«

»Selbst wenn das so wäre! Denk mal darüber nach, wie scheußlich es für sie werden wird, mit dem Vermerk »Vater unbekannt durchs Leben zu gehen!«

Ilona klopfte dem kleinen Mädchen sanft auf den Rücken, bis die Luft aus dem Magen kam. »Ich werde ihr später alles erklären.«

Sabine seufzte. »Du wirst auch noch erfahren, wie wenig man seinen eignen Kindern erklären kann.«

Ilona gab ihrem Baby einen Kuß auf das Näschen. »Und nun, mein Schatz, muß ich mich fertig machen. Und du läßt dich jetzt lieb und brav von deiner Oma wickeln!«

Sabine, die schon von der Fensterbank gerutscht war, um das Kind zu übernehmen, gab es einen Stich; sie spürte, daß ihr das Blut in die Wangen schoß.

Auch Ilona bemerkte es. »Was ist los mit dir? Bist du etwa schon in den Wechseljahren?«

»Nein. Aber auch bis dahin wird es wohl nicht mehr weit sein. Immerhin bin ich ja schon eine ›Oma‹ geworden.« Unwillkürlich warf Sabine einen Blick in den großen, ovalen Toilettenspiegel; was sie sah, war eine schlanke Frau mit hellen Augen, leicht aufgeblondetem Haar und weicher Haut. »Ich komme mir plötzlich alt vor.«

»Weil ich Oma «gesagt habe?« Ilona lachte. »Du bist nun mal Großmutter. Wie soll dich Katja denn sonst nennen? Etwa Sabine … oder Biene, wie die Jungens sagen? Ich wußte gar nicht, daß du für so antiautoritäre Erziehung bist!«

»Ja, lach mich nur aus, aber du hast mir mit deiner ›Oma‹ tatsächlich einen leichten Schock verpaßt… so wie andere Frauen ihn angeblich kriegen, wenn sie das erste graue Haar entdecken!«

»Wenn es danach ging«, sagte Ilona, »müßte ich mir uralt vorkommen. Ich finde mindestens jeden Tag eins, das ich mir ausreißen muß!«

Sabine schloß das Fenster, und der Lärm der Vorstadtstraße drang nur noch gedämpft herein. Sie zog das Wickelgestell aus dem Schrankwinkel heraus, baute es auf und legte die vorbereiteten Windeln zurecht. Dann übergab Ilona ihr die kleine Katja.

Während Sabine das Kind auspackte, es abwusch, eincremte, puderte und wickelte, suchte Ilona noch ein paar Toilettenartikel zusammen, die sie in ihre große Reisetasche steckte, nahm ihre Handschuhe und legte sich den Regenmantel über den Arm.

Zögernd blieb Ilona nahe der Tür stehen und blickte sich im Zimmer um, als glaubte sie etwas vergessen zu haben. »Ich lauf’ noch mal rauf, ich muß mich noch von Sven verabschieden.«

Sabine blickte auf. »Ja, tu das! Aber beeil dich, damit du nicht den Bus verpaßt!«

»Das schaffe ich noch leicht!«

Ilona verließ das Schlafzimmer, durchquerte die Diele und stieg in den ersten Stock hinauf, in dem früher sie und ihre Brüder ihre Zimmer gehabt hatten. Inzwischen wurde es von Tante Ethel bewohnt, der Schwester ihres Vaters. Sie war mit ihrem Bausparvertrag eingesprungen, als die Familie in eine akute Notlage geraten war.

Während Ilona die Stufen hinaufeilte, dachte sie mit Dankbarkeit und ohne Bedauern daran. Sie empfand keine Bindung an dieses Haus, das ihre Eltern sich unter großen Opfern gebaut hatten, denn bei ihrem Einzug war sie schon auf dem Sprung gewesen, sich innerlich zu lösen. Sie hatte einen Kreis von Freundinnen und Freunden in Riesberg gehabt und war gerade noch zum Schlafen nach Hause gekommen. Später hatte sie sich mit dem reichen Oswald Zinner verlobt. Damals hatte gehofft, für immer hier wegzukommen. Dann, als es doch nicht zu dieser Heirat gekommen war, hatte sie erst ihrem Elternhaus, Riesberg und den Menschen, vor denen sie sich blamiert fühlte, den Rücken gekehrt. Sie war entschlossen gewesen, in München ein ganz neues Leben anzufangen. Es war das Kind, das sie wieder hierher zurückgebracht hatte, aber auch nur vorübergehend.

Ohne das selber ganz klar zu erkennen, war Ilona froh, daß sie nicht wieder in ihr Jungmädchenzimmer hatte ziehen können, sondern mit der Mutter zusammen in dem ehemaligen elterlichen Schlafzimmer hausen mußte. Das betonte das Provisorische ihres Hierseins.

Der erste Stock war durch keine Wohnungstür vom übrigen Haus abgetrennt. Ilona lief durch eine kleine Diele und kletterte weiter hinauf bis zum Dachgeschoß, wo Svens Zimmer war.

Sie klopfte an, bevor sie eintrat. Der gemütliche Raum mit den schrägen Wänden, der wie eine Schilfskoje eingerichtet war – Sven hatte das Zimmer von seinem Bruder Knut, die Möbel von seinem Bruder Torst übernommen –, war leer.

Unwillkürlich schnupperte Ilona – nein, es lag kein Hauch von Hasch in der Luft. Das beruhigte und beschämte sie gleichermaßen; sie kam sich ein bißchen vor wie eine Spionin. Dabei war sie nur besorgt um Sven.

Sabine hatte ihr von jener Nacht erzählt, in der sie und Ethel Sven erwischt hatten, als er sich mit einem Seil aus seinem Fenster in den Garten hatte herablassen und mit einem Sack voll Diebesgut davonmachen wollen. Dabei war er gestürzt und hatte sich das Bein gebrochen, und so war alles aufgekommen: daß er und zwei ältere Kameraden von einem Verbrecher unter Druck gesetzt worden waren, der ihnen Waren, die sie aus abgestellten Autos entwendet hatten, gegen Hasch eintauschte. Es war Sabine, die diesem Spuk ein Ende gemacht hatte, während Ethel den Jungen ins Krankenhaus fuhr. Sie hatte den Gangster zur Rede gestellt, die Eltern der anderen Jungen verständigt und die Diebesbeute in ein Gebüsch geworfen. Lange hatten die Frauen gezittert, daß diese böse Affäre noch ein Nachspiel auf der Polizei haben könnte. Aber außer einer kurzen Notiz im ›Oberbayerischen Volksblatt‹, die die Auffindung der gestohlenen Sachen durch einen Rentner meldete, war nichts geschehen, und nach einiger Zeit hatten sich alle wieder beruhigt.

Arnold gegenüber, der zu jener Zeit noch inhaftiert gewesen war, hatte man die ganze Geschichte verschwiegen.

Sven hatte geschworen, nie wieder zu Drogen zu greifen. Er war geschockt gewesen und schien geradezu erleichtert, daß er erwischt worden war; denn aus eigener Kraft hatte er keinen Ausweg mehr aus der Zwangslage gewußt, in die er und seine Freunde sich hineinmanövriert hatten. Sabine war von seiner Besserung überzeugt.

Nur Ilona hegte den Verdacht, daß die guten Vorsätze des Bruders womöglich nicht von Dauer waren. Sie überlegte, ob sie mit ihrer Mutter darüber sprechen sollte, aber sie schreckte davor zurück, sie noch mehr zu belasten. Sie hatte es ohnehin schwer genug. Da waren ihre beiden kleinen Neffen, die Zwillinge, deren Pflege sie übernommen hatte, seit Rosy, Onkel Egons Frau, in die Heilanstalt eingeliefert worden war; da war Ilonas Baby, das sie versorgen mußte, und noch dazu der Vater, der ein Problem für sich darstellte.

Ilona seufzte, als sie daran dachte. Sie schlug rasch die Tür wieder zu und lief nach unten. So schwer ihr der Abschied von ihrem Baby fiel, sie war dennoch froh, nun den Familienschwierigkeiten zu entrinnen.

Ilona fand Sabine in der kleinen Loggia, wohin sie den Kinderwagen mit Katja geschoben hatte; die Mutter war gerade dabei, den Tüllschleier festztubinden, der die Kleine vor Insekten schützen sollte.

»Sven ist nicht zu Hause, bestell ihm einen Gruß von mir!« sagte sie atemlos.

»Du kommst doch nächstes Wochenende?«

»Wenn es sich eben machen läßt.« Ilona hätte liebend gern noch einen letzten Blick auf ihr Kind geworfen, aber sie wollte das Werk ihrer Mutter nicht zerstören, nur um einer Sentimentalität nachzugeben. »Ich weiß gar nicht, wie ich ohne Katja auskommen soll.«

»Mach dir keine Gedanken ihretwegen. Ich paß schon auf sie auf.«

»Aber sicher!« Ilona nahm ihre Mutter in die Arme. »Ich hab’s dir vielleicht noch nicht gesagt… aber ich bin dir riesig dankbar. Wenn du mir nicht geholfen hättest, wäre ich ganz schön aufgeschmissen gewesen.«

Einen Augenblick lang hielten die beiden Frauen sich eng umschlungen.

