Blindflug - Dick Francis - E-Book

Blindflug E-Book

Dick Francis

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Beschreibung

Billy Watkins und Henry Grey sind sich spinnefeind. Nur weil Henry ein Lord ist? Dabei steht er seinen Mann, auch als er sich in den Netzen von Verbrechern und Spionen wiederfindet: Auf einer seiner Flugreisen macht er eine unvermutete Entdeckung, die ihn in tödliche Gefahr bringt. Der Weg zur Polizei ist ihm versperrt, denn seine Freundin, die reizende Gabriella, ist in den Händen seiner skrupellosen Gegner..."

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Dick Francis

Blindflug

Roman

Aus dem Englischen von Tony Westermayr

Diogenes

{5}1

Du bist ein verzogener, launischer Bastard«, sagte meine Schwester und trieb mich dadurch zu einem Entschluß, der mich beinahe das Leben gekostet hätte.

Der Gedanke an ihr wütendes, verzerrtes Gesicht verfolgte mich auf dem Weg zum Bahnhof, in das muffige Abteil voll montäglicher, düsterer Stimmung und halbgelöster Kreuzworträtsel, mit durch ganz London in mein ungeliebtes Büro.

Bastard war ich keiner; nicht bei Eltern, die ein Bischof zusammengetan hatte, während der halbe Adel Englands in den Betbänken saß. Und wenn verzogen zutraf, dann durch ihre Schuld, durch ihr Vermächtnis an einen Erben, der reichlich spät gekommen war, nachdem fünf Schwestern vor ihm das Licht der Welt erblickt hatten. Mein gebrechlicher sechsundachtzigjähriger Vater sah mich vorwiegend als Mittel, einen verhaßten Vetter um den Grafentitel zu bringen, den dieser heiß begehrte. Mein Vater freute sich über mein Vorhandensein. Für ihn blieb ich ein Symbol.

Meine Mutter war bei meiner Geburt siebenundvierzig gewesen und war jetzt dreiundsiebzig. Mit einem Verstand, der buchstäblich um die Zeit des ersten Weltkriegs stehengeblieben war, war sie, seit ich überhaupt denken konnte, völlig altmodisch. Exzentrisch nannte man das in ihrem Bekanntenkreis höflich. Jedenfalls lernte ich schon sehr früh, daß Alter mit Weisheit nichts zu tun hat.

Da meine Eltern zu alt waren, um ein kleines Kind in der Nähe haben zu wollen, wurde ich in einiger Distanz aufgezogen und geschult – Kindermädchen, Internat, Eton. Die Länge der {6}Schulferien war sogar in meinem Beisein bedauert worden. Unsere Beziehung war beherrscht von Höflichkeit und Pflichtbewußtsein, nicht von Zuneigung. Sie schienen gar nicht zu erwarten, daß ich sie liebte, und das tat ich auch nicht. Ich liebte niemanden. Mir fehlte die Übung.

Wie üblich, war ich als erster im Büro. Ich ließ mir vom Hausmeister den Schlüssel geben, schlenderte gemächlich durch das hallende Vestibül, stieg die Steintreppe hinauf, marschierte durch einen engen, dunklen Korridor und schloß an seinem Ende die schwere, braune Eingangstür zur Anglia-Agentur, Export und Import von Vollblutpferden, auf. Drinnen wurde es dann, wie in den meisten dieser alten Londoner Kaninchenbauten von Bürohäusern, weniger kasernenmäßig, sondern sogar sehr komfortabel. Die Zimmer links und rechts vom Durchgang waren mit Teppichen ausgelegt und weiß gestrichen, und auf ihren Türen stand in säuberlichem Schwarz der Name des jeweiligen Inhabers zu lesen. Die wuchtigen Schreibtische waren aus dunklem Holz gearbeitet; an den Wänden hingen Jagdstiche. Zu diesem Erfolgsgipfel war ich allerdings noch nicht aufgestiegen.

Der Raum, in dem ich, mit Unterbrechungen, seit fast sechs Jahren arbeitete, lag am anderen Ende, hinter dem Archiv und der Teeküche. Auf der halboffenen Tür stand ›Transport‹. Ich schob sie auf. Seit Freitag hatte sich nichts verändert. Die drei Schreibtische sahen aus wie immer: an Christophers Platz hohe, unordentliche Stapel von Unterlagen, beschwert durch Kricketbälle; bei Maggie hing der Schreibmaschinendeckel schief, daneben lag zerknülltes Papier, aus einer Vase mit verwelkten Chrysanthemen fielen Blütenblätter in eine unausgespülte Teetasse. Mein Schreibtisch war aufgeräumt.

Ich hängte meinen Mantel über einen Kleiderbügel, zog der Reihe nach die Schubladen heraus und ordnete ohne Sinn und Zweck den schon säuberlich verstauten Inhalt. Ich stellte fest, daß es nach meiner genaugehenden Uhr acht Minuten vor neun war. {7}Die Bürouhr ging also zwei Minuten nach. Anschließend starrte ich die blaßgrüne Wand an.

Ein verzogener, launischer Bastard, hatte meine Schwester gesagt.

Das paßte mir gar nicht. Ich war nicht launisch, versicherte ich mir. Ganz bestimmt nicht. Aber meinen Gedanken fehlte die Überzeugungskraft. Ich beschloß, entgegen der Tradition, Maggie nicht daran zu erinnern, daß mich ihre Schlamperei ärgerte.

Christopher und Maggie erschienen gemeinsam und lachend zehn Minuten nach neun.

»Hallo«, sagte Christopher fröhlich und zog seinen Mantel aus. »Sie haben am Samstag verloren.«

»Ja«, gab ich zu.

»Beim nächstenmal klappt’s«, erklärte Maggie automatisch und blies die nassen Blütenblätter auf den Boden. Ich biß mir auf die Zunge. Maggie griff nach der Vase und ging damit in die Teeküche. Unterwegs verstreute sie noch mehr Blätter. Sie kam mit der Vase zurück, stolperte und hinterließ eine feuchte Spur quer über meinen Schreibtisch. Stumm zog ich Löschpapier aus einer Schublade, wischte die Feuchtigkeit auf und warf das Zeug in den Papierkorb. Christopher beobachtete uns amüsiert. Seine hellen Augen funkelten hinter den dicken Brillengläsern.

»Um eine knappe Nasenlänge, wie?« sagte er, nahm einen der Kricketbälle und zielte nach dem Fenster.

»Um eine Nasenlänge«, bestätigte ich und dachte mürrisch: Bei zehn Längen wär’s genau dasselbe. Der Verlierer bekommt nichts, ganz gleich, wie groß der Abstand ist.

»Mein Onkel hat fünf Pfund auf Sie verwettet.«

»Tut mir leid«, sagte ich steif.

Christopher drehte sich auf den Zehenspitzen vom Fenster weg und knallte den Kricketball an die Wand. Man sah die Einbuchtung deutlich. Er lachte, als er meine zusammengezogenen Brauen sah. Vor zwei Monaten war er direkt von Cambridge zu uns {8}gekommen, nachdem ihn seine rapide abnehmende Sehfähigkeit um einen Platz in der Kricketmannschaft gebracht hatte. Zudem war er im Examen durchgefallen. Er zeigte sich trotzdem stets in besserer Stimmung als ich, dem solche Rückschläge erspart geblieben waren. Wir tolerierten uns gegenseitig. Mir fiel es, wie üblich, schwer, Freundschaft zu schließen, und er hatte seine Bemühungen aufgegeben.

