Todsicher - Dick Francis - E-Book

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Dick Francis

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Beschreibung

Daß der Sturz des Jockeys Bill Davidson Zufall war, will sein Freund Alan nicht glauben. Zu gut kennt er die Welt des Rennsports, zu gut ist er mit den düsteren Machenschaften hinter den Kulissen der Rennbahn vertraut. Alan vermutet Sabotage und macht sich auf die Suche nach den Urhebern. Bis es zu einem atemberaubenden Showdown zwischen einem Pferd und einer ganzen Taxiflotte kommt...

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Dick Francis

Todsicher

Roman

Aus dem Englischen von Tony Westermayr

Diogenes

{5}1

Der Geruch dampfender Pferdeleiber vermischte sich mit dem kalten Dunst des Flußnebels. Ich konnte nur das dumpfe Trappeln galoppierender Hufe hören, dazwischen gelegentlich ein helles, metallisches Geräusch, wenn Hufeisen gegeneinander schlugen. Hinter mir ritt, etwas auseinandergezogen, eine Gruppe von Männern, die wie ich weiße Seidenbreeches und Jacken mit Rautenmuster trugen; vor mir parierte ein Jockey in rotgrünem Dress sein Pferd für den Sprung über die Birkenhecke, die sich ihm wie ein dunkler Schatten in den Weg stellte. Alles verlief wie erwartet: Bill Davidson war eben dabei, sein siebenundneunzigstes Hindernisrennen zu gewinnen. ›Admiral‹, sein Brauner, bewies deutlich, daß er keinen Konkurrenten zu fürchten hatte, und wie schon so oft, hatte ich die beiden seit einigen Minuten bewundert.

Ich sah, wie die kraftvolle Hinterhand ansetzte und losschnellte: ›Admiral‹ überwand die Hecke mit der Mühelosigkeit, die nur wirklich einmalige Pferde auszeichnet. Und als ich ihm nachsetzte, stellte ich fest, daß er zwei weitere Längen Vorsprung gewonnen hatte. Wir befanden uns am anderen Ende der Rennbahn von Maidenhead; vom Ziel trennte uns noch eine halbe Meile. Ich hatte keine Chance, ihn einzuholen. Der Februarnebel wurde dichter. Es war unmöglich, bis zum nächsten Hindernis zu sehen, und der milchig-weiße Dunst schien uns von der übrigen Welt abzuschließen. Die Geschwindigkeit war das einzige, woran man sich halten konnte. Das Ziel, die Zuschauer, die Tribünen und die Rennleitung, im Nebel zurückgelassen, lagen wieder unsichtbar vor uns, aber auf der langen, verlassenen Eineinhalbmeilen-Bahn fiel es schwer zu glauben, daß es das alles wirklich gab.

{6}Eine unheimliche, isolierte Welt, in der alles mögliche geschehen konnte. Und es geschah etwas!

Wir gingen in die Kurve am unteren Ende der Rennbahn und richteten uns auf, um das nächste Hindernis zu nehmen. Bill hatte gut zehn Längen Vorsprung vor mir und den anderen herausgeholt, ohne sich besonders anzustrengen. Er hatte das fast nie nötig.

Der Aufseher am nächsten Hindernis schlenderte quer über die Bahn von außen nach innen, klopfte auf die Birkenzweige und duckte sich unter das Geländer. Bill sah über die Schulter, und seine Zähne blitzten, als er befriedigt über den weiten Abstand zwischen meinem Pferd und ›Admiral‹ lächelte. Dann wandte er sich wieder dem Hindernis zu und schätzte die Entfernung ab. ›Admiral‹ setzte genau im richtigen Augenblick zum Sprung an. Er stieg hoch, als sei nicht nur den Vögeln das Fliegen vergönnt.

Und stürzte.

Entsetzt sah ich die muskulösen Beine hilflos arbeiten, als das Pferd buchstäblich einen Überschlag machte. Bill stürzte vom höchsten Punkt der Sprungbahn kopfüber hinab, und ich hörte, wie ›Admiral‹ hinter ihm mit dem Rücken am Boden landete.

Automatisch wich ich nach rechts aus und zwang mein Pferd über das Hindernis. In der Luft, während des Sprungs, starrte ich auf Bill hinunter. Er lag schlaff auf dem Boden, einen Arm ausgestreckt. Seine Augen waren geschlossen. ›Admiral‹ war mit dem Rücken auf Bill gefallen und rollte sich nun verzweifelt hin und her, um wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen.

Für einen kurzen Augenblick hatte ich den Eindruck, daß etwas unter ihnen lag, etwas ganz Abwegiges, das dort nichts zu suchen hatte. Aber meine Geschwindigkeit war zu groß. Ich hatte nicht Zeit genug, Einzelheiten zu erkennen.

Während mein Pferd weitergaloppierte, fühlte ich mich so elend, als hätte man mich in den Magen getreten. Dieser Sturz hatte so gefährlich ausgesehen, daß man das Schlimmste befürchten mußte.

{7}Ich sah mich um. ›Admiral‹ war inzwischen wieder auf die Beine gekommen und trabte davon; der Hindernisaufseher beugte sich über den immer noch bewegungslos am Boden liegenden Bill. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Rennen zu. Ich war Erster geworden und mußte es bleiben. Am Rande der Bahn eilte ein Sanitäter an mir vorbei. Er hatte sich an dem Hindernis aufgehalten, dem ich mich jetzt näherte, und war unterwegs, um Bill zu helfen.

Ich trieb mein Pferd über die nächsten drei Hindernisse, aber ich hatte keinen Spaß mehr daran, und als ich vor den vollbesetzten Tribünen als Gewinner auftauchte, schien mir das enttäuschte Stöhnen der Menge ein passender Willkommensgruß zu sein. Ich galoppierte durchs Ziel, tätschelte meinem Pferd den Hals und starrte zur Tribüne. Die meisten Gesichter waren immer noch dem letzten Hindernis zugewandt, im undurchdringlichen Nebel nach ›Admiral‹, dem todsicheren Tip, suchend, der seit zwei Jahren sein erstes Rennen verloren hatte.

