Rat Race - Dick Francis - E-Book

Rat Race E-Book

Dick Francis

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Beschreibung

Charterpilot Matt Shore hat in seinem Leben schon größere Herausforderungen gemeistert, als betuchte Pferdebesitzer, Spitzenjockeys und -trainer von einem Rennplatz zum anderen zu befördern. Dachte er zumindest. Aber dann explodiert eine Bombe ­ zum Glück erst nach der Landung, die Betroffenen kommen mit dem Schrecken davon. Weitere Attentate folgen, und Matt Shore begreift: Da spekuliert jemand auf den Schrecken und schraubt die Spirale der Gefahr höher und höher.

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Seitenzahl: 336

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Dick Francis

Rat Race

Roman

Aus dem Englischen vonMichaela Link

Titel der 1970 bei Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›Rat Race‹

Copyright ©1970 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1970

unter dem Titel ›Air-Taxi ins Jenseits‹

im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin

Umschlagillustration von

Tomi Ungerer

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22989 9 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60650 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]1

Die ersten vier Passagiere nahm ich in White Waltham an Bord der neuen Cherokee Six 300, der leider nur ein kurzes Dasein beschieden sein sollte. Die hellblauen Polster rochen nach neuem Leder, kein einziger Kratzer verunzierte den strahlend weißen Rumpf. Ein hübsches, kleines Flugzeug, solange es noch als solches erkennbar war.

Sie hatten mich für zwölf Uhr bestellt, waren aber schon in der Bar, als ich um zwanzig vor landete. Drei doppelte Whiskys und eine Limonade.

Ihre Identifizierung war nicht weiter schwierig: An einem kleinen Tisch standen mehrere Stühle, auf denen vier leichte Regenmäntel lagen, drei Feldstecher, zwei Ausgaben der Sporting Life und ein leichter Rennsattel. Die vier Passagiere standen in lockerer Formation, zusammengeführt offenkundig nicht durch Freundschaft, sondern durch geschäftliche Interessen. Keiner von ihnen sprach, aber man spürte, daß ein Wortwechsel vorausgegangen war. Einem von ihnen, einem ziemlich großen Mann, stand der Zorn noch ins Gesicht geschrieben. Der kleinste, offensichtlich ein Jockey, stand steif und mit hochroten Wangen da. Und die beiden anderen, ein älterer Mann und eine Frau in mittleren Jahren, hatten ihre Blicke so [6]unverwandt ins Leere gerichtet, daß es dafür nur eine Erklärung geben konnte: Nachtschwarze Gedankenwolken ballten sich in ihren Köpfen zusammen.

Ich ging durch den großen Warteraum auf sie zu und wandte mich an eine unbestimmte Stelle in der Luft.

»Major Tyderman?«

Der ältere Mann, der mit »Ja?« antwortete, mußte sich seinen Major in längst vergangenen Tagen verdient haben; er ging wohl schon auf die Siebzig zu, hatte sich aber gut in Form gehalten. Klein, durchtrainierter Körper, drahtiger, kurzer Schnurrbart und scharfe kleine Augen. Das sich lichtende, dünne, graumelierte Haar war seitlich über den Schädel gekämmt, und den Kopf hielt er militärisch steif, das Kinn fast auf der Brust. Angespannt. Sehr angespannt. Und wachsam, mit einer Tendenz, die Welt grundsätzlich mit Argwohn zu betrachten.

Er trug einen leichten, rehbraunen Anzug, dessen Schnitt vage an seine militärische Vergangenheit erinnerte, und hatte im Gegensatz zu den anderen seinen Feldstecher nicht abgelegt, sondern so über die Brust gehängt, daß das Futteral wie ein Schottentäschchen von seinem Bauch abstand. Klubabzeichen aus Metall und bunter Pappe hingen zu beiden Seiten in dicken Büscheln davon herunter.

»Ihr Flugzeug ist da, Major«, sagte ich. »Ich bin Matt Shore… Ich fliege Sie.«

Er warf einen Blick über meine Schulter, als suche er nach jemand anderem. »Wo ist Larry?« fragte er scharf.

»Er hat gekündigt«, antwortete ich. »Eine Stelle in der Türkei angetreten.«

[7]Der Blick des Majors brach seine Suche ruckartig ab. »Sie sind neu«, sagte er vorwurfsvoll.

»Ja«, gab ich zu.

»Ich hoffe, Sie kennen den Weg.«

Er meinte es ernst. Ich sagte höflich: »Ich werde mein Bestes tun.«

Die Frau, die links vom Major stand, sagte tonlos: »Als ich das letzte Mal zum Rennen geflogen bin, hat der Pilot sich verflogen.«

Ich sah sie an und schenkte ihr das vertrauenerweckendste Lächeln, das ich zustande brachte. »Das Wetter ist heute so gut, daß wir in dieser Hinsicht nichts zu befürchten haben.«

Das entsprach nicht der Wahrheit. Der Wetterbericht hatte für diesen Juninachmittag Kumuluswolken angekündigt. Und jeder konnte sich verfliegen, wenn nur die entsprechenden Pannen passierten. Die Frau gab sich keinen Illusionen hin, das verriet mir der Blick, mit dem sie mich bedachte. Und ich gab den Versuch auf, Zuversicht zu verströmen. Sie brauchte keine. Sie hatte alle Zuversicht der Welt. Sie war fünfzig und von zerbrechlichem Äußeren, ergrauendes Haar, kinnlanger Pagenschnitt mit geradem Pony. Ihre sanften, braunen Augen lagen unter dichten, dunklen Brauen, und ihr Mund verhieß scheinbar Freundlichkeit. Aber ihre Haltung und ihr Benehmen verrieten eine natürliche Autorität, die auf viel stabilerem Fundament ruhte als die des Majors. Sie war die einzige von den vieren, die sich äußerlich nichts von einer etwaigen Verstimmung anmerken ließ.

Der Major hatte auf die Uhr geschaut. »Sie sind früh [8]dran«, sagte er. »Wir haben noch Zeit für einen zweiten Drink.« Er wandte sich an den Barkeeper und bestellte noch eine Runde für sich und die drei anderen, bevor er, als sei ihm dieser Gedanke erst jetzt gekommen, mich fragte: »Möchten Sie auch etwas?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

»Acht Stunden vorm Flug kein Alkohol mehr«, bemerkte die Frau ohne besondere Anteilnahme. »Stimmt’s?«

»Mehr oder weniger«, pflichtete ich ihr bei.