Sabine löste sich als erste. »Findest du nicht, daß es unheimlich still ist?«

»Nein, wieso?!«

»Ich sehe die Zwillinge nirgends!«

»Die sind sicher…« Ilona blickte sich um und entdeckte eine Bewegung hinter den Johannisbeerbüschen. »Moment mal!« Sie setzte ihre Reisetasche ab und spurtete los.

Sabine lief ihr nach.

Die beiden Jungen hatten einen Sandhaufen aufgeschüttet und mit Wasser durchtränkt. Jetzt waren sie damit beschäftigt, mit beiden Händen darin herumzumantschen. Dabei hatten ihre Gesichter, ihre Hosen und Hemden einen tüchtigen Teil abbekommen.

»Andy … Chris! Mein Gott, wie seht ihr aus?!« rief Ilona entgeistert.

Christian reagierte überhaupt nicht.

Andy, eine halbe Stunde älter als sein Bruder, schmaler und einen knappen Zentimeter größer, hob die dunklen Augen mit unschuldsvollem Blick. »Wir backen Kuchen … schön, nich?«

»Ihr wißt genau, daß der Sand zum Betonieren bestimmt ist«, sagte Sabine, »euer Pech, wenn jetzt die Schaukel nicht aufgestellt werden kann, weil nicht mehr genügend da ist.«

»Och, dann bringen wir ihn einfach wieder zurück!« Andy griff mit beiden Händen in den Matsch und warf einen Batzen in die rosa Plastikschüssel, die er aus der Küche stibitzt hatte.

Christian folgte dem Beispiel seines Bruders. »Patsch … patsch!«

Ilona mußte lachen. »Sind die noch zu retten?«

Die beiden kleinen Jungen hatten Freude an dem neuen Spiel gefunden und versuchten sich gegenseitig zu übertreffen. Sie klatschten den nassen Sand in die Schüssel, daß er aufspritzte.

Sabine stimmte in das Lachen ihrer Tochter ein. »Na, immerhin traue ich mir zu, sie wieder sauber zu kriegen! Los kommt mit, ihr beiden! Die Badewanne wartet!«

»Nicht schon wieder!« schrie Andy.

»Wir wollen nicht schon wieder gewaschen werden!« echote sein Bruder.

»Es ist eure Schuld, wenn ihr euch dauernd dreckig macht!« Andy wollte einen Batzen nach ihr werfen, aber sie fing geschickt sein Handgelenk ab und preßte es, bis er die kleine Faust öffnete und den nassen Sand fallen ließ.

»Kommt mit«, sagte sie energisch, »und du auch, Chris! KeineDummheiten! Ihr wißt… im Ernstfall bin ich immer die Stärkere.«

Die beiden ergaben sich mit hängenden Köpfen in ihr Schicksal.

»Jetzt bin ich dir aber sehr böse, Tante Biene«, brummte Andy.

»Ich bewundere dich, daß du das aushältst«, erklärte Ilona, als sie zum Haus zurückgingen, »die sind doch eine wahre Landplage!« Sie schrie auf, als Chris ihr mit dem Schuhabsatz gegen den Knöchel trat.

»Du tust ihnen unrecht«, sagte Sabine ernst, »die beiden können auch sehr lieb sein. Sie sind ganz normale Buben, mal schlimm, mal brav. So anstrengend sind sie bloß, weil sie beide im gleichen Alter sind und stets die gleichen Flausen im Kopf haben, Aber Torsten und Knut waren seinerzeit auch keine Engel.«

»Aber damals warst du jünger!« platzte Ilona heraus und fügte im gleichen Atemzug hinzu: »Bitte, verzeih mir, Mutti, ich weiß auch nicht, was heute in mich gefahren ist, dir dauernd dein Alter unter die Nase zu reiben!«

Sabine zwang sich zu lächeln. »Das ist wahrscheinlich die Belohnung dafür, daß du mich zur Großmutter gemacht hast!«

»Du hast ja so recht!« rief Ilona reuevoll. »Ich bin einfach eine dumme Gans! Wenn du die Jungen nicht übernommen hättest, könntest du dich um meine Katja ja auch nicht kümmern. Ich sollte heilfroh darüber sein, daß du eingesprungen bist, wahrscheinlich ärgert es mich, daß du dich für die Familie aufopferst!«

»Unsinn, Liebes!«

»Kein Unsinn. Aber was sollte schließlich aus uns ohne deine Aufopferung werden?« Sie waren zur Loggia zurückgekommen, und Ilona griff ihre Reisetasche auf. »Sag, tut es dir nicht doch manchmal leid, daß du deine interessante Arbeit als Sprechstundenhilfe hast aufgeben müssen?«

Sabines Lächeln erstarb. »Darüber«, schlug sie vor, »sollten wir uns besser ein andermal unterhalten. Jetzt mußt du dich beeilen, wenn du den Bus nicht verpassen willst!«

Ilona erschrak. »Du hast recht, Mutti! Höchste Eisenbahn!« Sie küßte Sabine über die Köpfe der Jungen hinweg. »Mach’s gut, Biene!«

»Du auch!«

Ilona bückte sich und küßte jeden ihrer kleinen Vettern auf die Stirn. Dann eilte sie um das Haus herum auf die Straße.

Sabine folgte ihr mit den beiden Jungen bis zum Gartenzaun. Dort blieben sie stehen und winkten ihr nach. Aber Ilona hatte es jetzt sehr eilig; sie drehte sich nicht mehr um.

Sabine hatte die kleinen Jungen gerade aus der Wanne geholt, jeden in ein Frottiertuch gehüllt und war dabei, sie abzutrocknen, als sie das Zuklappen der Haustür hörte. Sie spähte in die Diele hinaus, gerade noch rechtzeitig, um ihren jüngsten Sohn zu entdecken, der schon den ersten Fuß auf der Treppe hatte.

»Sven!« rief sie.

Zögernd wandte er sich ihr zu. »Jaaa?«

Wie immer in letzter Zeit schockierte sein Anblick sie. Das schwarze Haar fiel ihm, fettig und ungepflegt, bis auf die Schultern, seine nackten Füße in den offenen Sandalen waren staubig vom Straßenschmutz, die Jeans abgenutzt, und die amerikanische Uniformjacke schlotterte um seine magere Figur.

»Sven!« riefen Andy und Christian, die sich hinter ihr hervordrängten. »Sven! Spielst du mit uns?«

Sabine breitete die Arme aus, um sie zurückzuhalten. »Ilona ist fort. Sie wollte sich von dir verabschieden, aber du warst nicht da.« Sie gab sich Mühe, freundlich zu sein, dennoch war der Vorwurf in ihrer Stimme nicht zu überhören.

»Schade.« Sven sagte es ohne Bedauern, und seine dunklen Augen blickten gleichgültig.

»Wo warst du?«

»Bei einem aus meiner Klasse.« Sven zeigte seine Schultasche vor. »Habe gelernt. Das wollt ihr doch immer.«

Sabine fing Andy ein, ließ sich neben ihm in die Knie und rieb ihn trocken. »Du sagst das gerade so, als wäre es eine fixe Idee von uns. Dabei solltest du doch endlich begreifen, daß man in der heutigen Zeit etwas gelernt haben muß, wenn man bestehen will.«

»Ihr meint es nur gut mit mir.« Sven verzog keine Miene. Sabine ließ Andy laufen und schnappte sich Christian. »Natürlich tun wir das. Du brauchst gar nicht zu spotten. Wir machen uns Sorgen um dich.«

»Braucht ihr nicht.«

Andy tanzte splitternackt durch die Diele, schwenkte das Frottiertuch und schrie: »Ich bin ein nackichter Indianer… huahuahu!«

Christian versuchte Sabine zu entwischen. »Ich will auch ein nackichter Indianer sein!«

»Indianer sind nicht nackt!« versuchte Sabine ihn zu belehren. »Sven, bitte! Lauf nicht gleich wieder weg! Du willst mir also weismachen, daß dein schlechtes Zeugnis nichts zu bedeuten hatte?«

»Nicht viel jedenfalls.«

»Trotz der Bemerkung: ›Versetzung gefährdet‹?!«

Sven zuckte die Achseln.

»Glaubst du, daß du trotzdem versetzt wirst?«

»Ich hoffe es.«

»Ach, Sven, was heißt das schon, du hoffst? Warum kannst du nicht auch mal was Positives sagen? Ich hätte deinem Vater so gern erzählt, daß du …«

»Dann tu es doch.«

»Du bist unmöglich.«

»Tut mir leid.«

»Lüg doch nicht! Du bedauerst es nicht im geringsten, im Gegenteil, es macht dir Freude, wenn du mich ärgern kannst.«

»Du mußt es ja wissen!« Sven schlug mit beiden Armen einen Kreis, um sich von seinen beiden Neffen zu befreien, die einen wilden Kriegstanz um ihn aufführten.