Selbst die nette, ältere Dame, deren Pferd ich geritten hatte, empfing mich mit der Frage: »Wo bleibt denn ›Admiral‹?«

»Er ist gestürzt«, erwiderte ich.

»Was für ein Glück«, lachte Mrs. Mervyn.

Sie nahm die Zügel und führte ihr Pferd zum Absatteln. Ich stieg ab und löste mit ungeschickten Fingern die Sattelgurte. Sie tätschelte das Pferd und schnatterte, wie sehr sie sich über diesen Sieg freue, wie unerwartet er komme, und was für ein glücklicher Zufall es sei, daß sich ›Admiral‹ einmal versprungen habe, obwohl man das auf der anderen Seite natürlich auch bedauern müsse.

Ich nickte, lächelte sie an und erwiderte nichts, weil das, was ich zu sagen gehabt hätte, sehr unfreundlich gewesen wäre. Soll sie sich doch über ihren Sieg freuen, dachte ich. Sie hat selten genug Anlaß dazu. Und vielleicht ist Bill gar nichts passiert.

Ich zerrte den Sattel vom Pferd, überließ die strahlende Mrs. {8}Mervyn den Gratulanten, die sich um sie drängten, und zwängte mich durch die Menge, um den Wiegeraum zu erreichen. Ich setzte mich auf die Waage, wurde nicht beanstandet, ging in den Umkleideraum und legte das Sattelzeug dort auf die Bank.

Clem, der sich immer um meine Sachen kümmerte, kam herüber. Er war ein kleiner, älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht und sehnigen Armen.

Er hob meinen Sattel auf und fuhr mit der Hand streichelnd über das Leder. »Gut gemacht, Sir«, sagte er, aber er machte kein allzu freudiges Gesicht.

Ich wollte keine Glückwünsche. Abrupt sagte ich: »›Admiral‹ hätte gewinnen müssen.«

»Ist er gestürzt?« fragte Clem besorgt.

»Ja.« Ich konnte es immer noch nicht begreifen.

»Major Davidson ist doch nichts passiert, Sir?« fragte Clem. Er bediente auch Bill und sah in ihm so etwas wie einen Helden.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Aber der harte Sattelbogen hatte ihn genau im Bauch getroffen, mit dem Gewicht eines schweren Pferdes, das noch dazu sehr schnell gelaufen war. Was hat er da schon für eine Chance, dachte ich.

Ich zog meinen Mantel an und ging zum Sanitätsraum. Bills Frau, Scilla, stand vor der Tür, blaß, zitternd, mit Mühe ihre Angst unterdrückend. Sie trug ein hübsches, rotes Kostüm und eine Nerzkappe auf ihrem schwarzen Haar.

»Alan«, sagte sie erleichtert, als sie mich sah. »Der Arzt untersucht ihn gerade. Er bat mich, hier zu warten. Was meinst du? Ist es schlimm?« Sie sah mich flehend an, und ich konnte ihr keinen Trost spenden. Ich legte ihr den Arm um die Schultern. Sie fragte mich, ob ich Bills Sturz gesehen hatte. Ich erklärte ihr, daß er auf den Kopf gefallen sei und wahrscheinlich eine leichte Gehirnerschütterung erlitten habe.

Die Tür öffnete sich, und ein großer, schlanker, gutangezogener Mann kam heraus. Der Arzt.

{9}»Sind Sie Mrs. Davidson?« sagte er zu Scilla. Sie nickte.

»Es tut mir leid, aber wir müssen Ihren Mann ins Krankenhaus bringen«, sagte er. »Es wäre nicht klug, ihn ohne Röntgenuntersuchung nach Hause zu schicken.« Er lächelte beruhigend, und Scillas Anspannung löste sich ein wenig.

»Darf ich zu ihm gehen?«

Der Arzt zögerte. »Ja«, meinte er dann, »aber er ist kaum bei Bewußtsein. Es hat ihn ganz schön durchgeschüttelt. Wecken Sie ihn lieber nicht auf.«

Als ich hinter Scilla den Sanitätsraum betreten wollte, hielt mich der Arzt zurück.

»Sie sind doch Mr. York, nicht wahr?« fragte er. Er hatte mich tags zuvor nach einem leichten Sturz untersucht.

»Ja.«

»Kennen Sie die Davidsons gut?«

»Ja. Ich wohne bei ihnen.«

Der Arzt preßte die Lippen zusammen, dann sagte er: »Er macht mir Sorgen. Die Gehirnerschütterung ist nicht weiter tragisch, aber er blutet innerlich, wahrscheinlich aus einem Milzriß. Ich habe im Krankenhaus angerufen, damit alles für eine Notoperation vorbereitet wird.«

Einer der Ambulanzwagen kam rückwärts herangefahren. Die Männer sprangen heraus, öffneten die Hecktüren, holten eine große Tragbahre aus dem Wagen und transportierten sie in den Sanitätsraum. Der Arzt folgte ihnen. Kurze Zeit später erschienen sie alle wieder. Bill lag auf der Tragbahre. Scilla folgte ihnen angstvoll.

Bills markantes, sonst braungebranntes Gesicht war jetzt bläulich-weiß und mit zahllosen, kleinen Schweißtröpfchen übersät. Er atmete keuchend durch den offenen Mund, und seine Hände zerrten ruhelos an der Decke, die man über ihn gebreitet hatte. Er trug immer noch seinen rotgrün gemusterten Jockeydress, ein schlechtes Zeichen.

{10}Scilla sagte zu mir: »Ich fahre mit ihm in der Ambulanz. Kannst du mitkommen?«

»Ich bin im letzten Rennen noch einmal gemeldet«, sagte ich. »Anschließend komme ich sofort ins Krankenhaus. Mach dir keine Sorgen, er wird es schon schaffen.« Aber ich glaubte nicht daran. Sie wohl auch nicht.

Als sie fort waren, schlenderte ich an dem Gebäude entlang, dann durch den Parkplatz, bis ich das Flußufer erreichte. Durch den kürzlich geschmolzenen Schnee war die Themse zum reißenden Strom geworden; sandbraun und grau mit weißen Wellenkämmen. Hundert Meter zu meiner Rechten schoß das Wasser aus dem Nebel, schäumte an mir vorbei und verschwand wieder im Dunst. Konfus, ohne klaren Kurs vor sich, genau wie ich.