Maggie kam aus der Teeküche zurück, setzte sich an ihren Tisch, nahm den Nagellack aus der Schublade und begann das Perlmuttrosa aufzupinseln. Sie war eine große, selbstsichere junge Frau aus Surbiton, mit scharfer Zunge und einem verdächtigen Talent, nach besonders hinterhältigen Bemerkungen Reue zu bekunden.

Der Kricketball glitt Christopher aus der Hand und rollte über Maggies Schreibtisch. Er griff hastig danach, warf einen Stapel Briefe auf den Boden, während der Ball Maggies Nagellackfläschchen umwarf; die ganze Korrespondenz war prächtig mit zierlichen Flecken übersät.

»Verdammt noch mal«, sagte Christopher wütend.

Der alte Cooper, zuständig für Versicherungen, wankte ins Zimmer und beäugte das Chaos mit verärgerter Miene und geblähten Nasenflügeln. Er hielt mir einen Packen Schriftstücke hin.

»Für Sie, Henry. So schnell wie möglich.«

»Gut.«

An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte mit klagender Stimme zu Christopher und Maggie: »Warum sind Sie nicht so tüchtig wie Henry? Er kommt nie zu spät, ist nie unordentlich, liefert korrekte Arbeit und hat nie Rückstände. Warum eifern Sie ihm nicht nach?«

Ich zuckte innerlich zusammen und wartete auf Maggies unvermeidliche Antwort. Sie war bestimmt in Form. Wir schrieben Montag vormittag.

{9}»Nicht für eine Million möchte ich wie Henry sein«, sagte sie scharf. »Ein trübes, geschlechtsloses Nichts. Er lebt überhaupt nicht.«

Heute war ganz entschieden nicht mein Glückstag.

»Er reitet aber Rennen«, meinte Christopher beschwichtigend.

»Und wenn er runterfällt und sich die Beine bricht, zerbricht er sich nur den Kopf darüber, ob auch die Verbände ganz gerade sind.«

»Die Knochen«, sagte ich.

»Was?«

»Die Knochen gerade.«

Christopher blinzelte und lachte.

»Na, na, was sagt man dazu? Stille Wasser gründen tief.«

»Was heißt da tief?« sagte Maggie. »Brackwasser.«

»Schleimig und stinkend?« meinte ich hilfreich.

»Nein … ach du meine Güte … ich meine, Verzeihung …«

»Schon gut«, sagte ich. »Schon gut.« Ich griff nach dem ersten Schriftstück und nahm den Hörer von der Gabel.

»Henry …«, sagte Maggie verzweifelt. »Ich hab’ es doch nicht so gemeint.«

Der alte Cooper schnalzte mit der Zunge und wankte wieder hinaus. Christopher begann seine lackierten Briefe zu sortieren. Ich wählte die Nummer von Yardman-Transport und verlangte Simon Searle.

»Vier Einjährige von der Versteigerung in Newmarket nach Buenos Aires, so bald wie möglich«, sagte ich.

»Kann dauern.«

»Wieso?«

»Wir haben Peters verloren.«

»Warum passen Sie nicht besser auf?«

»Haha.«

»Ist er ausgestiegen?«

Simon zögerte merklich.

{10}»Sieht so aus.«

»Was heißt das?«

»Er ist von einem Flug nicht zurückgekommen. Am vergangenen Montag. Einfach nicht zum Rückflug erschienen. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.«

»Krankenhäuser?« meinte ich.

»Wir haben uns natürlich erkundigt. Auch im Leichenschauhaus und im Gefängnis. Nichts. Einfach verschwunden. Weil er nichts angestellt hat, zeigt die Polizei auch kein Interesse. Kein Wunder, jeder kann seine Stellung aufgeben, wann er Lust hat. Die Polizei meint, er sei eben an irgendeinem Mädchen hängengeblieben.«

»Ist er verheiratet?«

»Nein.« Er seufzte. »Na ja, ich kümmere mich um Ihre Einjährigen, aber auf ein Datum kann ich mich nicht festlegen.«

»Simon«, sagte ich gedehnt. »Ist nicht schon mal etwas Ähnliches passiert?«

»Ähm … meinen Sie Ballard?«

»Einer von Ihren Kontaktleuten«, sagte ich.

»Ja. Hm … möglich.«

»In Italien?« fragte ich sanft.

Es blieb kurze Zeit still.

»Daran hatte ich nicht gedacht«, erwiderte er. »Merkwürdiger Zufall. Na schön – ich sage Ihnen wegen der Pferde Bescheid.«

»Wenn es bei Ihnen nicht klappt, muß ich zu Clarkson gehen.«

Er seufzte.

»Ich tue mein Bestes. Morgen rufe ich zurück.«

Ich legte auf und befaßte mich mit einem ganzen Stoß Zolldeklarationen. Der lange Vormittag strebte der Mittagsstunde entgegen. Maggie und ich wechselten kein Wort miteinander, Christopher saß fluchend über seinen Briefen. Punkt ein Uhr war ich sogar noch vor Maggie an der Tür.

Draußen schien die Dezembersonne. Einem plötzlichen {11}Impuls nachgebend, stieg ich in den Omnibus, sprang an der Marble Arch ab und ging langsam durch den Hyde Park zum See. Um zwei Uhr saß ich noch immer auf einer Bank und starrte aufs Wasser. Um halb drei auch noch. Eine Viertelstunde später warf ich mit Wucht ein paar Steine in den See, was mir ein Wächter sofort untersagte.

Ein verzogener, launischer Bastard. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn sie solche Dinge häufiger gesagt hätte, aber sie war eine sanfte Person, die man in der Kindheit gezwungen hatte, sich wegen schlimmer Worte den Mund mit Seife auszuwaschen, und die sich dieser Gefahr nie wieder ausgesetzt hatte. Sie war meine jüngste Schwester, fünfzehn Jahre älter als ich, unverheiratet, unhübsch und von ruhiger Intelligenz. Mit unseren Eltern hatte sie die Rollen getauscht: Sie führte das Haus und behandelte sie wie ihre Kinder. Mit mir machte sie es ähnlich.

Ich war ein unterdrückter, stiller, braver kleiner Junge gewesen und ein stiller, zurückgezogener, verschlossener Mann geworden. Ich war beinahe krankhaft pedantisch und methodisch, kam zu allen Verabredungen zu früh, zeigte Beherrschung im Benehmen, in der Handschrift und in der Liebe. Ein trübes Nichts, wie Maggie meinte. Die Tatsache, daß ich seit ein paar Monaten innerlich genau das Gegenteil empfand, verwirrte mich immer mehr.

Ich sah zum blauen, goldbehauchten Himmel auf. Nur da oben war ich mein eigener Herr, dachte ich. Und vielleicht noch beim Hindernisrennen, manchmal.

Sie hatte wie üblich beim Frühstück auf mich gewartet, mit frischgerötetem Gesicht vom Morgenspaziergang mit den Hunden. Am Wochenende hatten wir uns kaum gesehen. Ich war am Samstag in einem Rennen gestartet, hatte das Haus am Sonntag vor dem Frühstück verlassen und war spät nachts zurückgekommen.

»Wo bist du gestern gewesen?« fragte sie.

{12}Ich goß Kaffee in meine Tasse und schwieg. Daran war sie gewöhnt.