»In einer halben Stunde gibt es Abendessen. Bitte, zieh dich um! Sven, hast du mich verstanden?«

Der Junge blieb auf dem Treppenabsatz stehen. »Soll ich den Smoking nehmen? Oder genügt ein dunkler Anzug?«

»Nimm ein frisches Hemd und eine anständige Hose, oder zieh wenigstens diese grausige Uniformjacke aus! Du weißt, wie Vater sich darüber ärgert!«

»Warum eigentlich?« fragte Sven pomadig.

»Mit größerem Recht könnte ich dich fragen: Warum trägst du so etwas? Ansonsten seid ihr doch überzeugte Pazifisten, wie paßt die Militärjacke dazu?!«

Sven schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich habe keine Lust, mit dir zu diskutieren, und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß dabei etwas herauskäme. Bis später dann!« Er stieg weiter hinauf, jetzt mit großen Schritten, und er wandte sich auch nicht wieder um, als seine Muttter hinter ihm herrief.

Sie seufzte unwillkürlich tief auf und mußte gegen ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit ankämpfen, das sie jäh überfallen hatte. Es war ihr, als wäre sie eingekreist und gefangen.

Ihr Leben schien ihr verfehlt. Warum war sie nicht bei Thomas Stratmann geblieben, der sie liebte? Dann wäre sie jetzt glücklich, die Frau eines Arztes, müßte nicht mehr das Lasttier der Familie sein.

Es war noch nicht ein Jahr her, da war sie drauf und dran gewesen, alles hinzuwerfen und mit ihrem Geliebten ein neues Leben anzufangen. Die Sorge um Sven war es in erster Linie gewesen, die sie zurückgehalten hatte. Sie hatte es nicht über sich bringen können, ihn in ein Internat zu stecken, wie Stratmann es gewünscht hatte.

Jetzt schien es ihr, als wäre das eine törichte Sentimentalität gewesen. Dort wäre er wahrscheinlich besser aufgehoben als zu Hause. Sie jedenfalls wurde nicht mehr mit ihm fertig.

Natürlich hatte sie nicht erwartet, daß Sven ihr dankbar sein würde – wie konnte er, da er von dem Zwiespalt, in den sie die späte Liebe gerissen hatte, gar nichts wußte! –, aber zumindest hatte sie gehofft, daß er spüren würde, wieviel er ihr bedeutete. Sie war es ja auch gewesen, die ihn vor einem Erpresser und schlechten Freunden gerettet hatte – damals war er, wenn auch nur für kurze Zeit, wieder ganz ihr zärtlicher kleiner Junge gewesen.

Wie war es möglich, daß er sich so verändert hatte? Und durch was war es geschehen?

Sie überlegte, ob sie nicht doch zu ihm hinaufgehen und sich mit ihm auseinandersetzen sollte. Aber dann unterließ sie es, weil sie spürte, daß schon sein bloßer Anblick genügte, um sie gegen ihn aufzubringen. Sie wußte, daß sie, wenn er ihr mit seinem üblichen Phlegma begegnete, wütend, heftig und ungerecht reagieren würde.

In dieser Sekunde wünschte sie sich weit, weit fort, sehnte sich nach ihrem Geliebten, in dessen Armen sie jung gewesen war.

Die Zwillinge rissen sie aus ihren Träumen.

»Tante Biene!« rief Andy. »Du wirst ja ganz rot!«

»Was hast du ausgefressen?« fragte Christian. »Was genascht oder was kaputt gemacht?«

Sabines Krampf löste sich. »Vielleicht beides!« gab sie zu. »Kommt jetzt, ihr Schlingel! Zieht euch an! Ihr dürft mir gleich beim Kochen helfen.«

Arnold Miller war in einer Warengasse des Supermarktes »Zentrum« damit beschäftigt, Trommeln und Pakete mit Waschmitteln zu standfesten und verlockenden Pyramiden aufzubauen. Eine Tätigkeit, die ihm wahrscheinlich sogar Freude gemacht hätte, wenn er sich seiner Situation hätte anpassen können. In guten Momenten erinnerte sie ihn an die Baukastenspiele seiner Kinderzeit. Die körperliche Anstrengung setzte ihm nicht zu, denn er war ein gesunder und kräftiger Mann, der durch sein vormaliges Schreibtischdasein nie ganz ausgelastet gewesen war und einen Ausgleich in Basteleien in seinem Eigenheim hatte suchen müssen.

Aber er, der gelernte Buchhalter, empfand es als demütigend, vor einer Aufgabe zu stehen, die ihm bedeutungslos schien und die eine ungelernte Kraft genausogut hätte ausführen können; tatsächlich war er als Hilfsarbeiter eingestellt worden, und mit dieser Tatsache konnte er nicht fertig werden. Sie hatte sich tief in sein Bewußtsein eingefressen. Er haßte geradezu den hellblauen Kittel, den er wie die meisten anderen Angestellten des Supermarkts tragen mußte und durch den er sich förmlich degradiert fühlte.

Arnold Miller war 43 Jahre alt; seine Figur hatte sich durch die körperliche Betätigung der letzten Monate gestrafft, sein Bauchansatz war verschwunden, Beine und Arme waren muskulöser geworden. Dennoch wirkte er älter als er war. Tiefe Falten hatten sich auf der Stirn und zwischen Nase und Mund geprägt; die Lippen hatten sich in einer dauernden Grimasse des Mißmutes herabgezogen. Sein schwarzes Haar mit den weißen Schläfen, die seiner Erscheinung etwas Soigniertes gaben, begann schütter zu werden.

Er hatte die bunte Wand bis zur Brusthöhe errichtet und trat einen Schritt zurück, um sie zu begutachten, als er, über den Stapel hinweg, ein Augenpaar auf sich gerichtet fühlte. Er kämpfte gegen den Impuls, sich abzuwenden, hob den Kopf und sah geradewegs in das Gesicht eines ehemaligen Stammtischfreundes, des Garagenbesitzers Alf Scheuringer.

Beide Männer waren sekundenlang peinlich verlegen. Scheuringer, ein riesiger Mann, kam sich lächerlich vor mit dem Einkaufswägelchen, auf das er alle möglichen Waren geladen hatte, mindestens so sehr wie Arnold Miller, der die Situation des anderen durchaus nicht als komisch empfand.

»Hallo, Miller«, grüßte Scheuringer unsicher, »lange nicht mehr gesehen.«

»Hm, hm«, machte Arnold nur, da er darauf nichts zu sagen wußte.

»Na ja, gewöhnlich komme ich ja auch nicht hierher«, entschuldigte sich Scheuringer unbeholfen, »aber wenn man drei Kinder hat und das vierte unterwegs … also dann muß man schon hie und da seiner Alten unter die Arme greifen.«

»Glückwunsch!«

»Wieso? Ach ja. Aber noch ist es ja nicht soweit.«

Es entstand eine quälende Pause.

»Und wie geht es dir?« fragte Scheuringer endlich.

»Du siehst es ja.«

Scheuringer sah sich um und mimte Anerkennung. »Toller Laden. Gar nicht schlecht. Hat dein Schwager dich hier untergebracht?«

Arnold Miller nickte.

»Hochanständig.«

Dieser Meinung war Arnold nicht, hütete sich aber zu widersprechen.

»Wenn du dich an mich gewandt hättest«, behauptete Scheuringer, »ich hätte bestimmt auch was für dich gehabt.«

»So? Wirklich?« Arnold Miller konnte sich nicht länger zurückhalten. »Den Eindruck hatte ich damals aber nicht.«

Scheuringer, von schlechtem Gewissen geplagt, brauste auf. »Willst du dich etwa beklagen?!«

»Nicht im mindesten.«

»Dazu hast du auch, weiß Gott, kein Recht. Schließlich hast du dich ganz allein in die Scheiße geritten … oder?«

»Das habe ich nie geleugnet.«

Scheuringer besänftigte sich. »Natürlich hat Kienzel sich wie ein Schwein benommen. Das steht außer Frage. Der kann sich bei uns nicht mehr blicken lassen.«

»Meinetwegen braucht ihr ihn nicht zu schneiden.«

»Gar nicht deinetwegen. Der hat sich selber rausgespielt.«

Arnold hatte genug von dem fruchtlosen Gespräch und bückte sich, um weiter zu bauen.

Scheuringer schob den Drahtwagen auf Armeslänge von sich und zog ihn wieder heran. »Du hättest ihm seinen Gewinnanteil aber auch nicht …« – er suchte nach dem passenden Wort –, »… vorenthalten sollen.«

Arnold schichtete wortlos weiter.