Denn irgend etwas an Bills Sturz stimmte nicht.

›Admiral‹, ein großartiges Sprungpferd, war ohne ersichtlichen Grund gestürzt. Der Rennbahnaufseher hatte die Bahn hinter dem Hindernis überquert, als Bill und ich darauf zuritten, aber das war durchaus nicht ungebräuchlich. Und als ich das Hindernis übersprungen hatte, während ich auf Bill herabsah, hatte ich etwas stumpf Schimmerndes bemerkt. Ich dachte lange Zeit darüber nach.

Die Schlußfolgerung ergab sich von selbst, aber sie schien unfaßbar. Ich mußte herausfinden, ob sie zutraf.

Ich ging zurück in den Wiegeraum, um mein Sattelzeug zu holen und mich für das letzte Rennen wiegen zu lassen, aber als ich die flachen Bleiplatten anbrachte, um das vorgeschriebene Gewicht zu erreichen, erklärte die Rennleitung über die Lautsprecher, daß das letzte Rennen wegen des dichten Nebels nicht stattfinde.

Im Umkleideraum begannen sich die Jockeys zu drängen; die Teekannen und Gebäckplatten leerten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Seit dem Frühstück war eine lange Zeit vergangen, und während ich mich umzog, verdrückte ich ein paar belegte {11}Brote. Ich vereinbarte mit Clem, daß meine Sachen nach Plumpton gebracht würden, wo ich vier Tage später zu reiten hatte, dann machte ich mich auf den Weg. Ich wollte mir die Stelle, an der Bill gestürzt war, genau ansehen.

Zu Fuß ist es ein weiter Weg von den Tribünen bis zum anderen Ende der Rennbahn von Maidenhead, und bis ich dort ankam, waren meine Schuhe, Socken und Hosenbeine von dem langen, feuchten Gras völlig durchnäßt. Es war sehr kalt und sehr neblig. Kein Mensch war zu sehen.

Ich erreichte die Hecke, die harmlose, weiche, leicht zu überspringende Hecke aus aufrechtstehenden Birkenzweigen. Neunzig Zentimeter dick am Boden, halb so dick an der obersten Stelle, einen Meter fünfunddreißig hoch, etwa zehn Meter breit. Durchaus üblich, alles andere als schwierig.

Ich sah mir die Aufsprungseite der Hecke genau an. Nichts Außergewöhnliches. Ich ging hinüber zur Absprungseite. Nichts. Ich suchte in der Heckenkulisse herum, die das Pferd zum Hindernis leitet, in derjenigen an der Innenseite der Bahn, wo sich Bill vor seinem Sturz befunden hatte. Immer noch nichts.

Ich fand das Gesuchte auf der anderen Seite der Hecke, am Außenrand der Bahn. Es lag im langen Gras, halb versteckt, mit Tautropfen übersät, zusammengerollt, tödlich.

Draht.

Es war sehr viel Draht, silbern-blaßgrau, zu einer Rolle von dreißig Zentimetern Durchmesser zusammengewunden und mit einem Stück Holz beschwert. Das eine Ende führte am Seitenpfosten des Geländers hinauf und war daran sechzig Zentimeter über dem oberen Niveau der Hecke befestigt. Ich konnte es mit den Händen nicht losmachen. Ich ging zum inneren Seitengeländer hinüber und sah mir dort den Pfosten an. Sechzig Zentimeter über dem Hindernis entdeckte ich im Holz eine schmale Rinne. Dieser Pfosten war früher einmal weiß lackiert gewesen, und ich konnte das Mal deutlich erkennen.

{12}Es war mir klar, daß eine einzige Person den Draht hatte dort anbringen können. Der Aufseher. Der Mann, den ich gesehen hatte, als er die Rennbahn überquerte. Der Mann, dachte ich bitter, dem ich es überlassen hatte, Bill zu helfen.

Bei einem Dreimeilenrennen in Maidenhead mußte die Strecke zweimal zurückgelegt werden. Beim ersten Mal hatte es an diesem Hindernis keine Schwierigkeiten gegeben. Neun Pferde waren sicher darübergekommen, während ›Admiral‹ noch die dritte Stelle einnahm, auf seine Chance wartend, während ich neben Bill herritt und ihm erklärte, daß mir das englische Klima nicht behagte.

Beim zweiten Mal war ›Admiral‹ um Längen voraus. Als ihn der Aufseher das Hindernis vorher hatte überwinden sehen, mußte er mit dem losen Ende des Drahtes hinübergegangen sein und es um den anderen Pfosten gewunden haben, so daß sich der Draht straff in der Luft spannte, beinahe unsichtbar, sechzig Zentimeter über der Hecke. In dieser Höhe mußte ›Admiral‹ mit der Schulter dagegenprallen.

Ob das Pferd den Draht abgerissen oder vom Pfosten gezogen hatte, wußte ich nicht genau. Da ich aber keine losen Stücke fand, hielt ich es für wahrscheinlich, daß das stürzende Pferd den nicht so stark befestigten Teil des Drahtes herabgerissen hatte. Keines der nachfolgenden sieben Pferde war gestürzt. Gleich mir hatten auch die anderen Reiter das Überbleibsel dieser Falle übersprungen.

Wenn es sich bei dem Aufseher nicht um einen Wahnsinnigen handelte, was man nicht ausschließen konnte, war das ein genau geplanter Angriff auf ein bestimmtes Pferd, auf einen bestimmten Reiter gewesen. Bill auf seinem ›Admiral‹ hatte in diesem Stadium des Rennens fast immer die Führung übernommen, häufig sogar einen Vorsprung von zwanzig Längen herausgeholt, und sein rotgrüner Dress war sogar an einem nebligen Tag nicht zu übersehen.