»Mutter wollte mit dir sprechen.«

»Worüber?«

»Sie hat die Filyhoughs nächsten Sonntag zum Essen eingeladen.«

Ich verzehrte ruhig meine Portion Schinken mit Ei, dann sagte ich: »Diese Nervensäge von Angela. Reine Zeitverschwendung. Ich bin sowieso nicht da.«

»Angela erbt eine halbe Million«, sagte sie ernsthaft.

»Und wir haben den Holzwurm im Dach«, bestätigte ich trocken.

»Mutter will dich verheiratet sehen.«

»Aber nur mit einem sehr reichen Mädchen.«

Meine Schwester gab es zu, konnte daran aber nichts Schlechtes finden. Das Familienvermögen schrumpfte. Nach Meinung meiner Eltern war der Tausch eines zukünftigen Titels gegen ein zukünftiges Vermögen ein akzeptables Geschäft. Sie schienen nicht zu begreifen, daß reiche junge Mädchen heutzutage klug genug waren, ihr Geld nicht auf den Ehemann zu übertragen. Dann konnte dieser später nicht damit das Weite suchen, wenn ihm der Sinn danach stand.

»Mutter hat Angela versprochen, daß du hier bist.«

»Dumm von ihr.«

»Henry!«

»Ich mag Angela nicht«, sagte ich kalt. »Ich bin am nächsten Sonntag nicht zu Hause. Ist das klar?«

»Aber du mußt ganz einfach … du kannst doch nicht alles mir überlassen.«

»Sorg eben bei Mutter dafür, daß sie diese lächerlichen Einladungen unterläßt. Angela ist die soundsovielte unattraktive Erbin, die sie in diesem Jahr eingeladen hat. Ich habe es satt.«

»Wir brauchen …«

{13}»Ich bin nicht verkäuflich«, sagte ich steif.

Sie stand auf, tief beleidigt.

»Das ist gemein.«

»Und weil wir schon dabei sind, den Holzwürmern wünsche ich guten Erfolg. Dieses feuchte, faulige Ungetüm von Haus kostet uns den letzten Penny, und wenn es morgen einstürzen würde, wären wir alle besser dran.«

»Es ist unser Zuhause«, erklärte sie, als sei damit alles gesagt.

Sobald es mir gehörte, würde ich es abstoßen, aber das sagte ich nicht. Ermutigt durch mein Schweigen, versuchte sie es mit Überredungskunst.

»Henry, bitte bleib nächsten Sonntag hier, wenn die Filyhoughs kommen.«

»Nein«, sagte ich hart. »Kommt nicht in Frage. Ich habe etwas anderes vor. Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen.«

Augenblicklich verlor sie die Beherrschung. Am ganzen Körper zitternd sagte sie: »Ich kann deinen Egoismus einfach nicht mehr ausstehen. Du bist ein verzogener, launischer Bastard …«

War ich das wirklich? dachte ich jetzt hier am See. Und wenn ja, warum?

Um drei Uhr, als es schon kühler wurde, stand ich auf und verließ den Park, aber das Büro, zu dem ich fuhr, war nicht die elegante Suite der ›Anglia‹ am Hanover Square. Dort sollte man sich ruhig wundern, warum der überpünktliche Henry nicht vom Mittagessen zurückkam. Ich fuhr statt dessen mit dem Taxi zu einem kleinen, verkommenen, mit Unrat übersäten Kai am Hafen, wo mir der Geruch des Themseschlamms bei Ebbe erdig in die Nase stieg, als ich den Fahrpreis entrichtete.

Am Ende des Kais, auf einem Ruinengrundstück, war kurz nach dem Krieg ein kleines, quadratisches Betongebäude errichtet und seither, wenn auch mangelhaft, instand gehalten worden. Die grauen Wände mit Roststreifen von undichten {14}Leitungsrohren brauchten dringend einen Anstrich, die Metallfenster waren von einer Schmutzschicht bedeckt, und seit meinem letzten Besuch vor sechs Monaten hatte man die Messingbeschläge an den Türen nicht poliert. Man mußte den Kunden hier keine vornehme Fassade bieten; sie wurden nicht hergebeten.

Ich stieg die Treppe hinauf, durchquerte den Vorplatz mit seinem Linoleumbelag und betrat durch die offene Tür Simon Searles Zimmer. Er sah von den Männchen auf, die er auf einen Block gemalt hatte, erhob sich schwerfällig und begrüßte mich mit kräftigem Händedruck und breitem Grinsen. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der mich auf diese Weise empfing, und deshalb taute ich bei ihm so weit auf, wie mir das überhaupt möglich war. Aber wir hatten uns immer nur aus geschäftlichem Anlaß getroffen, und auch das nicht oft. Gelegentlich waren wir hinterher in eine Kneipe gegangen, wo er zu viel Bier und Jovialität und ich zu einem einzigen Whisky neigte, und das war alles.

»Sie haben den weiten Weg doch nicht wegen der Einjährigen zurückgelegt?« protestierte er. »Sie wissen ja …«

»Nein«, sagte ich und kam sofort zur Sache. »Ich wollte mich erkundigen, ob mir Yardman eine Stellung gibt.«

»Sie wollen hier arbeiten?« fragte Simon.

»Richtig.«

»Mich trifft der Schlag.«

Simon setzte sich auf den Schreibtisch, und seine Leibesmassen kamen gemächlich zur Ruhe. Er war ein gewaltiger Mann zwischen Fünfunddreißig und Fünfundvierzig, mit Glatze, legerer Kleidung und großzügigen Anschauungen.

»Warum denn das?« fragte er und sah mich von oben bis unten an. Ein stärkerer Gegensatz als er mit seiner ausgebeulten grünen Cordhose und ich mit meinem anthrazitgrauen Anzug war schwer vorstellbar.

»Ich brauche eine Veränderung.«

»Zum Schlechten?« meinte er ironisch.

{15}»Natürlich nicht. Und ich möchte ein bißchen in der Welt herumkommen.«

»Das können Sie sich doch mit allem Komfort leisten. Sie brauchen keine Pferdetransporte zu begleiten.«

Wie so viele Leute hielt er es für ausgemacht, daß ich Geld hatte. Das stimmte nicht. Ich bekam nur mein Gehalt bei der ›Anglia‹ und was ich in aller Offenheit als Amateurreiter verdiente. Jeder Penny war verplant. Von meinem Vater bekam ich nur mein Essen und das wurmstichige Dach über meinem Kopf. Ich erwartete und verlangte nicht mehr.

»Das würde ich gerne machen«, sagte ich gelassen. »Wie stehen die Chancen?«

»Ach du meine Güte«, sagte Simon lachend. »Sie brauchen nur den Mund aufzutun. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Sie abweist.«

Aber Yardman hätte es beinahe doch getan, weil er nicht daran glauben konnte, daß ich es ernst meinte.

»Mein lieber Junge, denken Sie doch einmal nach, ich bitte Sie. Bei der ›Anglia‹ haben Sie es doch viel besser. So gut Sie hier auch verdienen, Macht oder Ansehen stehen nicht zur Debatte … Man muß doch die Tatsachen erkennen.«

»Macht und Ansehen interessieren mich nicht besonders.«

Er seufzte tief.