Scheuringer ließ nicht locker. »Sag mir bloß: Was hast du wirklich mit dem Geld gemacht?« – »Spekuliert.«

Jetzt machte Scheuringer eine Pause. »So?« fragte er dann gedehnt. »Das ist aber das Neueste. Davon hast du nie ein Wort erwähnt. Auch bei deinem Prozeß nicht.«

»Ich habe es verspekuliert«, gab Arnold zu, »es wäre zu kompliziert gewesen, das zu erklären. Ich wollte nicht noch andere mit reinreißen.«

»Ach so? Naja, das klingt ganz plausibel. Sehr anständig von dir.«

»Alles andere hätte mir auch nichts geholfen.«

»Auch wieder wahr. Immerhin bist du mit einem blauen Auge davongekommen. Strafe durch die Untersuchungshaft verbüßt… mehr kann man doch nicht verlangen.«

Arnold sah den Freund vergangener Tage nur an.

»Na ja, und alles andere wird auch eines Tages wieder in Ordnung kommen«, sagte der rasch, »du mußt nur ein bißchen Geduld haben. Irgendwann wird Gras drüber wachsen.«

»Ja, sicher«, stimmte Arnold ihm ohne Überzeugung zu.

»Na dann. Alles Gute. Grüß dein Weib!« Schon im Fortgehen wandte sich Alf Scheuringer noch einmal um. »Sag, warum schaust du nicht wieder mal im ›Goldenen Löwen‹ vorbei?«

»Kann ich machen«, erklärte Arnold, obwohl er sehr wohl wußte, daß diese Aufforderung nicht ernst gemeint war; die Herren vom Stammtisch würden höchst unangenehm berührt sein, wenn er es wagen wollte, sich bei ihnen blicken zu lassen.

»Wir würden uns freuen«, log Scheuringer und machte, daß er davonkam.

Arnold verzog verächtlich die Lippen. Er bedauerte nicht, daß er diesem Kreis nicht mehr angehörte. Er hatte ihn einst für eine verschworene Männergemeinschaft gehalten. Heute wußte er, wie sehr er sich darin getäuscht hatte. Der Stammtisch im ›Goldenen Löwen‹ war nichts weiter als eine durch Konventionen, gesellschaftliche Vorurteile und geschäftliche Beziehungen lose zusammengeklammerte Gruppe von Herren, die jeder nur auf den Vorteil, den Gewinn und das Ansehen der eigenen Person ausgerichtet waren. Sie kannten weder Toleranz noch Mitleid.

»Papiertiger«, sagte er laut und wußte selber nicht, wo er diesen Begriff aufgeschnappt hatte.

Arnold war wieder ganz in seine Arbeit vertieft, als Egon Kasparek im Verkaufsraum erschien, Egon, der Schwager Leichtfuß und schwarzes Schaf der Familie, zehn Jahre jünger als Arnold und doch zu seinem Vorgesetzten avanciert, eine Tatsache, die er nie hervorstrich und die Arnold doch nicht vergessen konnte, denn der andere trug den weißen Kittel des gehobenen Personals.

Dieser Kittel, blütenweiß und leicht gestärkt, umflatterte ihn, vorne offen, und ließ einen hellgrauen Anzug, ein leuchtendblaues Hemd und eine kühn gemusterte Krawatte sehen. Egon mit dem blonden Bärtchen, dem blonden, leicht gewellten Haar und den sehr blauen Augen – Sabines Augen – wirkte schick, jung und unternehmungslustig, obwohl er selber Sorgen genug hatte.

Aber er besaß ein Talent, alles Mißgeschick an sich abgleiten zu lassen. Schon dies allein nahm Arnold ihm übel.

Egon Kasparek blieb einen Augenblick neben Arnold stehen und beobachtete ihn bei der Arbeit, während er mit dem Nagel seines rechten Zeigefingers über seinen kleinen Schnurrbart strich.

»Na?« fragte Arnold; er war nicht darauf aus, ein Lob zu hören, aber die schweigende Nähe machte ihn nervös.

»Sehr hübsch, ja…« Egon zögerte. »Nur … anscheinend hast du vergessen …«

»Was?« Schon stieg Arnold das Blut zu Kopf.

»Wir wollen doch die Fünf-Kilo-Trommeln loswerden… für die werben wir mit Sonderpreisen, die Zweier gehen sowieso.«

»Das weiß ich.«

»Ich dachte, du hättest es vergessen«, sagte Egon mit bemühter Freundlichkeit, »denn sie gehören natürlich auf die rechte Seite genau in Griffhöhe. Wir haben schon mehrmals darüber gesprochen.«

Arnold wußte, daß der Schwager recht hatte; es war Alf Scheuringers Auftauchen gewesen, das ihn aus dem Konzept gebracht hatte. Trotzdem verteidigte er sich. »Dann verrate mir mal, wie man die schweren Trommeln …«

»Indem man sie auf andere Trommeln stellt… unten davor von mir aus Packungen, aber obendrauf nichts, damit die Kunden die Trommeln unbehindert greifen können.«

»Danke für die Belehrung«, gab Arnold kalt zurück.

»Entschuldige bitte, aber ich muß dir das doch sagen …«

»Entschuldige dich nicht! Ich weiß längst, daß du ewig was an mir zu meckern hast! Das scheint ein Prinzip von dir zu sein!« Die Unterhaltung war bis zu diesem Punkt gedämpft geblieben und so unauffällig, daß weder Kunden noch Mitarbeiter aufmerksam geworden waren; jetzt erhob Arnold unwillkürlich die Stimme und begann zu schreien.

»Reg dich nicht auf!« mahnte Egon hastig.

»Du meinst, ich muß jede Beleidigung schlucken und …«

Egon fiel ihm ins Wort. »Wenn du dich schon streiten mußt, dann doch lieber in meinem Büro. Ich erwarte dich in zehn Minuten.« Er ließ ihn stehen.

Mit einer unbeherrschten Bewegung stieß Arnold den Stapel Waschmittel um, den er gerade so mühsam aufgebaut hatte. In dem Moment, als Trommeln und Packungen durcheinanderpurzelten, brach auch sein Zorn zusammen.

Er begriff, daß er wie ein unreifer Junge reagiert hatte, und diese Erkenntnis demütigte ihn mehr noch als Egons Tadel.

Als Arnold Miller später Egon Kaspareks Büro betrat, hatte er sich so weit beruhigt, daß er sich zu einer Entschuldigung aufraffte.

»Tut mir leid, Egon, du hattest vorhin natürlich recht. Ich weiß selber nicht, warum ich so sauer reagiert habe.«

Das Büro des Geschäftsführers war ein quadratisches, nicht eben großes Zimmer, das zwanzig Zentimeter höher als der Verkaufsraum lag. Von dem war es durch eine Glasscheibe, nur von innen durchsichtig, getrennt, so daß Egon ihn von seinem Schreibtisch aus übersehen konnte, soweit es die gefüllten Regale und hoch gestapelten Warenwände zuließen.

Auch jetzt schweifte Egons Blick unwillkürlich über seinen Machtbereich. »Setz dich doch«, sagte er trocken und wies seinem Schwager einen Stuhl an der Schmalseite seines Schreibtisches zu, »und bilde dir bloß nicht ein, daß ich einen Kniefall von dir erwarte.«

»Es ist zu blöd von mir, daß ich dauernd Mist baue!« Arnold zog sich den Stuhl zwischen die Beine.

»Darum geht es gar nicht.«

»Jetzt sag bloß …«

»Nein, wirklich nicht. Fehler macht jeder. Gerade hier bei uns. Du weißt, mit was für Leuten wir es größtenteils zu tun haben. Ausgebildete Fachkräfte sind kaum vorhanden. Du bist einer meiner Besten, alter Junge … wie könnte es auch anders sein?«

Arnold verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. »Einer deiner besten Hilfsarbeiter … auch schon etwas!«

»Ich habe alles versucht, dich in der Verwaltung unterzubekommen, oder etwa nicht?«

»Ja, ja, ich weiß, ich habe sehr viel Grund, dir dankbar zu sein!«

Egons hübsches Gesicht lief rot an. »Hör auf damit, Arnold! Bist du denn wirklich nicht mehr imstande, auch nur zwei Sätze mit mir zu wechseln, ohne daß du gleich aus der Rolle fällst?!«

»Ich habe mir meine Rolle schließlich nicht selber ausgesucht! Du hast mich hineingepreßt!«

»Arnold, bitte!« Egon hob beschwörend die Hände. »Das stimmt doch einfach nicht. Ich wußte von Anfang an, daß dies hier nicht das Wahre für dich sein könnte. Aber was Besseres konnte ich dir nicht bieten, und du warst heilfroh, bei mir unterschlüpfen zu können. Nachdem du dir drei Monate vergeblich die Hacken schiefgelaufen hattest.«

»Sehr edel von dir.«

»Nein, eben nicht!« Jetzt hob Egon die Stimme. »Ich habe nicht vergessen, daß ich dir verpflichtet bin! Das brauchst du mir gar nicht auf die Nase zu binden!«

Arnolds Hände umklammerten die Schreibtischkante, und er beugte sich vor. »Wenn du es wirklich weißt, warum trampelst du dann dauernd auf mir herum?«

»Aber davon kann doch gar keine Rede sein!« Egon stieß seinen Sessel zurück und sprang auf. »Herrgott noch mal, alter Junge, kannst du denn nicht wenigstens einmal versuchen, die Situation objektiv zu betrachten?! Ich bin dein Vorgesetzter, klar, daß dir das nicht paßt, aber so ist es nun mal, und wir beide können es nicht ändern. Du wirst mir also erlauben müssen, dir hin und wieder eine Anweisung zu geben und dich, wenn es nötig ist, auch mal auf einen Fehler aufmerksam zu machen.«

»Genau das tust du dauernd!«

»Stimmt ja gar nicht! Das kommt dir bloß so vor, Arnold, glaub mir doch. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Keinem anderen Mitarbeiter gegenüber lege ich mein Wort so auf die Goldwaage, wenn du nur ahntest, wie oft ich was runterschlucke, das eigentlich gesagt werden müßte … nur weil ich Angst habe, du könntest es in den falschen Hals kriegen.«

»Danke.« Arnolds Nasenflügel bebten. »Du bist die Feinfühligkeit in Person.«

»Und du bist eine wahre Mimose! Du kannst nicht den Schatten einer Kritik vertragen. Wenn das so weitergeht…«,Egon fuhr sich mit beiden Händen in sein gepflegtes Haar, »… werde ich noch wahnsinnig!«

»Soll das heißen, daß du mir kündigen willst?« Jetzt war auch Arnold aufgestanden.