Schweren Herzens trat ich den Rückweg an. Es begann dunkel zu werden. Ich hatte mich länger an der Hecke aufgehalten, als mir {13}klargeworden war, und als ich schließlich den Wiegeraum erreichte und der Rennleitung von dem Draht berichten wollte, mußte ich feststellen, daß bis auf den Hausmeister alle gegangen waren. Der Hausmeister, ein alter, mürrischer Mann, erklärte mir, daß er nicht wisse, wo man den für die Bahn verantwortlichen Mann finden könne. Der Geschäftsführer sei jedenfalls vor fünf Minuten in die Stadt gefahren. Er wisse nicht, wann er zurück sein werde; mit der unfreundlichen Bemerkung, daß er sich nun endlich um die Heizung kümmern müsse und der Nebel im übrigen für seine Bronchitis nicht gut sei, schlurfte er schließlich davon.

Unentschlossen sah ich ihm nach. Ich wußte, daß ich den verantwortlichen Leuten von dem Draht berichten sollte, aber wem? Die gesamte Rennleitung war auf dem Weg nach Hause; ihre Autos verbargen sich irgendwo im Nebel, unerreichbar. Der Geschäftsführer hatte sich entfernt. Das Büro des Rennleiters war abgeschlossen. Es würde viel Zeit in Anspruch nehmen, einen dieser Männer zu finden, ihn zu überreden, daß er zur Rennbahn zurückkehren und im Dunkeln die Bahn hinunterfahren sollte; danach würde es Diskussionen, Wiederholungen, schriftlich fixierte Aussagen geben. Das mochte Stunden dauern.

Inzwischen kämpfte Bill im Krankenhaus von Maidenhead um sein Leben, und ich mußte wissen, ob er es schaffte. Scilla hatte furchtbare Stunden vor sich, und ich dachte an mein Versprechen, ihr so schnell wie möglich Gesellschaft zu leisten. Zu viel Zeit war schon vertrödelt worden. Um den am Pfosten befestigten Draht konnte man sich ja auch morgen kümmern.

Bills Jaguar stand einsam auf dem Parkplatz. Ich setzte mich ans Steuer, schaltete Scheinwerfer und Nebellampen ein und fuhr los. Am Eingang zur Rennbahn bog ich links ab, fuhr zwei Meilen die Straße entlang, hielt mich nach der Brücke wieder links, schlängelte mich durch Maidenheads Einbahnstraßen und erreichte schließlich das Krankenhaus.

Ich betrat die hell erleuchtete Eingangshalle, aber Scilla war {14}nirgends zu sehen. Ich erkundigte mich beim Portier. »Mrs. Davidson? Die Frau des Jockeys? Ja, sie sitzt da hinten im Wartezimmer. Die vierte Tür links.«

Ich fand sie. Ihre dunklen Augen wirkten noch größer als sonst, sie waren umschattet. Ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren, die Nerzkappe lag auf dem Tisch. »Wie geht es ihm?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht. Man sagt mir nur immer, ich solle mir keine Sorgen machen.« Sie war den Tränen nahe.

Ich setzte mich neben sie und nahm ihre Hände.

»Ich bin dir sehr dankbar, Alan«, sagte sie.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und ein blonder, junger Arzt betrat das Zimmer.

»Mrs. Davidson, ich glaube …« er machte eine Pause, »ich glaube, Sie sollten sich zu Ihrem Mann setzen.«

»Wie geht es ihm?«

»Nicht … sehr gut. Wir tun, was wir können.« Er wandte sich an mich: »Sind Sie ein Verwandter?«

»Ein Freund der Familie. Ich bringe Mrs. Davidson nach Hause.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Wollen Sie warten oder später wiederkommen? Am späten Abend.«

Ich starrte ihn an und plötzlich wußte ich, daß Bill im Sterben lag.

»Ich warte hier.«

»Gut.«

Ich wartete vier Stunden, studierte das Muster der Vorhänge und die Risse im braunen Linoleum. Die meiste Zeit dachte ich an den Draht.

Schließlich kam eine Schwester, jung, hübsch, mit ernstem Gesicht.

»Es tut mir so leid … Major Davidson ist tot.«

Mrs. Davidson wünsche, daß ich ihn sähe, sagte sie. Wenn ich ihr folgen wolle. Sie führte mich die langen Korridore hinunter, in {15}ein weißes, nicht sehr großes Zimmer, in dem Scilla neben dem Einzelbett saß.

Scilla sah zu mir auf. Sie konnte nicht reden.

Bill lag da, grau und still. Der beste Freund, den sich ein Mann wünschen konnte.

{16}2

Früh am nächsten Morgen fuhr ich Scilla nach Hause. Sie war völlig erschöpft und außerdem durch Beruhigungsmittel halb betäubt. Die Kinder erwarteten sie auf der Treppe vor dem Haus, ernsthaft und großäugig. Hinter ihnen stand Joan, der die Kleinen anvertraut waren; ich hatte am Abend zuvor mit ihr telefoniert. Scilla setzte sich auf die Stufen und weinte sich aus. Die Kinder knieten und saßen neben ihr, umarmten sie und versuchten einen Kummer zu lindern, den sie kaum zu begreifen vermochten. Danach ging Scilla nach oben, um sich hinzulegen. Ich folgte ihr etwas später, zog die Vorhänge vor und strich ihr übers Haar. Sie war sehr schläfrig; ich hoffte nur, daß es viele Stunden dauern würde, bis sie wieder aufwachte.

Ich ging in mein Zimmer und zog mich um. Unten hatte Joan in der Küche das Frühstück für mich hergerichtet: Kaffee, Schinken mit Rührei, frische Semmeln. Ich gab den Kindern die für sie gekaufte Schokolade, und sie saßen um mich herum, während ich mich meinem Frühstück widmete. Joan machte sich auch noch eine Tasse Kaffee.

»Alan?« sagte William. Er war fünf Jahre alt, der Jüngste, und er wartete immer, bis man ›ja?‹ gesagt hatte, bevor er weitersprach.

»Ja?« sagte ich.

»Was ist Daddy passiert?«

Also erzählte ich ihnen alles, bis auf die Sache mit dem Draht.

Sie blieben lange Zeit ungewöhnlich still. Dann fragte Henry mit seinen acht Jahren: »Wird er beerdigt oder verbrannt?«

Bevor ich antworten konnte, entspann sich zwischen ihm und seiner älteren Schwester Polly eine hitzige und erstaunlich {17}wohlinformierte Diskussion über die jeweiligen Vorteile von Begräbnis und Verbrennung. Ich war entsetzt, zugleich aber auch erleichtert, und Joan, die meinen Blick auffing, mußte sich das Lachen verbeißen.

