Weinprobe - Dick Francis - E-Book

Weinprobe E-Book

Dick Francis

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Man vermenge eine Flüssigkeit mit Schießpulver und zünde sie an wenn das Gemisch mit ruhiger blauer Flamme brennt, beweist dies, dass die Flüssigkeit mindestens 50% Alkohol enthält. Dem Weinhändler Tony Beach genügt ein simpler Zungentest, um festzustellen, dass in den Flaschen mit dem teuren Bordeaux und dem noblen Scotch gepanschte Brühe schwimmt. Doch seine Entdeckung erweist sich als ziemlich explosiv

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 418

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dick Francis

Weinprobe

Roman

Aus dem Englischen von Malte Krutzsch

Titel der 1984 bei Michael Joseph Ltd., London, erschienenen Originalausgabe: ›Proof‹ Copyright © 1984 by Dick Francis Die deutsche Übersetzung erschien erstmals 1986 im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin; sie wurde vom Übersetzer für die vorliegende Ausgabe überarbeitet Copyright © der deutschen Übersetzung Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M., Berlin Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer

Mein Dank gilt Margaret Giles von Pangbourne Wines, die mich in ihr Metier einführte, Barry Mackaness und meinem Schwager Dick Yorke, Weinimporteure, sowie Len Livingstone-Learmonth, dem langjährigen Freund

Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 2012

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Seelische Qualen sind verpönt. Man soll nicht weinen. Insbesondere soll man nicht weinen, wenn man zweiunddreißig ist und einigermaßen vorzeigbar. Wenn die Ehefrau seit sechs Monaten tot ist und alle anderen mit der Trauer fertig sind.

Nun ja, sagen sie, er kommt schon drüber weg. Es gibt noch andere hübsche Frauen. Die Zeit heilt alle Wunden, sagen sie. Eines Tages heiratet er wieder.

Ohne Zweifel haben sie recht.

Aber, du lieber Gott… die Leere in meinem Haus. Die tiefe, erdrückende, unausweichliche Einsamkeit. Die Stille, wo sonst Lachen war, der kalte Kamin, in dem bei meiner Rückkehr sonst Feuer loderte, die bleibende Lücke in meinem Bett.

Nach sechs Monaten unablässigen Schmerzes hatte ich das Gefühl, es wäre kein großes Unglück, selbst bald zu sterben. Zur Hälfte tot war ich bereits – sechs Jahre freudig geschenkter Liebe, von Dunkelheit verschluckt. Was geblieben war, litt einfach… Das Leiden war der Normalzustand.

Aus Gewohnheit sah ich weiterhin nach links und rechts, wenn ich die Straße überquerte; ich führte meinen Laden weiter, verkaufte meine Weine und lächelte und lächelte die Kunden an.

[6] 2

Kundschaft gab es in allen möglichen Varianten, vom Schulkind, das Kartoffelchips und Cola kaufte, weil mein Laden direkt an der Bushaltestelle lag, bis zu den Sergeants der örtlichen Kaserne; von Rentnern, die verschämt für einen Tropfen Gin sparten, bis zu den bewußten Genießern, die Portwein verlangten. Kunden kamen einmal im Jahr und auch täglich, als Unwissende oder Kenner, des Frohsinns und des Trostes wegen, in Schwermut und in Trunkenheit. Die Kundenskala reichte von süßlich bis bitter, wie ihre Getränke.

Mein vornehmster Kunde an diesem kalten Oktobersonntagmorgen war ein Pferdetrainer, der traditionsgemäß zur Feier der Flachrennen, die sein Stall auch in der auslaufenden Saison wieder gewonnen hatte, Schampus für rund hundert Gäste strömen ließ. Jeden Herbst, wenn sein Name oben auf der Erfolgsliste stand, bedankte er sich mit einer Einladung bei seinen Besitzern, seinen Jockeys, seiner weitverzweigten Bekanntschaft, um die Genugtuung über vergangene Freuden mit ihnen zu teilen und die Weichen für den Neubeginn im kommenden Frühjahr zu stellen.

Jeden September rief er in seinem ewig gehetzten Zustand an: »Tony? Sonntag in drei Wochen, ja? Wie gehabt, wieder im Zelt. Sie stellen die Gläser? Und in Kommission natürlich, ja?«

»Ja«, sagte ich dann, und fort war er, bevor ich Luft holen konnte. Seine Frau Flora würde später ins Geschäft kommen, um lächelnd die Einzelheiten nachzureichen.

Entsprechend fuhr ich an diesem Sonntag um zehn zu ihm nach Hause und parkte, so nah es ging, bei dem großen, ehemals [7] weißen Festzelt, das straffgespannt auf dem Rasen stand. Er kam aus dem Haus gespurtet, sowie ich anhielt, weil er wahrscheinlich schon nach mir Ausschau gehalten hatte: Jack Hawthorn, um die Sechzig, klein, dick und clever.

»Tony. Hervorragend.« Er klopfte mir leicht auf die Schulter. Das war seine übliche Begrüßung, denn er umging gewohnheitsmäßig den Brauch des Händeschüttelns. Nicht aus Furcht vor den ansteckenden Bazillen anderer Leute, wie ich ursprünglich einmal angenommen hatte. Eine spitzzüngige Turfnärrin hatte mich belehrt, er habe »Hände wie eine frisch aufgetaute Qualle« und sähe es ungern, wenn sich Leute, die ihn anfaßten, danach die Handteller an ihren Kleidern abwischten.

»Ein guter Tag zum Feiern«, sagte ich.

Er blickte kurz zum Himmel. »Wir brauchen Regen. Der Boden ist wie Beton.« Pferdetrainer waren, genau wie Farmer, mit dem Wetter nie zufrieden. »Haben Sie auch alkoholfreie Sachen dabei? Der Scheich kommt mit seinem ganzen abstinenten Anhang. Hatte ich vergessen.«

Ich nickte. »Champagner, Softdrinks und eine Kiste Allerlei.«

»Gut. Fein. Ich überlasse Ihnen das. Die Serviererinnen kommen um elf, die Gäste um zwölf. Und Sie bleiben doch auch? Als mein Gast natürlich. Versteht sich von selbst.«

»Ihr Sekretär hat mir eine Einladung geschickt.«

»Hat er? Donnerwetter. Welch ein Überblick. Alles klar. Wenn Sie was brauchen, kommen Sie zu mir.«

Ich nickte, und wie üblich hastete er davon; er nahm das Leben im Trab. Trotz des Sekretärs, eines etwas trägen Mannes mit stolzer Nase und einem unermüdlichen Talent zu präziser Kleinarbeit, konnte Jack mit dem, was er tun wollte, nie so ganz Schritt halten. Flora, seine seelenruhige Frau, hatte mir erklärt: »Es ist Jimmy (James, der Sekretär), der die Pferde für die Rennen meldet, Jimmy, der die Rechnungen verschickt, Jimmy, der allein den vielen Schreibkram erledigt; Jack braucht noch nicht [8] einmal eine Briefmarke anzufassen. Diese ganze Hast ist Gewohnheit. Reine Gewohnheit.« Aber sie hatte liebevoll gesprochen, so wie jeder, mehr oder weniger, von Jack Hawthorn sprach. Und vielleicht war es gerade die pralle Energie dieses Mannes, die sich seinen Pferden mitteilte und ihnen zum Sieg verhalf. Er lud mich immer zu seinen Festen ein, ob offiziell oder nicht. Einesteils wohl, damit ich zur Stelle war, falls Probleme in der Alkoholzufuhr auftauchten, aber auch, weil ich selbst in eine Ecke der Rennwelt hineingeboren war und immer noch als dazugehörig galt, trotz meines unerklärlichen Übertritts zum Spirituosenhandel.

»Kein Sohn seines Vaters«, wie es die Intoleranten ausdrückten. Oder direkter: »Nichts vom Schneid der Familie.«

Mein Vater, ein Soldat, hatte sowohl den Kriegsverdienstorden als auch den Military Gold Cup errungen, war ebenso heldenhaft über Hindernisse gestürmt wie in feindliches Gebiet. Seine Tapferkeit auf allen Kampfplätzen hatte Ehrfurcht erweckt, und er starb mit gebrochenem Genick auf der Rennbahn von Sandown, als ich elf war und zuschaute.

Er war damals siebenundvierzig gewesen und blieb natürlich der Rennwelt mit diesem Alter in Erinnerung, als ein großer, aufrechter, lachender, verwegener Mann, der mir nach wie vor unberührt schien von den Sorgen der Welt. Obwohl seine Statur alles andere als ideal war für einen Rennreiter, war er entschlossen in die Fußstapfen seines Vaters getreten, meines Großvaters – eines fernen Giganten, der einmal den zweiten Platz im Grand National erritt, bevor er sich im 1. Weltkrieg mit militärischem Ruhm bedeckte. Das Viktoriakreuz meines Großvaters lag in dem Schaukästchen, das ich geerbt hatte, neben dem Kriegsverdienstorden meines Vaters. Ihren Biß, ihr Flair, ihre Waghalsigkeit hatten sie nicht weitergegeben.