»Wie könnte ich das denn?! Für was einen Schweinehund hältst du mich eigentlich?! Ich habe nicht vergessen, daß du es warst, der mich gerettet hat. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich im Kittchen gelandet.« Er wurde sich bewußt, wo er war und daß man womöglich aus den Nebenräumen mithören konnte, und dämpfte seine Stimme so sehr, daß er jetzt fast flüsterte. »Ich hätte nicht nur meine Stellung verloren. Die…« Er machte eine Kopfbewegung zur Decke hin, obwohl die Inhaber der Kette von Supermärkten, zu denen das »Zentrum« gehörte, gar nicht in Riesberg, sondern in Augsburg saßen, »…. hätten mich angezeigt, da kannst du Gift drauf nehmen. Ich hätte nicht nur meine Stellung verloren.«

Durch dieses offene Eingeständnis war Arnold der Wind aus den Segeln genommen; er schwieg.

»Aber du kannst nicht verlangen«, fuhr Egon in verändertem Ton fort, »daß ich dir das täglich wieder vorbete. Jawohl, ich stehe in deiner Schuld. Aber hier im Geschäft bist du mein Angestellter. Daran mußt du dich gewöhnen.«

»Ich versuche nichts anderes.«

»Arnold! Bitte! Mit ein bißchen mehr gutem Willen müßte es doch gehen.«

»Ich tue mein möglichstes.«

»Tu mehr. Sieh mal, du hast hier doch auch die Chance, dich raufzuarbeiten. Nicht in die Buchhaltung oder an die Kasse, aber irgendwas wird sich schon ergeben. Aber dazu mußt du mir die Gelegenheit geben, positive Berichte über dich abzufassen. Wie du dich bisher benommen hast, geht das nicht. Das ganze Haus merkt doch, daß wir verquer miteinander stehen. Jedes Lob, das ich über dich von mir gebe, muß unglaubwürdig klingen.«

Die Auseinandersetzung wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen, und fast gleichzeitig trat eine junge Frau in weißem Kittel ein, Barbara Ziem, die Hauptkassiererin. Sie blickte aus ihren grauen Augen, die durch einen dichten schwarzen Wimpernkranz besonderen Reiz gewannen, von einem der beiden Männer zum anderen. »Störe ich? Ich wollte nur…« Sie hielt die Kassette mit den Tageseinnahmen in beiden Händen.

»Ist es schon so spät?« Jetzt erst stellte Egon fest, daß sich der Verkaufsraum inzwischen geleert hatte; es irritierte ihn, daß er Zeit und Ort vergessen hatte.

»Ich gehe schon«, sagte Arnold rasch, »ich will die Trommeln noch…«

»Nein, laß das«, fiel Egon ihm ins Wort und verbesserte sich: »Laß das, bitte! Es hat Zeit bis morgen früh. Fahr schon nach Hause. Ich komme gleich nach.«

»Kann ich nichts mehr für dich tun?«

»Danke. Ich schließe schon selber ab.«

Arnold sagte Barbara Ziem gute Nacht und ging.

Sie blickte Egon an. »Hat es Ärger gegeben?«

»Halb so wild!« behauptete er ausweichend und fuhr sich glättend über das Haar. Er schloß die Tür hinter ihr ab. »Wieviel sind’s denn?«

»Siebzehntausendfünfhundertfünfundvierzig«, antwortete sie, ohne nachdenken zu müssen.

»Ziemlich schwach.«

»Ja ja. An einem ganz gewöhnlichen Wochentag, noch dazu Ende des Monats.«

Egon holte einen Bankbehälter aus seinem Schreibtisch, Barbara Ziem schloß die Kassette auf, und er tat das Geld in den Stahlzylinder. Wie immer, seit damals, als er eine Tageseinnahme für seine kranke Frau unterschlagen hatte, zitterten seine Hände, während er die Scheine bündelte, und er verwünschte seine Schwäche. Zum tausendsten Mal bereute er das Abenteuer, auf das er sich eingelassen und das ihm nichts als Unglück gebracht hatte, wenn ihm auch durch Arnolds Eingreifen das Schlimmste erspart geblieben war. Dafür aber hatte er jetzt den Schwager auf dem Hals, und seiner Frau hatte er nicht helfen können; sie hatte das Schicksal ereilt, vor dem er sie hatte bewahren wollen. Rosy Kasparek saß in der Nervenheilanstalt Haar, und es war nicht abzusehen, wann und ob er sie je wieder nach Hause holen durfte.

Bei diesen düsteren Gedanken verlor Egons hübsches Gesicht allen jungenhaften Charme; er wirkte alt und verbraucht.

Barbara Ziem deutete es auf ihre Weise. »Herr Miller ist eine schwere Belastung für Sie. Wir bewundern Sie alle, daß Sie das auf sich genommen haben.«

»Er ist mein Schwager.«

»Ja. Aber so viel Familiensinn findet man selten. Wenn einer aus der Reihe tanzt, wird er gewöhnlich einfach abgeschrieben. Es ist doch so.« Sie blickte Egon erwartungsvoll an.

Aber der sagte nichts; er war ganz darauf konzentriert, seine Hände unter Kontrolle zu halten.

»Andererseits«, fuhr Barbara Ziem fort, »kann man natürlich auch verstehen, daß er verbittert ist. Früher Buchhalter, und jetzt das! Das ist schon ein Absturz. Ich möchte nicht wissen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich von heute auf morgen als Putzfrau arbeiten müßte. Und Männer sind in dem Punkt ja noch viel empfindlicher.«

»Es ist nett, daß Sie sich Gedanken über meinen Schwager machen.«

»Daran ist doch nichts«, wehrte sie ab, »ich bin nicht halb so gut wie Sie, Herr Kasparek. Nein, ehrlich, ich weiß nicht, ob ich mich für so jemanden einsetzen würde, der… na ja… sich an fremdem Geld vergriffen hat.«

Jetzt sah er sie an. »Doch, das täten Sie sicher, Barbara, wenn Ihnen derjenige etwas bedeuten würde!« Unter ihrem klaren Blick hatte er das Gefühl, eine Erklärung abgeben zu müssen. »Und dann… ich bin meinem Schwager ja sehr verpflichtet!« Einen Augenblick lang war er in Versuchung, ihf alles zu erzählen, hielt sidi dann aber doch zurück. »Meine Schwester versorgt meine beiden kleinen Söhne«, erklärte er nur.

Sie nahm das Stichwort auf. »Waren Sie wieder einmal bei Ihrer Frau?«

»Ja, und es geht ihr gut. Ich meine… sie ist ganz vernünftig. Gerade deshalb ist es schrecklich für sie … unter all diesen Irren.«

Er verschloß den Stahlbehälter und versenkte ihn in seiner großen Aktentasche.

»Sicher darf sie bald wieder raus«, meinte Barbara Ziem tröstend.

»Das ist schwierig, weil sie doch auf richterliche Anweisung hineingekommen ist. Und die Ärzte sind furchtbar umständlich.«

»Es wird schon wieder werden.«

Er zog sich seinen weißen Kittel aus. »Ich weiß gar nicht, wie ich dazu komme, Sie mit all meinen Sorgen zu belasten, Barbara!«

Sie lächelte und zeigte gesunde, ein wenig unregelmäßige Zähne. »Das kann ich Ihnen verraten. Ich habe Sie ausgefragt. Ich bin eine schrecklich neugierige Person.«

»Nein«, widersprach er ernsthaft, »machen Sie sich nicht schlechter als Sie sind. Sie haben ein mitfühlendes Herz.«

Plötzlich spürte er die Sympathie, die sie ihm entgegenbrachte, und sie tat ihm wohl. Er wäre gern noch mit ihr zusammengeblieben und war nahe daran, sie darum zu bitten. Aber dann verzichtete er doch.