»So spricht jemand, dem sie mit der Geburt zufallen. Andere sind nicht in der glücklichen Lage, sie verachten zu können.«

»Ich verachte sie nicht. Ich interessiere mich aber auch nicht dafür. Oder jedenfalls bisher nicht.«

Er zündete sich bedächtig eine schwarze Zigarre an. Ich beobachtete ihn prüfend. Vorher war ich mit ihm noch nie zusammengetroffen, und da er aus ganz anderen Kreisen kam als die maßgebenden Leute bei der ›Anglia‹, entdeckte ich, daß ich nicht instinktiv wußte, wie sein Verstand funktionierte. Nach Jahren der Anstellung bei Leuten meiner eigenen Herkunft, wo vieles {16}nicht ausgesprochen zu werden brauchte, was als selbstverständlich galt, war Yardman unerforschtes Gebiet.

Er gab sich betont väterlich, was bei einem so hageren Mann ein wenig eigenartig wirkte. Auf einer kräftigen, gekrümmten Nase saß eine schwarze Hornbrille. Seine Wangen waren eingefallen, so daß sich die Lippen dehnen zu müssen schienen, um Zähne und Zahnfleisch zu bedecken. Die Mundwinkel waren stark herabgezogen, was ihm manchmal ein griesgrämiges, manchmal ein trauriges Aussehen verlieh. Er hatte eine Rundglatze, die man auf den ersten Blick nicht bemerkte, und seine Haut hatte eine ungesunde Farbe. Aber Stimme und Hände waren stark, ebenso, wie ich merken sollte, Wille und Charakter.

Er paffte langsam seine Zigarre, eine dünne, grimmig aussehende Angelegenheit mit entsprechendem Duft. Die Augen hinter den Brillengläsern betrachteten mich ohne Hast. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was hinter dieser Stirn vorging.

»Also gut«, sagte er schließlich. »Ich stelle Sie als Assistent von Searle ein. Wir werden ja sehen, wie es klappt.«

»Äh … danke«, erwiderte ich. »Ich hatte eigentlich an den Posten von Peters gedacht.«

»An Peters …« In diesem Augenblick blieb ihm buchstäblich der Mund offenstehen. Ich sah, daß er unten falsche Zähne trug. Er klappte ihn abrupt zu. »Das ist doch ein Witz, mein Junge. Peters’ Job können Sie nicht haben.«

»Searle sagt, daß er nicht mehr bei Ihnen ist.«

»Das stimmt, aber darauf kommt es doch wohl nicht an.«

»Ich bin seit über fünf Jahren in der Transportabteilung der ›Anglia‹«, sagte ich ruhig, »also kenne ich mich im Technischen aus. Ich reite seit meiner frühesten Jugend, also kann ich mit Pferden umgehen. Ich gebe zu, daß mir die praktische Erfahrung fehlt, aber das könnte ich schnell nachholen.«

»Lord Grey«, sagte er kopfschüttelnd. »Ihnen ist wohl nicht ganz klar, worin Peters’ Aufgabe bestand.«

{17}»Durchaus«, erwiderte ich. »Er begleitete die Pferde in den Flugzeugen und sorgte dafür, daß sie gesund und sicher ankamen. Er hatte sich darum zu kümmern, daß sie ordnungsgemäß den Zoll passierten und von den richtigen Leuten in Empfang genommen wurden, gelegentlich hatte er auch andere Pferde mit zurückzubringen. Man trägt ziemlich viel Verantwortung, muß viel reisen, und ich möchte mich ernsthaft um die Stellung bewerben.«

»Sie verstehen das nicht«, meinte er ungeduldig. »Peters war Pferdepfleger.«

»Ich weiß.«

Er rauchte mit undurchdringlicher Miene. Drei Züge. Ich wartete, schweigend und unbeweglich.

»Sie sind bei der ›Anglia‹ nicht … in Schwierigkeiten?«

»Nein. Ich habe die Schreibtischarbeit satt, das ist alles.«

Ich hatte sie von Anfang an satt, um genau zu sein.

»Wie steht es mit dem Rennsport?«

»Samstags arbeite ich bei der ›Anglia‹ nicht. Meine drei Wochen Jahresurlaub nehme ich an einzelnen Tagen im Winter und Frühling. Und mit zusätzlichen halben Tagen ist man immer großzügig gewesen.«

»Das wird sich geschäftlich ja auch für sie gelohnt haben, nehme ich an.« Er klopfte geistesabwesend die Asche ab. »Wollen Sie den Rennsport aufgeben?«

»Nein.«

»Hm … könnte ich durch Ihre Rennsportbeziehungen besser ins Geschäft kommen?«

»Dafür würde ich sorgen«, sagte ich.

Er drehte den Kopf zur Seite und sah zum Fenster hinaus. In der Themse herrschte immer noch Ebbe, und drüben auf dem anderen Ufer ragten die Kräne wie Spielzeug in den dämmernden Himmel. In diesem Augenblick ahnte ich nichts von den Kalkulationen in Yardmans Gehirn, obwohl ich seitdem oft über diese wenigen Minuten nachgedacht habe.

{18}»Ich halte das für unklug, mein lieber Junge. Die Jugend … die Jugend …«

Er seufzte, reckte die Schultern und sah mich wieder an. Seine verschatteten grünlichen Augen betrachteten mich prüfend aus tiefen Höhlen. Er sagte mir, was Peters verdient hatte: fünfzehn Pfund pro Reise, dazu drei Pfund für Spesen pro Übernachtung. Er hoffte, daß mich das von meiner Absicht abbringen würde. Es fehlte auch nicht viel, und ich hätte die Sache rundweg abgelehnt.

»Wie viele Flüge pro Woche?« fragte ich stirnrunzelnd.

»Hängt von der Jahreszeit ab. Das wissen Sie. Nach den Versteigerungen, und wenn die Zuchtstuten herübergebracht werden, können es drei Flüge werden. Nach Frankreich vielleicht sogar vier. Normalerweise zwei, manchmal gar keiner.«

Es blieb einige Zeit still. Wir starrten einander an. Ich konnte in seinem Gesicht nicht lesen.

»Also gut«, sagte ich abrupt. »Kann ich den Job haben?«

Seine Lippen verzerrten sich auf seltsame Weise. Später kam ich dahinter, daß das ein ironisches Lächeln sein sollte.

»Sie können es versuchen«, meinte er. »Wenn Sie unbedingt wollen.«

{19}2

Ein Job ist, was man daraus macht. Drei Wochen später, nach Weihnachten, flog ich mit zwölf Einjährigen nach Buenos Aires – vier von der ›Anglia‹ und acht von anderen Vollblutpferd-Agenturen, alle an einem kalten Dienstagmorgen um fünf Uhr am Flugplatz Gatwick versammelt. Simon Searle hatte für ihr pünktliches Eintreffen gesorgt und bei einer Charterfirma die Frachtpassagen gebucht. Nachdem man sie ausgeladen hatte, übernahm ich sie, brachte sie in der Maschine unter und sorgte für die Zollabfertigung. Dann flogen wir ab.

Außer mir waren noch zwei von Yardmans Pferdepflegern dabei, die beide mit Empörung quittierten, daß ich über ihre Köpfe hinweg Peters’ Posten bekommen hatte, weil jeder die Beförderung für sich erhofft hatte. Vom Menschlichen her gesehen war der Flug ein eisiger Mißerfolg. Sonst lief alles ziemlich glatt. Wir landeten zwar mit vier Stunden Verspätung in Argentinien, aber die neuen Besitzer hatten alle ihre Transportboxen geschickt. Wieder schleuste ich Pferde und Papiere durch den Zoll und sorgte dafür, daß jeder der fünf neuen Besitzer die richtigen Pferde und Dokumente erhielt. Tags darauf wurden in Kisten verpackte Pelze als Rückfracht geladen, und wir flogen nach Gatwick zurück, wo wir am Freitag ankamen.

