Scherben - Dick Francis - E-Book

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Dick Francis

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Beschreibung

Gerard Logan ist Glasbläser und betreibt sein Metier mit Enthusiasmus. Flexibel in heißem, zerbrechlich in kaltem Zustand, durchsichtig und in allen Farben leuchtend aus Glas sind seine Träume gemacht. Die aber werden rücksichtslos zerschmettert: Gerards Freund, der Jockey Martin Stukely, hatte ihm kurz vor seinem Tod auf der Rennbahn ein Videoband übergeben lassen, das offensichtlich so heiße Informationen enthält, daß alle Welt dahinter her ist. Insbesondere eine Verbrecherbande, der jedes Mittel recht ist, Scherben inklusive "

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Seitenzahl: 346

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Dick Francis

Scherben

Roman

Aus dem Englischen von Malte Krutzsch

Titel der 2000

bei Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe:

›Shattered‹

Copyright © 2000 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2002 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von

Tomi Ungerer

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23365 0 (3.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60609 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Für

Ihre Majestät Königin Elizabeth,

die Königinmutter

anläßlich ihres hundertsten Geburtstages

mit unendlicher Dankbarkeit, Liebe

und allen guten Wünschen

von Dick Francis

Ich danke auch

Stephen Zawistowski, Glasmacher

Stephen Spiro, Professor der Pulmologie

Tanya Williams, Polizei West Mercia

meinem Enkel Matthew Francis

für den Titel

und

meinem Sohn Felix

[7] 1

An dem Tag, als Martin Stukely bei einem Jagdrennen tödlich verunglückte, fuhren wir zu viert zur Rennbahn Cheltenham.

Es war Silvester 1999, der letzte Tag des Jahres. Ein kalter Wintermorgen. Die Welt an der Schwelle zur Zukunft.

Martin hatte sich gegen zwölf in seinen BMW gesetzt, ohne Böses zu ahnen, und auf dem Weg zur Arbeit seine drei in den Cotswolds wohnenden Mitfahrer abgeholt. Ein erfolgreicher, selbstbewußter Jockey, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte.

Als er zu meinem großen Haus am Hang über dem langgezogenen Fremdenverkehrsort Broadway kam, war die Luft in dem geräumigen Wagen bereits vom duftigen Rauch seiner Lieblingszigarre erfüllt, der Montecristo No. 2, die ihm das Essen ersetzte. Mit vierunddreißig verbrachte er von Tag zu Tag mehr Zeit in der Sauna, und dennoch verlor sein Stoffwechsel allmählich den Kampf mit der Waage.

Er war von Natur aus gut gebaut und hatte von seiner italienischen Mutter das lebhafte Temperament und die Liebe zum guten Essen geerbt.

Mit Bon-Bon, seiner molligen, geschwätzigen, wohlhabenden Frau lag er unaufhörlich im Streit, und seine vier kleinen Kinder beachtete er kaum, wenn er sie nicht gerade [8] stirnrunzelnd ansah, als fragte er sich, wer sie waren. Auf der Rennbahn aber führten sein Können, sein Mut und sein Pferdeverstand ihn fast immer zum Sieg, und auf der Fahrt nach Cheltenham erörterte er nüchtern seine Aussichten in den beiden Hürdenrennen und dem längeren Jagdrennen an diesem Nachmittag. Auf den viertausendachthundert Metern über die Jagdsprünge kam seine Verwegenheit, sein kontrollierter Leichtsinn immer erst richtig zum Zug.

Mich holte er an diesem schicksalhaften Freitagmorgen zuletzt ab, da ich der Rennbahn Cheltenham am nächsten wohnte.

Neben ihm im Wagen saß bereits Priam Jones, der Trainer, für den er regelmäßig ritt. Priam war ein As in der Kunst der Selbstbeweihräucherung, aber nicht ganz so gut, wie er meinte, wenn es darum ging, die Form eines von ihm betreuten Pferdes einzuschätzen. Den Steeplechaser Tallahassee hatte mein Freund Martin am Telefon als Goldkandidaten für Cheltenham eingestuft, da er auf den Tag genau fit sei, doch Priam Jones fuhr sich über das lichte, mit den Jahren weiß gewordene Haar und teilte dem Besitzer des Pferdes in blasiertem Ton mit, Tallahassee könne sich auf weicherem Boden sicherlich noch steigern.

Lloyd Baxter, der Besitzer von Tallahassee, saß neben mir auf der Rückbank und hörte sich das wenig begeistert an, während er eine von Martins Zigarren gleichmäßig zu Asche verbrennen ließ, und ich dachte bei mir, Priam Jones hätte seine vorauseilende Entschuldigung besser für sich behalten sollen.

Es war ungewöhnlich, daß Martin Tallahassees Besitzer und Trainer durch die Gegend fuhr. Meistens nahm er nur [9] andere Jockeys oder mich mit, aber Priam Jones hatte kürzlich seine Reifen zuschanden gefahren, als er in einem Anfall von Überheblichkeit unbedingt auf einem durch Krallen gesicherten Platz parken wollte. Nun gab er der Stadt die Schuld und fand, sie müsse ihm den Schaden bezahlen.

Priam, so hatte Martin mir unwillig erzählt, hatte es als selbstverständlich angesehen, daß Martin den Chauffeur machte und nicht nur ihn, sondern auch den Besitzer des Pferdes mitnahm, der mit einem kleinen Charterflugzeug, das jetzt auf dem Flughafen Staverton stand, von Nordengland gekommen war und bei ihm übernachtet hatte.

Ich konnte Lloyd Baxter so wenig leiden wie er mich. Martin hatte mir von Priams Reifenpanne erzählt (›Hüte deine Lästerzunge und blende ihn mit deinem Lächeln‹) und mich gebeten, den millionenschweren, ewig verdrießlichen Besitzer nach Kräften einzuseifen für den Fall, daß sich Priam Jones’ Befürchtungen bewahrheiteten und das Pferd leer ausging.

Ich sah Martin im Rückspiegel grinsen, als ich mein Mitgefühl wegen der platten Reifen bekundete. Man hatte mir für ein Jahr den Führerschein entzogen, nachdem ich mit hundertsechzig Sachen über die Oxforder Ringstraße gerast war, um Martin, der ein gebrochenes Bein hatte, zu seinem todkranken ehemaligen Gärtner zu bringen, und dafür dankte er mir jetzt, indem er mich mit dem Auto herumfuhr, wann immer er konnte. Das wacklige Herz des Gärtners hatte dann, wie das Leben so spielt, noch sechs Wochen durchgehalten. In einem Vierteljahr würde ich meinen Führerschein zurückbekommen.