Er wußte, sie würde ihm keine Absage erteilen. Doch er dachte an Sabine, die mit dem Abendessen auf ihn wartete, und an die Zwillinge, die er den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte. Vor allem wurde ihm klar, daß sein Leben kompliziert genug war, auch ohne daß er einer jungen Frau Anlaß gab, sich Hoffnungen zu machen, die er niemals würde erfüllen können.

Deshalb wandte er sich rasch ab und schloß die Tür auf. »Gute Nacht, Fräulein Ziem… bis morgen dann!«

Wenn sie enttäuscht war, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie verabschiedete sich mit einem leichten Nicken und einem unbefangenen Lächeln.

Als er, allein geblieben, seinen Regenmantel über den Arm nahm, schien es ihm, als hätte er es sich nur eingebildet, daß sie ihm mehr als flüchtige Sympathie entgegenbrachte.

Sabine war dabei, auf der Loggia den Tisch für das Abendessen zu decken, als ein Auto vorfuhr. Die Zwillinge, die ihr halfen, hörten es auch; sie ließen Messer und Gabeln fallen und jagte um die Ecke.

»Vati!« schrien sie. »Vati!«

Sabine verhielt in der Bewegung, einen Teller in der Hand, und lauschte. Die Garagentür öffnete sich quietschend. Sie begriff, daß Arnold nach Hause gekommen war, legte den Teller auf und eilte den Jungen nach.

Wie schon oft ärgerte sie sich darüber, daß ihr Mann sich von seinem Opel Kadett trotz der Zwangslage, in die sie geraten waren, nicht trennen mochte. Dabei brauchte er praktisch gar kein Auto. Egon würde sich, wenn man ihn darum bat, sicher gern bereit erklären, ihn morgens abzuholen, und abends konnten sie ohnedies zusammen fahren. Der Verzicht auf das Auto hätte eine Sparmaßnahme bedeutet, die Torsten, der sie großmütig unterstützte, entlastet hätte. Sie nahm das Geld ihres Sohnes nur ungern an.

Aber für Arnold bedeutete das Auto mehr als ein Beförderungsmittel. Es aufgeben zu müssen, hätte ihm den letzten Schlag versetzt. Sabine begriff das nicht nur, sondern konnte es auch nachfühlen. Dennoch fand sie seine Einstellung unrealistisch, ja, kindisch.

Als sie den Weg erreichte, der am Haus vorbeiführte und Vorund Hintergarten miteinander verband, kam Arnold ihr von der Garage her entgegen.

Die Jungen bremsten wie scheuende Füllen ihren Lauf, als würden sie ihn erst jetzt erkennen. Dabei war Sabine sicher, daß auch ihnen das Geräusch der Garagentür aufgefallen war; die Garage bot nur Raum für ein Auto, und Egon, ihr Vater, benutzte sie nie. Aber sie wollten sich die Gelegenheit, ihren Onkel zu ärgern, nicht entgehen lassen.

»Ist gar nicht Vati«, erklärte Andy mit übertriebener Enttäuschung.

»Nur Onkel Anno«, fügte Chris im gleichen Ton hinzu.

»Was ist das für eine Begrüßung?!« schimpfte Arnold. »Wollt ihr mir nicht anständig guten Abend sagen?!«

»Guten Abend, Onkel Anno«, sagte Chris steif, mit hoheitsvoller Miene.

»Guten Abend, Onkel Anno«, echote Andy und vollführte eine formvollendete Verbeugung.

Dann wandten sich die beiden kleinen Burschen um und verschwanden gemessenen Schrittes um die Ecke.

Sabine versuchte, sich ein Lächeln zu verbeißen. »Ach, Arnold, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst dich nicht immer provozieren lassen!«

»Erzieh sie besser!«

Sabine trat auf ihren Mann zu und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Ich geb’ mir alle Mühe, aber es ist nicht einfach.«

»Wir hätten sie uns nie aufhalsen lassen dürfen!«

Sabine machte große Augen. »Ist das dein Ernst?«

»Sieh mich nicht an, als wäre ich ein Ungeheuer, nur weil ich nicht daran denke, mich von dieser Rabenbrut noch länger schikanieren zu lassen!«

Sie hängte sich bei ihm ein. »Sie sind doch gar nicht so schlimm, Arnold!«

»Mir langt’s. Auch daß dein Bruder sich von dir verpäppeln läßt, paßt mir nicht. Ich werde ihm bei nächster Gelegenheit nahelegen, sich eine andere Lösung für seine persönlichen Probleme auszudenken.«

»Und wovon sollen wir dann leben?« rutschte es ihr heraus; als er zusammenzuckte, fügte sie rasch hinzu: »So habe ich es nicht gemeint, Arnold … nur, du weißt doch selber, daß du im Moment nicht genug verdienst, all unseren Verpflichtungen nachzukommen. Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, bestimmt nicht, bloß müssen wir doch den Tatsachen ins Gesicht sehen. Ich könnte mich natürlich wieder nach einer Stellung als Sprechstundenhilfe umsehen, aber was würde dann aus Katja?«

»Bin ich für die etwa auch verantwortlich?«

»Ich weiß es nicht. In gewissem Sinne sicher doch. Sie ist Ilonas Baby. Und wir haben sie doch lieb, nicht wahr?«

Sie sah ihn so flehend an, daß er ihr nicht widersprechen mochte und nur etwas Unverständliches vor sich hin brummte. Sie nahm es als Zustimmung.

»Siehst du, ich wußte es ja!« rief sie und drückte seinen Arm. »Ich verstehe auch, daß dir die ganze Situation auf die Nerven geht. Aber es hat keinen Sinn, wenn wir uns jetzt auch noch gegenseitig fertigmachen. Wir müssen Zusammenhalten! Eines Tages werden wir wieder obenauf sein.«

»Wie den?« fragte er freudlos.

»Weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, daß es im Leben immer raufund runtergeht. Und momentan sind wir eben ziemlich unten. Wenn es auch noch viel schlimmer hätte kommen können. Irgendwie, das fühle ich einfach, wird sich alles wieder zum Guten wenden.«

»Wenn ich deinen Optimismus bloß teilen könnte.«

»Versuch’s wenigstens!«

Sie waren an der Seitenwand des Hauses entlanggegangen. Sabine blieb stehen und hielt auch ihren Mann zurück. »Ich habe auch so meine Kümmernisse«, sagte sie, »sieh dir nur mal meinen Garten an! Vor einem Jahr war das noch ein kleines Paradies! Und jetzt? Zwei Rosenstöcke sind eingegangen. Die anderen sind voll Blattläuse. Selbst an den Beerensträuchern habe ich nichts tun können. Es fehlt mir einfach die Zeit dazu. Und es wäre auch ziemlich sinnlos. Mit zwei wilden kleinen Buben im Haus läßt sich ein Garten nicht in Ordnung halten.« Sie fürchtete, etwas Falsches gesagt zu haben, und fügte hastig hinzu: »Ich bin ihnen nicht böse deswegen. Man darf nicht vergessen, daß Rosy bestimmt schon lange Zeit sonderbar war, bevor die Krankheit richtig zum Ausbruch kam. Sie hat ja zum Schluß kaum noch gewagt, das Haus zu verlassen. So waren Chris und Andy mit ihr zusammen eingesperrt. In dieser Altbauwohnung mitten in der Stadt. Kein Wunder, daß sie jetzt ihre Freiheit genießen. Der ganze Garten ist für sie nur ein großer Spielplatz.« Sie seufzte leicht. »Blumen sind auch gar nicht so wichtig, nicht halb so wichtig wie Kinder jedenfalls. Trotzdem wäre ich froh, wenn sie endlich ihre Spielecke hätten. Dann könnte ich sie vielleicht doch davon abhalten, in den Beeten herumzubuddeln und Blumenzwiebeln auszugraben.« Sie sah ihn erwartungsvoll von der Seite an.

Doch er griff das Stichwort nicht auf, sondern zog sie nur ungeduldig zur Loggia hin; sein grüblerischer Gesichtsausdruck verriet ihr nicht einmal, ob er ihr überhaupt zugehört hatte.

Die Zwillinge verteilten auf dem Tisch die Servietten. Sie hatten dabei die Mienen verfolgter Unschuld aufgesetzt und sahen mit ihren blauen Augen und den dunkelblonden Pagenköpfen wie kleine Engel aus.

Obwohl Sabine sich nicht von ihnen täuschen ließ, empfand sie doch Rührung bei ihrem Anblick. Bei all ihrer Frechheit waren sie doch so hilflos und so verletzlich. Mehr als ein halbes Jahr war es her, daß man ihre Mutter fortgebracht hatte, und seitdem hatten sie sie nicht mehr gesehen. Sie fragten nie nach ihr, und gerade das schien Sabine bedenklich. Wie sehr mochten sie sie im tiefsten Inneren vermissen!