Am Samstag konnte ich bei den Rennen in Sandown einen Sturz und einen Sieg verzeichnen, den Sonntag verbrachte ich auf die übliche Weise, und am Montag flog ich mit einigen Zirkuspferden nach Deutschland. Nach vierzehn Tagen war ich völlig erschöpft, nach vier Wochen hatte ich mich akklimatisiert. Mein Körper gewöhnte sich an langes Aufbleiben, unregelmäßiges Essen, {20}pausenloses Kaffeetrinken und an Schlaf im Sitzen auf Heuballen in dreitausend Meter Höhe. Die beiden Pfleger, Timmie und Conker, überwanden ihren ärgsten Zorn, und wir entwickelten uns zu einem schnellen, tüchtigen, wortkargen Team.

Meine Familie entsetzte sich, wie erwartet, über meinen Berufswechsel und versuchte alles, mich davon abzubringen. Meine Schwester nahm erschrocken die Worte zurück, die ich sehr wohl verdient hatte, mein Vater sah den Grafentitel nun doch an den Vetter fallen, da Flugzeuge der Natur widersprachen und in aller Regel abstürzten, und meine Mutter geriet bei dem Gedanken an die Kommentare ihrer Bekannten in Hysterie.

»Das ist etwas für einen Arbeiter«, jammerte sie.

»Es kommt immer darauf an, was man aus einer Sache macht.«

»Was werden die Filyhoughs denken?«

»Ist doch völlig unwichtig.«

»Das ist keine passende Stellung für dich.«

Sie rang die Hände.

»Mir gefällt sie, also paßt sie auch zu mir.«

»Du weißt ganz genau, wie ich es meine.«

»Natürlich, Mutter, aber meine Ansicht ist eben von der deinen grundverschieden. Jeder sollte das tun, was ihm Spaß macht. Das allein sollte den Ausschlag geben. Ob das gesellschaftlich paßt oder nicht, darf überhaupt keine Rolle spielen.«

»Aber es spielt eine«, rief sie verzweifelt.

»Bei mir auch, fast sechs Jahre lang«, gab ich zu. »Jetzt ist Schluß. Außerdem ändern sich die Ansichten. Was ich jetzt mache, kann nächstes Jahr Mode werden. Wenn ich nicht aufpasse, wird noch die Hälfte meiner männlichen Bekanntschaft mitmischen wollen. Jedenfalls ist das für mich genau richtig, und ich mache damit weiter.«

Trotzdem war sie nicht zu überzeugen. Ihrem ältlichen, in {21}Konventionen befangenen Bekanntenkreis konnte sie jedenfalls nur mit der Behauptung gegenübertreten, ich sei nur bestrebt, ›Erfahrungen zu sammeln‹, und man müsse das Ganze als Spaß betrachten.

Auch für Simon Searle war es anfangs nur ein Spaß.

»Sie halten das nicht durch, Henry«, sagte er entschieden. »Sie mit Ihren makellosen dunklen Anzügen und Ihren schneeweißen Hemden und Ihrem tadellos gekämmten Haar bei dem Schmutz. Ein Flug genügt.«

Nach vier Wochen erschien ich, immer noch der alte, am späten Freitag nachmittag, um meine Lohntüte abzuholen. Wir schlenderten zu seinem Stammlokal, einer schmuddeligen Kneipe mit bunten Glastüren und chronisch miefiger Luft, wo er sich auf einem Barhocker niederließ, wobei er seine herabhängenden Fettmassen um sich herum drapierte, und Bier bestellte. Ich holte uns zwei Glas.

»Was machen die Weltreisen?« fragte er nach dem ersten tiefen Schluck und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, um den Schaum abzulecken.

»Ich bin zufrieden.«

»Bis jetzt haben Sie jedenfalls noch keinen Murks gemacht«, sagte er lächelnd.

»Danke.«

»Dürfte auch gar nicht vorkommen, weil ich ja immer schon alles vorbereitet habe.«

»Eben.«

Er war tatsächlich ein hervorragender Organisator, ein Hauptgrund, warum die ›Anglia‹ oft mit Yardman-Transport zusammenarbeitete, statt mit Clarkson-Carriers, einer viel größeren und bekannteren Firma. Simons Abschlüsse waren immer klar, einfach und grundsätzlich doppelt bestätigt. Agenturen, Eigentümer und Fluggesellschaften wußten stets, woran sie waren und zu welcher Zeit sie da und dort erscheinen mußten. In der {22}ganzen Branche gab es keinen zuverlässigeren Mann als Simon. Da ich selber so genau war, bewunderte ich seine Arbeit fast wie ein Kunstwerk.

Er sah mich amüsiert von der Seite an.

»Sie sind doch wohl nicht in diesem Aufzug unterwegs?«

»Doch, mehr oder weniger.«

»Was heißt mehr oder weniger?«

»Statt des Jacketts trage ich im Flugzeug und beim Verladen einen Pullover.«

»Und das Jackett hängen Sie auf einen Bügel?«

»Gewiß.«

Er lachte, aber ohne Spott.

»Sie sind ein Kauz, Henry.« Er bestellte ein zweites Bier, zuckte die Achseln, als ich ablehnte, und trank mit großen Schlucken. »Warum sind Sie so gründlich?«

»Das ist sicherer.«

»Sicherer.« Er verschluckte sich, hustete und lachte. »Auf die Idee, daß für viele Menschen Hindernisrennen und Frachtflüge nicht gerade das Sicherste sind, kommen Sie wohl nicht.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Was dann?«

Ich schüttelte nur den Kopf.

»Erzählen Sie mir was von Yardman«, sagte ich.

»Zum Beispiel?«

»Na ja, wo er herkommt und so.«

Simon zog die Schultern hoch und schob die Unterlippe vor.

»Er trat nach dem Krieg, als er aus der Armee entlassen wurde, in die Firma ein. Er war Sergeant bei der Infanterie, glaube ich. Einzelheiten weiß ich nicht, hab’ auch nie gefragt. Jedenfalls arbeitete er sich hoch. Damals hieß die Firma natürlich noch nicht Yardman-Transport. Sie gehörte den Mayhews, aber da gab es keinen Stammhalter … die anderen Verwandten waren nicht interessiert, wie das eben so geht. Jim Yardman hatte die Firma {23}schon übernommen, als ich kam. Wie das genau vor sich ging, weiß ich nicht, aber er hat Grips im Kopf, da gibt es keinen Zweifel. Denken Sie nur an das Umsteigen auf den Luftverkehr. Seine Idee. Er sah die Vorteile des Pferdetransports mit Flugzeugen schon, als die anderen Transportunternehmen alle noch den Schiffsverkehr bevorzugten.«

»Obwohl das Büro an einem Kai steht«, meinte ich.

»Ja. Früher war das sehr praktisch. Jetzt wird er nicht mehr oft benützt, seit Pferde nicht mehr zur Schlachtung exportiert werden dürfen.«

»Das hat Yardman gemacht?«

»Seetransportmakler«, bestätigte er. »Am anderen Ende des Kais steht ein großes Lagerhaus, wo wir die Pferde immer untergebracht hatten. Drei Tage bevor das Schiff einlief, wurden sie hier so nach und nach abgeliefert. Durchschnittlich alle vierzehn Tage einmal. Bin ganz froh, daß das vorbei ist. Viel Arbeit, Schmutz und Lärm und wenig Gewinn, meinte Yardman.«

»Es hat Sie aber nicht gestört, daß sie geschlachtet werden sollten?«

»Nicht mehr als bei Rindern oder Schweinen.« Er leerte sein Glas. »Warum auch? Alles muß mal sterben.« Er lächelte fröhlich und deutete auf die Gläser. »Noch eins?«

Er bestellte nach, ich nicht.