Die Freundschaft zwischen Martin und mir, zwei auf den [10] ersten Blick eher gegensätzlichen Typen, war vor gut vier Jahren aus heiterem Himmel durch ein Lächeln ausgelöst worden, oder vielmehr durch die Lachfältchen, die ich an seinen – und er offenbar an meinen – Augen gesehen hatte.

Wir hatten uns als Geschworene bei der Verhandlung eines unkomplizierten Falls von Gattenmord am hiesigen Gericht kennengelernt. Der Prozeß dauerte nur zweieinhalb Tage. Anschließend hatte Martin mir bei einem Glas Mineralwasser von der Tyrannei der Waage erzählt. Was uns verband, obwohl ich mit Pferden ebensowenig zu tun hatte wie er mit der Hitze und Chemie, die meinen Alltag prägten, war vielleicht das Bewußtsein, daß wir körperlich fit sein mußten, um in unserem jeweiligen Metier zu bestehen.

Im Beratungsraum der Geschworenen hatte Martin mich nur mit höflichem Interesse gefragt: »Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Glasbläser.«

»Bitte?«

»Ich stelle Gegenstände aus Glas her. Vasen, Zierat, Trinkgefäße und dergleichen.«

»Du liebe Zeit.«

Ich mußte über seine Verwunderung lächeln. »Es gibt so Leute. Glaswaren werden seit vielen tausend Jahren hergestellt.«

»Ja, aber…«, er überlegte, »Sie sehen nicht aus wie jemand, der Zierat herstellt. Sie sehen ziemlich… robust aus.«

Ich war vier Jahre jünger als er, einen halben Kopf größer und ihm an Kraft wahrscheinlich ebenbürtig.

»Ich mache auch Pferde«, sagte ich freundlich. »Ganze Herden habe ich schon gemacht.«

[11] »Der Crystal Stud Cup«, fragte er mit Bezug auf einen edel gestalteten Pokal im Flachrennsport, »ist der von Ihnen?«

»Der nicht.«

»Hm… Haben Sie denn einen Namen? Baccarat oder so?«

Ich lächelte schief. »Schön wär’s. Ich heiße Logan. Gerard Logan.«

»Logan Glas.« Er nickte verstehend. »Sie haben einen Laden in der High Street in Broadway, wo die ganzen Antiquitätenhandlungen sind. Kenn ich vom Sehen.«

Ich nickte. »Geschäft und Werkstatt.«

Mehr schien er darüber nicht wissen zu wollen, aber eine Woche darauf war er in meine Galerie gekommen, hatte sich eine Stunde lang aufmerksam umgeschaut, mich gefragt, ob die ausgestellten Arbeiten alle von mir seien (die meisten waren es), und mir angeboten, mich zum Pferderennen mitzunehmen. Schon bald hatten wir uns an die Eigenheiten und Schwächen des anderen gewöhnt. Bon-Bon benutzte mich als Schutzschild im täglichen Streit, und für die Kinder war ich ein Spielverderber, weil ich sie nicht an meinen Glasofen ließ.

In der ersten Hälfte dieses Renntags in Cheltenham lief alles normal. Martin gewann das Hürdenrennen über 3200Meter mit sechs Längen, und Priam Jones maulte, sechs Längen seien zuviel. Für die Ausgleichsrennen sei das Pferd damit gestorben.

Martin zuckte die Achseln, zog belustigt die Brauen hoch und ging in die Jockeystube, um Lloyd Baxters Farben anzulegen, schwarzweiß gewinkelt quergestreift, mit rosa [12] Ärmeln und rosa Kappe. Ich sah am Führring zu, wie die drei Männer – Trainer, Besitzer und Jockey – Tallahassee begutachteten, der zielbewußt an der Hand seines Pflegers im Kreis ging. Tallahassee stand bei den Buchmachern fünfundzwanzig zu zehn: klarer Favorit im Rennen um die Coffee Forever Gold Trophy.

Lloyd Baxter hatte ungeachtet der Bedenken seines Trainers auf ihn gesetzt und ich genauso.

Am allerletzten Hindernis blieb Tallahassee völlig überraschend mit den Hufen hängen. Locker mit sieben Längen führend, sprang er unkonzentriert, trat voll in das dichte Reisig, schlug einen Purzelbaum und landete mit zehn Zentner Lebendgewicht so auf seinem Reiter, daß sein Widerrist und der Sattelbaum ihm den Brustkorb eindrückten.

Das Pferd stürzte mitten in der Beschleunigung zum Finish und schlug mit etwa fünfzig Stundenkilometern hin. Sekundenlang blieb es reglos auf dem Jockey liegen und wälzte sich dann heftig hin und her in dem Bemühen, wieder auf die Beine zu kommen.

Von meinem Platz auf der Tribüne war der Sturz und was danach kam wirklich furchtbar anzusehen. Der tosende Beifall für den Favoriten, der ein beliebtes Rennen nach Hause ritt, wich kollektivem Luftanhalten, einzelnen Schreien, einem besorgten Raunen. Der tatsächliche Sieger ging ohne den ihm gebührenden Applaus durchs Ziel, und einige tausend Ferngläser richteten sich auf die reglose Gestalt im schwarzweiß gemusterten Dress, die auf dem grünen Dezembergras lag.

Der Rennbahnarzt, der mit seinem Wagen sofort heranfuhr und sich um ihn kümmerte, konnte die rasch [13] hinzukommende Schar von Sanitätern und Presseleuten nicht daran hindern, mit anzusehen, wie Martin Stukely starb. Sie sahen das Blut, das schaumig aus dem Mund des erstickenden Jockeys trat, während die scharfen Spitzen gebrochener Rippen ihm die Lunge zerrissen. Sie schilderten das Husten, das Röcheln in ihren Berichten.

Der Arzt und die Sanitäter luden Martin noch lebend in den bereitstehenden Krankenwagen und versorgten ihn auf dem Weg zur Klinik fieberhaft mit Sauerstoff und Blut, doch bevor sie dort ankamen, hatte der Jockey das Rennen verloren.

Priam, sonst nicht gerade ein Gefühlsmensch, weinte ungeniert, als er nachher Martins Habe, darunter auch die Wagenschlüssel, in der Jockeystube abholte. Begleitet von Lloyd Baxter, der eher verärgert als betrübt aussah, zog er die Nase hoch, schneuzte sich und bot mir an, mich nach Broadway mitzunehmen und mich dort an meinem Geschäft abzusetzen, wenn auch nicht an meinem Haus am Hang, da er in die entgegengesetzte Richtung weiterfahren wollte, nämlich zu Bon-Bon, um sie zu trösten.

Ich fragte Priam Jones, ob er mich mit zu Bon-Bon nehmen könne. Das lehnte er ab. Bon-Bon wolle ihn allein sehen. Das habe sie ihm in ihrem Kummer am Telefon gesagt.