Der dritte Passagier, der große Mann mit dem wütenden Gesicht, sah mürrisch zu, wie der Barkeeper einen doppelten Johnnie Walker abmaß. »Acht Stunden. Gütiger Gott«, sagte er. Er sah so aus, als vergingen bei ihm selten acht Stunden, ohne daß er zwischendurch nachtankte. Seine Knollennase, die purpurnen Äderchen auf seinen Wangen, die aufgeschwemmte Wampe – dafür war wohl ein nettes Sümmchen Alkoholsteuer draufgegangen.

Die Spannung, die bei meinem Erscheinen geherrscht hatte, legte sich langsam. Der Jockey nippte an seiner kalorienreduzierten Limonade; die helle Röte wich von der straffen Haut über seinen Wangenknochen und war nur noch in blasseren Flecken auf seinem Hals zu sehen. Etwa Anfang Zwanzig, rötliches Haar, von Natur aus kleine Statur, feuchtglänzende Haut. Kaum Gewichtsprobleme, dachte ich. Keine Entwässerung nötig. Der Glückspilz.

Der Major und sein stämmiger Freund tranken hastig, murmelten Unverständliches und entfernten sich schließlich in Richtung Herrentoilette. Die Frau sah den Jockey an und sagte mit einer Stimme, die freundlicher klang, als ihre Worte es hätten vermuten lassen: »Haben Sie den [9]Verstand verloren, Kenny Bayst? Wenn Sie sich weiter mit Major Tyderman anlegen, können Sie sich nach einem neuen Job umsehen.«

Der Jockey warf mir einen flüchtigen Blick zu, schaute dann wieder weg und klappte seinen Kußmund entschlossen zu. Er stellte das noch halbvolle Limonadenglas auf den Tisch und griff nach einem der Regenmäntel und dem Rennsattel.

»Welches Flugzeug?« fragte er mich. »Ich möchte meine Sachen verstauen.«

Er hatte einen starken australischen Akzent, in dem jetzt eine gereizte Schärfe mitschwang. Der Blick, mit dem die Frau ihm nachsah, hätte als Lächeln durchgehen können, wäre nicht die Kälte in ihren Augen gewesen.

»Der Gepäckraum ist abgeschlossen«, sagte ich. »Ich begleite Sie.« Zu der Frau sagte ich: »Soll ich Ihren Mantel mitnehmen?«

»Ja, danke.« Sie zeigte auf den Mantel, der offensichtlich ihr gehörte, ein leuchtend rostfarbenes Ding mit Kupferknöpfen. Ich nahm ihn mitsamt ihrem profihaften Fernglas vom Stuhl und folgte dem Jockey ins Freie.

Nachdem er etwa zehn Schritte in stiller Wut zurückgelegt hatte, platzte er heraus: »Es ist so verdammt einfach, dem Mann auf dem Pferd die Schuld zu geben.«

»Der Pilot ist immer schuld«, sagte ich milde. »Hart, aber ungerecht.«

»Wie?« sagte er. »O ja. Wie recht Sie haben. So ist es.«

Wir kamen an das Ende des Wegs und gingen quer über den Rasen. Der Jockey verströmte noch immer heiße Wut. Ging mich nichts an.

[10]»Nur der Vollständigkeit halber«, sagte ich, »wie heißen meine anderen Passagiere eigentlich? Außer dem Major, meine ich.«

Er drehte sich überrascht zu mir um. »Sie kennen unsere Annie nicht? Annie Villars? Sieht aus wie die nette, alte Oma von nebenan und hat eine Zunge, mit der man einem Känguruh die Haut abziehen könnte. Jeder kennt die kleine Annie.« Er klang verdrossen und ernüchtert.

»Ich verstehe nicht viel vom Pferderennen«, sagte ich.

»Nein? Nun, sie ist Trainerin. Eine verdammt gute Trainerin, das muß man ihr lassen. Sonst würde ich auch nicht bei ihr bleiben. Nicht bei der scharfen Zunge. Ich sag Ihnen was, Sportsfreund, die Frau hat einen Ton am Leib, wenn sie ihre Stallburschen auf der Galoppbahn antreibt, da würde jeder Oberfeldwebel vor Neid erblassen. Aber honigsüß bei den Besitzern. Die fressen ihr aus ihrem zierlichen Händchen.«

»Die Pferde auch?«

»Hm? O ja. Die Pferde lieben sie. Und sie kann reiten wie ein Jockey, wenn sie Lust dazu hat. Nicht daß sie das heute noch sonderlich oft täte. Kommt wohl in die Jahre. Aber trotzdem. Die Frau weiß, was sie tut, soviel steht fest. Sie weiß, was ein Pferd bringen kann und was nicht, und das ist in diesem Spiel die halbe Miete.«

In seiner Stimme schwangen Groll und Bewunderung zu etwa gleichen Teilen mit.

Ich fragte: »Wie heißt der andere Mann? Der große.«

Diesmal war es Groll pur, ohne Bewunderung. Langsam, Silbe für Silbe, spie er den Namen aus und verzog dabei angewidert das Gesicht.

[11]»Mr.Eric Goldenberg.«

Nachdem er den Namen losgeworden war, machte er seinen Mund fest zu und nahm sich ganz offensichtlich die Bemerkung seiner Arbeitgeberin zu Herzen. Wir erreichten das Flugzeug und verstauten die Mäntel und seinen Sattel in dem Gepäckabteil hinter den Rücksitzen.

»Wir fliegen zuerst nach Newbury, nicht wahr?« erkundigte er sich. »Um Colin Ross abzuholen?«

»Ja.«

Er warf mir einen sardonischen Blick zu. »Also, von Colin Ross müssen Sie gehört haben.«

»Ich denke«, sagte ich, »das habe ich.«

Alles andere wäre auch schwierig gewesen, denn der Championjockey war doppelt so beliebt wie der Premierminister und verdiente sechsmal soviel Geld. Sein Gesicht war auf der Hälfte aller Plakatwände in Großbritannien zu sehen, um die Bevölkerung zu größerem Milchkonsum zu ermuntern, und seine scharfzüngigen Bonmots sorgten mindestens einmal im Monat für Schlagzeilen. Es gab sogar ein Kindercomic über ihn. Jeder, aber auch jeder, hatte von Colin Ross gehört.

Kenny Bayst stieg durch die Kabinentür ins Flugzeug und setzte sich auf einen der beiden Rücksitze. Ich kontrollierte das Flugzeug noch einmal kurz von außen, obwohl die gründliche Vorflugkontrolle vor dem Start von der Basis noch nicht einmal eine Stunde zurücklag. Es war meine erste Woche, mein vierter Tag, mein dritter Flug für »Lufttaxis Derrydown«, und nach den Streichen, die das Schicksal mir in der Vergangenheit gespielt hatte, ging ich keine Risiken mehr ein.