»Hat man von Peters noch etwas gehört?« fragte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Keinen Ton.«

»Und seine Papiere?«

»Noch im Büro, soviel ich weiß.«

»Merkwürdig, finden Sie nicht?«

Simon zuckte die Achseln.

»Wer weiß das schon? Vielleicht wollte er sich vor jemandem drücken und hat das eben sehr gründlich gemacht.«

»Hat sich denn jemand nach ihm erkundigt?«

{24}»Nein. Nicht die Polizei, kein Buchmacher, bei dem er Schulden hätte, keine aufgebrachten Frauen, niemand.«

»Er ist nach Italien geflogen und einfach nicht zurückgekommen?«

»Stimmt«, sagte Simon. »Er flog mit ein paar Stuten nach Mailand und hätte am selben Tag zurückkommen sollen. Es gab Schwierigkeiten mit einem Motor oder was weiß ich, der Pilot hatte seine Dienstzeit schon überzogen und erklärte, er käme in die größten Schwierigkeiten, wenn er zu lange am Steuerknüppel sitze. Sie blieben also über Nacht, und am anderen Morgen tauchte Peters nicht mehr auf. Sie warteten fast den ganzen Tag und kamen schließlich ohne ihn zurück.«

»Das ist alles?«

»Ja, das ist alles«, sagte er. »Das Leben ist eben voller Rätsel. Was ist los? Haben Sie Angst, daß Peters plötzlich auftaucht und Ihnen den Posten wieder wegnimmt?«

»So ungefähr.«

»Er war ziemlich unangenehm«, sagte er nachdenklich. »Hat sich immer auf seine Rechte berufen. Dauernd gemeckert, Sie kennen den Typ. Angriffslustig. Hat sich auch von ausländischen Zollbeamten nie etwas bieten lassen.« Er grinste. »Die sind wahrscheinlich froh, daß sie es jetzt mit Ihnen zu tun haben.«

»In ein, zwei Jahren bin ich sicher genauso grimmig.«

»In ein, zwei Jahren?« Er sah mich erstaunt an. »Henry, es ist ja ganz schön, wenn Sie Peters’ Job zum Spaß eine Weile übernehmen, aber Sie werden doch das nicht beibehalten wollen?«

»Sie halten es für geziemender, wenn ich bei der ›Anglia‹ am Schreibtisch sitze?« fragte ich ironisch.

»Ja«, gab er ernsthaft zurück. »Selbstverständlich.«

Ich seufzte.

»Jetzt fangen Sie auch noch an. Ich dachte, wenigstens Sie würden verstehen …«

Ich verstummte.

{25}»Was soll ich verstehen?«

»Na ja … daß, für welche Arbeit man am besten geeignet ist, nichts damit zu tun hat, von welchen Eltern man abstammt. Ich bin eben für einen Schreibtisch nicht geschaffen. Das habe ich schon in der ersten Woche bei der ›Anglia‹ gemerkt, aber ich blieb, weil ich Krach geschlagen und darauf bestanden hatte, mir einen Broterwerb zu suchen. Ich wollte nicht zugeben, daß ich nicht am richtigen Platz saß. Ich gab mir Mühe, mich anzupassen. Jedenfalls gewöhnte ich mich daran, aber jetzt … jetzt … ich glaube nicht, daß ich es noch einmal ertragen könnte, jeden Tag von neun bis fünf im Büro zu hocken.«

»Ihr Vater ist über Achtzig, nicht wahr?« meinte Simon nachdenklich.

Ich nickte.

»Glauben Sie denn, daß Sie immer noch Pferde in der Welt herumkarren dürfen, wenn er stirbt? Und wie lange können Sie das überhaupt betreiben, ohne ein Sonderling zu werden? Ob Ihnen das paßt oder nicht, Henry, es ist zwar sehr leicht, in der Gesellschaft hochzukommen, aber ungeheuer schwierig, abzusteigen. Und trotzdem geachtet zu werden, versteht sich.«

»Ich wäre also achtbar, wenn ich bei der ›Anglia‹ am Schreibtisch sitze und auf dem Papier Pferde von Besitzer zu Besitzer vermittle, aber nicht, wenn ich unterwegs bin und das direkt erledige?«

Er lachte.

»Genau das.«

»Die Welt ist ein Irrenhaus«, sagte ich.

»Und Sie sind ein Romantiker. Aber das gibt sich.« Er sah mich freundschaftlich an, leerte sein Glas und stand auf. Oder vielmehr, er floß von seinem Hocker herab wie eine grüne Cordsamtamöbe.

»Kommen Sie«, sagte er. »Unterwegs trinken wir noch ein Glas im ›Saracen’s Head‹.« {26}Am nächsten Nachmittag verfolgte ich in Newbury fünf Rennen von der Tribüne aus. In einem ritt ich selbst mit.

Diese Untätigkeit hatte ich nicht angestrebt, sie war mir von der Rennkommission auferlegt worden. Als ich das zwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, bekam ich das übliche Ultimatum für Amateurreiter gestellt: entweder Berufsjockey zu werden oder pro Saison nur an fünfzig offenen Rennen teilzunehmen. Mit anderen Worten: du darfst anderen nicht das Brot vom Mund wegstehlen – obwohl ein Jockey natürlich kaum Brot ißt.

Ich war nicht Profi geworden, weil ich gleichzeitig zu konventionell dachte und auch in Wirklichkeit nicht gut genug war. Auch jetzt hätte ich mich nicht zu den Spitzenkönnern unter den Profis zählen können, aber ich war schon seit langer Zeit ein voll ausgebuchter Amateur. Großer Fisch im kleinen Teich. Die neugewonnene Freiheit durch meine Beschäftigung bei Yardman ließ mich bedauern, daß ich mit Zwanzig nicht mehr Mut gehabt hatte. Ich hing sehr am Hindernisrennsport, und als Profi hätte ich vielleicht doch anständige Erfolge erzielen können. Auf der Zuschauertribüne in Newbury festsitzend, sah ich jedenfalls ein, daß mich meine Schwester viel zu spät zur Vernunft gebracht hatte.

Das einzige Rennen, in dem ich antrat, war ausschließlich für Amateure ausgeschrieben. Da es hier keine Beschränkungen gab, liefen nur wenige dieser Rennen ohne mich ab. Ich ritt regelmäßig für viele Eigentümer, die nicht gerne einen Berufsjockey bezahlen wollten, für manche, die ihrem Pferd in Amateurrennen größere Chancen zutrauten, und für ein paar, die wirklich etwas von meinen Leistungen hielten.

Alle miteinander wußten sehr genau, daß ich zehn Prozent der Preissumme erwartete, wenn ich ein Amateur- oder ein offenes Rennen gewann. Das hatte sich herumgesprochen. Henry Grey ritt für Geld, nicht um die Ehre. Henry Grey war der größte Scheinamateur aller Zeiten. Weil ich verschwiegen und diskret war und man mir vertrauen konnte, hatte ich sogar von {27}Rennleitungen Bargeschenke bekommen. Meine Amateurlizenz bestand allein deswegen noch, weil mein Vater der Earl of Creggan war.

