Doping - Dick Francis - E-Book

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Dick Francis

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Beschreibung

Daniel Roke, australischer Pferdezüchter und Besitzer einer Pferdefarm, bekommt eines Tages ganz unerwartet Besuch von einem Engländer, der sich als Earl October vorstellt. Sehr schnell stellt sich heraus, daß der englische Graf ein besonderes Anliegen hat: Ihn beschäftigt ein mysteriöser Doping-Skandal in England, und er sucht einen erfahrenen Fachmann zur Aufklärung des Falls. Roke sagt zu. Als Stallbursche verkleidet, wird er bei den verdächtigen Trainern im Gestüt arbeiten. Aber der Job ist gefährlich, der Vorgänger Rokes hat auf rätselhafte Weise sein Leben verloren. "

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Seitenzahl: 389

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Dick Francis

Doping

Roman

Aus dem Englischen vonMalte Krutzsch

Titel der 1965 bei

Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›For Kicks‹

Copyright ©1965 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1965

unter dem Titel ›Der Trick, den keiner kannte‹

im Wilhelm Goldmann Verlag GmbH, München

Umschlagillustration von

Tomi Ungerer

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23254 7 (4. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60618 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]1

Der Earl of October schneite in einem hellblauen Holden, der schon bessere Tage gesehen hatte, aber nicht gleich nach Gefahr und Tod roch, in mein Leben.

Ich sah ihn in die Einfahrt einbiegen, als ich über die kleine Koppel aufs Haus zuging, und beobachtete mißmutig, wie er sich auf unserem Privatweg näherte. Ein Vertreter, dachte ich; wir brauchen nichts. Sanft kam das blaue Fahrzeug zwischen mir und der Haustür zum Stehen.

Der Mann, der ihm entstieg, sah aus wie Mitte Vierzig, war mittelgroß und kräftig gebaut, hatte einen großen, gutgeformten Kopf und glattgebürstetes braunes Haar. Er trug graue Hosen, ein dünnes Wollhemd mit dunkler, dezenter Krawatte und hielt die unvermeidliche Aktentasche im Arm. Ich seufzte und stieg unter dem Koppelzaun durch, um ihn wegzuschicken.

»Wo finde ich Mr.Daniel Roke?« fragte er. Ein Englisch, aus dem selbst mein ungeübtes Ohr die teure britische Public School heraushören konnte; und nach der zurückhaltenden Autorität, die er ausstrahlte, zu urteilen, vielleicht doch kein Vertreter. Ich sah mir den Mann genauer an und kam davon ab, ihm zu sagen, ich sei nicht zu Hause. Trotz des alten Autos konnte es ein Kunde sein.

[6]»Ich bin Daniel Roke«, sagte ich ohne sonderliche Begeisterung.

Ein schnelles, überraschtes Blinzeln.

»Oh«, sagte er ausdruckslos.

Diese Reaktion war ich gewohnt. Ich entsprach nicht der gängigen Vorstellung von dem Besitzer eines erfolgreichen Gestüts. Schon weil ich zu jung aussah, auch wenn ich mich nicht so fühlte; und meine Schwester Belinda fand, die wenigsten Geschäftsleute hätten soviel von einem italienischen Bauernburschen an sich. Nettes Mädchen, meine Schwester. Es war einfach so, daß ich schwarze Haare und braune Augen hatte und schnell braun wurde bei meinem dunklen Teint. An dem Tag hatte ich noch dazu meine ältesten, abgewetztesten Jeans an, ungeputzte Stiefeletten und sonst nichts.

Ich hatte einer Stute, die jedesmal unter Schwierigkeiten abfohlte, Geburtshilfe geleistet; da waren Schlips und Kragen fehl am Platz. Das Ergebnis meiner – und der Stute – Bemühungen war ein schmächtiges Stutfohlen mit einem Stelzfuß vorn links, wenn nicht auch noch vorn rechts, der operiert werden mußte und mich mehr Geld kosten konnte, als das Fohlen einbringen würde.

Mein Besucher schaute auf die sauberen, weiß abgezäunten Koppeln, auf den L-förmigen Stallhof und auf die mit Zedernschindeln gedeckten Abfohlboxen drüben, wo das arme Neugeborene im Stroh lag. Alles sah solide und gepflegt aus, denn ich steckte viel Arbeit hinein, um meine Pferde zu guten Preisen verkaufen zu können.

Der Blick des Besuchers wanderte zu der großen, blaugrünen Lagune links von uns, an deren fernem Ufer die [7]schneebedeckten Berge in steinerner Schönheit steil aufragten. Weiße Wolken hingen wie Federbüsche über den Gipfeln. Für ihn, der das zum ersten Mal sah, ein tolles, großartiges Panorama. Für mich Mauern.

»Wunderschön«, meinte er beifällig. Dann wandte er sich energisch zu mir, sagte aber ein wenig zögernd: »Ich, ehm… hörte in Perlooma, daß Sie einen, ehm… englischen Stallmann haben, der gern, ehm… nach Hause möchte…« Er brach ab und setzte neu an. »Das kommt jetzt vielleicht überraschend, aber wenn er mir geeignet scheint, wäre ich unter Umständen bereit, seine Überfahrt zu bezahlen und ihm drüben eine Stellung zu verschaffen…« Er schwieg wieder.

Pferdepfleger, dachte ich, konnten in England schwerlich so knapp sein, daß man sie in Australien beschaffen mußte.

»Wollen Sie nicht ins Haus kommen?« fragte ich. »Und mir das erklären?«

Ich führte ihn ins Wohnzimmer und hörte seinen erstaunten Ausruf, als er hinter mir eintrat. Alle unsere Besucher waren von dem Raum beeindruckt. Ein großes Fenster auf der gegenüberliegenden Seite rahmte den prächtigsten Teil der Lagune und der Berge ein, holte sie gleichsam näher heran und machte sie für mich damit nur noch erdrückender. Ich setzte mich mit dem Rücken dazu in einen alten Bugholzschaukelstuhl und bot ihm einen bequemen Sessel mit Blick auf das Panorama an.

»Also, Mr.…?« begann ich.

»October«, sagte er leichthin. »Nicht Mister. Earl.«

»October – wie der Monat?« Es war gerade Oktober.

[8]»Wie der Monat«, bestätigte er.

Ich musterte ihn neugierig. Er entsprach nicht meiner Vorstellung von einem Grafen. Er sah aus wie ein Geschäftsmann, ein Generaldirektor auf Urlaub. Dann fiel mir ein, daß eins das andere nicht ausschloß und daß es sicher auch Grafen gab, die in der Wirtschaft tätig waren.