»Ob du wohl wie dein Vater wirst?« hatte man mich unzählige Male freundlich und erwartungsvoll in meiner Kindheit [9] gefragt, und nur langsam war es allen, auch mir selber, aufgegangen, daß ich nicht so werden würde. Ich lernte reiten, ohne mich auszuzeichnen. Ich ging nach Wellington, der Schule für Soldatensöhne, aber nicht weiter nach Sandhurst, um selbst die Uniform anzulegen. Nur zu oft sagte meine Mutter: »Mach dir nichts draus, Liebling«, wenn sie geduldig so manche Enttäuschung hinnahm; und ich bekam starke Minderwertigkeitsgefühle, die wider alle Vernunft fortdauerten.

Erst mit Emma waren sie bedeutungslos geworden, aber jetzt, wo sie tot war, tauchten sie leise, aber hartnäckig wieder auf. Eine vermeintlich abgelegte Empfindung, die schleichend in ungeschützte Winkel vordrang. Scheußlich.

Jimmy, der Sekretär, half keineswegs. Er kam, die Hände in den Taschen, aus dem Haus geschlendert und sah zu, wie ich drei verzinkte Waschwannen aus dem Heck meines Lieferwagens hievte.

»Wofür sind die?« fragte er. Wahrscheinlich war es nicht zu ändern, daß er einen von oben runter ansah, da er über einsneunzig groß war. Nur paßte auch sein Ton dazu.

»Eis«, sagte ich.

Er sagte: »Oh«, oder vielmehr »O-uh«, mit einem Doppelvokal.

Ich trug die Wannen in das Zelt, das auf einer Seite eineReihe von Klapptischen mit Tafeltüchern enthielt. Um den Fuß der beiden Hauptstützmasten blühten Gruppen eingetopfter Chrysanthemen. Der Rasen war mit strapazierfähigen braunen Matten bedeckt, und rotgoldene Girlanden schmückten, gleichmäßig plaziert, die fleckiggraue Zeltwand. In einer hinteren Ecke stand ein Heizlüfter einsatzbereit. Aber so kalt war es nicht. Das Zelt wirkte beinahe festlich. Beinahe. Jack und Flora verschwendeten kein gutes Geld für Nichtigkeiten – und wer hätte es ihnen verdenken können?

Es lag kein Zittern in der Luft. Keine Warnung. Überhaupt [10] kein Vorbote des Grauens, das sich hier bald ereignen sollte. Alles war ruhig und friedlich, voll freundlicher Erwartung. Hinterher erinnerte ich mich daran besonders.

Jimmy sah weiter zu, während ich eine Kiste Champagner hereinkarrte. Ich packte die Flaschen aus und stellte sie aufrecht in eine der Wannen, die jetzt an der Zeltwand hinter den Tischen am Boden standen. Das gehörte eigentlich nicht mehr zu meiner Aufgabe, doch irgendwie fiel es mir leicht, für Jack Hawthorn mehr zu tun, als verlangt wurde.

Ich arbeitete in Hemdsärmeln, gewärmt von meinem hellblauen ärmellosen Pullover mit V-Ausschnitt (typische Turfkleidung); die Jacke wartete im Lieferwagen auf meine Verwandlung zum geladenen Gast. Jimmy wirkte dezent-elegant, in einem rehbraunen Rollkragensweater unter marineblauem Blazer; blanke Messingknöpfe, keine Wappen, keine Preziosen. Das war das Unangenehme. Wäre er protzig gewesen, hätte ich ihn vielleicht verachten können, anstatt argwöhnen zu müssen, daß es sich umgekehrt verhielt.

Ich holte eine zweite Kiste Champagner und begann, sie auszupacken. Jimmy beugte sich von ganz oben herunter, ergriff eine der Flaschen und starrte auf das Stanniol und das Etikett, als sähe er so etwas zum ersten Mal.

»Was ist das für ein Zeug?« sagte er. »Noch nie gehört.«

»Echter Champagner«, sagte ich milde. »Aus Epernay.«

»Anscheinend.«

»Floras Wahl«, erläuterte ich.

Er sagte einsichtig »O-uh« und stellte die Flasche zurück. Ich holte Eiswürfel in großen schwarzen Plastikbeuteln, und schüttete sie über und um die Flaschen herum.

»Haben Sie auch Scotch mit?« fragte er.

»Vorne im Wagen.«

Er schlenderte davon, um nachzuschauen, und kam mit einer ungeöffneten Flasche wieder.

[11] »Glas?« erkundigte er sich.

Als Antwort ging ich raus zum Lieferwagen und holte einen Karton, der gleich sechzig enthielt.

»Bedienen Sie sich.«

Wortlos öffnete er den Karton, den ich auf einen Tisch gestellt hatte, und nahm eines der Allzweckgläser heraus.

»Ist das Eis genießbar?« fragte er zweifelnd.

»Reines Leitungswasser.«

Er füllte Eis und Whisky in das Glas und nippte davon. »Sie sind ziemlich bissig heute morgen, was?«

Ich warf ihm einen überraschten Blick zu. »Entschuldigung.«

»Wußten Sie, daß gestern in Schottland jemand eine ganze Ladung von dem Zeugs gestohlen hat?«

»Champagner?«

»Nein, Scotch.«

Ich zuckte die Achseln. »Tja… das kommt vor.«

Ich holte eine dritte Kiste und packte die Flaschen aus. Jimmy sah eisklimpernd zu.

»Was verstehen Sie von Whisky, Tony?« sagte er.

»Nun… einiges…«

»Könnten Sie die Sorten auseinanderhalten?«

»Besser bei Wein.« Ich richtete mich von der zweiten gefüllten Wanne auf. »Wieso?«

»Würden Sie es merken«, sagte er mit schlecht gespielter Beiläufigkeit, »wenn Sie einen Malzwhisky verlangten und bekämen einen normalen Durchschnitt vorgesetzt, wie den hier?« Er hob sein Glas und deutete mit einem Nicken darauf.

»Sie schmecken ganz verschieden.«

Kaum merklich entspannte er sich, womit er eine innere Erregung verriet, die mir bis dahin entgangen war. »Könnten Sie einen Malz von einem anderen unterscheiden?«

Ich sah ihn abschätzend an. »Um was geht es eigentlich?«

»Könnten Sie’s?« Er war hartnäckig.

[12] »Nein«, sagte ich. »Nicht heute morgen. Nicht dem Namen nach. Ich brauchte Übung. Dann vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

»Aber… wenn Sie einen bestimmten Geschmack kennen würden, könnten sie den aus einer Reihe von Proben herausfinden? Oder feststellen, ob er nicht dabei ist?«

»Möglich.« Ich schaute ihn abwartend an, aber er ging offenbar mit sich zu Rate und brauchte Zeit. Achselzuckend ging ich noch mehr Eis holen, das ich in die zweite Wanne schüttete; dann brachte ich die vierte Kiste Champagner herein und riß sie auf.

»Mir ist das sehr unangenehm«, sagte er plötzlich.

»Was denn?«

»Ich wünschte, Sie würden aufhören, mit diesen Flaschen zu hantieren, und mir zuhören.«

Seine Stimme war eine Mischung aus Gereiztheit und Unruhe, und langsam richtete ich mich auf, ließ von den Flaschen in der dritten Wanne ab und wurde aufmerksam.

»Dann erzählen Sie mal«, sagte ich.

Er war einige Jahre älter als ich, und unsere Bekanntschaft beschränkte sich im wesentlichen auf meine Besuche bei den Hawthorns, sei es als Getränkelieferant oder auch mal als Gast. Im allgemeinen war er recht höflich zu mir, aber ohne übertriebene Herzlichkeit, und so war es zweifellos auch umgekehrt. Er war der dritte Sohn des vierten Sohnes eines Grafen, der Rennpferde gezüchtet hatte, was ihm zwar einen Adelstitel, aber kein Vermögen einbrachte. Seine Stellung bei Jack Hawthorn rührte angeblich daher, daß ihm der Grips fehlte, um sich in der Londoner Geschäftswelt hervorzutun. Diese Meinung hätte ich wohl akzeptiert, wäre nicht Floras Bewunderung für ihn gewesen, aber so oder so lag mir zu wenig an dem Ganzen, als daß ich mir den Kopf darüber zerbrochen hätte.