Im Umkleideraum stellte ich an diesem Nachmittag fest, daß ich meine Gewohnheiten nicht ändern konnte, sosehr sich meine innere Einstellung auch geändert haben mochte. Die anderen scherzten miteinander, und wie üblich blieb ich Außenseiter. Niemand erwartete, daß ich mittat. Man hatte sich an mich gewöhnt. Die eine Hälfte nahm meine Distanz als arrogantes Getue, die anderen akzeptierten sie achselzuckend als ›Henrys Art‹. Niemand zeigte direkte Feindseligkeit. Es lag allein an mir, daß ich nicht dazugehörte. Ich zog mich langsam um, lauschte den Witzen und der kräftigen, direkten Sprache, aber mir fiel nichts ein, was ich hätte zur Unterhaltung beitragen können.

Das Rennen gewann ich. Der erfreute Besitzer klopfte mir öffentlich auf die Schulter und lud mich zu einem Whisky in die Bar ein. Meine vierzig Pfund überreichte er mir heimlich.

 

Am Sonntag darauf gab ich das ganze Geld wieder aus.

Ich startete den Motor meines kleinen Sportwagens in der Garage, öffnete leise die Türen und rollte die Auffahrt hinunter. Es war noch dunkel. Mutter hatte wieder einmal eine junge, wohlhabende Dame übers Wochenende eingeladen, zusammen mit ihren kritischen Eltern, und nachdem ich sie tags zuvor pflichtgemäß zum Rennplatz Newbury begleitet und einen Siegtip gegeben hatte – mein eigenes Pferd –, glaubte ich, weiterer Bemühungen enthoben zu sein. Bevor ich spät nachts zurückkam, würden sie schon abgefahren sein, dachte ich kühl, und mit ein bißchen Glück mußten meine schlechten Manieren sie von einem weiteren Besuch abhalten können.

Nach zweieinhalbstündiger Fahrt Richtung Norden bog ich kurz vor zehn Uhr in Lincolnshire von der Hauptstraße ab und fuhr durch ein Tor. Ich stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab, stieg aus, reckte mich und schaute zum Himmel hinauf. Ein kalter, {28}klarer Vormittag, Sichtweite unbegrenzt. Keine Wolke weit und breit. Mit zufriedenem Lächeln schlenderte ich zu den weißen Gebäuden und öffnete die Glastür zur Eingangshalle des Fenland-Flugclubs.

Die Halle war ein großer Raum mit mehreren Ausgängen. Eine Doppeltür an der Rückseite führte zum Flugplatz selbst. An den Wänden hingen gerahmte Karten, Vorschriften des Luftfahrtministeriums, eine große Karte der näheren Umgebung, Verhaltensmaßregeln für Piloten von auswärts, ein mit Reißzwecken befestigter Wetterbericht und eine Liste von Personen, die sich an einem Tischtennisturnier zu beteiligen wünschten. An einer Wand standen ein paar kleine Holztische und Stühle, die etwa zur Hälfte besetzt waren, quer durch den Raum erstreckte sich eine lange Theke, die Empfang, Flugleitung und alles mögliche sonst war. Dahinter stand ein dicker, schläfriger Mann in meinem Alter. Er gähnte und kratzte sich zwischen den Schulterblättern. Offenbar litt er an einem Kater. In der einen Hand hatte er eine Tasse Kaffee, in der anderen eine Zigarette. Er sprach lethargisch mit einem flotten, jungen Mann, der seine Freundin mitgebracht hatte, um sie zu beeindrucken.

»Ich sage doch, daß Sie vorher anrufen müssen. Die Maschinen sind alle ausgebucht. Tut mir leid, nichts zu machen. Sie können ja warten, vielleicht bleibt jemand aus …«

Er sah mich kommen.

»Morgen, Henry«, sagte er. »Wie geht’s?«

»Prima. Und Ihnen?«

»Ich darf mich nicht verletzen, sonst läuft der Gin aus«, meinte er grinsend. Er drehte sich um und betrachtete die riesengroßen Zeitpläne an der Wand. »Sie bekommen ›Kilo November‹. Steht draußen bei den Tanksäulen. Über Land, wie?«

Ich nickte.

»Schöner Tag.« Er kritzelte einen Vermerk auf die Tabelle: Grey, Solo.

{29}»Mehr kann man nicht verlangen.«

Das Mädchen sagte beleidigt: »Und heute nachmittag?«

»Ausgeschlossen. Alles vergeben. Es wird sehr früh dunkel … morgen gibt es Maschinen genug.«

Ich öffnete die Tür, trat aufs Flugfeld hinaus und wanderte zu den Tanksäulen.

Dort standen in zwei Reihen sechs einmotorige Sportflugzeuge. Ein großer Mann im weißen Overall tankte eine der Maschinen auf. Er winkte mir zu, als er mich kommen sah, und grinste.

»Sie kommen gleich dran, Henry. Prima in Schuß. Generalüberholter Motor. Sie hätten es nicht besser treffen können.«

»Freut mich«, sagte ich lächelnd.

Er schraubte den Verschluß zu und sprang von der Tragfläche.

»Herrlicher Tag«, meinte er. Zwei kleine Maschinen waren schon in der Luft, vier weitere standen vor dem Kontrollturm startbereit. »Weiter weg?« fragte er.

»Schottland«, sagte ich.

»Ah, so was gilt nicht.« Er zerrte den Schlauch zur nächsten Maschine. »Die Navigation ist zu einfach. Sie brauchen nur nach Westen zu fliegen, bis Sie die A 1 finden, dann können Sie an ihr entlang hinauf brummen.«

»Ich fliege nach Islay«, sagte ich. »Keine Straßen, ehrlich.«

»Islay. Das ist was anderes.«

»Ich mache Mittagspause und bringe Ihnen Heidekraut mit.«

»Wie weit?«

»Zweihundertsiebzig Seemeilen ungefähr.«

»Da müssen Sie im Dunkeln zurückfliegen.«

Es war eine Feststellung, keine Frage. Er schraubte den Tankverschluß von ›Kilo November‹ ab und hielt das Schlauchende über die Öffnung.

»Ein großes Stück, ja.«

Ich überprüfte das Flugzeug, holte meine wattierte Jacke und {30}die Karten aus dem Wagen, reichte meinen Flugplan ein, sprach mit dem Kontrollturm und war nach kurzer Zeit in der Luft.

Luft ist schon was Merkwürdiges. Weil sie unsichtbar ist, denkt man gern, daß sie gar nicht da ist. Nach dem Motto: Was ich nicht sehe, das gibt’s auch nicht. Aber Luft ist zäh, elastisch, leistet Widerstand, und je fester man sich hineinbohrt, desto solider wird sie. Sie hat Strömungen, die stärker sind als die Gezeiten, und Turbulenzen, neben denen sich die Charybdis wie ablaufendes Badewasser ausnehmen würde.

Als ich anfing zu fliegen, versuchte ich mit diesem Unsichtbaren klarzukommen, indem ich mir ein Flugzeug wie ein Unterseeboot vorstellte. In beiden bewegte man sich in einem Medium auf-, ab- und seitwärts, das man nicht sehen konnte, das einen aber fühlbar umgab. Wäre das menschliche Auge anders konstruiert, überlegte ich mir als nächstes, dann wäre es vielleicht auch imstande, die Mischung aus Stickstoff und Sauerstoff, die wir einatmen, genauso deutlich zu sehen wie die Mischung aus Wasserstoff und Sauerstoff, in der wir uns waschen. Von da an nahm ich die eindeutig plastische Existenz der Luft als gegeben hin und dachte nicht mehr weiter darüber nach.