»Ich bin ganz spontan hierhergekommen«, eröffnete er mir, »und ich weiß selbst nicht, ob man so etwas tun soll.« Er schwieg, zog ein goldenes Zigarettenetui hervor und gewann Zeit zum Nachdenken, indem er mit seinem Feuerzeug hantierte. Er lächelte flüchtig. »Vielleicht sollte ich erst einmal sagen, daß ich zwar beruflich in Australien bin – ich habe Geschäftsinteressen in Sydney–, daß mich aber eine private Rundreise durch die großen hiesigen Rennsport- und Zuchtzentren zuletzt hier in die Snowies geführt hat. Bei uns in England bin ich Mitglied der Behörde, die für den Sport zwischen den Flaggen – den Hindernissport – zuständig ist, deshalb interessieren mich Ihre Pferde natürlich sehr… Nun, ich habe also in Perlooma zu Mittag gegessen« – er meinte die nächste Stadt, die rund fünfundzwanzig Kilometer entfernt war–, »und dabei kam ich mit jemand ins Gespräch, der gleich hörte, daß ich Brite bin, und mir erzählte, er kenne sonst nur einen einzigen Engländer hier, und zwar einen Pferdepfleger, der so töricht sei, wieder nach Hause zu wollen.«

»Ja«, meinte ich. »Das ist Simmons.«

»Arthur Simmons«, nickte er. »Wie ist der so?«

»Er versteht sich auf Pferde«, sagte ich. »Aber nach England zieht es ihn nur, wenn er betrunken ist. Und er betrinkt sich nur in Perlooma.«

[9]»Oh«, sagte er. »Dann würde er also nicht fahren, wenn er die Gelegenheit bekäme?«

»Das weiß ich nicht. Kommt drauf an, was Sie von ihm wollen.«

Er zog an seiner Zigarette, klopfte die Asche ab und sah zum Fenster hinaus.

»Vor ein oder zwei Jahren hatten wir wiederholt Ärger mit gedopten Rennpferden«, sagte er plötzlich. »Zuviel Ärger. Es gab Gerichtsverfahren und Freiheitsstrafen, die Stallwachen wurden verstärkt, Speichel- und Urinuntersuchungen in größerem Umfang durchgeführt. Bei vielen Rennen kontrollieren wir jetzt die ersten vier Pferde, um so das Doping zur Leistungssteigerung zu unterbinden, und jeder geschlagene Favorit, der uns verdächtig vorkommt, wird auf leistungsmindernde Mittel untersucht. Seit Inkrafttreten der neuen Bestimmungen sind die Ergebnisse fast aller Untersuchungen negativ gewesen.«

»Das ist ja sehr erfreulich«, meinte ich ohne allzu großes Interesse.

»Nein. Eben nicht. Jemand hat ein Mittel gefunden, das unsere Chemiker nicht nachweisen können.«

»Das kann doch wohl nicht sein«, meinte ich höflich. Mir ging der Nachmittag verloren, und ich hatte noch allerhand zu tun.

Er spürte meine mangelnde Teilnahme. »Es geht um zehn Fälle, alles Sieger. Zehn, bei denen wir uns sicher sind. Die betroffenen Pferde wirken offenbar auffällig stimuliert – ich habe selbst noch keins gesehen–, aber die Untersuchungen ergeben nichts.« Er schwieg. »Doping ist fast immer ein Insiderjob«, sagte er und blickte vom [10]Fenster wieder zu mir. »Das heißt, in der Regel mischen Stallangestellte mit, selbst wenn sie den anderen nur zeigen, welches Pferd in welcher Box steht.« Ich nickte. Schiebereien gab es auch in Australien.

»Wir, das heißt die beiden anderen Leiter der Hindernisbehörde und ich, haben schon verschiedentlich überlegt, ob man nicht auch die Aufklärung der Dopingfälle quasi zur Insidersache machen sollte…«

»Indem man einen Pferdepfleger als Spion einsetzt?« fragte ich.

Er zuckte ein wenig zusammen. »Ihr Australier seid so direkt«, murmelte er. »Aber darauf läuft es hinaus, ja. Wir haben das bisher allerdings nur theoretisch erörtert, weil so ein Vorhaben schwer in die Tat umzusetzen ist und wir offengestanden nicht wußten, wie wir an einen Pferdepfleger herankommen sollten, bei dem man sicher sein kann, daß er, ehm… nicht schon für die Gegenseite arbeitet.«

Ich lächelte. »Und Arthur Simmons erscheint Ihnen unbedenklich?«

»Ja. Und als Engländer würde er sich auch glatt in die Szene einfügen. Diese Idee kam mir, als ich im Restaurant zahlte. Also habe ich nach dem Weg gefragt und bin kurzerhand hierhergefahren, um ihn mir einmal anzusehen.«

»Sie können gern mit ihm reden«, sagte ich und stand auf. »Aber ich glaube nicht, daß was daraus wird.«

»Er würde weit über dem Tarif bezahlt«, erwiderte er, mich mißverstehend.

»Ich wollte damit nicht sagen, daß er sich nicht überreden ließe«, erläuterte ich, »sondern daß er für so etwas nicht genug auf dem Kasten hat.«

[11]Er folgte mir wieder hinaus an die Frühlingssonne. In dieser Höhe war es immer noch kühl, und ich sah ihn frösteln, als er aus dem warmen Haus trat. Abschätzend blickte er auf meinen immer noch nackten Brustkorb.

»Einen Moment, ich hole ihn«, sagte ich, ging um die Ecke und pfiff schrill auf zwei Fingern zu der kleinen Baracke auf der anderen Hofseite hinüber. Jemand steckte fragend den Kopf zum Fenster heraus, und ich rief: »Ich brauche Arthur.«

Der Mann nickte, verschwand, und schon kam Arthur Simmons, klein, alt, säbelbeinig und von ergreifend schlichtem Gemüt, wie ein Krebs aus seiner Höhle. Ich ließ ihn mit Lord October allein, um nachzuschauen, wie das kleine Stutfohlen im Leben zurechtkam. Nicht schlecht, auch wenn seine Stehversuche mit dem verkorksten Vorderbein kläglich anzusehen waren.

Ich ließ es bei seiner Mutter und kehrte zu Lord October zurück. Von weitem sah ich, wie er einen Geldschein aus der Brieftasche nahm und ihn Arthur anbot und wie Arthur, ungeachtet seiner englischen Geburt, das Geld ablehnte. Er ist schon so lange hier, dachte ich, daß er zum Australier geworden ist. Nach England zieht ihn nichts mehr, ganz gleich, was er im Suff erzählt.

»Sie hatten recht«, sagte October. »Er ist ein prima Kerl, aber für unsere Zwecke ungeeignet. Ich habe das gar nicht erst angesprochen.«

»Ist es nicht von jedem noch so gescheiten Pferdepfleger etwas viel verlangt, wenn er die Wahrheit finden soll, wo Leute wie Sie mit Ihrem Latein am Ende sind?«

Er verzog das Gesicht. »Schon. Da liegt eine der [12]Schwierigkeiten, von denen ich sprach. Wir müssen aber jede, wirklich jede Möglichkeit ausschöpfen. Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie ernst die Lage ist!«

Wir gingen zu seinem Wagen, und er öffnete den Schlag.

»Vielen Dank für Ihr Verständnis, Mr.Roke. Es war wie gesagt ein spontaner Entschluß von mir, hierherzukommen. Hoffentlich habe ich Ihre Zeit nicht über Gebühr beansprucht?« Er lächelte noch immer ein wenig verhalten, ein wenig unsicher.

Ich schüttelte den Kopf und erwiderte sein Lächeln, dann ließ er den Wagen an, wendete und fuhr davon. Ich hatte ihn schon vergessen, ehe er zum Tor hinaus war.

Aus den Augen, aus dem Sinn; aber aus meinem Leben verschwunden war er noch lange nicht.

Am nächsten Tag bei Sonnenuntergang kam er wieder. Er saß in dem kleinen blauen Auto und rauchte gemächlich, da er wohl festgestellt hatte, daß niemand im Haus war. Ich ging von dem Stallgebäude, wo ich meinen Anteil an der abendlichen Arbeit verrichtet hatte, zu ihm hinüber und dachte nebenbei, daß er mich schon wieder im schmutzigsten Räuberzivil antraf.