Auch Lloyd Baxter werde er jetzt in Broadway absetzen, fügte Priam hinzu. Er habe ihm das letzte freie Zimmer im dortigen Hotel besorgt, dem Wychwood Dragon. Es sei alles geregelt.

Lloyd Baxter zeigte der Welt, seinem Trainer, mir und seinem Schicksal ein finsteres Gesicht. Er hätte gewinnen [14] müssen, fand er. Ohne eigenes Verschulden war er um diese Ehre gebracht worden. Sein Pferd war unverletzt geblieben, aber dem toten Jockey schien er böse zu sein, statt um ihn zu trauern.

Als Priam mit hängenden Schultern und Baxter mit tiefen Stirnfalten in Richtung Parkplatz marschierten, kam Eddie, Martins Jockeydiener, hinter mir hergestürzt und rief meinen Namen. Ich blieb stehen, drehte mich um, und er drückte mir den Rennsattel in die Hand, der zwar superleicht war, aber, auf Tallahassees Rücken festgeschnallt, Verletzung und Tod gebracht hatte.

Die Steigbügel samt Riemen waren um das Sattelblatt gelegt und mehrfach mit dem langen Gurt umwickelt. Das professionelle Sattelzeug machte mir wie die Kamera meiner kürzlich verstorbenen Mutter mit der Gewalt eines Hammerschlags klar, daß der Mensch, der dazugehörte, niemals wiederkehren würde. Martins leerer Sattel ließ mich seinen Verlust auf das schmerzlichste empfinden.

Eddie der Jockeydiener war alt und kahl, aber nach Martins Einschätzung ein harter Arbeiter und über jeden Tadel erhaben. Er wandte sich wieder in Richtung Waage, blieb dann aber stehen, kramte ein in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen aus den tiefen Taschen seiner Schürze und rief mir nach, ich solle warten.

»Das ist bei Martin für Sie abgegeben worden«, sagte er und hielt mir das Päckchen hin. »Martin wollte es mitnehmen und es Ihnen nach dem Rennen aushändigen, aber…«, er schluckte, die Stimme versagte ihm, »…das kann er ja jetzt nicht mehr.«

»Wer hat es abgegeben?«

[15] Der Jockeydiener wußte es nicht. Er wußte nur, daß Martin den Überbringer gekannt und im Scherz gesagt hatte, das Päckchen sei eine Million wert, und er war ganz sicher, daß es für Martins Freund Gerard Logan sein sollte.

Ich nahm das Päckchen dankend an, steckte es in meinen Regenmantel, und einen Moment lang fühlten wir den Verlust, der uns getroffen hatte, in seiner ganzen Bitterkeit. Als Eddie davoneilte, um wieder seiner Arbeit nachzugehen, und ich den Weg zum Parkplatz fortsetzte, dachte ich bei mir, daß dies mein letzter Besuch auf der Rennbahn gewesen sein könnte, denn ohne Martin machte es wohl keinen Spaß mehr.

Priam kamen beim Anblick des leeren Sattels wieder die Tränen, und Lloyd Baxter schüttelte mißbilligend den Kopf. Aber Priam faßte sich immerhin so weit, daß er Martins Wagen anlassen konnte und uns in düsterem Schweigen nach Broadway fuhr, wo er Lloyd Baxter und mich wie geplant vor dem Wychwood Dragon absetzte, um allein zu Bon-Bon und ihren vaterlosen Kindern zu fahren.

Lloyd Baxter ließ mich einfach stehen und stapfte mißmutig in das Hotel. Auf der Fahrt hatte er sich beklagt, daß seine Reisetasche bei Priam zu Hause stehe. Er war von Staverton aus mit einem Leihwagen zu Priam gekommen, um den Abend auf dessen nun geplatzter Silvesterparty zu verbringen und den Sieg im Coffee Gold Cup zu feiern, bevor er am Neujahrsmorgen zurück zu seinem zweihundert Hektar großen Anwesen in Northumberland flog. Tallahassees Besitzer war auch dadurch nicht zu besänftigen, daß Priam versprach, ihm die Tasche nach seinem Besuch bei Bon-Bon persönlich vorbeizubringen. Der ganze [16] Nachmittag sei schiefgelaufen, maulte er, und es hörte sich an, als spielte er mit dem Gedanken, sich einen neuen Trainer zu suchen.

Mein Glaswarengeschäft war nur einen Katzensprung vom Wychwood Dragon entfernt auf der anderen Straßenseite. Wenn man vom Platz vor dem Hotel herüberschaute, blitzten die Schaufenster in ultrahellem Licht, und sie waren tagaus, tagein von morgens bis Mitternacht beleuchtet.

Gern hätte ich, als ich über die Straße ging, die Zeit auf gestern zurückgedreht, damit Martin wieder zu mir kommen und eines seiner unmöglichen Glasbläserkunststücke vorschlagen könnte, die, wenn ich mich daran versuchte, jedesmal Bewunderer und Abnehmer fanden. Martin hatte sich besonders dafür interessiert, wie Glas überhaupt hergestellt wurde, und mir immer wieder zugesehen, wenn ich die Grundstoffe selbst zusammenmischte, statt das Material einfach im Handel zu kaufen.

Das vorgefertigte Rohglas wurde in 200-Kilo-Trommeln geliefert und sah wie undurchsichtige Murmeln oder dicke graue Erbsen aus, halb so groß wie das spiegelblanke Glasspielzeug, das daraus wurde. Ich griff regelmäßig darauf zurück, da es frei von Verunreinigungen war und einwandfrei schmolz.

Als Martin zum ersten Mal zusah, wie ich einen Wochenvorrat dieser grauen Murmeln in den Hafen meines Ofens lud, wiederholte er laut die Zusammensetzung: »Achtzig Prozent des Gemenges ist weißer Quarzsand vom Toten Meer. Zehn Prozent ist Soda. Pro fünfzig Pfund kommen etwas Antimon, Barium, Kalzium und Arsenik hinzu. Blaufärbung erzielt man durch Beimischen von Kobaltoxyd [17] oder gemahlenem Lapislazuli. Gelb durch Kadmium, das beim Erhitzen orange und rot wird, na, wer hätte das gedacht?«

»Das ist Kristallglas«, bekräftigte ich lächelnd. »Völlig unbedenklich auch in der Küche zu verwenden, ich mache viel damit. Sogar Kleinkinder dürfen es ablecken.«

Er sah mich überrascht an. »Ist denn Glas nicht immer unbedenklich?«

»Na ja… nein. Wenn man mit Blei arbeitet, muß man überaus vorsichtig sein. Bleikristall. Wunderschöne Sache. Aber Blei ist extrem giftig. Bleioxyd vielmehr, das wird dem Glas zugesetzt. Ein rostrotes Pulver, das man im Rohzustand streng von allem anderen getrennt und unbedingt unter Verschluß halten muß.«