[12]Dem kleinen Sechssitzer mit der scharfen Nase fehlte keine einzige Niete, und auch eine lose Mutter konnte ich nirgends entdecken. Wo acht Liter Öl hineingehörten, waren tatsächlich acht Liter Öl drin, keine toten Vögel verstopften die Lufteinlässe für den Motor, die Reifen hatten keine Löcher, die grünen und roten Glasabdeckungen der Positionslichter keine Risse, die Propellerblätter keine Kerben, und die Funkantenne saß bombenfest. Die hellblaue Motorhaube war sicher verschlossen, die im gleichen hellen Blauton gehaltenen Abdeckungen über den Streben und Rädern des festen Fahrwerks bewegten sich nicht den Bruchteil eines Millimeters.

Als ich fertig war, kamen auch schon die anderen drei Passagiere über den Rasen. Goldenberg führte immer noch wutschnaubend das große Wort, während der Major mit kleinen, unglücklichen, ruckartigen Kopfbewegungen nickte und Annie Villars den Eindruck machte, als höre sie überhaupt nicht zu. Als die drei in Hörweite kamen, sagte Goldenberg gerade: »…können nicht auf das Pferd legen, ohne uns sicher zu sein, daß er es zurückhält…« Aber als der Major mit einer scharfen Kopfbewegung in meine Richtung wies, hielt Goldenberg mitten im Satz inne. Das hätte er sich schenken können. Mich interessierten die Angelegenheiten meiner Passagiere nicht.

Nach dem Grundsatz, daß in einem Leichtflugzeug der Schwerpunkt so weit vorn wie möglich liegen sollte, bat ich Goldenberg, auf dem Vordersitz rechts neben mir Platz zu nehmen; dem Major und Annie Villars wies ich die beiden mittleren Plätze zu und ließ Kenny in der hinteren Reihe sitzen, wo ein Platz für Colin Ross frei blieb. Die [13]vier hinteren Sitze erreichte man durch die Kabinentür hinten an Backbord, aber Goldenberg mußte vorne an Steuerbord einsteigen, also auf die niedrige Tragfläche steigen und sich in geduckter Haltung durch die Tür ins Cockpit zwängen. Er ließ mich zuerst einsteigen und manövrierte dann seine Leibesfülle durch die Tür, bevor er sich schwer atmend auf seinen Sitz fallen ließ.

Die vier waren allesamt alte Hasen, was die Benutzung von Lufttaxis betraf: Sie hatten ihre Sicherheitsgurte noch vor mir angelegt, und als ich einen Blick in die Runde warf, um festzustellen, ob meine Passagiere startklar waren, hatte der Major sich bereits in seine Sporting Life vertieft. Kenny Bayst säuberte sich mit wilden, kleinen Stößen die Fingernägel; er machte seiner Frustration offenbar Luft, indem er sich selbst Schmerzen zufügte.

Ich bekam die Starterlaubnis vom Tower und zog das kleine Flugzeug für den Zwanzig-Meilen-Hüpfer quer über Berkshire hoch. Der Lufttaxibetrieb unterscheidet sich beträchtlich von der Arbeit im Linienverkehr, und es erschien mir weit schwieriger, irgendwelche Rennbahnen aufzuspüren, als mich mittels Radar nach Heathrow führen zu lassen. Ich hatte noch nie zuvor eine Rennbahn angeflogen und mich deshalb am Morgen bei meinem Vorgänger Larry, der ins Büro gekommen war, um seine Papiere abzuholen, danach erkundigt.

»Newbury ist ein Kinderspiel«, sagte er obenhin. »Du brauchst bloß die Nase auf die große Rollbahn zu halten, die die Yankees in Greenham Common gebaut haben. Die kannst du praktisch schon von Schottland aus sehen. Die Rennbahn liegt direkt nördlich davon, und die Landebahn [14]verläuft parallel zu den weißen Rails der Zielgeraden. Du kannst sie nicht verpassen. Schöner langer Streifen. Kein Problem. Und Haydock liegt genau da, wo die M6 die East-Lancaster-Straße kreuzt. Kinderleicht.«

Dann setzte er sich in Richtung Türkei in Bewegung, blieb aber in der Tür noch einmal auf einem Fuß stehen, um mir einen letzten Rat mit auf den Weg zu geben. »Bevor du nach Bath fliegst, solltest du noch mal kurze Landungen üben. Und meide Yarmouth während einer Hitzewelle. So, jetzt bist du am Zug, Kumpel, Hals- und Beinbruch.«

Man konnte Greenham Common tatsächlich schon von weitem sehen, aber an einem klaren Tag wäre es ohnehin schwierig gewesen, sich zwischen White Waltham und Newbury zu verfliegen. Die Haupteisenbahnlinie nach Exeter verlief mehr oder weniger geradlinig vom einen Ort zum anderen. Meine Passagiere waren schon öfter nach Newbury geflogen, und der Major riet mir hilfreicherweise, nach Hochspannungsleitungen Ausschau zu halten, die die Anflugschneise kreuzten. Ich brachte eine respektable Landung auf dem frisch gemähten Rasen zustande, ließ das Flugzeug in Richtung Haupttribüne ausrollen und bremste erst kurz vor der Einzäunung.

Colin Ross war nicht da.

Ich stellte den Motor ab, und in die plötzliche Stille hinein bemerkte Annie Villars: »War ja klar, daß er sich verspäten würde. Er sagte, er würde für Bob Smith ein paar Trainingsritte machen, und Bob kriegt seine Pferde nie pünktlich aus dem Stall.«

Die anderen drei nickten vage, aber der Unmut [15]zwischen ihnen war noch nicht verflogen, und nach etwa fünf Minuten lastenden Schweigens bat ich Goldenberg, mich aussteigen zu lassen, damit ich mir die Beine vertreten konnte. Er knurrte und brummte undeutlich vor sich hin, daß er auf den Flügel steigen müsse, um mich durchzulassen, und ich nahm an, daß ich gerade Derrydowns Regel Nummer eins gebrochen hatte: Verärgere niemals einen Kunden; du wirst ihn noch brauchen.

Sobald ich meine Passagiere allein gelassen hatte, nahmen sie ihre Unterhaltung wieder auf. Ich ging um das Flugzeug herum und lehnte mich vorn gegen die Tragfläche, schaute hinauf zu den vereinzelten Wolken am blaugrauen Himmel und dachte ohne nennenswertes Ergebnis über dies und das nach. Hinter mir schwollen die Stimmen meiner Fluggäste zornig an, und als sie die Tür öffneten, um ein wenig frische Luft ins Flugzeug zu lassen, trieb der Wind Bruchstücke ihrer Unterhaltung zu mir herüber.