Er stieg aus, als er mich kommen sah, und trat seine Zigarette aus.

»Mr.Roke.« Er bot mir die Hand, und ich schlug ein.

Diesmal beeilte er sich nicht, sein Anliegen vorzubringen. Diesmal war er keiner spontanen Regung gefolgt. Er hatte auch nichts Zögerliches mehr an sich. Um so stärker war die von ihm ausgehende Autorität zu spüren, eine Kraft und ein Wille, die sich sicher bestens dazu eigneten, [13]klardenkende Vorstandskollegen für einen unliebsamen Vorschlag zu gewinnen.

Im selben Moment wußte ich, warum er wiedergekommen war.

Ich sah ihn einen Augenblick prüfend an, deutete dann zum Haus hin und führte ihn wieder ins Wohnzimmer.

»Etwas zu trinken?« fragte ich. »Whisky?«

»Gern.« Er nahm das Glas.

»Wenn Sie erlauben, ziehe ich mich schnell um«, sagte ich. Und nehme Bedenkzeit, ergänzte ich im stillen.

Ich ging duschen, zog eine anständige Hose, Socken und Slipper an, dazu ein weißes Popelinehemd und eine marineblaue Seidenkrawatte. Vor dem Spiegel bürstete ich die noch feuchten Haare sorgfältig nach hinten und vergewisserte mich, daß meine Fingernägel sauber waren. Geschniegelt und gebügelt diskutierte es sich besser. Besonders mit einem so resoluten Grafen.

Er stand auf, als ich zurückkam, und nahm mein verändertes Aussehen mit einem einzigen Blick zur Kenntnis.

Ich lächelte flüchtig, goß mir etwas zu trinken ein und schenkte ihm nach.

»Sie können sich vielleicht denken, weshalb ich hier bin«, sagte er.

»Vielleicht.«

»Ich wollte Sie überreden, die Aufgabe zu übernehmen, für die ich Simmons vorgesehen hatte«, sagte er ruhig, ohne weitere Vorrede.

»Ja.« Ich trank einen Schluck. »Aber ich kann nicht.«

Wir faßten uns ins Auge. Ich wußte, daß der Daniel Roke, den er vor sich sah, schon ein anderer war als der, [14]den er kennengelernt hatte. Solider. Vielleicht eher seinen Erwartungen entsprechend. Kleider machen Leute, dachte ich ironisch.

Es dämmerte, und ich schaltete das Licht an. Die Berge draußen vor dem Fenster wichen in die Dunkelheit zurück; das war mir nur recht, denn jetzt hieß es stark sein, und October hatte das ganze Massiv bildlich und buchstäblich auf seiner Seite. Das Dumme war nämlich, daß ich sein tolles Angebot liebend gern angenommen hätte. Dabei war es Irrsinn. Ich konnte mir das gar nicht leisten.

»Inzwischen habe ich ein ziemlich klares Bild von Ihnen«, sagte er gedehnt. »Als ich gestern von hier wegfuhr, dachte ich auf einmal, schade, daß er nicht Arthur Simmons ist; Sie wären ideal gewesen. Sie sahen, wenn ich so sagen darf, für die Rolle wie geschaffen aus.« Es klang, als müsse er sich entschuldigen.

»Aber jetzt nicht mehr?«

»Das wissen Sie doch selbst. Deswegen haben Sie sich ja wohl umgezogen. Aber Sie können, wenn Sie wollen. Auf die Idee wäre ich bestimmt gar nicht erst gekommen, hätten Sie sich mir gestern hier so gepflegt präsentiert wie jetzt. Aber da kamen Sie gerade von der Koppel, abgerissen und halb nackt, Typ Zigeuner, und ich hielt Sie wirklich für einen Stallangestellten… tut mir leid.«

Ich lächelte ein wenig. »Macht nichts, das kommt öfter vor.«

»Und dann, wie Sie reden«, sagte er. »Ihr australischer Akzent ist gar nicht so ausgeprägt, da hört man noch ganz andere… Bei Ihnen klingt das wie reines Cockney, Sie müßten's nur ein bißchen breitziehen. Wenn man«, fuhr er [15]mit fester Stimme fort, als ich ihn unterbrechen wollte, »einen gebildeten Engländer in einem Stall als Pfleger arbeiten läßt, hören die anderen Pfleger mit großer Wahrscheinlichkeit sofort, daß er unecht ist. Bei Ihnen nicht. Ihr Aussehen stimmt, und wie Sie reden stimmt. Sie scheinen mir die ideale Lösung für unser Problem zu sein. Eine bessere Lösung, als ich mir hätte träumen lassen.«

»Äußerlich«, meinte ich trocken.

»In jeder Beziehung. Sie vergessen, daß ich ganz gut über Sie Bescheid weiß. Als ich gestern nachmittag nach Perlooma zurückkam, dachte ich, ehm… den nimmst du mal unter die Lupe, wie man sagt; ich wollte wissen, was für ein Mensch Sie eigentlich sind… ob auch nur die leiseste Chance besteht, daß eine solche Aufgabe Sie reizt.« Er trank, schwieg, wartete.

»Ich kann so was nicht machen«, sagte ich. »Ich habe hier genug zu tun.« Die Untertreibung des Monats.

»Könnten Sie zwanzigtausend gebrauchen?« Er fragte das ganz nebenbei, im Plauderton.

Die Antwort darauf war kurz und bündig ja; doch statt dessen sagte ich nach einem Augenblick: »Pfund oder australische Dollar?«

Seine Mundwinkel kräuselten sich, und seine Augen wurden schmal; er war belustigt.

»Pfund natürlich«, sagte er mit Ironie.

Ich schwieg. Ich sah ihn nur an. Als lese er meine Gedanken, nahm er in einem Sessel Platz, schlug lässig die Beine übereinander und sagte: »Ich kann Ihnen verraten, was Sie damit anfangen würden, wenn Sie wollen. Sie würden das Medizinstudium finanzieren, das Ihre Schwester [16]Belinda anstrebt. Sie würden Ihre jüngere Schwester Helen auf die ersehnte Kunstschule gehen lassen. Sie würden genug auf die Seite legen, damit Ihr Bruder Philip, dreizehn, Rechtsanwalt werden kann, wenn er das später noch möchte. Sie könnten hier mehr Leute einstellen, anstatt sich kaputtzurackern, damit Ihre Familie genug zu essen und zum Anziehen hat und etwas lernen kann.«

Vielleicht verstand sich seine Gründlichkeit von selbst, und doch nahm ich ihm übel, daß er seine Nase so tief in meine Privatangelegenheiten gesteckt hatte. Seit ich aber wegen eines im Zorn gesprochenen Wortes einmal auf einem schon fast verkauften Jährling sitzengeblieben war, der sich in der Woche darauf ein Bein brach, ließ ich mich so schnell zu keiner unbedachten Äußerung mehr hinreißen.