»Und was ist mit Weingläsern aus geschnittenem Bleikristall?« fragte er. »Ich meine, Bon-Bons Mutter hat uns ein paar geschenkt.«

»Keine Sorge«, zog ich ihn auf. »Wenn ihr bis jetzt gesund geblieben seid, werden sie so schlimm nicht sein.«

»Herzlichen Dank.«

Schon als ich durch die massive Ladentür mit ihren facettierten Glasscheiben trat, empfand ich die Leere, die Martin hinterließ. Und es war nicht so, als hätte ich keine anderen Freunde gehabt. Ich traf mich hin und wieder zu Bier und Wein mit ein paar Leuten, die nicht im Traum daran gedacht hätten, Sprudel zu trinken oder in der Sauna Pfunde herunterzuschwitzen. Zwei davon, Hickory und Irish, arbeiteten bei mir als Gehilfen, wobei Hickory etwa in meinem Alter war und Irish wesentlich älter. Der Wunsch, mit Glas zu arbeiten, erwacht oft erst spät im Leben wie bei [18] Irish, der schon vierzig war, aber manchmal, wie bei mir selbst, stellt sich die Faszination ein wie das erste gesprochene Wort, so früh, daß man sich gar nicht mehr daran erinnern kann.

Ein Onkel von mir war ein angesehener Glasmacher gewesen und ein Virtuose im Umgang mit dem Feuer. Er erhitzte feste Glasstäbe in der Flamme eines Gasbrenners, bis er feine Spitzenmuster daraus drehen konnte, und er ließ Engel und Krinolinen mit ebenso leichter Hand entstehen wie Untersätze jeder Art für den Laborbedarf.

Zuerst war er belustigt über das neugierige Kind, das ihm da auf die Pelle rückte, doch bald fand er es anregend, und schließlich nahm er es ernst. Ich lernte bei ihm, wann immer ich die Schule schwänzen konnte, und er starb, als meine Fingerfertigkeit fast schon an seine heranreichte. Da war ich sechzehn. In seinem Testament hinterließ er mir Pläne und Anweisungen für den Bau einer eigenen Werkstatt, vor allem aber die unschätzbar wertvollen Notizbücher, in denen er sein einzigartiges Können jahrelang dokumentiert hatte.

Ich verwahrte sie in einem verschließbaren Bücherschrank, den ich dafür gebaut hatte, und ergänzte sie durch eigene Notizen zu Technik und Material, wenn ich etwas Besonderes entwarf. Der Schrank stand im hinteren Teil der Werkstatt zwischen den Lagerregalen und den vier hohen grauen Spinden, in denen meine Helfer und ich unsere Siebensachen aufbewahrten.

Von Onkel Ron stammte auch der Firmenname, Logan Glas, und er hatte mir ein Minimum an Geschäftssinn eingetrichtert. Wenigstens sollte ich wissen, daß ein einmal von [19] einem Glasbläser angefertigtes Stück grundsätzlich von jedem anderen kopiert werden durfte, was den Preis empfindlich drückte. In seinen letzten Lebensjahren bemühte er sich mit Erfolg, Stücke von unnachahmlicher Originalität herzustellen, nicht einmal ich durfte dabei zusehen, sollte aber hinterher versuchen, die Technik herauszufinden und die Sachen nachzubauen. Gelang mir das nicht, zeigte er mir gern, wie es ging, und er freute sich, daß ich dazulernte, bis ich schließlich selbst in der Lage war, ihm knifflige Aufgaben zu stellen.

Am Spätnachmittag nach Martins Tod war mein Glashaus überfüllt von Leuten, die Souvenirs für die bevorstehende Jahrtausendwende suchten. Ich hatte eine Vielzahl von hübschen Kalenderhaltern entworfen und sie in allen Farbkombinationen hergestellt, die erfahrungsgemäß bei den Touristen ankamen. Wir hatten sie buchstäblich zu Hunderten verkauft, und allen hatte ich mein Zeichen eingeritzt. Noch war es nicht soweit, aber wenn es nach mir ging, war im Jahr 2020 ein signierter Gerard-Logan-Kalenderhalter vielleicht schon ein Sammlerstück.

In der Galerie waren die Unikate, die eher ausgefallenen, teureren Einzelstücke ausgestellt und ins beste Licht gerückt; in den Regalen im Verkaufsraum standen die kleineren, reizvoll bunten und preiswerten Schmuckgegenstände, die in jeden Reisekoffer paßten.

Eine Längswand des Verkaufsraums war nur hüfthoch, so daß man in die dahinterliegende Werkstatt schauen konnte, wo Tag und Nacht der Ofen brannte und die kleinen grauen Kugeln bei einer Temperatur von 1400Grad Celsius zu Glas geschmolzen wurden.

[20] Hickory, Irish und ihre Kollegin Pamela Jane gingen mir abwechselnd in der Werkstatt zur Hand. Einer der beiden anderen erklärte den Kunden, wie die Arbeit ablief, und der dritte verpackte die Ware und machte die Kasse. Im Idealfall hätten wir uns alle vier abgewechselt, aber erfahrene Glasbläser sind rar, und meine drei engagierten Helfer waren über das Modellieren von Briefbeschwerern und Pinguinen noch nicht hinaus.

Das Weihnachtsgeschäft war toll gewesen, aber mit Neujahr 2000 nicht zu vergleichen. Und da ich nur echte Handarbeit und vorwiegend eigene Arbeiten verkaufte, war ich mit dem Besuch auf der Rennbahn heute zum ersten Mal seit einem Monat vom Ofen weggekommen. Manchmal hatte ich bis in die Nacht hinein gearbeitet und immer von acht Uhr früh an, assistiert von einem meiner drei Helfer. Die körperliche Erschöpfung hatte ich weggesteckt. Ich war gesund – Martin meinte immer, wer 1400Grad um die Ohren hat, braucht keine Sauna.

Hickory, der gerade die Glasmacherpfeife, ein anderthalb Meter langes Stahlrohr, drehte und schwenkte, um Farbe in einen glühendheißen Briefbeschwerer zu bringen, schien unerhört erleichtert, daß ich wieder da war. Pamela Jane, ernst lächelnd, mager, nervös und prompt aus dem Konzept gebracht, sagte mitten in der Kundeninformation: »Da ist er ja, da ist er ja…«, und Irish schaute von dem kobaltblauen Delphin auf, den er gerade in blütenweißes Papier einschlug, und stieß einen Seufzer aus: »Gott sei Dank!« Sie sind zu abhängig von mir, dachte ich.