»…einfach einen Dopingtest verlangen.« Annie Villars.

»…wenn Sie es nicht schaffen, mit mehr Geschick zu verlieren als beim letzten Mal… einen anderen suchen.« Goldenberg.

»…sehr schwierige Situation.« Major Tyderman.

Ein kurzer, scharfer Fluch von Kenny und Annie Villars’ ärgerlicher Kommentar. »Bayst!«

»…zahle Ihnen nicht mehr als beim letzten Mal.« Der Major, mit großem Nachdruck.

Undeutlicher Protest von Kenny und eine absolut unmißverständliche Feststellung von Goldenberg: »Scheiß was auf Ihre Lizenz.«

[16]Kenny, mein Junge, dachte ich bei mir, wenn du nicht aufpaßt, endest du wie ich – Lizenz gerettet, aber alles andere den Bach runtergegangen.

Ein Ford-Lieferwagen kam die Straße entlanggerollt, vorbei an der Haupttribüne, fuhr durch das Tor in der Einzäunung und rumpelte über den Rasen auf das Flugzeug zu. Er blieb etwa sechs oder sieben Meter davon entfernt stehen, und zwei Männer stiegen aus. Der größere, der den Wagen gefahren hatte, ging nach hinten und lud einen braunen Handkoffer aus Segeltuch und Leder aus. Der kleinere kam über den Rasen auf mich zu. Ich löste mich von der Tragfläche und richtete mich auf. Er blieb ein paar Schritte entfernt stehen, um auf den größeren Mann zu warten. Seine Kleidung bestand aus verblichenen Jeans und einem weißlichen Baumwoll-Sweatshirt mit marineblauer Schrift. An den schmalen Füßen schwarze Segeltuchschuhe. Er hatte unscheinbares, bräunliches Haar, das ihm über eine außergewöhnlich breite Stirn fiel, eine kurze, gerade Nase und ein zartes Kinn mit einer femininen Note. Sein Knochenbau war durch und durch feingliedrig, und beim Anblick seiner Taille wären die Mädchen des viktorianischen Zeitalters vor Neid erblaßt. Und doch hatte er etwas eindeutig Männliches an sich – und mehr als das, er strahlte Reife aus. Er sah mich mit dem dezenten, stillen Lächeln in den Augen an, das die auszeichnet, die wissen, was im Leben wirklich zählt. Seine Seele war alt. Er war sechsundzwanzig.

»Guten Morgen«, sagte ich.

Er hielt mir die Hand hin, und ich schüttelte sie. Sein Händedruck war kühl, fest und kurz.

[17]»Nicht Larry?« erkundigte er sich.

»Er hat gekündigt. Mein Name ist Matt Shore.«

»Schön«, sagte er unverbindlich. Sich selbst stellte er nicht vor. Er wußte, daß das unnötig war. Ich fragte mich, wie man sich in dieser Position wohl fühlen mochte. Colin Ross jedenfalls hatte sie nicht verändert. Er trug seine Prominenz nicht eigens zur Schau, wie es besonders erfolgreiche Menschen häufig tun, und nach der extremen Bescheidenheit seiner Kleidung zu urteilen vermutete ich, daß er diese Aura des »Ich bin der berühmte…« ganz bewußt vermeiden wollte. »Wir sind spät dran, fürchte ich«, sagte er. »Sie werden wohl etwas auf die Tube drücken müssen.«

»Ich tu mein Bestes.«

Nun trat auch der größere Mann mit dem Handkoffer hinzu, und ich verstaute das Gepäck in dem Fach zwischen der Motorzelle und dem vorderen Druckschott der Kabine. Als das Gepäckfach wieder fest geschlossen war, hatte Colin Ross bereits seinen Platz eingenommen und sich angeschnallt. Goldenberg stieg unter lautem Stöhnen wieder aus, so daß ich auf meinen Platz an der linken Seite zurückklettern konnte. Der größere Mann, bei dem es sich offensichtlich um den saumseligen Trainer Bob Smith handelte, sagte den Passagieren »Hallo« und »Auf Wiedersehen« und sah zu, wie ich den Motor anließ und den Flieger ans andere Ende der Bahn rollen ließ, um ihn für den Start in den Wind zu drehen.

Der Flug nach Norden verlief ohne Vorkommnisse: Ich machte es mir einfach, flog unterhalb der Luftstraße Gelb 1, navigierte nach den Funkfeuern in Daventry, Lichfield und Oldham. Manchester Control leitete uns [18]nördlich um seine Kontrollzone herum, so daß ich die Rennbahn von Haydock mit südlichem Kurs anfliegen mußte, und da lag sie auch, genau wie Larry gesagt hatte, ganz in der Nähe der Kreuzung der beiden großen Schnellstraßen. Wir gingen auf dem Grasstreifen in der Mitte der Bahn runter, und ich rollte weiter und parkte nach Anweisung des Majors in der Nähe der Rails der Rennbahn, keine hundert Meter von den Tribünen entfernt.

Die Passagiere stiegen mitsamt ihren Habseligkeiten aus, und Colin Ross blickte auf seine Uhr. Die Spur eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel und war sofort wieder verschwunden. Er ersparte sich den Kommentar und fragte mich: »Wollen Sie sich die Rennen ansehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde wohl hierbleiben.«

»Ich spreche mit dem Ordner am Führring, daß er Sie hineinläßt, falls Sie Ihre Meinung doch noch ändern.«

»Danke«, sagte ich überrascht. »Vielen Dank.«

Er nickte kurz und ging davon, ohne auf die anderen zu warten, duckte sich unter den weißgestrichenen Rails hindurch und trottete über das Geläuf.

»Pilotenvergünstigung«, sagte Kenny, während er seinen Regenmantel von mir entgegennahm und dann den Arm ausstreckte, damit ich ihm den Sattel darüberlegen konnte. »Das sollten Sie ausnutzen.«

»Mal sehen«, sagte ich, hatte aber nicht die Absicht. Pferderennen hieß für mich Derby und sonst nichts. Außerdem war ich von Natur aus Nichtspieler.

Annie Villars sagte mit ihrer trügerisch sanften Stimme: »Sie wissen doch, daß wir nach den Rennen alle nach Newmarket fliegen und nicht zurück nach Newbury?«

[19]»Ja«, beruhigte ich sie. »Das hat man mir gesagt.«

»Gut.«

»Falls wir nicht ins Gefängnis kommen«, setzte Kenny kaum hörbar hinzu. Goldenberg sah mich scharf an, um festzustellen, ob ich diese letzte Bemerkung gehört hatte, aber ich ließ mir nichts anmerken. Was immer sie im Schilde führten, es war mir egal wie sonstwas.