»Auch ich habe zwei Mädchen und einen Jungen großgezogen«, sagte er. »Ich weiß, was das kostet. Meine Älteste studiert, der Junge und seine Zwillingsschwester sind gerade mit der Schule fertig.«

Als ich immer noch nichts sagte, fuhr er fort: »Sie sind in England geboren und als Kind nach Australien gekommen. Ihr Vater, Howard Roke, war ein gefragter Rechtsanwalt. Er und Ihre Mutter sind beim Segeln verunglückt und ertrunken, als Sie achtzehn waren. Seit damals ernähren Sie sich und Ihre Geschwister durch die Pferdezucht. Wie ich höre, wollten Sie eigentlich in die Fußstapfen Ihres Vaters treten, haben dann aber mit dem hinterlassenen Geld hier, im früheren Ferienhaus der Familie, das Geschäft gegründet. Sie haben Erfolg damit. Ihre Pferde gelten als rittig und gut ausgebildet. Sie sind tüchtig, und man respektiert Sie.«

[17]Lächelnd sah er zu mir auf. Ich stand steif vor ihm. Mir war klar, daß noch mehr kommen würde.

Er sagte: »Für Ihren Schulleiter in Geelong sind Sie ein kluger Kopf, der mit seinem Grips nichts anfängt. Ihr Banker meint, Sie geben wenig für sich selber aus. Ihr Arzt sagt, Sie haben in den neun Jahren, die Sie hier wohnen, noch nie Urlaub gemacht, nur mal wegen eines gebrochenen Beins vier Wochen im Krankenhaus gelegen. Ihr Pastor sagt, Sie kommen nie in die Kirche, und ist sehr enttäuscht darüber.« Er trank einen Schluck.

Resoluten Grafen, so schien es, standen viele Türen offen.

»Und schließlich«, ergänzte er mit einem schiefen Lächeln, »meinte der Barmann vom ›Goldenen Schnabeltier‹ in Perlooma, er würde Ihnen trotz Ihres blendenden Aussehens die eigene Schwester anvertrauen.«

»Und welche Schlußfolgerung ziehen Sie aus all dem?« fragte ich, nicht mehr ganz so aufgebracht.

»Daß Sie ein langweiliger, fleißiger Tugendbold sind«, antwortete er.

Ich mußte lachen und setzte mich hin.

»Stimmt«, gab ich zu.

»Andererseits sagen alle, daß Sie bei der Stange bleiben, wenn Sie einmal etwas angefangen haben, und daß Sie schwere körperliche Arbeit gewohnt sind. Sie verstehen so viel von Pferden, daß Sie den Pflegerjob mit links hinkriegen.«

»Die ganze Idee ist verrückt«, sagte ich seufzend. »Das klappt so nicht, weder mit mir noch mit Arthur Simmons oder sonst jemand. Das ist einfach nicht durchführbar. Es [18]gibt doch Hunderte von Rennställen in Großbritannien. Man könnte Monate dort herumgeistern, ohne etwas mitzukriegen, während ringsherum gedopt wird, was das Zeug hält.«

Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Es gibt erstaunlich wenig unehrliche Pferdepfleger, weit weniger, als Sie und die meisten anderen Leute sich vorstellen. Wenn da einer als käuflich bekannt ist, stürzen sich die Gauner und Ganoven auf ihn wie auf einen unbewachten Geldschrank. Unser Mann brauchte nur dafür zu sorgen, daß sich herumspricht, er sei Angeboten zugänglich. Er würde sie bekommen, glauben Sie mir.«

»Aber auch die, um die es Ihnen geht? Das scheint mir doch sehr fraglich.«

»Es ist eine Chance. Für uns heißt es, jede Chance nutzen. Jede, die uns noch bleibt. Wir haben alle Leute, die mit den betroffenen Pferden zu tun hatten, eingehend befragt und sind keinen Schritt vorangekommen. Die Polizei sagt, sie kann uns nicht helfen. Da die verwendete Substanz nicht nachgewiesen ist, fehlt ihr ein Anhalt. Wir haben ein Detektivbüro beauftragt, und auch das war ein Schlag ins Wasser. Der direkte Weg hat überhaupt nichts gebracht. Der verdeckte Weg kann nicht weniger bringen. Ich bin sicher, und ich setze zwanzigtausend Pfund darauf, daß der Umweg über Sie uns weiterbringt. Machen Sie's?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich und verfluchte meine Schwachheit. »Kommt nicht in Frage«, hätte ich sagen müssen.

Er stieß sofort nach, beugte sich vor und redete auf einmal schneller, mit leidenschaftlichem Engagement in jedem Wort. »Kann ich Ihnen begreiflich machen, wie besorgt [19]meine Kollegen und ich wegen dieser nicht nachweisbaren Dopingfälle sind? Ich besitze mehrere Rennpferde – Steepler hauptsächlich–, und meine Familie liebt und unterstützt den Rennsport seit Generationen. Das Wohl dieses Sports bedeutet mir und meinesgleichen mehr, als ich sagen kann… Und es ist zum zweitenmal innerhalb von drei Jahren ernstlich gefährdet. Bei der letzten großen Dopingwelle gab es satirische Spitzen in Presse und Fernsehen, und noch einmal darf uns das einfach nicht passieren. Bis jetzt konnten wir vermeiden, ins Gerede zu kommen, weil die Fälle über Monate verteilt sind – der erste liegt über ein Jahr zurück, und auf Nachfragen antworten wir immer nur, Probe negativ, aber wir müssen dieses neue Mittel nachweisen, bevor es weithin in Gebrauch kommt. Sonst wird das eine größere Gefahr für den Rennsport als alles bisher Dagewesene. Wenn die unnachweislich gedopten Sieger zum Alltag werden, ist es um das Vertrauen der Öffentlichkeit geschehen, und der Hindernissport erleidet einen Schaden, von dem er sich allenfalls nach Jahren erholen wird. Dabei steht weit mehr auf dem Spiel als ein angenehmer Zeitvertreib. Der Rennsport ist ein Wirtschaftszweig mit Tausenden von Beschäftigten… und Gestütsbesitzer wie Sie stehen mittendrin. Die Abkehr der Öffentlichkeit würde böse Folgen haben.

Sie denken vielleicht, ich habe Ihnen ungewöhnlich viel Geld geboten, damit Sie nach England kommen und schauen, ob Sie uns helfen können, aber ich bin ein reicher Mann, und, glauben Sie mir, der Fortbestand des Rennsports ist mir noch viel mehr wert. Meine Pferde haben in der vorigen Saison fast zwanzigtausend an Sieggeld eingebracht, [20]und wenn ich die einsetzen kann, um der Gefahr ein Ende zu bereiten, will ich das gern tun.«

»Sie gehen heute ganz anders zur Sache als gestern«, sagte ich langsam.

Er lehnte sich zurück. »Gestern brauchte ich Sie nicht zu überzeugen. Meine Einstellung war dieselbe.«

»Es gibt doch bestimmt jemanden in England, der für Sie nachforschen kann«, wandte ich ein. »Leute, die mit der Szene dort vertraut sind. Im Gegensatz zu mir. Ich bin mit neun Jahren nach Australien gekommen. Ich würde Ihnen nichts nützen. Das ist aussichtslos.«

Na also, lobte ich mich. Es geht auch härter.

Er schaute auf sein Glas, und seine Antwort kam zögernd. »Nun… wir hatten auch schon jemanden in England… einen Rennsportjournalisten. Bestes Gespür für Stories, sehr diskret; genau unser Mann. Leider hat er ein paar Wochen lang ohne Erfolg recherchiert. Dann ist er tödlich mit dem Wagen verunglückt, der Ärmste.«

»Und wenn Sie sich jemand anders nehmen?« beharrte ich.