»Hallo, Leute«, sagte ich wie üblich, ging in die Werkstatt hinüber, zog Jacke, Schlips und Hemd aus und zeigte [21] mich der millenniumsverrückten Kundschaft im ärmellosen weißen Designertrikot, meiner Arbeitskleidung. Hickory machte seinen Briefbeschwerer fertig und schwenkte die Pfeife nach unten, um das Glas abkühlen zu lassen, wobei er achtgab, daß er sich nicht die nagelneuen Turnschuhe ansengte. Ich machte aus Unfug einen wie aus Bändern bestehenden blaugrünroten Fisch, eine geodätische Spielerei, die sehr schwierig aussah und mich mit vierzehn vor unlösbare Rätsel gestellt hatte. Das Licht schien in allen Regenbogenfarben durch.

Die Kunden legten Wert auf den Nachweis, daß die Ware an diesem Tag entstanden war. Ich ließ den Laden länger auf und fertigte datierte Schalen, Teller, Vasen ohne Ende wie gewünscht, während Pamela Jane erklärte, sie seien erst am nächsten Morgen, Neujahr, abholbereit, da sie langsam über Nacht abkühlen müßten. Das schien niemanden zu stören. Irish notierte die Namen der Kunden und unterhielt sie mit Witzen. Es herrschte eine angeregte und festliche Stimmung.

Irgendwann kam Priam Jones kurz vorbei. Als er wegen Martin bei Bon-Bon gewesen war, hatte er meinen Regenmantel auf dem Rücksitz des Wagens liegen sehen. Ich war sehr froh darüber und dankte ihm herzlich. Er neigte den Kopf und lächelte sogar. Seine Tränen waren getrocknet.

Als er gegangen war, hängte ich den Mantel in meinen Spind. Dabei schlug etwas gegen mein Knie, und mir fiel das Päckchen ein, das Eddie der Jockeydiener mir gegeben hatte. Ich legte es auf ein Regal hinten in der Werkstatt, wo es nicht störte, und ging wieder hinaus zu meiner Kundschaft.

[22] Die Ladenschlußzeiten waren unbestimmt, aber schließlich sperrte ich hinter dem letzten Kunden ab, so daß Hickory, Irish und Pamela Jane noch auf ihre Partys kamen. Das Päckchen, das Priam Jones mir mit dem Regenmantel vorbeigebracht hatte, war immer noch nicht geöffnet. Das Päckchen von Martin… den ganzen Abend hatte er mir schwer im Nacken gesessen, ein unruhiger, lachender Geist, der mich vorantrieb.

Traurig sicherte ich den Glasofen gegen Vandalen und kontrollierte die Temperatur der Kühlöfen, in denen all die neu gemachten Stücke allmählich abkühlten. Der Glasofen, den ich nach den Plänen meines Onkels gebaut hatte, bestand aus Schamottestein und wurde unter Hochdruck mit Propangas betrieben. Er brannte Tag und Nacht mit mindestens 1000Grad, heiß genug, um nicht nur Papier zu entflammen, sondern die meisten Metalle zum Schmelzen zu bringen. Wir wurden oft gefragt, ob sich ein Andenken wie etwa ein Ehering in einen Briefbeschwerer einschließen ließe, und mußten darauf leider mit Nein antworten. Glasfluß brachte Gold – und Haut – im Nu zum Schmelzen. So gesehen war geschmolzenes Glas ganz schön gefährlich.

Ohne Eile räumte ich die Werkstatt auf, rechnete zweimal die Tageseinnahmen zusammen und packte sie in die Segeltuchtasche, in der ich sie immer zum Nachttresor der Bank brachte. Dann zog ich Hemd und Schlips wieder an, und endlich hatte ich Zeit, mir das vernachlässigte Päckchen einmal näher anzuschauen. Es enthielt genau das, wonach es aussah, eine gewöhnliche Videokassette, etwas enttäuschend. Das Band war bis zum Anfang zurückgespult und die Kassette schwarz, ohne jedes Etikett. Sie hatte keine [23] Hülle. Ich legte sie erst einmal neben das Geld, und da fiel mir ein, daß mein Videogerät zu Hause stand, daß ich meinen Wagen verkauft hatte und daß kurz vor Mitternacht zur Jahrtausendwende nicht die günstigste Zeit war, um ein Taxi zu rufen.

Mein Programm für Silvester, ein Tanzabend in der Nähe meiner Wohnung, hatte sich auf der Rennbahn von Cheltenham erledigt. Geh halt ins Wychwood Dragon, dachte ich ohne sonderliche Begeisterung; vielleicht war da noch ein Zimmerchen frei. Ich würde mir auf der anderen Straßenseite ein Sandwich und eine Wolldecke nehmen und ins neue Jahr hineinschlafen, und morgen früh würde ich eine Huldigung an einen Jockey entwerfen.

Als ich gerade zum Wychwood Dragon aufbrechen wollte, klopfte jemand fest an die Facettenglastür, und ich ging nur an die Tür, um dem Anklopfer zu sagen, daß es viel zu spät sei, daß in einer Viertelstunde auch in Broadway das Jahr zweitausend beginne, das in Australien bereits seit Stunden eingeläutet war. Ich sperrte auf, und vor mir stand ebenso unverhofft wie unerwünscht Lloyd Baxter, dem ich mit einem unterdrückten Gähnen in aller gebotenen Höflichkeit erklärte, ich sei einfach zu müde, um mich über das Unglück von Cheltenham oder sonst etwas zum Thema Pferde zu unterhalten.

Er trat ins Licht des Eingangs, und ich sah, daß er eine Flasche Dom Perignon und zwei der besten Sektgläser des Wychwood Dragon in den Händen hielt. Sein Gesichtsausdruck war ungeachtet dieser Friedenspfeifen immer noch sehr ungnädig.

[24] »Mr.Logan«, sagte er steif, »ich kenne hier niemand außer Ihnen, und daß zur Freude kein Anlaß besteht, dürfte uns beiden wohl klar sein… nicht nur, weil Martin Stukely tot ist, sondern weil das nächste Jahrtausend noch blutiger zu werden verspricht als dieses, und was es an einer neuen Jahreszahl zu feiern gibt, sehe ich nun wirklich nicht ein, zumal das Datum sicher ohnehin nicht stimmt.« Er schöpfte Atem. »Daher wollte ich den Abend auf meinem Zimmer verbringen –« Er brach plötzlich ab, und ich hätte den Satz für ihn zu Ende sprechen können, bedeutete ihm aber nur, einzutreten, und schloß die schwere Tür hinter ihm.

»Trinken wir auf Martin«, sagte ich.

Er schien über mein Entgegenkommen erleichtert, obwohl er wenig von mir hielt und alt genug war, um mein Vater zu sein. Aber die Einsamkeit hatte ihn zu mir geführt, und so stellte er die Gläser auf den Ladentisch, ließ feierlich den Korken knallen und schenkte das teure Gesöff ein.