»Einer von Jacks Besitzern hat ein Restaurant«, sagte er. »Das [13]Silver Moondance bei Reading. Nichts für gehobene Ansprüche. Abends Tanz. Manchmal ein Sänger. Massenbetrieb.« Es klang kritisch, aber nicht abfällig – eine Feststellung, kein Vorurteil.

Ich wartete unverbindlich.

»Vorige Woche lud er Jack, Flora und mich dorthin zum Dinner ein.«

»Nett von ihm«, sagte ich.

»Ja.« Jimmy sah mich von oben herab an. »Ziemlich.« Er zögerte leicht. »Das Essen war in Ordnung, aber die Getränke… Schauen Sie, Tony, Larry Trent ist einer von Jacks besseren Kunden. Er hat fünf Pferde hier. Zahlt seine Rechnungen pünktlich. Ich will ihm nichts… aber zumindest bei einer der Flaschen in seinem Restaurant steht auf dem Etikett nicht das, was darin ist.«

Er sprach mit Abscheu, worüber ich fast lächeln mußte.

»Das ist nicht direkt ungewöhnlich«, sagte ich.

»Aber es ist gesetzwidrig.« Er war empört.

»Gesetzwidrig schon. Sind Sie sicher?«

»Ja. Also, ich glaube. Aber ich habe mir überlegt, ob Sie vielleicht, bevor ich was zu Larry Trent sage, das Zeug dort mal probieren könnten. Ich meine, einmal angenommen, das Personal beschwindelt ihn? Ich meine, ehm… das könnte ihn vor Gericht bringen, nicht wahr?«

Ich sagte: »Warum haben Sie ihn an dem Abend, als Sie dort waren, nicht darauf angesprochen?«

Jimmy sah verblüfft drein. »Wir waren doch seine Gäste! Es wäre furchtbar unhöflich gewesen. Das werden Sie einsehen.«

»Hm«, meinte ich trocken. »Und warum sagen Sie ihm jetzt nicht, unter vier Augen, was Sie von seinen Drinks gehalten haben? Vielleicht wäre er dankbar. Sicher wäre er gewarnt. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, daß er postwendend seine fünf Pferde abzieht.«

[14] Jimmy gab einen gepeinigten Laut von sich und trank etwas Scotch. »Ich habe Jack darauf angesprochen. Er meinte, ich müßte mich irren. Aber es ist kein Irrtum. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

Ich betrachtete ihn.

»Warum beschäftigt es Sie so?« fragte ich.

»Bitte?« Er war überrascht. »Na, hören Sie, Schwindel ist Schwindel. Das ärgert einen doch.«

»Ja.« Ich seufzte. »Was sollten denn das für Getränke sein?«

»Ich fand den Wein nicht besonders, gemessen am Etikett, aber Sie wissen ja, man hegt keinen Argwohn… aber da war der Laphroaig.«

Ich zog die Stirn kraus. »Der Malzwhisky von Islay?«

»Richtig«, sagte Jimmy. »Starker Malzwhisky. Mein Großvater mochte ihn. Er gab mir öfters einen Schluck ab, als ich klein war, sehr zum Zorn meiner Mutter. Komisch, wie man einen Geschmack, den man als Kind kennenlernt, nie mehr vergißt… und natürlich trank ich ihn auch später noch. Also, die hatten ihn auf dem Servierwagen, mit dem sie den Kaffee auffuhren, und ich dachte, genehmigst dir einen… Nostalgie und so weiter.«

»Und es war kein Laphroaig?«

»Nein.«

»Sondern?«

Er schien unsicher. »Ich dachte eben, das könnten Sie wissen. Wenn Sie davon trinken würden, meine ich.«

Ich schüttelte den Kopf. »Dazu gehört ein richtiger Experte.«

Er sah unglücklich drein. »Also, mir kam es einfach wie gewöhnlicher Verschnitt vor. Ganz normal, noch nicht einmal purer Malz.«

»Besser, Sie unterrichten Mr. Trent«, meinte ich. »Soll er sich der Sache annehmen.«

Er sagte unschlüssig: »Trent wird heute morgen hier sein.«

[15] »Na, wunderbar«, sagte ich.

»Sie, ehm… Sie selbst könnten, ehm… wohl nicht mit ihm sprechen?«

»Nein, auf keinen Fall«, wehrte ich ab. »Von Ihrer Seite könnte es ein freundlicher Fingerzeig sein, bei mir wäre es eine tödliche Beleidigung. Bedaure, Jimmy, aber ehrlich, nein.«

Resignierend sagte er: »Ich dachte es mir schon. Aber den Versuch war es wert.« Er schenkte sich Scotch nach, fügte erneut Eis hinzu, und ich dachte flüchtig daran, daß echte Whiskykenner Eis für eine Schandtat hielten. Wie zuverlässig mochte sein Urteil über den Laphroaig sein?

Flora kam auf ihre leichtfüßige Art in das Zelt. Rundlich, fröhlich, in kirschrotem Wollkleid, blickte sie sich um und nickte zufrieden.

»Sieht ganz hübsch aus, nicht wahr, Tony, Schätzchen?«

»Großartig«, sagte ich.

»Wenn erst die Gäste da sind…«

»Ja«, stimmte ich zu.

Sie war bieder, wohlwollend und gemütlich, Mutter dreier erwachsener (nicht von Jack stammender) Kinder, die regelmäßig mit ihr telefonierten. Bei ihren gelegentlichen Besuchen in meinem Geschäft sprach sie gern von ihnen, und sie neigte dazu, größere Bestellungen aufzugeben, wenn es Gutes von ihnen zu berichten gab. Jack war ihr zweiter Mann, der sich unter ihren Fittichen offenbar wohlfühlte, angeblich aber eifersüchtig auf ihre Sprößlinge war. Erstaunlich, was die Leute ihrem Weinhändler so alles erzählen. Ich wußte eine ganze Menge über eine ganze Menge Leute.

Flora schaute in die Wannen. »Vier Kisten auf Eis?«

Ich nickte. »Nachschub im Lieferwagen, falls Sie mehr brauchen.«

»Hoffentlich nicht.« Sie lächelte süß. »Aber, mein Lieber, ich würde nicht darauf wetten. Jimmy, mein Bester, Sie brauchen [16] doch keinen Whisky zu trinken. Machen Sie einen Champagner auf. Ich hätte gern ein Schlückchen, bevor uns hier alles überrollt.«

Jimmy kam ihrem Wunsch mit graziöser Trägheit nach. Er zog den Korken ohne Knall heraus, indem er den Stoß in der Hand auffing. Flora beobachtete lächelnd den Rauchfaden, der aus der Flasche entwich, und streckte ein Glas vor, um die ersten Perlen aufzufangen. Auf ihr Drängen hin tranken auch Jimmy und ich einen Schluck, aber nach Jimmys Gesichtsausdruck paßte es nicht sehr gut zu seinem Scotch.

»Lecker«, meinte Flora beifällig; und ich fand zwar den Champagner wie gewohnt etwas zu leicht und zu schäumend, doch durchaus annehmbar bei solchen Mengen. Ich verkaufte ihn sehr viel zu Hochzeiten.

Flora nahm ihr Glas und schlenderte das Zelt hinunter zu dem Eingang, durch den die Gäste kommen würden. Der Eingang war auf der dem Haus abgewandten Seite, zu der Wiese hin, wo die Wagen parken sollten. Jack Hawthorns Haus und die Stallungen lagen in einer Mulde am östlichen Rand der Berkshire Downs, ein von Hügeln umgebener Ort, der unsichtbar blieb, bis man nahe genug herankam. Die meisten Leute würden über die Hauptstraße auf der Anhöhe im Rücken des Hauses eintreffen. Sie würden das letzte Stück ins Tal zu Fuß gehen und den Rasen durch ein Tor in der niedrigen Rosenhecke betreten. Nach mehreren solcher Partys hatte Flora das Steuern von Menschenmassen zu einer hohen Kunst entwickelt. Außerdem wurden so auch die Pferde nicht beunruhigt.

Flora tat plötzlich einen lauten Ausruf und kam hastig zurück.

»Es ist doch zu schlimm mit ihm. Da ist schon der Scheich. Sein Wagen kommt den Hügel rauf. Jimmy, lauf ihm entgegen. Jack ist noch beim Umziehen. Führ den Scheich im Hof herum. Tu irgendwas. Zu dumm, wirklich. Sag Jack, daß er da ist.«

[17] Jimmy nickte, stellte ohne Eile sein Glas nieder und zog gemächlich los, um den vermögenden Ölprinzen und sein Gefolge abzufangen. Flora zögerte unschlüssig, anstatt mitzugehen, und ließ sich zu einigen groben Indiskretionen hinreißen.