»Er ist erst im Juni verunglückt, als der Hindernissport in der Sommerpause war. Die neue Saison lief im August an, und da kam uns die Idee mit dem Pferdepfleger und all ihren Haken.«

»Nehmen Sie einen Bauernsohn«, schlug ich vor. »Ländlicher Akzent, Erfahrung mit Pferden… alles da.«

Er schüttelte den Kopf. »England ist zu klein. Wenn da ein Bauernsohn beim Pferderennen ein Pferd im Führring begleitet, spricht sich das rum. Zu viele Leute würden ihn erkennen und Fragen stellen.«

[21]»Dann eben einen Landarbeitersohn, der intelligent genug ist.«

»Sollen wir Tests veranstalten?« fragte er säuerlich.

Es trat Stille ein, dann sah er von seinem Glas auf. Sein Gesicht war ernst, beinah streng.

»Also?«

Ich wollte klipp und klar nein sagen. Tatsächlich sagte ich wiederum: »Ich weiß nicht.«

»Was kann ich tun, um Sie zu überreden?«

»Nichts«, erwiderte ich. »Ich werde darüber nachdenken. Ich gebe Ihnen morgen Bescheid.«

»In Ordnung.« Er stand auf, lehnte meine Einladung zum Essen ab und ging, wie er gekommen war, mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit. Das Haus wirkte leer, als ich nach der Verabschiedung wieder hineinging.

Der Vollmond strahlte am schwarzen Himmel, und durch eine Lücke zwischen den Bergen reckte der ferne Mount Kosciusko seinen stumpfen, schneebedeckten Gipfel ins Licht. Ich saß auf einem Felsen hoch oben am Berghang und sah auf mein Zuhause hinunter.

Da lag die Lagune, lagen die großen Weiden, die sich bis zum Busch hin erstreckten, die kleinen, weiß eingezäunten Koppeln beim Haus, die Abfohlboxen mit ihrem schimmernden Dach, das große Stallgebäude, die Schlafbaracke, das niedrige Wohnhaus, lang und elegant, gespiegeltes Mondlicht in dem großen Fenster am Ende.

Da lag mein Gefängnis.

Anfangs war es nicht schlecht gewesen. Wir hatten keine Verwandten, die sich um uns kümmerten, und für mich [22]war es eine Genugtuung, die Leute zu widerlegen, die meinten, ich könne nicht genug verdienen, um drei kleine Kinder – Belinda, Helen und Philip – mitzuernähren. Ich mochte Pferde, hatte sie immer schon gern gehabt, und das Geschäft lief von Anfang an recht gut. Jedenfalls hatten wir alle zu essen, und ich redete mir sogar ein, daß ich für den Anwaltsberuf eigentlich gar nicht geschaffen sei.

Meine Eltern hatten Belinda und Helen nach Frensham schicken wollen, und als es soweit war, kamen sie dort auch hin. Sicher hätte sich eine weniger kostspielige Schule finden lassen, aber sie sollten nach Möglichkeit bekommen, was ich bekommen hatte – und deshalb war Philip jetzt in Geelong. Mein Unternehmen war mit der Zeit gewachsen, aber auch das Schulgeld, die Löhne und die Unterhaltskosten waren gestiegen. Ich war gefangen in einer Aufwärtsspirale, und zu viel hing davon ab, daß ich am Ball bleiben konnte. Mein Beinbruch bei einem Jagdrennen, mit zweiundzwanzig, hatte die schlimmste finanzielle Krise in den ganzen neun Jahren ausgelöst – und notgedrungen hatte ich auf so waghalsige Abenteuer fortan verzichten müssen.

Die ewige Arbeit störte mich nicht. Ich mochte meine Geschwister sehr gern. Ich bereute nichts, was ich getan hatte. Aber das Gefühl, Gefangener in einer schönen, selbstgebauten Falle zu sein, nagte empfindlich an meiner Zufriedenheit als treusorgender älterer Bruder.

In acht oder zehn Jahren würden sie alle erwachsen, mit ihrer Ausbildung fertig und verheiratet sein, und meine Arbeit war getan. In zehn Jahren war ich siebenunddreißig. Vielleicht war ich bis dahin auch verheiratet, hatte eigene Kinder und schickte sie nach Frensham und nach [23]Geelong… Seit über vier Jahren unterdrückte ich nach Kräften den Wunsch auszubrechen. Das ging leichter, wenn meine Geschwister in den Ferien nach Hause kamen, wenn das Haus von ihrem Lärm erfüllt war, wenn Philips Tischlerkünste überall herumlagen und die Rüschenwäsche der Mädchen zum Trocknen im Bad hing. Im Sommer ritten wir oder schwammen in der Lagune (dem See, wie meine britischen Eltern sagten), und im Winter liefen wir in den Bergen Ski. Wir verstanden uns bestens, und sie sahen nichts von dem, was wir hatten, als selbstverständlich an. Auch jetzt, wo sie größer wurden, konnte ich keine Anzeichen von jugendlicher Auflehnung bei ihnen feststellen. Sie machten mir wirklich Freude.

Acht Tage nachdem sie ins Internat zurückgekehrt waren, packte es mich dann meistens wieder: das heftige Verlangen, frei zu sein, frei und ungebunden für geraume Zeit, um endlich einmal weiter herumzukommen als zu den Verkaufsauktionen, weiter als gerade schnell einmal nach Sydney, Melbourne oder Cooma.

Geld verdienen Tag für Tag allein war noch kein Leben, und es gab mehr zu sehen auf der Welt als nur den einen schönen Flecken. Das Füttern der anderen Nestlinge hatte mich so sehr in Anspruch genommen, daß ich noch nie ausgeflogen war.

Da konnte ich mir zehnmal sagen, solche Gedanken seien müßig, das reine Selbstmitleid, ich hätte keinen Grund, mich zu beklagen. Nachts hielten mich schwere Depressionen wach, und in den schwarzen Zahlen blieb ich nur, weil ich tagsüber das Letzte aus mir herausholte.

Als Lord October erschien, waren die Kinder seit elf [24]Tagen wieder in der Schule, und ich schlief schlecht. Vielleicht saß ich deshalb um vier Uhr morgens an einem Berghang und versuchte mir darüber klarzuwerden, ob ich eine eigenartige Stelle als Pferdepfleger auf der anderen Seite der Welt annehmen sollte oder nicht. Die Tür des Käfigs hatte sich zwar geöffnet; aber der Köder, der davor baumelte, um mich herauszulocken, schien mir verdächtig groß.

Zwanzigtausend englische Pfund… ein Haufen Geld. Allerdings hatte October nicht wissen können, wie es in mir kribbelte, und vielleicht gedacht, mit weniger käme er nicht an. (Wieviel hatte er wohl Arthur bieten wollen?)

Andererseits war da der tödlich verunglückte Rennsportjournalist… Wenn October oder seine Kollegen den leisesten Zweifel hegten, daß er wirklich einem Unfall zum Opfer gefallen war, hätte das die hohe Summe auch erklärt, nämlich als Reuegeld. Durch den Beruf meines Vaters hatte ich früher einiges über Verbrechen und Verbrecher mitbekommen, und ich wußte zuviel, um die Möglichkeit eines arrangierten Unfalls als kompletten Unsinn abzutun.

Ich hatte die Ordnungs- und Wahrheitsliebe meines Vaters geerbt und sein logisches Denken früh schätzengelernt, wenngleich ich ihn im Umgang mit unschuldigen Zeugen vor Gericht oft zu rüde fand. Mein Empfinden war stets, daß Recht geschehen sollte und daß mein Vater der Welt keinen guten Dienst erwies, wenn er die Schuldigen herauspaukte. Zum Strafverteidiger taugst du mit dieser Einstellung nicht, meinte er. Geh halt zur Polizei.