»Trinken Sie, auf was Sie wollen«, sagte er bedrückt. »Vielleicht war es keine so gute Idee, herzukommen.«

»Doch«, sagte ich.

»Ich konnte die Musik hören, verstehen Sie?«

Die ferne Musik draußen hatte ihn aus seinem Zimmer getrieben. Musik übt auf das Gesellschaftstier Mensch eine starke Anziehung aus. Niemand wollte still ins Jahr 2000 gehen.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Nur neun Minuten noch bis Mitternacht.

Man mußte den organisierten Rummel nicht unbedingt mitmachen, schon gar nicht, wenn man unter dem Eindruck heftiger, frischer Trauer stand, und doch fand ich den [25] Gedanken an eine neue Chance, einen möglichen Neuanfang, unwillkürlich aufregend.

Neue Jahreszahlen sind voller Verheißung.

Fünf Minuten bis Mitternacht… und bis zum Feuerwerk. Ich trank Lloyd Baxters Champagner und konnte ihn immer noch nicht leiden.

Tallahassees Besitzer hatte seine Reisetasche gebracht bekommen und Gesellschaftskleidung angezogen, inklusive schwarzer Krawatte. Die beinah edwardianische Gepflegtheit schien das Erdrückende seiner Persönlichkeit eher zu verstärken als zu mindern.

Ich kannte ihn zwar schon seit mindestens zwei Jahren und hatte schon bei erfreulicheren Anlässen seinen Schampus getrunken, mir bisher aber noch nicht die Mühe gemacht, seine Gesichtszüge eingehend zu studieren. Als ich das jetzt nachholte, entsann ich mich, daß sein dichtes, kräftiges Haar früher braun gewesen war, aber seit er die Fünfzig überschritten hatte, waren graue Strähnen hineingekommen, erst nur einzelne, die sich meinem Eindruck nach aber rasch vermehrt hatten. Sein Schädel war kräftig und fast urzeitlich, mit wulstigen Brauen und einem ausgeprägten Kinn.

Früher mochte er einmal schlank und hungrig gewesen sein, aber mit dem ausgehenden Jahrhundert hatte er an Hals und Bauch zugelegt und die achtunggebietende Statur eines Vorstandsvorsitzenden angenommen. Wenn er mehr nach einem Industriellen als nach einem Gutsherrn aussah, so lag das vielleicht daran, daß er, um Rennpferde und Grund zu erwerben, die Aktienmehrheit an einer Schifffahrtslinie verkauft hatte.

[26] Grimmig hatte er mir mitgeteilt, daß er von jungen Männern wie mir, die nach Belieben tagelang blaumachen konnten, nichts hielt. Ich wußte, daß er mich als einen Schmarotzer ansah, der von Martin zehrte, auch wenn Martin oft genug betont hatte, es sei eher umgekehrt. Offenbar tat sich Lloyd Baxter schwer damit, eine einmal gefaßte Meinung zu ändern.

Draußen in der kalten Nacht läuteten Englands Glocken fern und nah zum alles entscheidenden Augenblick, zur Feier des offiziellen Jahreswechsels, und stellten wieder einmal klar, daß die Menschheit es geschafft hatte, einem gleichgültigen Planeten ihre Rechenweise aufzuzwingen. Lloyd Baxter hob sein Glas, um auf einen guten Vorsatz zu trinken, und ich schloß mich seiner Geste an, wünschte mir aber lediglich, gesund durchs Jahr 2000 zu kommen. Höflichkeitshalber fügte ich an, wenn er mich entschuldige, würde ich draußen auf sein Wohl trinken.

»Bitte«, sagte er leise.

Ich öffnete die Galerietür, ging mit meinem golden sprudelnden Getränk hinaus auf die Straße und sah, daß es noch viele andere Leute ins Freie gezogen hatte. Eine ganze Heerschar genoß, wie von einem übernatürlichen Instinkt getrieben, die frische Luft unter den Sternen.

Der Mann, der im Laden nebenan antiquarische Bücher verkaufte, schüttelte mir kräftig die Hand und wünschte mir gutmütig ein frohes neues Jahr. Ich lächelte und dankte ihm. Lächeln war leicht. An diesem rundum friedlichen Ort begrüßte man das neue Jahr und die Nachbarn in aller Herzlichkeit. Fehden konnten warten.

Ganz in der Nähe hatten Leute einen großen Reigen [27] gebildet, schunkelten mit verschränkten Armen über die Straße und sangen »Auld Lang Syne« mit ziemlich bruchstückhaftem Text, und ein paar Autos voller ausgelassen johlender Jugendlicher krochen mit Fernlicht und wildem Gehupe vorbei. Alle in der High Street feierten auf ihre Weise, doch die Stimmung war durchweg gut.

Vielleicht blieb ich deshalb länger als beabsichtigt draußen, ehe ich mich widerwillig entschloß, in den Laden zu meinen tresorfertigen Tageseinnahmen und meinem ungebetenen Gast zurückzukehren, dessen Laune sich durch meine Abwesenheit sicher nicht gebessert hatte.

Bedauernd lehnte ich einen Malt Whisky ab, den mir der Buchhändler anbot, und empfand, als ich zu Logan Glas hinüberging, einen ersten Anflug von Resignation darüber, daß Martin nicht mehr da war. Ihm war immer bewußt gewesen, daß der Beruf sein Tod sein könnte, aber er hatte nicht damit gerechnet. Stürze waren zwar unvermeidlich, aber sie passierten »ein andermal«. Verletzungen wurden schlicht als lästig angesehen, weil sie das Siegen erschwerten. Gutgelaunt hatte er mir einmal erklärt, er werde seine Stiefel »an den Nagel hängen«, sobald er Angst habe, sie anzuziehen.

Nicht Angst, sondern die Angst vor der Angst plage ihn, hatte er gesagt.

Ich legte mir eine Entschuldigung zurecht, als ich die schwere Ladentür aufstieß, mußte aber feststellen, daß ganz andere Maßnahmen nötig waren.

Lloyd Baxter lag mit dem Gesicht nach unten, reglos und ohne Bewußtsein, auf dem Fußboden meines Verkaufsraums.

[28] Schnell setzte ich mein Glas auf der Theke ab, kniete mich neben ihn und faßte besorgt an seinen Hals, um ihm den Puls zu fühlen. Obwohl seine Lippen bläulich verfärbt waren, sah er irgendwie nicht wie ein Toter aus, und zu meiner großen Erleichterung spürte ich ein schwaches Poch, Poch unter den Fingern. Ein Schlag vielleicht? Ein Herzinfarkt? Von Medizin hatte ich so gut wie keine Ahnung.