»Ich mag diesen Scheich nicht. Ich kann nichts dafür. Er ist ein fettes Scheusal und führt sich auf, als ob hier alles ihm gehörte, was schließlich nicht der Fall ist. Und ich mag nicht, wie er mich immer aus halbgeschlossenen Augen ansieht, als ob ich eine Null wäre… aber Tony, Schätzchen, ich habe nichts gesagt, nicht wahr? Mir gefällt es eben nicht, wie die Araber Frauen behandeln.«

»Und seine Pferde gewinnen Rennen«, sagte ich.

»Ja«, seufzte Flora. »Die Frau eines Trainers zu sein ist eben nicht nur Glanz und Herrlichkeit. Manche Besitzer widern mich an.« Sie gab mir ein halbes Lächeln und ging zum Haus hinüber, und ich lud zum Abschluß noch einige Getränke wie Orangensaft und Coca-Cola aus.

Oben auf dem Hügel parkte der uniformierte Chauffeur den verlängerten, schwarzfenstrigen Mercedes, der eindeutig dem Scheich gehörte, mit der Schnauze zum Zelt hin. Nach und nach füllte sich die Reihe dort mit weiteren Autos, welche die Serviererinnen und andere Helfer brachten, und schließlich, in einem steten Zustrom, die mehr als hundert Gäste.

Sie kamen per Rolls, per Range Rover, per Mini und per Ford. Ein Ehepaar traf mit einem Pferdetransporter ein, ein anderes auf dem Motorrad. Manche brachten Kinder mit, andere auch Hunde, von denen die meisten im Wagen blieben. In Kaschmir und Cord, karierten Hemden und Tweed, mit Eleganz und Perlen wanderten sie den grasigen Hang hinunter, durch das Gatter in der Rosenhecke, über die wenigen Meter Rasen und hinein in das einladende Zelt. Man versprach sich einen feuchtfröhlichen Sonntagmorgen und ließ die Sorgen außen vor.

Wie immer bei Partys der Rennwelt kannte jeder irgend [18] jemand. Der Geräuschpegel stieg rasch bis in trommelfellgerbende Höhen, und nur direkt in Wandnähe konnte man sich unterhalten, ohne zu brüllen. Der Scheich, ganz in arabischen Gewändern und flankiert von seiner argusäugigen Gefolgschaft, fiel mir auf als einer, der resolut mit dem Rücken zur Zeltwand stehenblieb, während er einen Orangensaft in der Hand hielt und aus seinen halbgeschlossenen Augen das Gedränge beobachtete. Jimmy bemühte sich ehrenvoll, ihn aufzuheitern, wofür er manches ernste Kopfnicken empfing. Nach und nach sprachen auch einzelne andere Gäste die kräftige Gestalt mit dem bandgeschmückten Kopfputz an, jedoch ausnahmslos Männer und keiner völlig ungezwungen.

Jimmy seilte sich nach einiger Zeit ab, und ich fand ihn an meiner Seite.

»Schwer zu nehmen, der Scheich?« fragte ich.

»So übel ist er gar nicht«, meinte Jimmy loyal. »Ungewandt bei westlichen Geselligkeiten und einfach besessen von der Vorstellung, ermordet zu werden… Man hat mir erzählt, er setzt sich noch nicht einmal in den Zahnarztstuhl, ohne daß seine Leibwachen mit im Behandlungszimmer sind… Aber von Pferden versteht er was. Die liebt er. Sie hätten ihn vorhin bei dem Rundgang im Hof sehen sollen, da sind diese Schlafaugen hellwach geworden.« Er blickte sich in der Gesellschaft um und rief plötzlich aus: »Sehen Sie den Mann, der da mit Flora spricht? Das ist Larry Trent.«

»Mit dem nicht vorhandenen Laphroaig?«

Jimmy nickte, legte unentschlossen die Stirn in Falten und wanderte in eine völlig andere Richtung davon. Sekundenlang beobachtete ich den Mann bei Flora, einen Dunkelhaarigen mittleren Alters mit Schnurrbart, einer der wenigen Leute, die einen Anzug trugen. In seinem Fall war es ein marineblauer Nadelstreifenanzug mit zugeknöpftem Jackett, aus dessen Brusttasche der Saum eines Seidentuchs lugte. Die Gesellschaft blieb [19] in Bewegung, und ich verlor ihn aus den Augen. Dafür kam ich wieder einmal mit einer Reihe von flüchtigen Bekannten ins Gespräch. Die Sorte von Leuten, die man einmal im Jahr oder seltener sieht, mit denen man anknüpft, wo man aufgehört hat, als wäre zwischendurch keinerlei Zeit vergangen. Einer von diesen war es, der unausweichlich, in der besten Absicht, sagte: »Und wie geht’s Emma? Was macht Ihre hübsche Frau?«

Ich werde mich nie daran gewöhnen, dachte ich – an diesen Dorn, der in den bloßen Nerv gestoßen wird, diesen regelrecht physischen Schmerz. Emma… du lieber Gott.

»Sie ist tot«, sagte ich, leicht den Kopf schüttelnd, um es ihm schonend beizubringen, ihm aus der Verlegenheit zu helfen. Ich hatte es schon oft so sagen müssen – viel zu oft. Inzwischen konnte ich es, ohne daß es Unbehagen hervorrief. Die merkwürdige, bittere Kunst der Verwitweten: Anderen ersparte man Kummer, den eigenen verbarg man.

»Das tut mir leid«, sagte er und meinte es, wie alle, in diesem Moment auch völlig ernst. »Ich hatte keine Ahnung. Überhaupt nicht. Ehm… wann…?«

»Vor sechs Monaten«, sagte ich.

»Oh.« Er paßte sein Mitgefühl der seitdem vergangenen Zeit an. »Es tut mir aufrichtig leid.«

Ich nickte. Er seufzte. Das Leben ging weiter. Transaktion vorüber, bis zum nächsten Mal. Es gab immer ein nächstes Mal. Doch wenigstens hatte er nicht gefragt: »Wie…?« und ich hatte es ihm nicht erzählen müssen, hatte nicht an die Schmerzen und das Koma denken müssen, und an das ungeborene Kind, das mit ihr gestorben war.

So manche von Jacks Gästen waren überdies auch meine Kunden, so daß ich bei diesem Rendezvous der Rennwelt bald ebensoviel über Wein sprach wie über Pferde, und während eine ernsthafte ältere Dame mich gerade zum Thema »Côtes du Rhône gegen Côte de Nuits« verhörte, sah ich Jimmy [20] schließlich doch mit Larry Trent reden. Er entdeckte mich ebenfalls und winkte mir, herüberzukommen, doch die ernsthafte Dame wollte den besseren Wein gleich kistenweise kaufen, wenn sie erst überzeugt war, und so vertröstete ich Jimmy in der Gebärdensprache auf später, worauf er verstehend die Hand schwenkte.

Serviererinnen, die Tabletts mit Appetithappen und aufgespießten Würstchen trugen, fädelten sich durch das Gewühl, und ich schätzte, daß doch weit mehr als hundert Kehlen erschienen waren und daß bei der zunehmenden Hochstimmung die ersten achtundvierzig Flaschen jede Minute leer sein würden. Ich war schon unterwegs zum Dienstboteneingang des Zeltes in Hausnähe, als Jack selbst über mich herfiel und mich am Ärmel packte.

»Wir brauchen noch Champagner, und die Kellnerinnen sagen, Ihr Wagen sei abgeschlossen.« Er redete hastig. »Die Party läuft, meinen Sie nicht?«

»Doch, sehr gut.«

»Wunderbar. Fein. Also, ich überlaß das Ihnen.« Er wandte sich ab und klopfte begrüßend auf ein paar Schultern. Die Gastgeberrolle gefiel ihm.

Ich warf einen Blick auf die Wannen – nur zwei Flaschen noch in einem Meer von schmelzendem Eis –, ging raus zum Lieferwagen und kramte in meiner Tasche nach den Schlüsseln. Einen Moment schaute ich den Hang hinauf, wo die ganzen Autos standen, der Landrover, der Pferdetransporter, der Mercedes des Scheichs. Keine Lücken in der Reihe: noch niemand war heimgefahren. Ein Kind war da oben, es spielte mit einem Hund.

Ich schloß die Hecktür meines Lieferwagens auf und beugte mich vor, um die drei Reservekisten herauszuziehen, die leidlich kühl unter weiteren schwarzen Säcken mit Eis lagerten. Ich warf einen der Säcke in das Gras und ergriff die erste Kiste.

[21] Eine Bewegung am Rand meines Gesichtsfeldes veranlaßte mich, den Kopf zu drehen, und im Bruchteil einer Sekunde wurde dieser Durchschnittstag zum Alptraum.

Der Pferdetransporter rollte den Hang hinab.

Immer schneller, direkt auf das Festzelt zu.