Die unschuldige Abgebrühtheit ihrer Unterhaltung ließ mich meine Fahrt zurück nach Maidenhead in etwas besserer Stimmung antreten. Ich brachte Bills großen Wagen in die Garage und machte mich in meinem eigenen kleinen dunkelblauen Lotus-Sportwagen auf den Weg. Der Nebel hatte sich völlig aufgelöst, aber ich fuhr trotzdem nicht allzu schnell, weil ich darüber nachdachte, was wohl am besten zu tun sei.

Zuerst suchte ich das Krankenhaus auf, wo ich Bills Sachen in Empfang nahm, Formulare unterschrieb und alles Nötige veranlaßte. Für den nächsten Tag war eine Routineobduktion vorgesehen.

Es war Sonntag. Ich fuhr zur Rennbahn, aber alle Eingänge waren geschlossen. Auch im Büro der Rennleitung in der Stadt konnte ich niemand antreffen. Ich rief die Privatadresse des Rennleiters an, ohne daß sich jemand meldete.

Nach einigem Zögern wählte ich die Nummer des Vorsitzenden im Nationalen Rennsportkomitee, der höchsten Autorität für den Hindernissport. Sir Creswell Stampes Butler erklärte mir, er müsse erst nachsehen, ob Sir Creswell zu sprechen sei. Ich sagte, daß ich unbedingt mit ihm reden müsse. Kurze Zeit später hörte ich seine Stimme.

»Ich hoffe, daß Sie mir wirklich etwas Wichtiges mitzuteilen haben, Mr. York. Ich diniere gerade mit meinen Gästen.«

»Haben Sie schon gehört, Sir, daß Major Davidson gestern nacht gestorben ist?«

»Ja. Es tut mir wirklich sehr leid.« Er wartete. Ich atmete tief ein.

»Sein Sturz ist nicht auf einen Unfall zurückzuführen«, sagte ich.

{18}»Wie meinen Sie das?«

»Major Davidsons Pferd ist durch einen gespannten Draht zu Fall gebracht worden«, erwiderte ich.

Ich erzählte ihm von meinem Fund an der Birkenhecke.

»Sie haben wohl Mr. Dace entsprechend unterrichtet?« fragte er. Mr. Dace war Rennleiter für die Bahn in Maidenhead.

Ich erklärte ihm, daß ich Mr. Dace nicht hatte finden können.

»Deswegen rufen Sie bei mir an. Ich verstehe.« Er machte eine Pause. »Nun, Mr. York, wenn Sie sich nicht getäuscht haben, ist die Sache zu ernst, um alleine vom Nationalen Komitee behandelt zu werden. Ich halte es für das beste, wenn Sie die Polizei in Maidenhead so schnell wie möglich informieren. Rufen Sie mich bitte heute abend wieder an. Ich werde inzwischen versuchen, Mr. Dace zu verständigen.«

Ich hängte ein. Immerhin lief die Sache jetzt.

Das Polizeirevier in der verlassenen Straße wirkte düster, schmutzig und wenig einladend. Ich ging hinein. Hinter dem Geländer standen drei Schreibtische; an einem von ihnen saß ein junger Wachtmeister, in eine Zeitung vertieft.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?« sagte er und erhob sich.

»Hat außer Ihnen hier noch jemand Dienst?« erkundigte ich mich. »Einer der Vorgesetzten? Es handelt sich um einen – einen Todesfall.«

»Einen Augenblick, Sir.« Er verließ den Raum durch eine Hintertür. Kurze Zeit später erschien er wieder und sagte: »Würden Sie bitte hier eintreten?«

Ich betrat ein kleines Büro, und er schloß die Tür hinter mir.

Der Mann, der sich hinter dem Schreibtisch erhob, war für einen Polizisten verhältnismäßig klein, stämmig, wahrscheinlich Ende Dreißig. Er schien mir eher robust als intelligent zu sein, aber ich fand später heraus, daß ich mich da getäuscht hatte. Sein Schreibtisch war mit Papieren und Gesetzbüchern übersät.

{19}»Guten Tag. Ich bin Inspektor Lodge.« Er deutete auf einen Stuhl, setzte sich und begann, seine Papiere zu kleinen Stößen zu ordnen.

»Sie sind wegen eines Todesfalles hier?« Meine eigenen Worte kamen mir jetzt ein wenig albern vor, aber seine Stimme blieb völlig sachlich.

»Es geht um Major Davidson …« begann ich.

»Ach ja. Wir haben einen Bericht bekommen. Er starb gestern im Krankenhaus nach einem Sturz auf der Rennbahn.«

»Dieser Sturz ist mit Absicht herbeigeführt worden«, erklärte ich rundheraus.

Inspektor Lodge starrte mich eine Weile an, dann nahm er ein Blatt Papier aus seiner Schublade, schraubte die Hülse von seinem Füllfederhalter und notierte Datum und Zeit, wie ich sehen konnte. Ein methodischer Mann.

»Wir fangen wohl am besten ganz vorne an«, sagte er. »Wie heißen Sie?«

»Alan York.«

»Alter?«

»Vierundzwanzig.«

»Anschrift?«

Ich nannte Davidsons Adresse und erklärte ihm, daß ich dort die meiste Zeit wohnte.

»Und wo ist Ihr eigentlicher Wohnsitz?«

»In Südrhodesien«, erwiderte ich. »Eine Ranch in der Nähe eines Dorfes mit dem Namen Induna, ungefähr fünfzehn Meilen von Bulawayo entfernt.«

»Beruf?«

»Ich arbeite für meinen Vater in seiner Londoner Niederlassung.«

»Welche Firma besitzt Ihr Vater?«

»Die Bailey-York Handelsgesellschaft.«

»Womit handeln Sie?« erkundigte sich Lodge.

{20}»Mit Kupfer, Blei, Schlachtvieh. Mit allem möglichen. Wir führen vor allem Transporte durch.«

Er schrieb alles nieder.