Ich hockte mich auf die Fersen und dachte, wie furchtbar, in so einer Nacht den Krankenwagen rufen zu müssen. Mit ein paar Schritten war ich an dem Ladentisch, auf dem die Kasse, das Telefon und die anderen Büromaschinen standen. Ohne viel Hoffnung wählte ich den Notruf, aber der Rettungsdienst war auch an Silvester erreichbar, und erst als ich nach der Zusicherung, sie kämen sofort, auflegte, bemerkte ich, daß die Geldtasche nicht mehr neben der Kasse stand. Sie war fort. Ich suchte sie überall, aber eigentlich wußte ich genau, wo ich sie hingestellt hatte.

Ich fluchte. Für jeden Penny hatte ich hart gearbeitet. Geschuftet hatte ich. Mir taten immer noch die Arme weh. Jetzt war ich deprimiert und wütend zugleich. Ich fragte mich, ob Lloyd Baxter dazwischengegangen war – ob er bewußtlos geschlagen worden war, als er mein Eigentum gegen Diebe verteidigt hatte.

Die unbeschriftete schwarze Videokassette fehlte ebenfalls. Die Empörung des Beraubten, der feststellt, daß die Diebe auch kleinere Beute nicht verschmäht haben, schürte noch meinen Zorn. Der Verlust der Kassette traf mich sehr, wenn auch auf einer anderen Ebene als der des Geldes.

Ich rief die Polizei an, die ich aber nicht im mindesten [29] beeindruckte. Sie war auf Bomben, nicht auf Eierdiebstahl eingestellt. Morgen früh, hieß es, komme jemand vorbei.

Lloyd Baxter regte sich, stöhnte und lag wieder still. Ich kniete mich neben ihn, zog ihm die Krawatte aus, schnallte ihm den Gürtel auf und drehte ihn ein wenig auf die Seite, damit er nicht Gefahr lief, zu ersticken. Aber er hatte Blutspritzer um den Mund.

Die Mitternachtskälte drang mir in die Knochen, und Baxter war ihr natürlich noch mehr ausgesetzt. Dabei toste im Schmelzofen, hinter der Schiebetür, ein unerhört heißes Feuer, und da es mir zu kalt wurde, öffnete ich schließlich die Tür mit einem Tritt aufs Pedal und ließ die Hitze in die Werkstatt strömen, bis sie den Verkaufsraum nebenan erreichte.

Normalerweise war es mit dem durchgehend brennenden Ofen und einem Heizlüfter in der Galerie hier auch im Winter warm genug, aber bis Hilfe für Baxter eintraf, hatte ich ihn in meine Jacke und alles sonst noch Greifbare eingemummt, und er fühlte sich trotzdem noch kalt an.

Das superkompetente Team, das dann mit dem Krankenwagen kam, nahm alles in die Hand, klopfte den Patienten ab, durchsuchte und leerte seine Taschen, stellte eine erste Diagnose und hüllte ihn zum Transport in eine rote Wärmedecke. Während all das geschah, kam Baxter ein wenig zu sich, ohne jedoch ganz an die Oberfläche des Bewußtseins emporzutauchen. Sein Blick flackerte nur einmal wirr über mein Gesicht, bevor ihm die lichtscheuen Augen wieder zufielen.

Die Sanitäter füllten Formulare aus und fragten mich nach Baxters Namen, Anschrift und, soweit bekannt (aber [30] da mußte ich passen), nach seinen Krankheiten. Einer listete alle Gegenstände auf, die sie ihm abgenommen hatten, von einer goldenen Piaget-Armbanduhr bis zum Inhalt seiner Hosentaschen – Taschentuch, ein Fläschchen mit Tabletten und einen Hotelzimmerschlüssel mit einer dicken Eisenkugel als Anhänger, den man nicht so leicht liegenließ.

Ich brauchte nicht zu fragen, ob ich den Schlüssel im Hotel abgeben sollte, die Sanitäter schlugen es selbst vor. Ich steckte das rasselnde Ding ein und sah mich im Geist schon Baxters Sachen in seine vielgereiste Tasche packen, vor allem aber in seinem Bett schlafen, da die Sanitäter mir versicherten, er müsse die Nacht über im Krankenhaus bleiben.

»Was fehlt ihm denn?« fragte ich. »Hat er einen Herzinfarkt? Einen Schlaganfall? Hat ihn, ehm… jemand angegriffen und bewußtlos geschlagen?«

Ich erzählte ihnen von dem Geld und der Videokassette.

Sie schüttelten die Köpfe. Der älteste von ihnen wischte meine Vermutungen beiseite. Wie er es sah, hatte Baxter weder einen Herzinfarkt (sonst wäre er bei Bewußtsein gewesen) noch einen Hirnschlag und auch keine sichtbaren Verletzungen am Schädel. Seiner Ansicht nach, so erklärte er selbstbewußt, hatte Lloyd Baxter einen epileptischen Anfall erlitten.

»Was?« fragte ich verständnislos. »Bis vorhin ging es ihm doch sehr gut.«

Die Sanitäter nickten wissend. Einer zeigte mir die Aufschrift auf dem Tablettenfläschchen, »Phenytoin«, und meinte, das sei ein Medikament für Epileptiker.

»Epilepsie«, sagte der Chefsanitäter bestätigend. »Und jede Wette, daß er versäumt hat, es einzunehmen. Hier paßt [31] alles zusammen. Alkohol.« Er wies auf die leere Flasche Dom. »Wach bleiben bis in die Nacht. Streß… ist nicht gestern sein Jockey tödlich verunglückt? Dazu kommen die bläulichen Lippen und der schwache Puls, die Blutspritzer am Mund, weil er sich auf die Zunge gebissen hat… und ist Ihnen nicht aufgefallen, daß seine Hose naß ist? Da kann nämlich Wasser abgehen.«

[32] 2

Da das Wychwood Dragon fest in den Händen eines Drachens war, einer Direktorin, die eine Kollektion bunter Glastierchen auf ihrem Frisiertisch stehen hatte und mich gelegentlich einlud, das Bett mit ihr zu teilen, konnte ich dort sozusagen nach Belieben ein und aus gehen. Die Glastierchen waren allerdings eher Trostpflaster als Trophäen, denn bei den dreißig Jahren Altersunterschied zwischen uns hatte sie zum Glück Verständnis dafür, wenn ich nein sagte. Ihre Gewohnheit, mich vor allen Leuten »Liebster« zu nennen, war trotzdem peinlich, und ich wußte, daß in Broadway weithin angenommen wurde, sie verspeise mich mit Rührei zum Frühstück.

Jedenfalls hatte niemand etwas dagegen, daß ich in Lloyd Baxters Zimmer schlief. Am anderen Morgen packte ich seine Sachen zusammen, erklärte alles dem Drachen und bat ihn, das Gepäck ins Krankenhaus zu schicken. Dann ging ich in meine Werkstatt hinüber, doch so lebhaft ich Martins Bild auch im Kopf hatte, er weigerte sich, in Glas Gestalt anzunehmen. Eingebungen kommen nach ihrer eigenen Uhr, und ich hatte oft die Erfahrung gemacht, daß sie sich nicht zwingen ließen.