Nur noch Meter trennten ihn von der Rosenhecke. Er brach durch die zarten Pflanzen und mähte die letzten rosa Herbstblüten nieder. Er drang unerbittlich auf den Rasen vor.

Ich hechtete zum Zelteingang und schrie eine Warnung, die in dem Lärm niemand hörte und die ohnehin viel zu spät kam.

Einen winzigen, erstarrten Augenblick lang sah ich die Gesellschaft noch unversehrt, eine dichtgedrängte Ansammlung von Menschen, die lachten, tranken und nichts ahnten.

[22] 3

Totale allgemeine Fassungslosigkeit bewirkte etwa fünf Sekunden Stille, dann schrie jemand und schrie immer weiter, ein hysterisch schriller Kommentar zu soviel Grauen.

Der Pferdetransporter hatte die Seitenwand des Zeltes niedergewalzt, hatte Leute unter sich begraben und war gegen einen der großen Masten geprallt, der unter dem Gewicht zerbarst. Die ganze Zeltseite unmittelbar vor mir war eingestürzt, so daß ich mich an ihrem Rand befand, die Trümmer zu meinen Füßen.

Wo ich die Gäste gesehen hatte, sah ich mit blankem Entsetzen jetzt Flächen schwerer grauer Zeltbahn mit zahllosen Ausbuchtungen darunter, die sich verzweifelt bewegten.

Der Pferdetransporter stand obszön in der Mitte, gewaltig, dunkelgrün, unbeschädigt, unpersönlich und erschreckend. Niemand schien hinter dem Steuer zu sitzen, und um die Fahrkabine zu erreichen, hätte man über die verhüllten Knäuel der Lebenden und Toten steigen müssen.

Hinter dem Pferdetransporter, am anderen Ende des Zeltes, in dem noch stehenden Teil, kämpften sich Leute durch die Überreste des Eingangs und durch Risse in der Wandung nach draußen. Einer nach dem anderen taumelten und stolperten sie ins Freie, wie Figuren auf einem Fries.

Mir wurde schwach bewußt, daß ich noch die Kiste Champagner in den Händen hielt. Ich setzte sie ab, wo ich stand, drehte mich um und lief schleunigst nach dem Telefon im Haus.

So still dort drinnen. So vollkommen normal. Meine Hände zitterten, als ich den Hörer ergriff.

Polizei und Krankenwagen zu Jack Hawthorns Rennstall. [23] Einen Arzt. Und Hebezeug. Kommt, sagten sie. Kommt alles. Sofort.

Ich ging wieder hinaus, wo ich den gehetzten Blicken anderer begegnete, die von dem gleichen Gedanken erfüllt waren.

»Sie sind unterwegs«, sagte ich. »Unterwegs.«

Alle zitterten, nicht nur ich selbst.

Das Schreien hatte aufgehört, aber viele Leute riefen jetzt – Männer auf der Suche nach ihren Frauen, Frauen nach ihren Männern, eine Mutter nach ihrem Sohn. Alle Gesichter waren bleich, alle Münder standen offen, alle schnappten nach Luft. Man hatte begonnen, die Zeltbahnen mit Taschenmessern aufzuschlitzen um die darunter Verschütteten zu befreien. Eine Frau schnitt methodisch mit einer kleinen Schere die Verschnürung eines Teils der Seitenwand auf, während Tränen ihr über das Gesicht rollten. Die Bemühungen wirkten so kümmerlich, die Aufgabe so ungeheuer.

Flora, Jack und Jimmy, das wußte ich, waren in dem Abschnitt des Zeltes gewesen, der eingestürzt war.

Ein Pferd wieherte in der Nähe und trat gegen das Holz, und mit neuerlichem Schock begriff ich, daß der Lärm aus dem Pferdetransporter kam. Es war ein Pferd drin. Da drin.

Steifbeinig ging ich zu dem noch stehenden Teil des Zeltes hinüber und betrat es durch einen Schlitz, durch den andere herausgekommen waren. Der zweite Mast stand aufrecht, rings um seinen Fuß die leuchtenden Topfchrysanthemen. Viele Gläser und Glasscherben lagen verstreut, und einige Leute versuchten, die Falten des schweren, eingestürzten Daches anzuheben, damit die Verschütteten darunter hervorkriechen konnten.

»Wir sollten vielleicht einen Tunnel bauen«, sagte ich zu einem Mann. Er nickte verstehend, und indem wir nur einen Abschnitt anhoben, durch diesen aber gemeinsam vordrangen, bahnten er und ich und mehrere andere einen breiten mannshohen Gang in die zusammengestürzte Hälfte. So konnten etwa [24] dreißig Personen, die sich mühsam und benommen hochrappelten, nach draußen gelangen. Viele bluteten aus Schnittwunden im Gesicht und an den Händen. Nur wenige wußten, was passiert war. Zwei Kinder waren dabei.

Eine der am weitesten entfernten Gestalten, die wir erreichten, war Flora. Ich sah die rote Wolle ihres Kleides unter lose herabhängender Zeltbahn am Boden und bückte mich, um ihr zu helfen – sie lag halb bewußtlos, dem Ersticken nahe, mit dem Gesicht zum Mattenbelag.

Ich zog sie heraus und trug sie auf die freie Seite, gab sie draußen an jemand weiter und ging wieder zurück.

Die Tunnelidee erwies sich als brauchbar, so daß anstelle von Zeltstangen bald eine Menschenkette einen ziemlich großen Teil des Daches hochhielt. Dabei drangen ein oder zwei Helfer kontinuierlich in die Winkel vor, bis nach unserem Ermessen die Leute, die sich nicht direkt in der Nähe des Pferdetransporters befunden hatten, geborgen und im Freien waren.

Der Transporter…

In diesen Bereich zog es niemand. Mein erster Tunnelbauer und ich schauten uns einen langen Augenblick an und forderten dann alle auf zu gehen, wenn sie wollten. Einige gingen, noch drei oder vier von uns bildeten einen neuen, kürzeren und niedrigeren Tunnel, durch den wir uns an die Seite des Transporters, die nach der stehenden Zelthälfte zu lag, heranarbeiteten. Wir mußten straff gespanntes Segeltuch hochstemmen, um Leute zu befreien, die noch darunter festgenagelt waren.

Beinah die erste Person, zu der wir kamen, war einer der Araber. Er war fürchterlich wild und hätte zu jedem anderen Zeitpunkt komisch gewirkt. Sobald er erlöst und bewegungsfähig war, fing er zu brüllen an, zog ein Repetiergewehr aus seinen Gewändern und fuchtelte drohend damit herum.

Er will nur eins, dachte ich: Einen Kugelhagel auf diesen Schreck.

[25] Der Scheich fiel mir ein… Er hatte an der Längswand gestanden, um Rückendeckung zu haben.

Wir fanden noch zwei Lebende auf dieser Seite, beides Frauen, beide sprachlos, beide bleich, mit zerrissenen Kleidern, blutenden Schnittwunden, die eine mit einem gebrochenen Arm. Wir brachten sie in Sicherheit und machten weiter.

Vorwärtskriechend kam ich zu einem Paar Füßen, die Zehen nach oben, dann zu Hosenbeinen, reglos. In dem von Zeltbahn gefilterten Tageslicht waren sie leicht wiederzuerkennen: Nadelstreifenstoff, marineblau.

Ich lüftete eine größere Fläche über ihm, bis ich auch das geknöpfte Jackett sehen konnte, das Seidentuch und eine seitlich weggestreckte Hand, die Bruchstücke eines Glases festhielt. Und weiter oben, wo sein Hals hätte sein sollen, erschien unter einem drückenden Gewicht ein Streifen karminroter Brei.

Ich ließ die Plane fallen, mir war übel.

»Zwecklos«, sagte ich zu dem Mann hinter mir. »Sein Kopf ist, glaube ich, unter dem Vorderrad. Er ist tot.«

Sein Blick zeigte, daß er genauso erschüttert war wie ich. Langsam schoben wir uns seitlich auf das Heck des Transporters zu, indem wir mit Mühe auf Händen und Knien unseren Tunnel vortrieben.

Über uns, im Wageninneren, trat und schnaubte das Pferd wie toll, zweifellos verängstigt und erregt durch den Geruch; Blut bringt Pferde immer aus der Fassung. Dennoch bestand wohl keine Aussicht, daß jemand die Rampe niederlassen und es herausholen würde.

Wir fanden einen zweiten Araber, lebend, auf dem Rücken liegend, mit einem blutigen Arm, im Gebet zu Allah. Wir zogen ihn heraus und entdeckten nachher an der Stelle sein schwarzes Gewehr.

»Die sind verrückt«, meinte mein Begleiter.

»Ihren Herrn hat es nicht retten können«, sagte ich.