»Also dann«, er legte den Füllfederhalter weg, »worum geht es eigentlich?«

»Worum es geht, weiß ich nicht«, erwiderte ich. »Aber geschehen ist folgendes.« Ich erzählte ihm alles der Reihe nach. Er hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen, dann meinte er: »Wie kamen Sie überhaupt auf den Verdacht, daß es sich nicht um einen normalen Sturz gehandelt haben kann?«

»›Admiral‹ ist das beste Sprungpferd im ganzen Land. Ihm unterlaufen keine Fehler.«

Aber ich konnte an seinem Gesicht ablesen, daß er, wenn überhaupt, nur sehr wenig vom Rennsport verstand und seiner Meinung nach ein Pferd ebenso leicht stürzen konnte wie das andere.

Ich versuchte es noch einmal. »›Admiral‹ ist an Hindernissen einfach ein Genie. Er stürzt bei einer so leichten Hürde nicht, zumal er nicht gedrängt wurde. Der Sprungansatz war ideal, ich habe es gesehen. Nichts konnte unnatürlicher sein als dieser Sturz. Ich hatte sofort den Eindruck, als sei er irgendwie behindert worden. Ich ging später zu der Hecke, um nachzusehen, und ich fand den Draht. Das ist alles.«

»Hm. Hätte das Pferd gewinnen können?« erkundigte sich Lodge.

»Ganz sicher sogar«, sagte ich.

»Und wer hat dann gewonnen?«

»Ich«, gab ich zurück. Lodge schwieg eine Weile und kaute an seinem Federhalter.

»Wie kommen die Rennbahnaufseher zu ihren Posten?« fragte er.

»Das weiß ich nicht genau. Ich nehme an, daß man sie nur für das jeweilige Rennen einstellt«, erwiderte ich.

»Warum sollte ein solcher Mann den Wunsch haben, Major {21}Davidson etwas anzutun?« murmelte er nachdenklich, und ich sah ihn scharf an.

»Sie glauben wohl, daß ich alles erfunden habe?« brauste ich auf.

»Nein.« Er seufzte. »Das nicht. Vielleicht hätte ich sagen sollen, daß es für eine Person, die Major Davidson etwas antun wollte, doch schwierig gewesen sein müßte, sich als Rennbahnaufseher anstellen zu lassen?«

»Es wäre sogar sehr einfach gewesen.«

»Das müssen wir klären.« Er dachte nach. »War das nicht eine sehr unsichere Art, einen Menschen zu ermorden?«

»Wer das geplant hat, kann nicht vorgehabt haben, ihn zu töten«, meinte ich.

»Warum nicht?«

»Weil es äußerst unwahrscheinlich war, daß er dabei umkommen würde. Ich glaube, daß das Ganze nur dazu dienen sollte, seinen Sieg zu verhindern.«

»Warum ist es so unwahrscheinlich, daß sein Sturz zum Tode führt?« fragte Lodge. »Mir kommt es äußerst gefährlich vor.«

»Es mag wohl sein, daß man darauf hoffte, er würde sich verletzen. Wenn ein Pferd sehr schnell läuft und gegen ein Hindernis prallt, wenn man es nicht erwartet, wird man aus dem Sattel geworfen. Man fliegt durch die Luft und stürzt weit vor jener Stelle zu Boden, an der das Pferd zu Fall kommt. Das kann zwar zu schweren Verletzungen führen, aber Todesfälle gibt es dabei kaum. Bill Davidson dagegen ist nicht nach vorne geschleudert worden. Möglicherweise blieb er in den Bügeln hängen, obwohl ich das nicht glaube. Vielleicht wickelte sich der Draht um sein Bein und hielt ihn zurück. Jedenfalls fiel er kerzengerade herunter, und sein Pferd stürzte auf ihn. Selbst so war es unglaubliches Pech, daß der Sattelbogen ihn in den Magen traf. Die Chance, mit Absicht einen Menschen auf diese Weise umzubringen, ist minimal.«

{22}»Ich verstehe. Offensichtlich haben Sie sich darüber Gedanken gemacht.«

»Allerdings.«

»Fällt Ihnen niemand ein, der den Wunsch gehabt haben könnte, Major Davidson etwas anzutun?« fragte Lodge.

»Nein«, erwiderte ich. »Er war sehr beliebt.«

Lodge stand auf und streckte sich. »Wir wollen uns Ihren Draht einmal ansehen«, sagte er. Er machte die Tür auf und rief hinaus: »Wright, sehen Sie mal nach, ob Hawkins da ist, und sagen Sie ihm, daß ich einen Wagen brauche.«

Kurze Zeit später fuhr ein Wagen vor. Hawkins steuerte, ich saß mit Lodge im Fond. Die Haupteingänge der Rennbahn waren immer noch geschlossen, aber es gab andere Möglichkeiten, wie ich feststellen konnte. Mit einem der Polizei zur Verfügung stehenden Schlüssel ließ sich ein anderes Tor im Holzzaun öffnen.

»Für den Fall eines Brandes«, sagte Lodge erklärend.

Hawkins fuhr über die Bahn zur Mitte der Anlage, dann holperten wir zur Gegenkurve. Lodge und ich stiegen aus.

Ich führte ihn an der Hecke vorbei zum Seitenteil des Geländers.

»Der Draht liegt da drüben«, sagte ich.

Aber ich irrte mich.

Da war der Pfosten, das Geländer, das lange Gras, die Birkenhecke. Aber kein Draht.

»Sind Sie sicher, daß das die richtige Stelle ist?« fragte Lodge.

»Ja«, erwiderte ich. »Man springt zuerst über dieses Hindernis da drüben«, erklärte ich und deutete auf die etwa dreihundert Meter entfernte Hürde. »Dann kommt ein langes Flachstück, wie Sie selber sehen können. Zwanzig Meter nach dieser Hecke geht es scharf links zur Geraden. Das nächste Hindernis ist ziemlich weit entfernt, damit die Pferde nicht sofort springen müssen, wenn sie um die Kurve gekommen sind. Eine sehr gut angelegte Rennbahn.«

{23}»Sie können sich im Nebel nicht getäuscht haben?«

»Nein. Das ist das richtige Hindernis«, sagte ich.