England, dachte ich. Zwanzigtausend Pfund. Detektiv spielen. Um ehrlich zu sein, Octobers Vorstellungen vom [25]Ernst der Lage hatten mich nicht berührt. Der englische Rennsport fand auf der anderen Seite des Erdballs statt. Ich kannte keinen, der damit zu tun hatte. Wie es um seinen Ruf bestellt war, kümmerte mich herzlich wenig. Wenn ich hinfuhr, dann nicht aus selbstloser Hilfsbereitschaft. Ich würde nur fahren, weil mich das Abenteuer lockte, weil es spannend zu werden versprach, weil die Sirene sang, ich solle jede Verantwortung sausenlassen, die Fesseln sprengen und ins volle Leben eintauchen.

[26]2

Neun Tage später flog ich mit einer Boeing 707 nach England.

Ich schlief fast die ganzen sechsunddreißig Stunden von Sydney nach Darwin, von Darwin über Singapur und Rangun nach Kalkutta, von Kalkutta nach Karachi und Damaskus und von Damaskus über Düsseldorf zum Londoner Flughafen.

Hinter mir lag eine Unzahl praktischer Vorkehrungen und die Schreibarbeit von Monaten, gedrängt in eine einzige Woche. Ich wußte zwar nicht, wie lange ich fortbleiben würde, sagte mir aber, daß ein halbes Jahr genügen mußte, um etwas zu erreichen, und ging auch bei meiner Planung davon aus.

Der Gestütsmeister sollte die volle Verantwortung für die Ausbildung und den Verkauf der vorhandenen Pferde übernehmen, jedoch keine neuen kaufen oder züchten. Mit der Wartung des Geländes und der Gebäude beauftragte ich eine Firma. Die Frau, die für meine in der Baracke wohnenden Pfleger kochte, versprach mir, meine Geschwister mitzuversorgen, wenn sie in den großen Weihnachts-Sommerferien von Dezember bis Februar nach Hause kamen.

Meine Bank erhielt vordatierte Schecks für Schulgeld, Pferdefutter und Sattelzeug, und meinem Futtermeister [27]übergab ich gleich einen ganzen Stapel Schecks, die er der Reihe nach zur Entlohnung und Verpflegung der Männer einlösen sollte. October versicherte mir, daß mein Honorar mir unverzüglich überwiesen werde.

»Wenn ich keinen Erfolg habe, bekommen Sie Ihr Geld zurück, abzüglich meiner Auslagen«, erklärte ich ihm.

Er schüttelte den Kopf, aber ich bestand darauf, und am Ende schlossen wir einen Kompromiß. Zehntausend bekam ich sofort, und die anderen zehn, wenn mein Einsatz Erfolg brachte.

Ich ging mit October zu meinen Anwälten und ließ die etwas ungewöhnliche Abmachung in die nüchternen Worte eines rechtsgültigen Vertrags fassen, den er mit einem ironischen Lächeln nach mir unterschrieb.

Mit seiner Belustigung war es jedoch prompt vorbei, als ich ihn im Hinausgehen bat, mein Leben zu versichern.

»Ich glaube nicht, daß das geht«, sagte er stirnrunzelnd.

»Weil sich… kein Versicherer dafür findet?« fragte ich.

Er antwortete nicht.

»Ich habe einen Vertrag unterschrieben«, hob ich hervor. »Glauben Sie, ich habe das blind getan?«

»Das war Ihre Idee.« Er machte ein gequältes Gesicht. »Ich werde Sie nicht darauf festnageln.«

»Was ist wirklich mit dem Journalisten passiert?« fragte ich.

Er schüttelte den Kopf und wich meinem Blick aus. »Ich weiß es nicht. Es sah schon aus wie ein Unfall. Er kam in einer Kurve im Moor von Yorkshire von der Straße ab. Der Wagen fing Feuer, als er den Abhang hinunterstürzte. Er hatte keine Chance. Ein so netter Kerl…«

[28]»Es schreckt mich nicht ab, wenn Sie Grund haben, anzunehmen, daß es kein Unfall war«, sagte ich ernst, »aber seien Sie offen zu mir. War es keiner, dann müßte er schon weit gekommen sein, dann muß er etwas Entscheidendes herausgefunden haben. Für mich wäre es dann wichtig zu wissen, wo er gewesen ist und was er in den Tagen vor seinem Tod gemacht hat.«

»Haben Sie sich das überlegt, bevor Sie zugesagt haben?«

»Natürlich.«

Er lächelte, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. »Bei Gott, Mr.Roke, je näher ich Sie kennenlerne, desto froher bin ich, daß ich in Perlooma zu Mittag gegessen und mich hinter Arthur Simmons geklemmt habe. Nun… Tommy Stapleton – der Journalist – war ein guter Fahrer, aber gegen Unfälle ist wohl keiner gefeit. Es geschah an einem Sonntag Anfang Juni. Eigentlich schon Montag. Er starb gegen zwei Uhr früh. Um halb zwei war einem Anwohner der Straße noch nichts aufgefallen, und gegen halb drei sah ein Ehepaar, das von einer Party kam, das durchbrochene Geländer an der Kurve und hielt an. Der Wagen brannte noch. Sie sahen den roten Feuerschein im Tal und meldeten den Unfall in der nächsten Stadt.

Die Polizei nimmt an, daß Stapleton am Steuer eingeschlafen ist. Gibt es ja öfter. Sie konnte aber nicht feststellen, wo er nach der Abfahrt von irgendwelchen Freunden um fünf bis zu dem Unglück im Moor gewesen ist. Das ist nur eine Stunde Fahrt, es bleiben also acht Stunden offen. Niemand hat die Lücke gefüllt und gesagt, er sei den Abend bei ihm gewesen, obwohl in fast allen Zeitungen darüber berichtet wurde. Es hieß dann wohl, er könne mit [29]einer Frau zusammengewesen sein… der Frau eines anderen, die aus gutem Grund schweigt. Jedenfalls wurde das Ganze als normaler Verkehrsunfall behandelt.

Wo er in den Tagen davor war, haben wir unauffällig überprüft. Er hat nichts getan, was von seinem Arbeitsalltag abgewichen wäre. Er fuhr am Donnerstag in London, wo seine Zeitung ihren sitz hat, los, ging Freitag und Samstag in Bogside zum Pferderennen, blieb zum Wochenende bei Freunden in der Nähe von Hexham, Northumberland, und brach dort, wie gesagt, am Sonntag gegen siebzehn Uhr auf, um nach London zurückzukehren. Die Freunde fanden ihn ganz normal und nett wie immer.