[26] Auf Knien betrachteten wir stumm, was von dem Scheich zu sehen war, nur sein Kopf, noch immer in dem weißen Kopfputz mit den goldenen Schnüren. Eine Lage geröteter Zeltbahn bedeckte das übrige, und mein Gefährte packte mich am Handgelenk und sagte: »Lassen Sie. Nicht hinsehen. Wozu?«

Ich dachte flüchtig an die Polizisten und die Krankenpfleger, die bald zum Hinsehen gezwungen sein würden, aber ich hörte auf ihn. Wir kehrten in den stehenden Teil zurück und begannen mit einem neuen Tunnel zur anderen Seite des Transporters.

Hier stießen wir auf Jack und auch auf Jimmy, beide mit Pulsschlag, wenngleich sie bewußtlos waren und der massive Zeltmast, der quer über Jacks Beinen und Jimmys Brust lag, sie am Boden festnagelte. Wir berührten den Mast kaum, doch die durch unsere Bewegungen hervorgerufene Erschütterung brachte Jack halb zu sich und ließ ihn vor Schmerz aufstöhnen.

Mein Gefährte murmelte: »Himmel«, und ich sagte: »Wenn Sie was holen, um die Plane hochzuhalten, bleibe ich solange hier bei ihnen.« Er nickte und verschwand, so daß der schwere Stoff hinter ihm herabsank und mich einschloß.

Jimmy sah grauenhaft aus. Die Augen über der langen Nase waren geschlossen, und aus dem Mund sickerte ein Blutfaden.

Jack stöhnte weiter. Ich stemmte ein wenig Zeltbahn auf meinen Schultern wie Atlas, und bald darauf kam mein Tunnelbaukollege mit zwei weiteren Helfern und einem Klapptisch als provisorischem Dach zurück.

»Was tun wir?« fragte der erste Tunnelbauer unentschlossen.

»Den Mast anheben«, sagte ich. »Das tut Jack vielleicht weh… aber Jimmy wird sonst erdrückt.«

Alle stimmten zu. Langsam, behutsam holten wir die Last von den beiden verletzten Männern herunter und legten den Mast auf den Boden. Jack verstummte. Jimmy lag steif wie ein Brett. Aber sie atmeten flach. Erleichtert fühlte ich bei dem einen, dann beim anderen nochmals den Puls.

[27] Wir stellten den Klapptisch über sie und krochen vorsichtig weiter und fanden ein Mädchen, das auf dem Rücken lag, den einen Arm über ihrem Gesicht. Ihr Rock war weggerissen worden, und das Fleisch an der Außenseite ihres Oberschenkels war aufgeschlitzt. Es hing von der Hüfte bis zum Knie vom Knochen herunter. Ich hielt die Zeltplane über ihrem Gesicht hoch und sah, daß sie zu einem gewissen Grade bei Bewußtsein war.

»Hallo«, sagte ich unbeholfen.

Sie sah mich dunkel an. »Was ist los?« fragte sie.

»Es hat ein Unglück gegeben.«

»So?« Sie wirkte schläfrig, aber als ich ihre Wange berührte, war sie eiskalt.

»Wir holen noch einen Tisch«, sagte der erste Tunnelbauer.

»Und eine Decke, wenn’s geht«, ergänzte ich. »Sie ist stark unterkühlt.«

Er nickte. »Schock«, sagte er, und alle brachen auf, da sie den Tisch zu dritt heranschaffen mußten.

Ich schaute mir das Bein des Mädchens an. Sie war ziemlich dick, und innerhalb der langen, breit klaffenden Wunde waren leicht das cremefarbene, wabbelige Fettgewebe und die festen, roten Muskelstränge zu unterscheiden, offen wie ein zerfleddertes Buch. Ich hatte etwas Derartiges noch nie gesehen, und merkwürdigerweise blutete sie nicht sehr, sicher nicht so stark, wie man erwartet hätte.

Der Körper macht dicht, dachte ich. Die Wirkung des Traumas; so gefährlich wie die Verletzung selbst.

Viel konnte ich nicht für sie tun, aber ich hatte ein Taschenmesser mit einer winzigen eingebauten Schere bei mir. Seufzend zog ich meinen Jersey hoch und schnitt die eine Seite meines Hemdes auf, die ich dann wenige Zentimeter unterhalb des Kragens abriß, so daß es von vorn noch aussah, als hätte ich ein ganzes Hemd unter dem Pullover. Und ich kam mir dabei zwar lächerlich vor, aber ich machte es trotzdem so.

[28] In zwei breite Streifen gerissen, ergab die Hemdbrust einen brauchbaren Verband. Ich zog beide Teile unter ihrem Schenkel durch, drückte das Fleisch an und band ihr Bein rings um den Knochen zusammen, so wie man einen Braten wickelt. Besorgt schaute ich mehrmals nach dem Gesicht des Mädchens, aber falls sie spürte, was ich tat, kann sie es nur sehr schwach gespürt haben. Sie lag mit offenen Augen da, den Ellbogen über dem Kopf, und das einzige, was sie überhaupt sagte, war: »Wo sind wir?« und später: »Ich versteh das nicht.«

»Alles in Ordnung«, sagte ich.

»Ach so… Ja…? Gut.«

Die Tunnelbauer kehrten mit einem Tisch, einer Reisedecke und auch einem Handtuch zurück.

»Ich dachte, damit könnten wir die Wunde verbinden«, sagte der erste Tunnelbauer, »aber das haben Sie ja schon getan.«

Wir banden das Handtuch trotzdem als zusätzlichen Schutz um ihr Bein und hüllten sie in die Decke, dann ließen wir sie unter dem Tisch zurück und krochen angstvoll weiter. Aber wir trafen auf niemand mehr, dem wir helfen konnten. Wir fanden eine der Serviererinnen tot über ihrem Tablett mit belegten Broten, ihr glattes junges Gesicht kreideweiß, und wir stießen auf die vorstehenden Beine eines anderen Arabers; und irgendwo unter dem Pferdetransporter waren grausige rote Schemen, die wir nicht erreichen konnten, selbst wenn wir es gewollt hätten.

Einstimmig traten wir alle vier den Rückweg an und hörten, als wir an die ersehnte frische Luft kamen, das Röhren und Sirenengeheul der amtlichen Retter über den Hügel nahen.

Ich ging zu Flora, die auf einem Küchenstuhl saß, den ihr jemand hinausgebracht hatte. Bei ihr waren Frauen, die sie zu trösten versuchten, aber ihre Augen waren verschattet und starrten ins Weite, und sie zitterte.

»Jack ist in Ordnung«, sagte ich. »Der Mast hat ihn getroffen. Ein Bein könnte gebrochen sein… aber es geht ihm gut.«

[29] Sie sah mich blind an. Ich zog meine Jacke aus und hüllte sie darin ein. »Flora… Jack lebt.«

»All diese Leute… unsere Gäste…« Ihre Stimme war matt. »Ist das sicher… mit Jack?«

Wirklichen Trost gab es nicht. Ich sagte ja und drückte sie an mich, wiegte sie in den Armen wie ein Baby. Still legte sie den Kopf an meine Schulter, noch immer viel zu schockiert, um zu weinen.

Danach verschwamm alles undeutlich, verging die Zeit rasend schnell, wenn es auch nicht so schien.

Die Polizei hatte eine Menge Ausrüstung mitgebracht und nach einer Weile das Zelt im Umkreis um den Transporter weggeschnitten, um dann einen mannshohen Ring aus Stellwänden zu errichten, der das Schlachtfeld dort verbarg.

Jack lag bei vollem Bewußtsein, aber mit einem lindernden Schmerzmittel versorgt, auf einer Trage und protestierte schwach, er könne in kein Krankenhaus. Er könne seine Gäste nicht allein lassen, er könne seine Pferde nicht allein lassen, er könne nicht alles seiner Frau allein überlassen. Immer noch unter Einwendungen wurde er in eine Ambulanz geschoben und an der Seite des weiterhin bewußtlosen Jimmy abtransportiert.

Die Gäste verliefen sich im Haus oder setzten sich in ihre Autos und wollten heim; doch irgendwo war wegen dem Tod des Scheichs ein gewaltiges fernmündliches Tamtam im Gange. Die uniformierte Polizei hatte Anweisung erhalten, niemand fortzulassen, bis andere Untersuchungsbeamte eintrafen.

Die Telefoniererei war unsinnig, fand ich. Niemand hätte vorhersagen können, wo in diesem Zelt der Scheich stehen würde. Niemand hätte den Transporter vorsätzlich steuern können. Die Bremsen hatten nachgegeben, und er war bergab gerollt – so wählerisch mit seinen Opfern wie ein Erdbeben.