Als sie für sich und Arnold einen Aperitif aus dem Eisschrank in der Küche holte, mixte sie für jeden der Jungen ein hohes Glas mit Himbeersaft und tat zwei Kunststoffhalme dazu. Sie brachte ihnen die Erfrischung, und sie bedankten sich ernst und artig.

Arnold hatte die Jacke ausgezogen, den Hemdkragen gelockert und sich in einem der Liegestühle ausgestreckt.

Sabine setzte sich auf einen Korbstuhl neben ihn und wartete, bis er getrunken hatte und seine Züge sich entspannten. Dann wagte sie einen neuen Vorstoß. Diesmal ging sie direkter vor.

»Es ist ein schöner Abend, Arnold!« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Im Fernsehen ist auch nichts von Bedeutung. Könntest du nicht heute das Klettergestell einbetonieren?«

»Ich? Wieso ich?«

Sie lächelte ihn bittend an. »Weil du es am besten kannst, Lieber!«

»Das ist doch kein Grund, mich auszunutzen! Warum fragst du nicht Egon darum? Schließlich sind es seine Rangen. Oder wende dich an Sven. Der Junge könnte auch ruhig mal mit zupacken.«

»Er strengt sich furchtbar für die Schule an«, verteidigte Sabine ihren Sohn.

»So? Tut er das? Hoffentlich macht sich das auf seinem nächsten Zeugnis bemerkbar.«

»Er wird sicher versetzt!« behauptete sie mit einer Überzeugungskraft, die nicht ganz echt war. »Er gibt sich doch so viel Mühe!«

Er blickte sie zweifelnd an. »So? Findest du? Wenn du mich fragst, der Junge ist ein Waschlappen. Er hat von wirklicher Arbeit überhaupt keine Ahnung. Dumm ist er ja nicht, das wissen wir beide. Aber er hat keinen Mumm in den Knochen. Sobald er sich einmal wirklich anstrengen muß, klappt er zusammen.«

»Du übertreibst«, sagte Sabine und merkte selber, daß es schwächlich klang; sie wollte ihren Mann nicht reizen und andererseits auch nichts auf den Jungen kommen lassen.

Arnold nahm einen Schluck und setzte das Glas hart auf den mit bunten Steinfliesen ausgelegten Boden der Loggia. »Er ist ein Muttersöhnchen.«

»Das mußte ja kommen.« Sabine konnte und mochte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Jetzt sag bloß noch, daß ich an seinem Versagen schuld bin!«

Sie blickten sich an; beide sekundenlang erfüllt von kalter Feindseligkeit. Es war Arnold, der den Blick als erster senkte. Er war einsichtig genug, sich zuzugeben, daß die Betrugsaffäre, in die er selber verwickelt gewesen war, auch keinen guten Einfluß auf die Entwicklung seines jüngsten Sohnes hatte haben können, der noch mitten in den Pubertätsjahren steckte. Er schwieg aus Angst, sie könnte es ihm vorhalten, und litt darunter, daß er nicht auftrumpfen konnte.

Sabine ahnte, was in ihm vorging, und ihre Stimmung schlug um. »Ich glaube, es gibt gar keine Erziehung ohne Fehler«, meinte sie versöhnlich, »deshalb hat es keinen Zweck, einen Sündenbock zu suchen. Er hat sich ja auch schon gebessert, wirklich. Er geht abends überhaupt nicht mehr weg, ist dir das nicht aufgefallen? Das ist doch bestimmt ein gutes Zeichen!«

»Es würde ihm aber trotzdem nichts schaden, wenn er sich auch mal körperlich betätigen würde.«

»Du hast recht.« Sabine stand auf. »Ich werde ihn darum bitten.«

»Bitten? Seit wann werden Kinder um Gefälligkeiten gebeten?! Befiehl es ihm!«

Sie strich sich mit beiden Händen den Rock ihres hellblauen Hemdblusenkleides glatt. »Er ist kein Kind mehr, Arnold.« Sie seufzte.

Die Zwillinge, die schweigend und lauschend ihre Gläser geleert hatten, wurden lebendig.

»Nicht traurig sein, Tante Biene!« Chris schmiegte sich an sie. »Wir werden dir helfen!«

»Ja, wir werden das Gestell einbottenieren!« In seinem Eifer sprach Andy das fremde Wort falsch aus. »Wir machen das schon!«

»Das ist sehr lieb von euch.« Sabine strich ihnen über die Köpfe. »Aber dazu seid ihr noch ein bißchen zu klein. Und außerdem ist es auch schon zu spät. Ihr müßt gleich nach dem Essen in die Falle.«

»Dann machen wir es morgen!« erklärte Andy unerschüttert.

»Wenn ich niemand anderen finde, werde ich morgen vielleicht wirklich auf eure Hilfe angewiesen sein. Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als es selber zu machen.«

»Mit uns!« rief Andy begeistert.

»Au ja!« schrie Chris und hopste auf und nieder.

»Wann gibt’s endlich was zu essen?« fragte Arnold und schlug die Tageszeitung auf.

»Es ist alles fertig. Aber ich denke doch, wir warten, bis Egon kommt. Oder hat er dir gesagt, daß es bei ihm später wird?«

Arnold brummte etwas Unverständliches als Antwort.

Sabine stellte die leeren Gläser auf dem Tablett zusammen. Sie wollte gerade damit ins Haus hinein, als Sven auf der Schwelle erschien. Er hatte sich umgezogen, trug saubere Jeans und ein buntes Hemd. Sein Gesicht war frisch gewaschen, und er hatte sich das lange, schwarze Haar sorgfältig hinter die Ohren gekämmt.

Sie konnte sich mit seinem Anblick immer noch nicht befreunden, aber sie erkannte an, daß er wenigstens versucht hatte, seine Erscheinung den Wünschen der Eltern anzupassen.

»Hallo, da bist du ja!« Ihr Lächeln, das ermutigend wirken sollte, fiel etwas verkrampft aus. »Hunger?«

Sven lehnte sich mit dem Rücken an den Türrahmen. »Nö. Eigentlich nicht.«

Arnold ließ die Zeitung sinken und sah ihn an. »Guten Abend!« sagte er in einem Ton, der wie ein Vorwurf klang.

Svens bräunliches Gesicht überzog sich mit Röte. »Guten Abend, Vater.«

»Mußt du dich denn so hinflegeln? Kannst du nicht einmal mehr auf zwei Beinen stehen?«

Sabine wollte schlichten. »Aber, Arnold …«

Sven winkte ab. »Schon gut, Biene.« Er ging an den Eltern vorbei zum Tisch und tat so, als wenn er die Gedecke überprüfen wollte; er wandte ihnen jetzt den Rücken zu, auf den seine schwarze Mähne, die er sich, um keinen Anstoß zu erregen, zurückgebürstet hatte, lang herunterhing.

»Da du dich anscheinend nicht entschließen kannst, dir das Haar schneiden zu lassen«, sagte sein Vater, »habe ich einen anderen Vorschlag: Mach dir einen Pferdeschwanz!«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, erwiderte Sven aufreizend gleichgültig, »aber vielleicht ist es gar keine schlechte Idee. Ich werd’s mir überlegen.«.

Arnold warf die Zeitung zu Boden und wollte aufspringen, doch er kam nicht so schnell aus dem Liegestuhl hoch, wie er es wollte. »Jetzt habe ich aber genug!« schrie er.

Andy und Chris bauten sich wie die Verteidiger einer Fußballmannschaft beim Elfmeter vor Sven auf. »Hau ihn nicht!« schrien sie. »Man darf Kinder nicht schlagen!« –»Svens Haare sind schön!« – »Wie bei ein’m Indianer!«

»Seid still!« wies Sabine sie zurecht. »Bleib sitzen, Arnold! Ihr seid schrecklich… alle zusammen schrecklich! Könnt ihr nicht einmal fünf Minuten Frieden halten?!«

Das Baby war von dem Lärm erwacht und fing an zu schreien. Sabine nahm es aus dem Kinderwagen und schaukelte es auf den Armen, um es zu beruhigen: »Weine nicht, Süße! Das sind nur die dummen Männer, die soviel Krach machen. Die sind nicht so schlimm wie sie tun. Du wirst dich daran gewöhnen müssen. Aber jetzt bringe ich dich ganz schnell ins Haus und stecke dich in dein Heiabettchen.« Sie sah auf. »Bringst du die Gläser in die Küche, Sven? Und nimmst den Auflauf aus dem Ofen?«

Arnold hatte sich wieder in seinen Liegestuhl sinken lassen. »Ich dachte, du wolltest Sven was fragen«, brummte er und hob die Zeitung auf.

Sabine hätte das Thema am liebsten nicht mehr zur Sprache gebracht, aber sie sah keine Möglichkeit auszuweichen. »Ach ja, Sven«, sagte sie, »sei so lieb und zementiere nachher das Klettergestell für die Jungens ein.«

Sven runzelte die Stirn. »Wieso ich?«

»Wieso du nicht? Es ist doch eine passende Beschäftigung für einen großen Jungen.«

»Aber was geht mich das Klettergestell für die Kröten an? Ich habe auch nie eins gehabt.«

»Aber, Sven, das ist doch kein Standpunkt!«

»Finde ich doch. Und außerdem kann ich gar nicht zementieren.«

»Dann wird es höchste Zeit, daß du es lernst«, ließ Arnold sich hinter seiner Zeitung her vernehmen, »denn wenn kein Wunder geschieht, dann wirst du ja wohl einen praktischen Beruf erlernen müssen, und da scheint mir Maurer durchaus das angemessene!«

»Stein auf Stein… Stein auf Stein«, sang Andy.