Lodge seufzte. »Na, dann müssen wir uns eben alles ein bißchen näher ansehen.«

Aber wir fanden nichts als eine schmale Rinne an dem früher weißlackierten Innenpfosten und eine tiefere Rinne am Außenpfosten, wo der Draht sich ins Holz eingegraben hatte. Sie fielen aber nicht besonders auf.

»Das beweist leider sehr wenig«, erklärte Lodge. Stumm fuhren wir nach Maidenhead zurück. Jetzt wußte ich, daß ich tags zuvor irgendeinen Zeugen gebraucht hätte, selbst wenn es der Hausmeister gewesen wäre. Ich hätte den Betreffenden dazu bringen müssen, mit mir zum Hindernis zu gehen und sich den Draht anzusehen. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß der Aufseher wohl mit der Drahtschere zu dem Hindernis zurückgekehrt war, als ich wieder zu den Tribünen ging. Und selbst wenn ich sofort mit einem Zeugen hätte aufwarten können, wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen.

Vom Polizeirevier aus rief ich Sir Creswell Stampe an. Diesmal sei er beim Dessert gestört worden, meinte er. Die Nachricht, daß der Draht verschwunden sei, bereitete ihm ebenfalls wenig Vergnügen.

»Sie hätten doch sofort einen Zeugen beischaffen und den Draht fotografieren, ja ihn mitnehmen müssen. Ohne Beweismaterial können wir nichts unternehmen. Ich begreife auch nicht, warum Sie nicht schon früher etwas unternommen haben. Sie sind sehr unzuverlässig, Mr. York.« Und mit diesen Worten legte er auf.

Bedrückt fuhr ich nach Hause. Ich öffnete leise die Tür zu Scillas Zimmer und warf einen Blick hinein. Ihre Atemzüge gingen tief und gleichmäßig, sie schlief noch fest.

Unten saßen Joan und die Kinder vor dem heimeligen Kaminfeuer und spielten Poker. Ich hatte es ihnen an einem regnerischen {24}Tag beigebracht, als die Kinder ihrer Spielsachen überdrüssig geworden waren, geschrieen und miteinander gestritten hatten, bis es uns zu bunt wurde. Poker, das die Cowboys in den Wildwestfilmen zu spielen pflegten, bewirkte ein Wunder.

Henry entwickelte sich im Verlauf weniger Wochen zu einem gewiegten Pokerspezialisten. Seine Begabung für Mathematik erlaubte ihm, mit großer Präzision abzuschätzen, welche Karten auftauchen mußten; sein Gedächtnis funktionierte ausgezeichnet, und seine harmlose Miene lockte manchen nichtsahnenden Erwachsenen in die Falle. Ich bewunderte Henry. Er konnte einen Engel bluffen.

Polly beherrschte das Spiel auch recht gut, und sogar William vermochte einen ›Flush‹ von einem ›Full house‹ zu unterscheiden.

Sie spielten schon eine ganze Weile. Henry besaß wie gewöhnlich dreimal soviel Spielmarken wie irgendein anderer.

Polly sagte: »Henry hat alles gewonnen, deswegen mußten wir neu aufteilen und von vorne anfangen.«

Henry grinste. Ich nahm ihm zehn Chips ab und setzte mich zu ihnen. Joan teilte aus. Sie gab mir zwei Fünfen, und ich zog mir eine dazu. Henry legte nur zwei Karten ab, ließ sich ein Paar dafür geben und machte ein zufriedenes Gesicht.

Die anderen gaben innerhalb der ersten beiden Runden auf. Dann erkühnte ich mich, zwei weitere Marken in die Mitte zu legen. »Ich erhöhe um zwei, Henry«, sagte ich.

Henry warf mir einen Blick zu, um sich zu vergewissern, daß ich ihn auch beobachtete, dann tat er sehr unentschlossen, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und seufzte. Da ich wußte, wie gern er bluffte, nahm ich an, daß er hervorragende Karten hatte und mir nur möglichst viele Marken abnehmen wollte.

»Ich gehe mit und erhöhe um einen«, sagte er schließlich. Ich wollte noch zwei Marken hinzugeben, besann mich aber anders und sagte: »Nein, mein Lieber, mit mir nicht«, und ich warf meine {25}Karten hin. Ich schob ihm die vier Marken zu. »Da, hier hast du; mehr bekommst du diesmal nicht.«

»Was hast du denn gehabt, Alan?« Polly drehte meine Karten um und zeigte die drei Fünfen. Henry grinste. Sanft legte er seine Karten mit dem Bild nach oben auf den Tisch. Er hatte zwei Könige. Nur zwei.

»Diesmal habe ich dich erwischt, Alan«, meinte er vergnügt.

William und Polly ächzten.

Wir spielten, bis ich meine Ehre gerettet und Henry eine hübsche Anzahl Marken abgenommen hatte. Dann war Schlafenszeit für die Kinder, und ich ging hinauf, um nach Scilla zu sehen.

Sie lag wach im Dunkeln.

»Komm ’rein, Alan.«

Ich trat ans Bett und knipste die Nachttischlampe an. Sie hatte den ersten Schock überwunden und wirkte ruhig und beherrscht.

»Hast du Hunger?« fragte ich.

»Stell dir vor, ich möchte wirklich etwas essen«, sagte sie überrascht.

Ich ging nach unten, und Joan machte etwas zu essen. Ich trug das Tablett hinauf. Später erzählte sie mir, wie sie Bill kennengelernt hatte, wie sie einander begegnet waren, wie schön alles gewesen wäre. Ihre Augen glänzten. Sie sprach sehr lange von Bill, und ich unterbrach sie nicht, bis ihre Lippen zu zittern begannen. Dann erzählte ich ihr von Henry und seinen zwei Königen; sie lächelte und wurde wieder ruhiger.

Ich hätte sie gerne gefragt, ob Bill in letzter Zeit in Schwierigkeiten gewesen oder irgendwie bedroht worden wäre, aber das hatte noch Zeit. Ich wartete, bis sie ein Schlafmittel genommen hatte, knipste das Licht aus und sagte ihr gute Nacht. Als ich mich in meinem Zimmer auszog, spürte ich erst, wie müde ich war. Ich fiel buchstäblich ins Bett und schlief sofort ein.