Das entsetzte junge Paar, das mit ihm gekommen war und ihn geparkt hatte, war in Tränen aufgelöst, und ich hörte, wie der [30] Mann hilflos sagte: »Aber ich hatte den Gang drin und die Bremse angezogen… Ich weiß es doch… Ich passe immer auf… Wie kann das nur passiert sein? Wie denn nur?« Ein uniformierter Polizist befragte die beiden, ohne jedes Mitgefühl.

Ich ging zurück zu meinem Lieferwagen, wo ich die Kiste Champagner abgestellt hatte. Sie war verschwunden. Ebenso die sechste und die siebte Kiste aus dem Inneren. Ebenso die Gin-Reserven und der Whisky vom Vordersitz.

Widerlich, dachte ich und zuckte die Achseln. Nach dem Blutbad Diebe. Uraltes, ultramieses menschliches Verhalten. Es spielte gar keine Rolle mehr, außer daß ich die Sachen lieber verschenkt hätte als so etwas.

Flora hatte sich im Haus hingelegt. Jemand brachte mir meine Jacke. Auf den Ärmeln war Blut, bemerkte ich. Blut auch an meinen Hemdmanschetten, Blut auf dem hellblauen Pullover. Trockenes Blut an meinen Händen.

Ein großer Kran auf einem Raupenwagen kam langsam über den Hügel gewalzt und wurde nahe dem Pferdetransporter in Position gebracht. Kurze Zeit später hob er das schwere, an Ketten befestigte grüne Vehikel wenige Zentimeter in die Luft, nach einer Pause dann höher und setzte es auf einer freien Rasenfläche ab.

Das Pferd, das in Abständen immer wieder ausschlug, wurde endlich über die Rampe herausgelassen und von einem Stallburschen weggeführt, worauf zwei Polizisten den Transporter wieder verschlossen und Stellung bezogen, um die Schaulustigen zurückzuhalten.

Eine kleine, bedauernswerte Gruppe von Leuten wartete noch regungslos und starrte schweigend auf die Stellwände. Sie wußten – sie mußten wissen –, daß diejenigen, die sie suchten, tot waren, und doch standen sie da, trockenen Auges, die Gesichter verstört von nicht aufgebender Hoffnung. Fünf Tonnen Metall waren in eine dichte Menschenmenge geknallt… aber sie hofften.

[31] Einer von ihnen wandte den Kopf, erblickte mich und kam schwankend zu mir, als folgten seine Füße anderen Befehlen als die Beine. Er trug Jeans und ein schmutziges T-Shirt und sah weder nach einem der Gäste aus noch hörte er sich so an. Eher wohl einer von Jacks Stallburschen an seinem freien Sonntag.

»Sind Sie nicht da drin gewesen?« sagte er. »Sie sind doch der Typ, der die Getränke bringt. Jemand sagte, Sie wären da rein…« Er deutete unbestimmt auf die Überreste des Zeltes »Haben Sie meine Frau gesehen? War sie da drin? Ist sie da?«

»Ich weiß es nicht.« Ich schüttelte den Kopf.

»Sie trug Sachen herum, Getränke und so. Das macht sie gern… trifft gern Leute.«

Eine der Serviererinnen. Er sah die Bewegung in meinem Gesicht und interpretierte sie unfehlbar.

»Sie ist da… stimmt’s?« Einen Augenblick antwortete ich nicht, und er sagte mit Stolz, unentwirrbar vermischt mit Verzweiflung: »Sie ist hübsch, wissen Sie. So hübsch.«

Ich nickte und schluckte. »Sie ist hübsch.«

»O nein…« Er ließ den Schmerz in einem wilden Schrei heraus. »O nein…«

Ich sagte hilflos: »Meine Frau ist auch gestorben… vor nicht allzu langer Zeit. Ich weiß, wie es ist… Es tut mir so… entsetzlich leid.«

Er sah mich ausdruckslos an und kehrte zu den anderen zurück, um weiter auf die Abschirmung zu starren, und ich fühlte mich überflüssig, minderwertig und übermannt von Mitleid.

Der Transporter hatte um kurz vor halb zwei zugeschlagen – es war fünf durch, ehe die Ermittlungsbeamten jemand weglassen wollten. Schließlich wurde dann erklärt, daß alle gehen könnten, daß aber jeder Wagen am Tor anzuhalten habe, damit die Insassen ihre Namen angeben könnten.

Müde, hungrig, zerzaust, viele mit Wundverbänden, kletterten [32] die Gäste, die so erwartungsvoll den Hügel heruntergeströmt waren, langsam und schweigend wieder hinauf. Wie Flüchtlinge, dachte ich. Ein Exodus. Man konnte die Motoren im Chor starten hören und die ersten Bewegungen der Räder sehen.

Ein Mann faßte mich am Arm: der Tunnelbaukollege. Ein hochgewachsener, ergrauender Mann mit intelligenten Augen.

»Wie ist Ihr Name?« fragte er.

»Tony Beach.«

»Ich heiße McGregor. Gerard McGregor.« Er sprach das G von Gerard weich aus wie ein J, in einer Mundart, die entfernt, aber erkennbar schottisch klang. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er. Er streckte die Hand aus, und ich ergriff sie.

Wir lächelten uns im Bewußtsein der gemeinsamen Erfahrung leise an; dann wandte er sich ab, legte den Arm um die Schultern einer gutaussehenden Frau an seiner Seite, und ich beobachtete, wie sie sich zu dem Tor in den Rosen hindurchschlängelten. Angenehmer Mensch, dachte ich; und das war alles.

Ich ging ins Haus, um festzustellen, ob ich für Flora noch irgend etwas tun könnte, ehe ich fuhr, und stieß auf ein Schlachtfeld anderer Art. In sämtlichen unteren, jetzt leeren Zimmern sah es aus, als hätte eine ganze Armee dort kampiert, was ja in gewisser Weise zutraf. Jede einzelne Tasse und Untertasse, jedes Glas mußte in die Pflicht genommen worden sein. Sämtliche Flaschen auf dem Getränketablett waren entkorkt und leer. Die Aschenbecher überfüllt. Essensreste auf den Tellern. Plattgedrückte Kissen.

In der Küche hatten die Gäste wie ein Heuschreckenschwarm alles nur Greifbare verputzt. Leere Suppendosen übersäten die Anrichte, Eierschalen lagen im Spülstein, ein abgenagtes Hähnchen, geplünderte, zerknüllte Keks- und Salzgebäckschachteln. Alles Eßbare war aus dem Kühlschrank verschwunden, und schmutzige Kochtöpfe standen auf dem Herd.

[33] Ein leiser Ausruf kam von der Tür her, und als ich mich umdrehte, sah ich Flora dastehen, ihr Gesicht ernst und alt über dem verknitterten roten Kleid. Ich wies mit einer frustrierten Geste auf das Durcheinander, doch sie betrachtete es ungerührt.

»Sie mußten was essen«, meinte sie. »Es macht nichts.«

»Ich werde abwaschen.«

»Nein. Lassen Sie. Das hat Zeit bis morgen.« Sie kam in das Zimmer und setzte sich müde auf einen der Stühle. »Das spielt einfach keine Rolle. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten sich bedienen.«

»Sie hätten hinterher aufräumen können.«

»Da sollten Sie die Rennwelt doch besser kennen.«

»Gibt es denn sonst etwas, das ich tun kann?«

»Nein, nichts.« Sie seufzte tief. »Wissen Sie, wie viele von ihnen tot sind?« Ihre Stimme war leblos, ausgelaugt von zuviel Grauen.

Ich schüttelte den Kopf. »Der Scheich und einer von seinen Leuten. Dann Larry Trent. Und eine Kellnerin, die Frau eines Ihrer Stallburschen, glaube ich. Noch einige andere. Ich weiß nicht, wer.«

»Doch nicht Janey«, sagte Flora bestürzt.

»Ich weiß es nicht.«

»Jung und hübsch. Hat im Sommer Tom Wickens geheiratet. Nicht sie!«

»Ich glaube doch.«

»O je.« Flora wurde fast noch blasser. »Der Scheich ist mir gleichgültig. Das hört sich vielleicht schlimm an, und wir werden die Pferde verlieren, aber von ihm weiß ich es seit Stunden, und es kümmert mich eben nicht. Aber Janey…«

»Ich glaube, Sie könnten Tom Wickens beistehen«, sagte ich.

Einen Augenblick starrte sie mich an, dann erhob sie sich und trat hinaus in den Garten. Durch das Fenster sah ich, wie sie zu dem Mann im T-Shirt ging und die Arme um ihn legte. Er drehte [34] sich um und erwiderte verzweifelt die Umarmung, und flüchtig überlegte ich, wer von ihnen sich wohl am meisten getröstet fühlte.