Wir, das heißt, meine beiden Amtskollegen und ich, baten die Polizei in Yorkshire, uns zu zeigen, was aus dem Wrack geborgen werden konnte, aber es war nichts von Belang dabei. Seine lederne Aktentasche wurde unbeschädigt auf halber Höhe des Hangs gefunden, neben einer der Hintertüren, die beim Überschlagen abgerissen worden war, aber es waren nur die üblichen Rennsportzeitungen und Rennberichte drin. Wir haben genau nachgesehen. Auch bei ihm zu Hause – er war Junggeselle und lebte bei Mutter und Schwester – durften wir uns umsehen, fanden aber keinen Hinweis auf seine Recherchen, nichts. Wir wandten uns an die Rennsportredaktion seiner Zeitung, um zu sehen, was er am Arbeitsplatz zurückgelassen hatte. Nichts als ein paar persönliche Dinge und einen Umschlag mit Zeitungsausschnitten über Dopingfälle. Den haben wir uns geben lassen. Sie können sich die Clips ansehen, wenn Sie nach England kommen. Ich befürchte nur, sie werden Ihnen nichts nützen. Sie sind sehr lückenhaft.«

[30]»Okay«, sagte ich. Wir gingen die Straße entlang zu unseren Autos, seinem gemieteten Holden und meinem weißen Kombi. Als wir neben den beiden staubigen Fahrzeugen standen, meinte ich: »Sie möchten gern glauben, daß es ein Unfall war… Sie gäben was drum.«

Er nickte ernst. »Der Gedanke, es könnte anders sein, ist gräßlich. Würden nicht diese acht Stunden fehlen, käme man gar nicht darauf.«

Ich zuckte die Achseln. »Er kann sie denkbar harmlos zugebracht haben. In einer Bar. Im Restaurant. Im Kino. Mit einem Mädchen.«

»Möglich«, sagte er. Aber die Zweifel blieben, bei ihm wie bei mir.

Am nächsten Tag wollte er mit dem Mietwagen in Sydney sein und zurück nach England fliegen. Er gab mir auf dem Gehsteig die Hand und nannte mir die Adresse in London, wo ich mich wieder mit ihm treffen sollte. Mit einem Fuß schon im Wagen, sagte er: »Könnten Sie denn bei Ihrem Einsatz, ehm… auch in die Haut eines, sagen wir, etwas unzuverlässigen Pferdepflegers schlüpfen, damit die Gauner sich zu Ihnen hingezogen fühlen?«

»Klar«, grinste ich.

»Dann darf ich vielleicht vorschlagen, daß Sie sich Koteletten wachsen lassen. Es ist erstaunlich, wieviel Mißtrauen ein paar Zentimeter Haar vor den Ohren wecken können!«

Ich mußte lachen. »Gute Idee.«

»Und lassen Sie Ihre Kleider hier«, fügte er an. »Ich besorge Ihnen britische Sachen, die zu Ihrer neuen Identität passen.«

»In Ordnung.«

[31]Er setzte sich ans Steuer.

»Au revoir dann, Mr.Roke.«

»Au revoir, Lord October«, sagte ich.

Als er fort war und seine Überzeugungskraft mit ihm, erschien mir das, was ich vorhatte, unvernünftiger denn je. Aber ich hatte es satt, vernünftig zu sein. Ich setzte die Vorbereitungen für meinen Ausbruch auf Hochtouren fort und erwachte jeden Morgen voller Ungeduld.

Zwei Tage vor der geplanten Abreise flog ich nach Geelong, um mich von Philip zu verabschieden, und teilte seinem Schulleiter mit, daß ich für einige Zeit in Europa sein würde; wie lange, stehe noch nicht fest. Ich flog über Frensham zurück, um meine Schwestern noch zu sehen, die sich beide über die dunklen Backenbartschatten erregten, die meinem Gesicht schon den gewünschten unzuverlässigen Touch gaben.

»Rasier dir die bloß ab«, meinte Belinda. »Das ist viel zu sexy. Die höheren Semester hier schwärmen ohnehin von dir, und wenn sie dich so sehen, bist du fällig.«

»Das klingt doch herrlich«, sagte ich und grinste sie liebevoll an.

Helen, blond, beinah sechzehn, war sanft und anmutig wie die Blumen, die sie so gern zeichnete. Sie war die unselbständigste von den dreien und hatte am meisten unter dem Verlust der Mutter gelitten.

»Heißt das«, fragte sie besorgt, »daß du den ganzen Sommer fort bist?« Sie sah mich an, als wäre der Mount Kosciusko eingestürzt.

»Ihr kommt schon klar. Du bist doch jetzt ein großes Mädchen«, zog ich sie auf.

[32]»Aber die Ferien sind dann so langweilig.«

»Bringt eben ein paar Freunde mit.«

»Oh!« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Dürfen wir? Ja, das wär' schön.«

Sie küßte mich ein wenig beruhigt zum Abschied und ging in ihre Klasse zurück.

Meine älteste Schwester und ich verstanden uns sehr gut, und ihr allein vertraute ich den wahren Zweck meines »Urlaubs« an, weil ich ihr das schuldig war. Wider Erwarten brachte es sie aus der Fassung.

»Liebster Dan«, sie schlang ihren Arm um meinen und hielt ihre Tränen zurück, »ich weiß, es war Knochenarbeit für dich, uns großzuziehen, und wir sollten froh sein, wenn du endlich einmal etwas für dich selber tun willst, aber sei bitte vorsichtig. Wir… wir möchten, daß du wiederkommst.«

»Aber natürlich«, versprach ich hilflos und lieh ihr mein Taschentuch. »Ich komme schon wieder.«

Das Taxi brachte mich vom Flughafen in einem grauen Nieselregen, der keineswegs meiner Stimmung entsprach, über einen Platz voller Bäume zum Londoner Haus des Earl of October. Ich hatte Sonne in mir. Schwung.

Auf mein Klingeln öffnete ein Diener mit freundlichem Gesicht die vornehme schwarze Tür, nahm mir die Reisetasche aus der Hand und sagte, da Seine Lordschaft mich erwarte, werde er mich gleich nach oben führen. »Oben« entpuppte sich als ein purpurroter Salon im ersten Stock, wo drei Männer mit Gläsern in den Händen um einen elektrisch geheizten Adam-Kamin herumstanden. Drei [33]Männer in entspannter Haltung, die Gesichter der sich öffnenden Tür zugewandt. Drei Männer, die alle die gleiche Autorität ausstrahlten, die mir bei October aufgefallen war. Das herrschende Triumvirat des Hindernissports. Macher. Verankert und etabliert in hundertjähriger Machttradition. Sie nahmen die Angelegenheit nicht so leicht wie ich.

»Mr.Roke, Mylord«, sagte der Diener, als er mich hineinführte.

October kam auf mich zu und gab mir die Hand.

»Guten Flug gehabt?«

»Ja, danke.«

Er blickte zu den beiden anderen. »Meine beiden Mitstreiter möchten Sie auch begrüßen.«

»Macclesfield«, sagte der größere von ihnen, ein älterer Mann mit krummem Rücken und wildem weißem Haar. Er beugte sich vor und streckte eine sehnige Hand aus. »Sehr interessant, Sie kennenzulernen, Mr.Roke.« Er hatte scharfblickende Adleraugen.

»Und das ist Colonel Beckett.« Er deutete auf den schmalen, kränklich wirkenden dritten Mann, der mir ebenfalls die Hand gab, aber kaum zufaßte. Dann schwiegen sie vereint und schauten mich an, als käme ich von einem anderen Stern.

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte ich höflich.

»Ja, gut… kommen wir gleich zur Sache«, sagte October und bot mir einen Ledersessel an. »Aber möchten Sie etwas trinken?«

»Gern.«

Er gab mir ein Glas von dem mildesten Whisky, der je meinen Gaumen berührt hatte, und alle setzten sich.