Major Tyderman zupfte an seinem Schnurrbart, die Hand steif vor Nervosität, und sagte: »Letztes Rennen um halb fünf. Danach brauche ich einen Drink. Fertig zum Abflug, sagen wir, um Viertel nach fünf. Paßt Ihnen das?«

»Absolut, Major.« Ich nickte.

»Schön«, sagte er. »Gut.« Sein Blick wanderte taxierend und argwöhnisch über die Gesichter seiner Reisegefährten. Bei Kenny Bayst wurden seine Augen schmal vor Zorn, öffneten sich wieder, ruhten dann kurz und skeptisch auf Goldenberg, entspannten sich auf Annie Villars und blickten zu guter Letzt kalt dem entschwindenden Rücken von Colin Ross nach. Welche Gedanken sich hinter seinem Mienenspiel verbargen, war nicht zu erraten, und als er schließlich wieder zu mir herüberschaute, sah er durch mich hindurch; er war vollauf beschäftigt mit dem, was ihm im Kopf herumging.

»Viertel nach fünf«, wiederholte er geistesabwesend. »Gut.«

Kenny sagte zu mir: »Verschwenden Sie Ihr Geld nicht aufs Fünfzehn-Uhr-dreißig-Rennen, Sportsfreund«, worauf Goldenberg die Faust hob; sein Gesicht lief vor Zorn dunkelrot an, und es sah so aus, als wollte er auf Kenny losgehen.

[20]Annie Villars’ Stimme traf ihn wie eine Ohrfeige; der Stahl kam mit Macht unter dem Samt zum Vorschein, der Kommandoton war so unüberhörbar wie einschüchternd:

»Beherrschen Sie sich, Sie Schwachkopf.«

Goldenbergs Mund klappte buchstäblich auf und offenbarte eine Reihe unappetitlicher, braungefleckter Zähne. Langsam ließ er die erhobene Faust sinken und sah dabei durch und durch töricht aus.

»Und was Sie betrifft«, wandte sie sich an Kenny, »ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten den Mund halten, und das war Ihre letzte Chance.«

»Soll das ein Rausschmiß sein?« fragte er.

»Das entscheide ich, wenn der Nachmittag vorbei ist.«

Kenny schien die Aussicht, seinen Job zu verlieren, nicht weiter zu beängstigen, und mir wurde klar, daß er es auf seinen Rausschmiß angelegt hatte. Er war in eine Zwickmühle geraten, aus der er nicht wieder hinauskam, solange die anderen nicht lockerließen.

Jetzt war ich doch eine Spur neugierig, herauszufinden, was in dem Rennen um fünfzehn Uhr dreißig passieren würde. Ein Zeitvertreib für den Nachmittag.

Sie schlenderten zu den Tribünen hinüber, Kenny vorneweg, der Major und Goldenberg Seite an Seite und Annie Villars ein paar Schritte hinterdrein. Der Major blieb immer wieder stehen, schaute sich um und wartete auf sie, aber jedesmal, wenn sie ihn eingeholt hatte, drehte er sich um und marschierte wieder los, so daß das Ganze, wenn es denn ein Akt der Höflichkeit sein sollte, doch völlig überflüssig war. Der Mann erinnerte mich lebhaft an eine Tante, die auf genau dieselbe Art und Weise mit mir [21]spazierenging, als ich noch ein Kind war. Ich erinnerte mich ganz deutlich daran, daß es mich jedesmal auf die Palme brachte.

Ich seufzte, schloß die Gepäckraumtüren und räumte das Flugzeug auf. Annie Villars hatte dünne, braune Zigarren geraucht. Goldenberg nahm Verdauungstabletten, die einzeln in quadratische Papierchen eingewickelt waren. Und der Major hatte seine Sporting Life als zerfleddertes Häufchen auf dem Boden der Kabine zurückgelassen.

Während ich noch mit dem Müll beschäftigt war, landeten zwei weitere Flugzeuge, eine viersitzige, hochgedeckte Cessna und eine sechssitzige, zweimotorige Aztec.

Ich sah mir ihre Landungen mit unkritischem Auge an, obwohl ich dem Piloten der Aztec für seinen Doppelhüpfer nicht gerade eine Goldmedaille verliehen hätte. Mehrere relativ kleine Männer stiegen aus und rannten wie ein Schwarm aufgeschreckter Stare in Richtung Führring über die Bahn. Ihnen folgten langsamer drei oder vier größere, mit Feldstechern und Taschen beladene Personen. In den Taschen transportierten sie, wie ich später herausfand, die Rennfarben der Jockeys. Schließlich sprang aus jedem der Flugzeuge der Mann, der es am wenigsten eilig zu haben schien und ähnlich gekleidet war wie ich selbst – dunkle Hose, weißes Hemd, ordentliche dunkle Krawatte.

Die beiden Männer schlenderten aufeinander zu und zündeten sich Zigaretten an. Da ich nicht ungesellig erscheinen wollte, ging ich nach einer Weile zu ihnen hinüber. Sie drehten sich um und sahen mir ohne auch nur eine Spur Freundlichkeit in ihren verschlossenen Mienen entgegen. »Hallo«, sagte ich zurückhaltend. »Schöner Tag heute.«

[22]»Mag sein«, sagte der eine.

»Finden Sie wirklich?« sagte der andere.

Keiner bot mir eine Zigarette an; sie hatten nichts für mich übrig außer fischäugigen Blicken. Gegen so etwas war ich mittlerweile abgehärtet. Ich wandte mich halbwegs von ihnen ab, um auf den Seitenleitwerken ihrer Flugzeuge die Namen der Firmen zu lesen, für die sie flogen. Auf beiden derselbe Name. »Polyplane Services«.

Wie stinkig, dachte ich, diese Feindseligkeit. Ich hielt ihnen aber noch einen letzten Zweifel zugute und unternahm einen weiteren Versuch.

»Weiten Weg gehabt?«

Sie gaben keine Antwort. Statt dessen sahen sie mich an wie zwei Stockfische.

Ich lachte kurz auf, als hielte ich ihr Benehmen für bemitleidenswert, was ich auch tat, und drehte mich auf dem Absatz um, um mich wieder auf mein eigenes Territorium zurückzuziehen. Als ich ein paar Meter weit gegangen war, rief einer von ihnen hinter mir her: »Wo ist Larry Gedge?« Es hörte sich nicht so an, als wäre ihm Larry auch nur einen Deut sympathischer gewesen als ich.