Ich warf den gröbsten Abfall in den Mülleimer, ließ aber den Rest stehen, wie sie es gesagt hatte. Dann ging ich hinaus zum Lieferwagen, um nach Hause zu fahren, und fand einen sehr jungen Konstabler an meiner Seite, als ich den Schlag öffnete.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er, Stift und Notizbuch gezückt.

»Ihr Name, Sir?«

Ich nannte ihn samt Anschrift, und er notierte beides.

»Wo waren Sie in dem Zelt, Sir, als der Vorfall sich ereignet hat?«

Der Vorfall… Götter im Himmel.

»Ich war nicht im Zelt«, sagte ich. »Ich war hier am Lieferwagen.«

»Ach!« Seine Augen weiteten sich leicht. »Würden Sie dann hier mal warten, Sir?« Er eilte davon und kam wenig später mit einem nicht uniformierten Mann zurück, der langsam, mit gekrümmten Schultern ging.

»Mr. ehm… Beach?« sagte der Neuankömmling. Ein ziemlich kleiner Mann, nicht jung. Keine Angriffslust.

Ich nickte. »Ja.«

»Sie waren hier draußen, als das passierte, ist das richtig?«

»Ja.«

»Und haben Sie… durch Zufall… gesehen, wie der Pferdetransporter den Hügel runter ist?« Er sprach leise und formulierte jede Silbe sorgfältig, wie für einen Lippenleser.

Ich nickte wieder. Er sagte tief befriedigt »Ah«, als wäre das die Antwort, nach der er schon lange suchte, und mit einem wohlwollenden Lächeln schlug er vor, daß wir zusammen mit dem Konstabler ins Haus gehen sollten (wo es wärmer sei), um meine Aussage aufzunehmen.

[35] Wir saßen zwischen den Abfällen im Wohnzimmer, während ich seine Fragen beantwortete.

Er heiße Wilson, sagte er. Er war enttäuscht, daß ich nicht gesehen hatte, wie der Pferdetransporter bergab in Gang kam, und er war enttäuscht, daß ich niemand in ihm oder um ihn herum gesehen hatte, bevor er losrollte.

»Aber eins kann ich Ihnen versichern«, sagte ich. »Er war nicht an einer vorher bestimmten Stelle geparkt. Ich habe etliche Wagen bei der Ankunft gesehen. Ich sah sie über den Hügel kommen, auch den Transporter. Sie parkten der Reihe nach, wie sie gerade eintrafen, nebeneinander.» Ich hielt kurz inne. »Der Scheich kam gut eine Stunde vor den anderen Gästen zum Rennstall, deshalb ist sein Mercedes der erste in der Reihe. Als er eintraf, ließ er sich im Hof herumführen, um seine Pferde zu sehen. Als dann mehrere andere Gäste kamen, gesellte er sich im Zelt zu ihnen. Niemand hat ihn an einen bestimmten Platz manövriert. Ich war drinnen, als er kam. Er war in Begleitung von Jack Hawthorn und Jimmy – Jacks Sekretär. Er hat nur zufällig da gestanden, wo er stand. Und natürlich stand er auch nicht die ganze Zeit an derselben Stelle. Er hat sich in der Stunde, die er da war, sicher um einige Meter bewegt.«

Ich brach ab. Ein kurzes Schweigen folgte.

»Haben Sie das alles, Konstabler?« fragte Wilson.

»Ja, Sir.«

»Ihrem Lieferwagen nach sind Sie Weinhändler, Mr. Beach? Und Sie haben die Getränke für die Party geliefert?«

»Ja«, bestätigte ich.

»Und Sie sind aufmerksam.« Sein Tonfall war trocken, an der Grenze zur Skepsis.

»Nun…«

»Könnten Sie den Aufenthalt irgendwelcher anderen Gäste auch so genau angeben? Während einer ganzen Stunde, Mr. Beach?«

[36] »Ja, bei einigen. Aber ein Scheich fällt doch auf. Außerdem achte ich schon auf einzelne Leute, wenn ich geschäftlich irgendwo bin. Auf die Gastgeber etwa, falls sie mich brauchen.«

Er beobachtete wortlos mein Gesicht und fragte schließlich: »Was hat der Scheich getrunken?«

»Orangensaft mit Eis und Mineralwasser.«

»Und seine Begleiter?«

»Einer trank Limonade, die beiden anderen Coca-Cola.«

»Haben Sie das, Konstabler?«

»Ja, Sir.«

Wilson starrte eine Weile auf seine Schuhspitzen, dann holte er tief Atem, als sei er zu einem Entschluß gelangt.

»Wenn ich Ihnen ein paar Kleidungsstücke beschreibe, Mr. Beach«, sagte er, »könnten Sie mir dann sagen, wer sie getragen hat?«

»Hm… falls ich sie kenne.«

»Marineblauer Nadelstreifenanzug…«

Ich hörte mir die vertraute Beschreibung an. »Ein Mann namens Larry Trent. Einer von Jacks Besitzern. Er hat… hatte… ein Restaurant, das Silver Moondance bei Reading.«

»Notiert, Konstabler?«

»Ja, Sir.«

»Und ferner, Mr. Beach, ein blaues Tweedkostüm mit hellblauer Wollbluse, Perlen um den Hals und Perlohrringen?«

Konzentriert versuchte ich mich zu erinnern, und er sagte: »Grünliche, leicht haarige Hosen, olivfarbener Pullover über senfgelbem Hemd. Brauner Schlips mit senfgelben Streifen.«

»Ach…«

»Sie kennen ihn?«

»Alle beide. Oberst Fulham und Frau. Ich sprach mit ihnen. Sie kaufen Wein bei mir.«

»Kauften, Mr. Beach«, sagte Wilson bedauernd. »Das wär’s dann. Die anderen armen Leute sind alle bereits identifiziert.«

[37] Ich schluckte. »Wie viele…?«

»Insgesamt? Acht Tote, leider. Es hätte noch schlimmer kommen können. Viel schlimmer.« Er stand auf und drückte mir flüchtig die Hand. »Es gibt vielleicht politische Nachwirkungen. Ich kann nicht absehen, ob wir noch weitere Auskünfte von Ihnen benötigen. Ich werde meinen Bericht einreichen. Guten Tag, Mr. Beach.«

Er ging auf seine langsame, gebeugte Art hinaus, gefolgt von dem Konstabler, und ich schritt hinter ihnen her in den Garten.

Es wurde dunkel, hier und da gingen bereits Lichter an.

Die Stellwände waren entfernt worden, und zwei Krankenwagen waren dabei, durch die Lücke zu setzen, die der Pferdetransporter in die Hecke gerissen hatte. Eine Reihe von sieben vollständig verhüllten Bahren stand düster auf dem entsetzlich blutbefleckten Mattenbelag, etwas abseits davon die achte. Auf ihr mußte der Scheich liegen, denn zwei überlebende Araber standen dort, einer am Kopf, einer am Fuß, noch immer treue Bewacher ihres Prinzen.

In der Dämmerung beobachtete die kleine verstörte Menschengruppe, darunter auch Flora, schweigend und jetzt ohne Hoffnung, wie Sanitäter die sieben stummen Lasten der Reihe nach aufhoben, um sie davonzutragen. Ich ging langsam zu meinem Lieferwagen und setzte mich hinein, bis sie fertig waren. Nur der Scheich blieb zurück, abgesondert im Tod wie im Leben, und harrte eines edleren Leichenwagens.

Ich schaltete Licht und Motor ein und folgte den beiden Ambulanzen über den Hügel, und bedrückt fuhr ich ins Tal hinab zu meinem Haus.

[38] 4

Den Montagmorgen verbrachte ich im Laden immer damit, die Regale nach den Wochenendverkäufen aufzufüllen und Listen für den Ersatz zu erstellen. Montagnachmittags fuhr ich mit dem Lieferwagen zum Großhändler, um Spirituosen und alkoholfreie Getränke, Zigaretten, Süßigkeiten und Gebäck zu besorgen, wovon ich einiges bei meiner Rückkehr gleich in den Laden stellte und die Reserven in den Lagerraum.

Montags machte ich auch Bestandsaufnahme von den Weinkisten, die bis in Schulterhöhe im Lagerraum gestapelt waren, und bestellte telefonisch bei den Importeuren nach. Montags bis fünf wurde das Lager aufgeräumt, durchgesehen und für die kommende Woche vorbereitet. Montags war immer Schwerarbeit.

An diesem speziellen Montagmorgen, überschattet vom dumpfen Gefühl des Danach, ging ich müde daran, Gordon’s Gin in säuberlichen grünen Reihen anzuordnen und Liebfrauenmilch in ihr Gestell zu legen; ich wischte den Teacher’s ab, zählte den Bell’s, stellte fest, daß wir keinen Moulin à Vent