Das Feuer toste im Ofen. Ich setzte mich an die Werkbank, einen Tisch aus rostfreiem Stahl, auf dem ich jetzt [33] Flüssigglasklumpen in unvergängliche Form hatte bringen wollen, und sah nur den lebenden Martin in Natur vor mir, Martin, wie er lachte und Rennen gewann, und dachte an Martins verlorengegangene Nachricht auf der Videokassette. Wo war diese Kassette, was war darauf, und wem war sie wichtig genug, um sie zu stehlen?

Diese unergiebigen Gedanken wurden durch die Türglocke unterbrochen. Es war erst neun, und wir hatten angekündigt, es sei ab zehn geöffnet.

Vor der Tür stand kein mir bekannter Kunde, sondern eine junge Frau in einem weiten Schlabberpullover, der ihr bis zu den Knien ging, mit einer Baseballmütze auf dem rotblond gefärbten und gesträhnten Strubbelkopf. Wir schauten uns interessiert an, ihre braunen Augen waren lebhaft und neugierig, ihr Kinn in rhythmischer Bewegung dank eines Kaugummis.

Ich sagte höflich: »Guten Morgen.«

»Ja, genau.« Sie lachte. »Frohes neues Jahrtausend und den ganzen Quatsch. Sind Sie Gerard Logan?«

Ihr Akzent war Estuary, Essex oder Themse: mußte man abwarten.

»Logan«, nickte ich. »Und Sie?«

»Kriminalkommissarin Dodd.«

Ich blinzelte. »Zivilfahndung?«

»Lachen Sie nur«, sagte sie, intensiv kauend. »Sie haben heute früh um halb eins einen Diebstahl gemeldet. Darf ich reinkommen?«

Sie trat in die hell erleuchtete Galerie und fing Feuer.

Aus Gewohnheit setzte ich sie geistig in Glas um, Gefühl und Licht gebündelt zu einer abstrakten Form, [34] genau der instinktive Vorgang, der mir bei Martin nicht gelungen war.

Kriminalkommissarin Dodd, die davon nichts mitbekam, präsentierte nüchtern ihren Dienstausweis, der sie in Uniform zeigte und mir ihren Vornamen verriet, Catherine. Ich gab ihr den Ausweis zurück und beantwortete ihre Fragen, doch die Ansicht der Polizei stand bereits fest. Zu dumm, daß ich eine Tasche voller Geld hatte herumstehen lassen, meinte sie. Wer machte denn so was? Und Videokassetten gab es im Dutzend billiger. Die steckte man ein, ohne groß nachzudenken.

»Was war denn drauf?« fragte sie, den Stift schreibbereit überm Notizblock.

»Ich habe keine Ahnung.« Ich erklärte ihr, wie das in braunes Papier eingeschlagene Päckchen in meinen Besitz gekommen war.

»Pornografie. Mit Sicherheit.« Ein weltmüdes Urteil, kurz und bündig ausgesprochen. »Anonym.« Sie zuckte die Achseln. »Würden Sie sie unter anderen Videokassetten herauskennen, wenn Sie sie noch mal sehen?«

»Sie war unbeschriftet.«

Ich langte in den Papierkorb und gab ihr das zerknüllte und zerrissene Einwickelpapier. »Das ist so für mich abgegeben worden«, sagte ich. »Ohne Briefmarke.«

Skeptischen Blickes nahm sie das Papier, verschloß es in eine Plastiktüte, ließ mich auf dem Clip unterschreiben und stopfte es irgendwo unter ihren superweiten Pullover.

Meine Antwort auf ihre Frage nach dem gestohlenen Betrag ließ sie zwar ihre Augenbrauen hochziehen, doch sie nahm offensichtlich an, ich würde die Segeltuchtasche und [35] das kleine Vermögen darin nie wiedersehen. Schecks und Kreditkartenbelege hatte ich natürlich noch, aber die Touristen unter meinen Kunden zahlten meistens bar.

Ich erzählte ihr von Lloyd Baxter und seinem epileptischen Anfall. »Vielleicht hat er den Dieb gesehen«, sagte ich.

Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht ist er der Dieb. Könnte er den Anfall simuliert haben?«

»Die Sanitäter waren anscheinend nicht der Meinung.«

Sie seufzte. »Wie lange waren Sie denn draußen auf der Straße?«

»Glockenläuten, ›Auld Lang Syne‹, frohes neues Jahrtausend…«

»Eine knappe halbe Stunde?« Sie sah auf ihren Notizblock. »Um 0Uhr27 haben Sie den Rettungsdienst verständigt.«

Sie schlenderte durch den Verkaufsraum, betrachtete die bunten kleinen Vasen, die Clowns, Segelboote, Fische und Pferde. Sie nahm einen Engel mit Heiligenschein in die Hand und stieß sich an dem Preisschild unter seinen Füßen. Ihre rote Mähne fiel nach vorn, rahmte das aufmerksame Gesicht ein, und wieder war der scharfe Verstand hinter der saloppen Staffage für mich deutlich zu erkennen. Sie war Polizeibeamtin durch und durch, nicht so sehr eine Schmeichelkatze.

Entschieden stellte sie den Engel wieder ins Regal, klappte ihren Notizblock zu, steckte ihn weg und zeigte mit ihrer Körpersprache an, daß die Unterredung trotz fehlender Ergebnisse damit zu Ende war. Die diensttuende Kriminalkommissarin Dodd schickte sich an, auf die Straße zu gehen.

[36] »Warum?« fragte ich.

»Warum was?« Sie konzentrierte sich auf den Rollenwechsel.

»Warum der zu große Pullover und die Baseballmütze?«

Sie blitzte mich mit amüsierten Augen an und wandte sich wieder der Außenwelt zu. »Sie sind zufällig in meinem Revier beraubt worden. Ich bin auf eine Autoknackerbande angesetzt, die hier um Broadway herum an Feiertagen Autos stiehlt. Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.«

Sie grinste vergnügt und schlurfte die Straße hinunter, blieb aber bei einem Mann stehen, der wie ein Obdachloser aussah und zusammengekauert in einem Ladeneingang saß.

Schade, daß das Blumenkind und der Penner nicht um Mitternacht auf Autoknackerstreife waren, dachte ich bei mir und rief im Krankenhaus an, um zu hören, wie es Baxter ging.

Bei Bewußtsein und brummig war er, wenn ich es recht verstand. Ich ließ ihm schöne Grüße bestellen.

Dann war es Zeit für Bon-Bon.