Ich beschloß, mich taub zu stellen: Wenn sie es wirklich wissen wollten, konnten sie rüberkommen und ihre Frage noch einmal nett und höflich wiederholen. Sie waren jetzt an der Reihe, den Rasen zu überqueren.

Aber diese Mühe machten sie sich nicht. Es tat mir nicht besonders leid. Ich hatte schon vor langer Zeit begriffen, daß Piloten alles andere als eine große, glückliche, verschworene Gemeinschaft sind. Unter Piloten gab es die gleichen Gemeinheiten wie überall sonst.

[23]Ich kletterte wieder auf meinen Platz in der Cherokee und legte mir die Karten und Flugpläne für die Rückreise zurecht. Ich hatte vier Stunden Zeit dafür und brauchte ganze zehn Minuten. Danach überlegte ich, ob ich zu den Tribünen hinübergehen und mir etwas zu essen besorgen sollte, und befand, daß ich keinen Hunger hatte. Danach gähnte ich. Aus Gewohnheit.

Mein Stimmungstief beherrschte mich jetzt schon so lange, daß es zu einem dauerhaften Gemütszustand geworden war. Die Erwartungen, die ein neuer Job mit sich brachte, mochten zwar die dunklen Wolken für eine Weile zurückdrängen, aber das Leben weigerte sich beharrlich, den schönen Hoffnungen gerecht zu werden. Das war mein sechster Job, seit ich mit strahlenden Augen gelernt hatte zu fliegen, mein vierter, seit das Strahlen für alle Zeit verschwunden war. Ich hatte gedacht, die Taxifliegerei könnte ganz interessant werden; langweiliger als die Schädlingsbekämpfung, meine letzte Beschäftigung, konnte es auf keinen Fall sein, und vielleicht würde ich ja auch wirklich noch Geschmack daran finden. Aber wenn ich geglaubt hatte, dabei von Auseinandersetzungen und Übellaunigkeiten verschont zu bleiben, dann hatte ich mir etwas vorgemacht. Denn schon wartete all das wieder auf mich, ganz wie gewohnt. Zänkische Passagiere, streitlustige Konkurrenz und von irgendwelcher Freude weit und breit keine Spur.

Ich registrierte einen leichten Schlag gegen den Rumpf, dann einen Ruck und hörte, wie sich jemand auf die Tragfläche schwang. Die nur angelehnte Tür wurde temperamentvoll aufgerissen und ausgefüllt von einem Mädchen, [24]das in die Hocke gegangen war, Hüfte, Knie und Hals gebeugt, um in das Flugzeug hinein- und mich anzusehen.

[25]2

»Whoww«, sagte sie. »Der falsche.« Sie nahm die Sonnenbrille ab, legte sie zusammen und steckte sie in die weiße Handtasche, die ihr an einer dicken, blauweißroten Kordel von der Schulter baumelte.

»Machen Sie sich nichts draus.«

»Wo ist Larry?«

»Abgezogen. Richtung Türkei.«

»Abgezogen?« sagte sie verdutzt. »Soll das heißen, daß er wirklich schon weg ist?«

Ich schaute auf meine Uhr. »Ist vor zwanzig Minuten von Heathrow abgeflogen, glaube ich.«

»Verdammt!« sagte sie nachdrücklich. »Verdammt.«

Sie richtete sich auf, so daß ich sie auch von der Taille abwärts sehen konnte. Ein erfreulicher Anblick für einen armen Flieger. Die Beine sahen nach dreiundzwanzig Jahren aus, und es gab nichts an ihnen auszusetzen.

Sie beugte sich wieder vor. Auch an allem anderen gab es nichts auszusetzen.

»Wann kommt er zurück?«

»Er hat einen Dreijahresvertrag.«

»O Mist!« Ein paar Sekunden lang starrte sie mich unglücklich an, dann sagte sie: »Kann ich einsteigen und einen Augenblick mit Ihnen reden?«

[26]»Klar«, sagte ich und nahm meine Landkarten und den ganzen anderen Kram von Goldenbergs Platz. Sie kletterte in das Cockpit und ließ sich gekonnt auf den Sitz gleiten. Ganz bestimmt nicht ihr erster Auftritt in einem Leichtflugzeug. Ich dachte an Larry. Larry, der Glückspilz.

»Er hat Ihnen nicht zufällig… ein Päckchen… oder irgend etwas anderes… für mich mitgegeben, nein?« fragte sie niedergeschlagen.

»Nein, nichts, fürchte ich.«

»Dann ist er also ein echter Widerling… ähm, ist er ein Freund von Ihnen?«

»Ich bin ihm zweimal über den Weg gelaufen, das ist alles.«

»Er hat mir hundert Mäuse geklaut«, sagte sie bitter.

»Geklaut…?«

»Ja, verdammt noch mal. Ganz zu schweigen von meiner Handtasche und den Schlüsseln und allem.« Sie hielt inne und preßte vor Zorn die Lippen aufeinander. Dann fügte sie hinzu: »Ich habe vor drei Wochen meine Handtasche in diesem Flugzeug liegengelassen, als wir nach Doncaster geflogen sind. Und seitdem verspricht Larry mir, sie Colin beim nächsten Flug zu den Rennen für mich mitzugeben, und drei volle Wochen lang hat er es immer wieder vergessen. Wahrscheinlich wußte er, daß er in die Türkei gehen würde, und dachte, wenn er mich nur lange genug hinhalten könnte, bräuchte er mir die Tasche überhaupt nicht mehr zurückzugeben.«

»Colin… Colin Ross?« fragte ich.

Sie nickte geistesabwesend.

»Sind Sie seine Frau?«

[27]Sie schaute überrascht auf und lachte dann. »Gütiger Himmel, nein. Ich bin seine Schwester. Ich habe ihn gerade im Führring getroffen und gefragt: ›Hat er meine Handtasche mitgebracht?‹, und er hat den Kopf geschüttelt und wollte irgend etwas sagen, aber da war ich schon fuchsteufelswild auf dem Weg hierher. Wahrscheinlich wollte er mir erzählen, daß diesmal ein anderer Pilot… ah, verdammt. Ich hasse es, beklaut zu werden. Colin hätte ihm ganz bestimmt hundert geliehen, wenn er das Geld wirklich so dringend gebraucht hätte. Er hätte sie nicht zu klauen brauchen.«

»Eine schöne Stange Geld, um sie in einer Handtasche aufzubewahren«, meinte ich.