Eine halbe Stunde später schüttelte mich Joan. »Mr. York, {26}wachen Sie doch auf. Ich habe schon eine Ewigkeit an Ihre Tür geklopft.«

»Was ist denn los?«

»Sie werden am Telefon verlangt.«

»Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte ich. Ich schaute auf die Uhr. Elf.

Ich wankte die Treppe hinunter.

»Hallo?«

»Mr. Alan York?«

»Ja.«

»Bleiben Sie bitte am Apparat.« Es knackte ein paarmal. Ich gähnte.

»Mr. York? Ich soll Ihnen etwas von Inspektor Lodge ausrichten. Er möchte, daß Sie morgen nachmittag um vier Uhr ins Polizeirevier nach Maidenhead kommen.«

»Gut, ich werde da sein«, sagte ich. Ich legte auf, ging ins Bett zurück und schlief wie ein Murmeltier.

 

Lodge erwartete mich. Er stand auf, gab mir die Hand und deutete auf einen Stuhl. Bis auf einen Aktendeckel war die Schreibtischplatte völlig leer. Hinter mir an einem kleinen Tisch in der Ecke saß ein uniformierter Wachtmeister mit Notizblock und Bleistift.

»Ich habe hier ein paar Vernehmungsniederschriften«, Lodge tippte auf die Akte, »über die ich mit Ihnen sprechen möchte. Danach muß ich Sie einiges fragen.« Er schlug die Akte auf und nahm zwei Blätter heraus.

»Das hier ist die Aussage von Mr. G.L. Dace, Rennleiter in Maidenhead. Er gibt an, daß neun Aufseher, also jene Männer, die neben den Hindernissen stehen, um sie während des Rennens notfalls wieder aufzubauen, fest angestellt sind. Bei dem bewußten Rennen waren nur drei Aufseher neu.« Lodge nahm das nächste Blatt zur Hand. »Das ist die Aussage George Watkins’, {27}eines der fest angestellten Aufseher. Er erklärt, daß die Männer unter sich auslosen, wer welches Hindernis zu übernehmen hat. Am Freitag wurde wie üblich gelost, aber am Samstag erbot sich einer der Neulinge, das am weitesten entfernte Hindernis zu übernehmen. Niemand machte das gerne freiwillig, sagte Watkins, weil man zwischen den Rennen nicht zu den Buchmachern zurückgehen könne. Man war also froh, daß der Fremde das Hindernis übernahm, und loste nur die übrigen aus.«

»Wie sah denn dieser Aufseher aus?« erkundigte ich mich.

»Sie haben ihn doch selbst gesehen«, meinte Lodge.

»Nein, nicht richtig«, sagte ich. »Für mich war er nur irgendein Mann, ich habe ihn nicht angesehen. Bei jedem Hindernis steht mindestens eine Aufsichtsperson. Ich würde keine davon wiedererkennen.«

»Watkins denkt, daß er diesen Mann wiedererkennen würde, aber er vermag ihn nicht zu beschreiben. Unauffällig, sagte er. Nicht groß, nicht klein. In mittlerem Alter, glaubt er. Er trug eine Mütze, einen alten, grauen Anzug und einen weiten Mantel.«

»So sehen sie alle aus«, sagte ich düster.

»Er nannte sich Thomas Cook«, fuhr Lodge fort. »Im Augenblick habe er keine Arbeit, aber nächste Woche werde er eine Stellung annehmen; in der Zwischenzeit wolle er sich ein paar Shillinge verdienen. Sehr plausibel, nichts Ungewöhnliches an ihm, behauptet Watkins. Allerdings sprach er wie ein Londoner, nicht mit einem Berkshire-Akzent.«

Lodge nahm ein drittes Blatt aus der Akte. »Hier die Aussage von John Russell, einem der Sanitäter. Er erklärt, neben dem ersten Hindernis auf der Geraden gestanden zu haben. Wegen des Nebels konnte er nur drei Hindernisse sehen: das, neben dem er stand, das nächste auf der Geraden und das am weitesten entfernte, an dem Major Davidson stürzte.

Als Russell gesehen hatte, wie Major Davidson aus dem Sattel fiel, ging er auf das Hindernis zu; Sie ritten an ihm vorbei und {28}schauten sich um. Er begann zu laufen. Er fand Major Davidson auf dem Boden liegend vor.«

»Hat er den Draht gesehen?« fragte ich schnell.

»Nein. Ich wollte von ihm wissen, ob er irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt habe. Von Draht sprach ich nicht. Er verneinte.«

»Hat er nicht gesehen, daß der Aufseher den Draht zusammenrollte, während er auf ihn zu lief?«

»Ich fragte ihn, ob er Major Davidson oder den Aufseher habe sehen können, während er auf die beiden zurannte. Er meinte, das sei wegen der scharfen Kurve und der Hecken erst aus nächster Nähe möglich gewesen. Er lief wohl um die Bahn, statt den kürzesten Weg zu wählen, der ihn durch das hohe, nasse Gras geführt hätte.«

»Ich verstehe«, sagte ich niedergeschlagen. »Und was tat der Aufseher, als Russell ankam?«

»Er stand neben Major Davidson und starrte auf ihn hinunter; angeblich habe er ein erschrockenes Gesicht gemacht. Das überraschte Russell, weil ihm Major Davidson nur leicht verletzt zu sein schien. Er winkte mit seiner weißen Flagge, der nächste Sanitäter sah es und gab das Signal weiter.«

»Und was trieb der Aufseher dann?«

»Nichts Besonderes. Er blieb am Hindernis stehen, nachdem der Krankenwagen Major Davidson abgeholt und Russell erklärt hatte, daß er dort gewesen sei, bis das letzte Rennen abgeblasen wurde.«

Ich versuchte, mich an einen Strohhalm zu klammern und sagte: »Ist er mit den andern Aufsehern zum Tribünenbau gegangen, um sich auszahlen zu lassen?«

Lodge sah mich interessiert an. »Nein«, sagte er. »Das hat er nicht getan.«

Er nahm sich das nächste Blatt vor. »Diese Aussage stammt von Peter Smith, Pferdebursche im Stall Gregory, wo ›Admiral‹ {29}