Der Flug nach Islay war ein reines Vergnügen. Ich hatte so viele Flugstunden hinter mir, daß ich die Maschine im Schlaf steuern konnte, und bei dem idealen Wetter und der festgelegten Route brauchte ich nichts zu tun, als zu genießen. Das tat ich, weil ich gern allein war. Vor allem in einer winzigen, lauten, leistungsfähigen kleinen Kapsel bei 25000 Umdrehungen in der Minute, in fünfzehnhundert Meter Höhe, bei hundertzehn Meilen Geschwindigkeit, Kurs immer 313°, unterwegs nach Nordwesten, zum Meer und einer schottischen Insel.

Ich fand Islay ohne Schwierigkeiten und stellte mein Funkgerät auf die Frequenz des Flughafens Port Ellen ein.

»Port Ellen Kontrollturm, hier ist ›Golf Alpha Romeo Kilo November‹, hören Sie mich?«

{31}Eine Stimme mit schottischem Akzent erwiderte: »›Golf Alpha Romeo Kilo November‹, guten Tag, verstanden.«

»›Kilo November‹ von Südosten Entfernung fünfzehn Meilen, erbitte Landeanweisung, Ende.«

»›Kilo November‹ Landeerlaubnis, Rollbahn Nullvier. Wind Nullsechsnull, zehn Knoten, bei Sicht melden.«

Ich folgte den Anweisungen, flog um den Platz, drosselte den Motor, drehte die Maschine in den Wind, drückte die Maschine nach unten, landete und rollte zum Kontrollturm.

Nachdem ich in einem Imbißraum gegessen hatte, machte ich einen Spaziergang am Meer, atmete die linde Luft vom Atlantik und vergaß, Heidekraut zu suchen. Die Insel döste in der Sonne. Nichts rührte sich hier am Sonntag. Es war friedlich, fern von allem Trubel und beruhigte die Nerven. Seelenbalsam, wenn man drei Stunden blieb, entnervend, wenn man sein ganzes Leben dort zubringen mußte.

Der goldene Schimmer am Himmel war schon verflogen, als ich den Rückweg antrat. Ich flog zufrieden durch Dämmerung und Dunkelheit, navigierte mit Kompaß und orientierte mich nach den Funkfeuern, die ich überflog. In Carlisle machte ich eine Zwischenlandung, um zu tanken, dann kehrte ich ohne Zwischenfall nach Lincolnshire zurück, landete weich und ein wenig traurig auf dem vertrauten Flugfeld.

Wie gewöhnlich war das Klubzimmer neben der Halle auch an diesem Sonntag brechend voll. Alles Amateurpiloten wie ich, die alle gleichzeitig von Sackflügen, Trudeln, Nennleistung, von Slippen und Kursversetzung redeten. Ich drängte mich durch die Menge bis zur Bar und besorgte mir einen Whisky mit Wasser, der auf meiner Zunge einen trockenen, guten Geschmack hinterließ und mich daran erinnerte, wo ich gewesen war.

Als ich mich umdrehte, entdeckte ich direkt neben mir den Mann vom Empfang, der sich mit einem rothaarigen jungen Mann unterhielt. Als er meinen Blick bemerkte, sagte er zu dem Jungen:

{32}»Hier ist jemand, mit dem Sie sich mal unterhalten sollten. Unser Henry hier ist zwar stumm wie ein Fisch, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen … Von dem können die meisten hier noch ne Menge lernen.« Seine Geste umfaßte die im Raum Anwesenden. »Fragen Sie Henry mal. Als er anfing, ging’s ihm genau wie Ihnen, da hat er überhaupt nichts gewußt. Das ist keine drei oder vier Jahre her.«

»Vier«, sagte ich.

»Na bitte, vier Jahre. Und jetzt hat er den Privatpilotenschein und einen Haufen Flugstunden und kann einen Motor auseinandernehmen wie ein Mechaniker.«

»Das reicht«, unterbrach ich ihn milde. Der junge Mann zeigte sich ohnehin nicht im geringsten beeindruckt, da er gar nicht verstand, was der andere ihm sagte. »Wahrscheinlich ist es einfach so, daß man, wenn man erstmal angefangen hat, immer weitermacht. Eins führt dann immer zum anderen.«

»Ich habe heute meine erste Unterrichtsstunde gehabt«, sagte der junge Mann begeistert, und die nächste Viertelstunde mußte ich mir seinen detaillierten Bericht anhören. Ich aß zwei dicke Schinkensandwiches, während er sich alles von der Seele redete, und trank meinen Whisky aus. Man konnte es ihm wirklich nicht übelnehmen, dachte ich, während ich ihm mit halbem Ohr zuhörte. Wenn es einem beim ersten Mal gefiel, dann packte einen dieser erste Flug bei der Kehle, und man war der Fliegerei mit Haut und Haaren verfallen. So war es ihm gegangen. So war es mir gegangen – eines müßigen Tages, als ich am Tor des Flugplatzes vorbeifuhr, nur so, um vielleicht eine Spritztour in einem der kleinen Flugzeuge zu machen, bloß um mal zu sehen, wie es war.

Ich hatte gerade eine Großtante besucht, die im Sterben lag, und war niedergeschlagen. Natürlich könne Mr. …? »Grey«, sagte ich. Natürlich könne Mr. Grey mit einem Fluglehrer einen Rundflug machen, hieß es, und der Fluglehrer, dem man nicht gesagt hatte, was ich wollte, fing ganz selbstverständlich an, mir das {33}Fliegen beizubringen. Ich blieb den ganzen Tag dort und gab ein ganzes Wochengehalt für Unterrichtsgebühren aus. Und am folgenden Sonntag fuhr ich wieder hin. Seitdem sind die meisten meiner Sonntage und der größte Teil meines Geldes auf diese Weise hingegangen.

Der Rothaarige wurde unterbrochen, als sich ein stämmiger Mann im Tweedanzug zwischen uns schob.

»Sie entschuldigen«, sagte er freundlich, aber unmißverständlich zu dem Jüngling. Er wandte sich an mich. »Henry, ich habe schon auf Sie gewartet.«

»Wollen Sie etwas trinken?«

»Ja … später.«

Er hieß Tom Wells und betrieb eine kleine Charterfirma, die ihren Stützpunkt auf dem Flugplatz hatte. Sonntags, wenn nichts Besonderes vorlag, vermietete er seine Flugzeuge an den Club. Ich war mit einer seiner Maschinen nach Islay geflogen.

»Hab’ ich was angestellt?« fragte ich.

»Angestellt? Wie kommen Sie denn darauf? Nein, ich sitze in der Patsche. Hoffentlich können Sie mir aushelfen.«

»Wenn es geht, gern.«

»Ich habe am nächsten Wochenende überbucht und einen Piloten zuwenig. Übernehmen Sie am Sonntag einen Flug für mich?«

»Ja«, sagte ich. Ich hatte das schon mehrmals gemacht.

Er lachte.

»Sie sagen wirklich kein Wort zuviel, Henry. Vielen Dank. Wann kann ich Sie anrufen, um Ihnen Ihre Instruktionen zu geben?«

Ich zögerte.

»Ich rufe lieber selbst an, wie üblich.«

»Also bis Samstag früh.«

»Abgemacht.«

Wir tranken einen Whisky miteinander, er beklagte sich über den zunehmenden Mangel an brauchbaren Piloten und erklärte {34}