»Colin hatte sie mir gerade erst gegeben. Im Flugzeug. Irgendein Besitzer hatte ihm ein hübsches Sümmchen bar auf die Hand gegeben, und er hat mir einen Hunderter geschenkt, damit ich eine Rechnung bezahlen konnte. Wirklich lieb von ihm. Ich kann ja kaum erwarten, daß er mir noch mal hundert gibt, bloß weil ich so dumm war, meine Handtasche irgendwo rumliegen zu lassen…« Ihre Stimme verlor sich in Trübsal.

»Mit dem Geld«, fügte sie unglücklich hinzu, »wollte ich meine Flugstunden bezahlen.«

Ich sah sie mit einigem Interesse an. »Wie weit sind Sie denn?«

»Oh, den Flugzeugführerschein habe ich schon«, sagte sie. »Bei diesen Stunden ging es um Instrumentenflug. Und Funknavigation und den ganzen Kram. Ich habe insgesamt fünfundneunzig Flugstunden. Allerdings über vier Jahre verteilt, traurig, aber wahr.«

[28]Damit gehörte sie in die Klasse der fortgeschrittenen Anfänger – ein überaus gefährliches Stadium. Nach achtzig Flugstunden fällt man bereits der Vorstellung zum Opfer, man wüßte genug. Nach hundert Stunden weiß man zumindest, daß dem keineswegs so ist. Dazwischen erreicht die Unfallquote ihren Höhepunkt.

Sie stellte mir eine Reihe Fragen über das Flugzeug, und ich antwortete ihr. Dann sagte sie: »Tja, ziemlich zwecklos, den ganzen Nachmittag hier rumzusitzen«, und begann, sich auf die Tragfläche hinauszustemmen. »Kommen Sie mit rüber zu den Rennen?«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.

»Ach, geben Sie sich doch einen Ruck«, sagte sie. »Bitte.«

Die Sonne schien, und das Mädchen war ausgesprochen hübsch. Ich lächelte, sagte »Okay« und schwang mich ebenfalls hinaus auf den Rasen. Sinnlos, jetzt darüber zu spekulieren, was alles anders verlaufen wäre, wäre ich geblieben, wo ich war.

Ich holte meine Jacke aus dem hinteren Gepäckraum, verschloß sämtliche Türen und marschierte mit dem Mädchen quer über die Rennbahn. Der Mann am Tor ließ mich pflichtbewußt in den Führring ein, und Colins Schwester machte keine Anstalten, mich nun, nachdem sie mir Zutritt verschafft hatte, mir selbst zu überlassen. Statt dessen diagnostizierte sie meine nahezu komplette Unkenntnis und schien sich darüber zu freuen, etwas dagegen unternehmen zu können.

»Sehen Sie dieses braune Pferd da drüben?« fragte sie und lotste mich auf die Rails des Führrings zu. »Das Pferd, [29]das am anderen Ende geht, die Nummer sechzehn, das ist das Tier, das Colin in diesem Rennen reitet. Es ist etwas leicht gebaut, macht aber sonst einen ganz guten Eindruck.«

»Ah, wirklich?«

Sie sah mich belustigt an. »Eindeutig.«

»Dann soll ich wohl darauf setzen?«

»Sie nehmen das alles hier nicht ernst.«

»Doch«, protestierte ich.

»O nein, natürlich nicht.« Sie nickte. »Sie beobachten diesen Renntag so, wie ich einem Haufen Spiritisten zusehen würde. Ungläubig und etwas von oben herab.«

»Autsch.«

»Aber was Sie hier wirklich vor sich sehen, ist eine große Exportindustrie bei der Vermarktung ihrer Produkte.«

»Das werde ich mir merken.«

»Und wenn diese Industrie ihrem Geschäft hier draußen nachgeht, an einem schönen, sonnigen Tag, inmitten von Leuten, die ihren Spaß haben – na gut, dann um so besser.«

»So betrachtet«, sagte ich, »ist es auf jeden Fall spaßiger als eine Autofabrik.«

»Sie werden sich schon noch dafür erwärmen«, sagte sie entschieden.

»Nein.« Ich war mir genauso sicher.

Sie nickte heftig mit dem Kopf. »Werden Sie doch. Jedenfalls, wenn Sie viel Rennplatztaxi fliegen. Die Pferde werden durch Ihre kühle Schale dringen, und Sie werden zur Abwechslung einmal etwas empfinden.«

Ich staunte. »Reden Sie immer so mit völlig fremden Menschen?«

[30]»Nein«, sagte sie langsam, »für gewöhnlich nicht.«

Die leuchtend bunten kleinen Jockeys strömten in den Führring und verteilten sich auf die kleinen, ernsten Grüppchen von Besitzern und Trainern, die mit viel Kopfnicken bedeutungsschwere Gespräche führten. Gemäß den Anweisungen von Colin Ross’ Schwester gab ich mir Mühe, das Ganze einigermaßen ernst zu nehmen. Ohne besonderen Erfolg.

Colin Ross’ Schwester…

»Haben Sie auch einen Namen?« fragte ich.

»Normalerweise schon.«

»Danke.«

Sie lachte. »Ich heiße Nancy. Und Sie?«

»Matt Shore.«

»Hm. Kurz und bündig. Paßt zu Ihnen.«

Die Jockeys wurden wie Konfetti hochgeworfen, landeten in ihren Sätteln, und ihre spindeldürren, glänzenden, langbeinigen Transportmittel tänzelten mit ihnen auf die Bahn hinaus. Zweijährige, sagte Nancy.

Sie führte mich zu den Tribünen und erbot sich, mich in den für Trainer und Besitzer reservierten Bereich hineinzuschmuggeln. Der Ordner am Fuß der Treppe strahlte sie an, daß ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen, und vergaß dabei ganz, mich auf das richtige Stückchen Papier hin zu untersuchen.

Anscheinend war Nancy mit nahezu jedem auf der Dachtribüne bekannt, und offensichtlich stimmten die Leute hier mit der Einschätzung des strahlenden Ordners vollkommen überein. Sie machte mich mit mehreren Leuten bekannt, deren Interesse an mir wie ein [31]kaltgewordenes Soufflé in sich zusammenfiel, als sie feststellen mußten, daß ich den Rennjargon nicht verstand, mit dem sie mich überschütteten.

»Er ist Pilot«, erklärte Nancy entschuldigend. »Er hat Colin heute hergeflogen.«

»Ah«, sagten sie. »Ah.«

Auf der Tribüne sah ich auch zwei von meinen Passagieren. Annie Villars sah mit aufmerksamem Blick und geschürzten Lippen zu, wie die Pferde unten vorbeigaloppierten: ganz Feldmarschall, die feminine Tarnung abgelegt. Major Tyderman stand breitbeinig und kerzengerade da und kritzelte etwas in sein Rennprogramm. Als er aufblickte und uns sah, steuerte er entschlossen auf uns zu.