[34]»Meine Pferde«, begann October in zwanglosem Gesprächston, »stehen alle bei mir in Yorkshire, wo ich meinen Landsitz habe. Ich bilde sie nicht selbst aus, weil ich zu oft geschäftlich unterwegs bin. Ein Mann namens Inskip hat die Trainerlizenz – er ist selbständig und trainiert außer den meinen noch mehrere Pferde von Bekannten. Zur Zeit sind etwa fünfunddreißig Pferde dort, von denen elf mir gehören. Wir halten es für das beste, wenn Sie in meinem Stall als Pfleger anfangen; Sie können dann ja wechseln, wenn es angezeigt scheint. Ist das bis dahin klar?«

Ich nickte.

»Inskip«, fuhr er fort, »ist ein ehrlicher Mensch, aber leider redet er auch gern, deshalb darf ihm zunächst einmal die Art und Weise Ihres Eintritts in den Stall keinen Grund zum Schwätzen geben. Da die Einstellung der Pfleger allein seine Sache ist, wird er, nicht ich, Sie einstellen müssen.

Um dafür zu sorgen, daß wir Leute brauchen und Ihre Bewerbung prompt angenommen wird, schicken Colonel Beckett und Sir Stuart Macclesfield übermorgen je drei Jungpferde zu mir. Die Pferde taugen nichts, möchte ich meinen, aber bessere konnten wir so schnell nicht auftreiben.«

Alle lächelten. Recht hatten sie. Ich begann ihre Planungsarbeit zu bewundern.

»In vier Tagen, wenn dann alles unter dem Arbeitsanfall stöhnt, tauchen Sie auf und bieten Ihre Dienste an. Okay?«

»Okay.«

»Hier ist Ihre Referenz.« Er reichte mir einen Umschlag. »Sie stammt von einer Kusine von mir, die in [35]Cornwall ein paar Jagdpferde hält. Ich habe mit ihr vereinbart, daß sie Sie empfiehlt, falls Inskip nachfragt. Allzu suspekt dürfen Sie ja auch nicht gleich erscheinen, sonst stellt Inskip Sie nicht ein.«

»Verstehe«, sagte ich.

»Inskip wird nach Ihrer Versicherungs- und Ihrer Lohnsteuerkarte fragen, Unterlagen, die man normalerweise von der vorherigen Arbeitsstelle mitbringt. Hier sind sie.« Er gab sie mir. »Die Versicherungskarte ist gestempelt und stellt kein Problem dar, weil erst im Mai nächsten Jahres wieder danach gefragt wird, und dann brauchen wir sie hoffentlich nicht mehr. Mit der Lohnsteuer ist es schwieriger, aber wir haben die Karte so angelegt, daß die Adresse auf dem Abschnitt, den Inskip bei Ihrer Einstellung ans Finanzamt schicken muß, unleserlich ist. Daraus sollte sich eine durchaus natürliche Verwirrung ergeben, die ausreicht, um zu verschleiern, daß Sie nicht in Cornwall gearbeitet haben.«

»Verstehe«, sagte ich. Und beeindruckt war ich auch.

Sir Stuart Macclesfield räusperte sich, und Colonel Beckett rieb sich die Nase.

»Eine Frage zu dem Doping«, sagte ich. »Sie haben mir erklärt, Ihre Chemiker könnten das verwendete Mittel nicht nachweisen, aber mehr weiß ich bisher nicht. Wieso sind Sie denn so sicher, daß gedopt wird?«

October blickte zu Macclesfield, der mit seiner schnarrenden alten Stimme langsam sagte: »Wenn ein Pferd mit Schaum vor dem Maul aus einem Rennen kommt, wenn ihm die Augen rausquellen und der Schweiß nur so runterläuft, liegt der Verdacht nahe, daß ihm ein [36]leistungssteigerndes Mittel verabreicht worden ist. Die meisten Dopingsünder fahren ja deshalb schlecht dabei, weil es schwer ist, Reizmittel so zu dosieren, daß ein Pferd ohne verdächtige Symptome gewinnt. Hätten Sie die von uns untersuchten Pferde gesehen, Sie hätten sie für restlos vollgepumpt gehalten. Aber die Proben waren alle negativ.«

»Was sagen Ihre Chemiker?«

»Im gotteslästerlichen Wortlaut?« meinte Beckett ironisch.

Ich grinste. »Im Kern.«

»Daß es keine Substanz gibt, die sie nicht nachweisen können«, sagte Beckett.

»Was ist mit Adrenalin?« fragte ich.

Die hohen Herren wechselten Blicke, und Beckett sagte: »Die meisten der betroffenen Pferde hatten zwar einen ziemlich hohen Adrenalinspiegel, aber um zu beurteilen, ob das für ein bestimmtes Pferd normal ist, reicht eine einmalige Untersuchung nicht aus. Die natürliche Adrenalinausschüttung variiert von Pferd zu Pferd erheblich, und man müßte sie vor und nach mehreren Rennen und auch in verschiedenen Stadien ihres Trainings kontrollieren, um festzustellen, wo für das einzelne Pferd die Norm liegt. Erst wenn man die normalen Werte kennt, weiß man, ob es eine Dosis zusätzlich erhalten hat. Apropos… Sie werden wissen, daß man Adrenalin nicht oral verabreichen kann. Es muß gespritzt werden und wirkt sofort. Unsere Pferde waren vor dem Start alle ruhig und gelassen. Durch Adrenalin stimulierte Pferde sind da schon aufgedreht. Außerdem verrät sich die subkutane Injektion von Adrenalin oft auch dadurch, daß dem Pferd weit um die Einstichstelle [37]herum die Haare hochstehen. Wirklich narrensicher ist nur eine Injektion in die Halsschlagader, aber das will gekonnt sein, und wir schließen aus, daß in diesen Fällen so verfahren wurde.«

»Die Leute vom Labor rieten uns, von mechanischen Einwirkungen auszugehen«, sagte October. »Da hat man ja schon alles mögliche probiert. Elektroschocks zum Beispiel. Es gab Jockeys, die haben Batterien in ihren Sattel oder ihre Peitsche eingebaut, um die Pferde mit Stromstößen in den Sieg zu treiben. Der Schweiß der Pferde war dabei ein vorzüglicher Leiter. Wir haben diese Dinge wirklich eingehend geprüft und sind der festen Überzeugung, daß keiner der betreffenden Jockeys unübliche technische Hilfsmittel benutzt hat.«

»Wir haben unsere Aufzeichnungen, die Laborberichte, zahlreiche Zeitungsausschnitte und überhaupt alles, was uns irgendwie sachdienlich schien, gesammelt«, sagte Macclesfield und wies auf einen Stapel von drei Aktendeckeln, die neben mir auf dem Tisch lagen.

»Und Sie haben vier Tage Zeit, das durchzulesen und darüber nachzudenken«, fügte October mit einem flüchtigen Lächeln hinzu. »Ein Zimmer ist hier für Sie hergerichtet; mein Diener wird für Sie dasein. Ich kann leider nicht bleiben, ich muß heute abend nach Yorkshire zurück.«

Beckett sah auf seine Armbanduhr und erhob sich langsam. »Zeit für mich, Edward.« Zu mir sagte er mit einem Blick, der so klar und lebhaft war wie sein Körper hinfällig: »Sie packen das. Aber machen Sie Dampf dahinter, ja? Die Zeit läuft gegen uns.«

Es kam mir vor, als sei October erleichtert. Sicher war [38]ich mir dessen erst, als Macclesfield mir wieder die Hand gab und schnarrte: »Jetzt, wo Sie da sind, scheint mir der ganze Plan auch durchführbar zu sein… Mr.Roke, ich wünsche Ihnen gutes Gelingen.«