»Immer noch besser ein guter Maurer als ein…« Sven sprach nicht weiter. »Gescheiterter Buchhalter hatte er sagen wollen, aber das traute er sich denn doch nicht.

»… Häuschen wird bald fertig sein!«

Aber Arnold hatte auch so begriffen. »Werd überhaupt mal was!« brüllte er. »Vorläufig reicht es bei dir ja nicht einmal zum Straßenkehrer!«

Das Baby begann wieder zu plärren.

Plötzlich verlor Sabine die Geduld. »Wißt ihr, wie ich euch finde?« rief sie wild. »Zum Kotzen, daß ihr es nur wißt … einen wie den anderen… zum Kotzen!«

Sie stürmte ins Haus, und heiße Tränen fielen auf das schreiende Kind; sie fühlte sich am Ende ihrer Kräfte.

Nachher wurde es dann doch noch ein harmonischer Abend. Der hemmungslose Ausbruch hatte Sabine wohlgetan, und Vater und Sohn, die eine solche Reaktion von ihr nicht gewohnt waren, schockrtig zur Besinnung gebracht. Selbst die Zwillinge waren beeindruckt und zeigten sich beim Abendessen von ihrer besten Seite.

Auch Egon merkte an dem übervorsichtigen Ton, der am Familientisch herrschte, wie auch an Sabines geröteten Augen, daß es eine Szene gegeben hatte. Er erbot sich aus eigenem Antrieb, das Klettergestell in den Boden zu lassen. Sven zeigte guten Willen und versprach zu helfen. Die Zwillinge baten so herzzerreißend, wenigstens zusehen zu dürfen, daß Sabine ihnen ausnahmsweise erlaubte, eine Stunde länger aufzubleiben als gewöhnlich. Obwohl sie, um ihren Vater nicht nur am Wochenende zu Gesicht zu bekommen, ohnehin später ins Bett zu gehen pflegten, als es in ihrem Alter üblich war; zum Ausgleich hatten sie sich an einen ausgedehnten Nachmittagsschlaf gewöhnt.

Als Sabine den Tisch abdeckte, machten sich Sven und Egon ans Werk. Arnold verschanzte sich wieder hinter die Zeitung und gab vor, die beiden nicht zu beachten. Aber sie stellten sich derart ungeschickt an, daß er es bald nicht mehr aushielt und ihnen erst, wie nebenbei, kurze Anweisungen zurief, dann aber doch aufsprang, ihnen zeigte, wie es zu machen war, und endlich selber zugriff.

Die Anerkennung Egons und Svens, die hingerissene Bewunderung der Zwillinge, ja, die Arbeit selber gab ihm Auftrieb. Dies war etwas, was er besser verstand als Egon, und seine echte Überlegenheit dem jüngeren Mann gegenüber erweckte Großmut in ihm. »So, das haut jetzt hin!« rief er, als die Halterungen in der noch nassen Masse standen. »Ich schlage vor, jetzt trinken wir eine Flasche Wein zusammen. Die haben wir uns redlich verdient, was, Egon? Du hast lange nicht mehr so geschuftet, möchte ich wetten!«

»Au ja!« riefen die Zwillinge. »Wir auch!« – »Wir auch!«

»Nichts da.« Sabine fing die beiden ein. »Für euch ist jetzt Zapfenstreich! Sagt gute Nacht!« Da die kleinen Jungen redlich müde waren, ließen sie sich widerstandslos abführen.

»Ich möchte auch lieber gehen«, sagte Sven sehr höflich, »wenn es euch recht ist. Ich muß noch lernen.«

»Lauf nur!« Arnold klopfte ihm auf die Schulter. »Vom Lernen wollen wir dich bestimmt nicht abhalten! Aber du bleibst doch noch, Egon?«

»Mit Vergnügen!«

»Wein ist im Eisschrank!« rief Sabine vom Gartenzimmer her, das zum Spiel- und Schlafraum für Andy und Christian eingerichtet worden war. »Ich hol’ ihn euch gleich!«

»Mach’ich schon selber!« gab Arnold gut gelaunt zurück.

Er gab Sabine im Vorbeigehen einen freundlichen kleinen Klaps.

Als er, die Flasche schon unter dem Arm, drei Gläser in der Hand, von der Küche her wieder in die Diele trat, hörte er den Schlüssel in der Haustür und blieb stehen.

»Du kommst gerade recht«, begrüßte er seine Schwester Ethel, »wir wollen ein Glas Wein zusammen trinken.«

Ethel, Redakteurin bei der Modezeitschrift »Der neue Stil«, wirkte, wie immer, ausgesprochen elegant, gepflegt und frisch, als hätte sie gerade erst das Haus verlassen und nicht bereits einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Die große, rechteckige Brille verbarg die ersten, zarten Fältchen unter ihren Augen und ließ sie jünger erscheinen als sie war. Niemand hätte sie auf ihr wirkliches Alter, dreiunddreißig Jahre, geschätzt.

»Was ist los?« fragte sie und streifte ihre weißen Waschlederhandschuhe ab. »Gibt’s einen Grund zum Feiern?«

»Wir haben das Klettergestell für die Jungen fundamentiert.«

»Dolle Leistung. Herzlichen Glückwunsch.«

»Du kommst doch raus? Es ist ein so schöner Abend.«

»Klar. Wenn du mich so nett bittest, da kann ich nicht widerstehen. Obwohl mir ein Whisky, ehrlich gestanden, lieber wäre.«

Arnold zog die Flasche unter seinem Arm vor und ließ Ethel einen Blick auf das Etikett tun. »Ein erstklassiges Tröpfchen!«

»Aus dem Supermarkt?« fragte sie skeptisch.

»Was dachtest du? Aber der ist wirklich gut.«

»Ich glaub’s dir ja, Bruder.«

»Dann hol dir ein Glas und komm.« Er ging auf die Loggia zurück.

Ethel wurde im Gartenzimmer erst noch von den beiden Jungen aufgehalten, die Sabine gerade in die Betten gesteckt hatte.

»Onkel Anno hat botteniert«, erzählte Andy wichtig.

Chris fügte stolz hinzu: »Und wir haben gehelft!«

Ethel lachte. »Na, dann wundere ich mich, daß er trotzdem fertig geworden ist!« Sie richtete sich auf und hielt Andy, der im oberen der beiden Betten schlief, den Mund entgegen.

Der Junge gab ihr einen schmatzenden Kuß und hielt sie fest. »Zähl uns eine Geschichte!«

Ethel löste sich aus seinem Griff. »Kommt ja nicht in Frage. Wißt ihr, wie spät es ist? Jetzt wird geschlafen.« Sie bückte sich und küßte Christian. »Schlaft gut, ihr Schlingel! Wenn ich morgen früher nach Hause komm’, kriegt ihr eure Geschichte!«

Sabine umarmte die Schwägerin herzlich, und Arm in Arm traten sie in den Garten.

Arnold hatte die Flasche inzwischen entkorkt und die Gläser gefüllt. Egon zündete die Windlichter an und drehte sich, als Ethel ihn begrüßte, zu ihr um.

Ethel hielt Arnold ihr Glas hin. »Herrje, bin ich ab! Das war wieder mal eine Affenhitze in der Redaktion. Und geschuftet habe ich wie die Wahnsinnige.«

»Sieht man dir aber nicht an«, sagte Arnold.

»Nein, wirklich nicht«, fügte Sabine mit einer Bewunderung hinzu, die nicht ganz ohne Neid war, »du siehst fabelhaft aus. Wie machst du das bloß?«

»Ich kann dich immer bloß anstarren«, behauptete Egon.

»Ach, hört auf damit.« Ethel stellte ihr Glas auf den Tisch. »Ich werd’ ja ganz verlegen.« Sie legte ihre weiße Lederhandtasche ab und zog sich die Jacke ihres zartrosa Kostüms aus, zu dessen Rock sie einen rosa-weiß-grau geringelten ärmellosen Pulli trug – die beiden Rosas genau aufeinander abgestimmt.

»Soll ich dir nicht etwas zu essen machen?« fragte Sabine.

Ethel schüttelte sich mit einer Kopfbewegung ihr glänzendschwarzes, zu einer Pagenfrisur gelegtes Haar zurecht. »Nein, danke, Liebes, wirklich nicht! Vielleicht eß ich später oben noch was. Aber jetzt möchte ich mich erst mal entspannen.« Sie ließ sich in einem der Korbsessel nieder und streckte die schlanken Beine von sich. »Trinken wir?«

Sie nahmen alle einen Schluck.