»Sagen Sie«, sprach er mich an, da er offensichtlich meinen Namen vergessen hatte, »wissen Sie, ob ich meine Sporting Life im Flugzeug liegengelassen habe?«

»Ja, haben Sie, Major.«

»Teufel auch!« sagte er. »Ich habe mir ein paar Notizen darin gemacht… Brauche sie dringend, wissen Sie. Werde sie mir nach diesem Rennen wohl holen müssen.«

»Soll ich sie Ihnen holen?« fragte ich.

»Das ist sehr nett von Ihnen, mein lieber Junge, aber – nein – das wäre wohl doch zuviel verlangt. Die paar Schritte werden mir guttun.«

»Das Flugzeug ist abgeschlossen, Major«, sagte ich. »Sie brauchen die Schlüssel.« Ich holte sie aus der Tasche und gab sie ihm.

»Richtig.« Er nickte steif. »Gut.«

Das Rennen begann am anderen Ende des Geläufs und war vorbei, bevor es mir gelang, die Farben von Colin Ross [32]zu entdecken. Ganz zum Schluß war das allerdings sehr einfach. Er hatte gewonnen.

»Wie geht es Midge?« fragte Annie Villars Nancy, während sie ihr riesiges Fernglas im Futteral verstaute.

»Schon viel besser, danke. Sie erholt sich prächtig.«

»Das freut mich sehr. Sie hat eine schlimme Zeit hinter sich, das arme Mädchen.«

Nancy nickte und lächelte, und alles trabte die Treppe hinunter.

»So, das wär’s«, sagte Nancy. »Wie steht’s jetzt mit einem Kaffee? Und vielleicht einer Kleinigkeit zu beißen?«

»Sie kennen hier doch sicher den einen oder anderen, mit dem Sie lieber Ihre Zeit verbringen… Ich komme auch allein zurecht.«

Ihre Lippen zuckten. »Ich brauche heute einen Leibwächter. Und ich habe Sie für den Job vorgesehen. Sie können mich ruhig im Stich lassen, wenn Sie wollen, aber falls nicht, bleiben Sie bitte da.«

»Kein Problem«, sagte ich.

»Toll. Also dann, auf zum Kaffee.«

Es gab Eiskaffee, und zwar einen ziemlich guten. Nach der Hälfte der Truthahnsandwiches kam der Grund, warum Nancy mich bei sich haben wollte, an unseren kleinen Tisch geschlendert und küßte sie von oben bis unten ab. Sie wehrte sich gegen etwas, das für mich aussah wie eine zufällige Ansammlung von langen Haaren, Bart, Perlen, Fransen und einem Kleidungsstück, das ich für ein Tischtuch mit einem Loch in der Mitte gehalten hätte. Aus diesem ganzen Gewühl erscholl jetzt ihre Stimme: »Kamerad, es wird ernst. Ihr Einsatz.«

[33]Ich stand auf, streckte beide Hände aus, erwischte ein Gewirr aus Wolle und Haaren, das ich entschlossen von Nancy wegzerrte. Es entpuppte sich schließlich als ein überraschter, noch relativ junger Mann, der viel plötzlicher Platz nahm, als er beabsichtigt hatte.

»Nancy«, sagte er gekränkt.

»Das ist Chanter«, klärte sie mich auf. »Er ist dem Hippiezirkus nie entwachsen, wie man leicht sehen kann.«

»Ich bin Künstler«, sagte er. Er trug ein besticktes Stirnband: wie das Zaumzeug bei den Pferden, dachte ich flüchtig. Die Haarpracht war sauber, sein Gesicht fleckenweise glatt rasiert, nur um zu beweisen, daß der Wildwuchs keine pure Faulheit war. Bei näherem Hinsehen vergewisserte ich mich, daß es sich bei seinem Gewand tatsächlich um ein dunkelgrünes Chenilletischtuch handelte, mit einem Loch in der Mitte für seinen Kopf. Darunter trug er eine Wildlederhose, die von der Hüfte bis zu den Knöcheln gefranst war, und ein grausiges Hemd aus stumpfem, malvenfarbenem Krepp, das sich wie angegossen über seinen flachen Bauch legte. Um den Hals baumelten ihm zahlreiche Ketten und Silbergehänge. Und unter der ganzen Pracht sahen schmutzige, nackte Füße hervor.

»Ich habe mit ihm zusammen die Kunsthochschule besucht«, sagte Nancy resigniert. »Das war in London. Jetzt wohnt er in Liverpool, nur einen Katzensprung entfernt. Jedesmal, wenn ich zu den Rennen hierherkomme, taucht er auch auf.«

»Hömm«, sagte Chanter tiefschürfend.

»Gibt es denn heute beliebig lange Studienbeihilfe?« fragte ich. Das war kein Hohn. Ich wollte es einfach wissen.

[34]Er war nicht beleidigt. »Hey Mann, hier oben bin ich doch der Steißtrommler.«

Ich hätte fast gelacht. Nancy sagte: »Dann wissen Sie also, was das heißt?«

»Er gibt Unterricht«, sagte ich.

»Ja, Mann, genau das habe ich gesagt.« Er nahm sich eins der Truthahnsandwiches. Seine Finger waren grünlich mit schwarzen Streifen. Farbe.

»Und Sie belästigen dieses kleine Vögelchen nicht mit Ihren schmutzigen Gedanken«, sagte er zu mir, wobei er ein paar Brotkrümel ausspuckte. »Das ist ausschließlich mein Territorium. Und zwar ganz ausschließlich, Mann.«

»Tatsache?«

»Tatsache – definitiv, Mann.«

»Wieso?«

Der Blick, den er mir zuwarf, war genauso abartig wie seine Erscheinung.

»Ich hab noch etwas Salz, das ich diesem kleinen Vögelchen auf den Schwanz streuen muß«, sagte er. »Werde nicht lockerlassen, bis es an Ort und Stelle ist…«

Nancy sah ihn mit einem Ausdruck an, als wüßte sie nicht, ob sie ihn auslachen oder sich vor ihm fürchten sollte. Sie konnte nicht so recht entscheiden, ob er nun Chanter, der liebestolle Clown, war oder Chanter, der frustrierte Lustmolch. Ich konnte es auch nicht. Aber ich verstand, daß sie Hilfe brauchte, wenn er in der Nähe war.

»Er will mich bloß, weil ich nicht will«, sagte sie.