Knochenbruch - Dick Francis - E-Book

Knochenbruch E-Book

Dick Francis

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Beschreibung

Neil Griffon, der sich vorübergehend um die Rennställe seines Vaters kümmert, wird erpreßt: Ein Herrensöhnchen soll am bevorstehenden Derby einen Favoriten reiten können. Doch die Erpresser haben kein leichtes Spiel: Obwohl sie Neil ­ und nicht nur ihm ­ schon mal einen Knochen brechen, setzt dieser alles daran, ihre Pläne zu vereiteln.

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Seitenzahl: 330

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Dick Francis

Knochenbruch

Roman

Aus dem Englischen vonMichaela Link

Titel der 1971 bei Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›Bonecrack‹

Copyright ©1971 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1972

im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin,

unter dem Titel ›Tod am Turf‹

Umschlagillustration von

Tomi Ungerer

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22836 6 (7.Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Einleitung

Unbefriedigende Vater-Sohn-Beziehungen interessieren mich in solchem Maß, daß Buchkritiker in ihren Kolumnen über meine eigenen persönlichen Erfahrungen spekuliert haben. Sie meinten, ich müsse zu Hause sehr gelitten haben. Der Ordnung halber sei dazu folgendes bemerkt: Ich hatte einen liebevollen, amüsanten, seiner Frau stets treuen Vater, der weibliche Gesellschaft genossen hat und zusammen mit meiner Mutter meinen Bruder und mich mit einem Höchstmaß an sachlicher Strenge und absolut ohne jegliche Strafen großgezogen hat. Es hat niemals irgendwelche unlösbaren Probleme gegeben zwischen meinem Vater und mir, zu keiner Zeit. Ich hatte eine gute Kindheit und habe in der Folge versucht, meinen beiden dankbaren und mittlerweile erwachsenen Söhnen dieselbe Erziehung zuteil werden zu lassen.

Ja wirklich, wenn meine eigenen Vater-Sohn-Beziehungen entweder mit der einen oder der anderen Generation schmerzlich oder stürmisch gewesen wären, wäre ich nicht in der Lage, in meinen Romanen darüber zu schreiben. Nur weil sie für mich rein imaginär sind, kann ich die Grausamkeit und Herrschsucht zwischen Eltern und Kind beschreiben.

In Knochenbruch geht es um zwei Väter, die beide einen Sohn haben, und um die wechselseitigen Beziehungen, die sich zwischen diesen vier Personen entwickeln, als einer der Väter die totale Gewalt über beide Söhne zu erlangen versucht.

Dieses Thema hätte in viele Gewänder gekleidet werden und in jedes Zeitalter, jedes Land versetzt werden können. Ich beschloß, es hier und jetzt in Newmarket vor dem Hintergrund [6]der Pferderennen spielen zu lassen, und schmückte die Szene mit knochenbrechenden Schlägen aus, mit denen ein durch und durch respektabler Rennstall unterwandert, erobert und zerstört werden sollte.

Der Erzähler Neil Griffon ist einer der Söhne. Ich ließ ihn aus dem Geschäftsleben und nicht aus der Rennwelt kommen und stattete ihn mit einem scharfen, intuitiven Verstand aus, der in direktem Gegensatz zu dem unmittelbar Bösen des zerstörerischen, feindlichen Vaters steht. Griffon untergräbt die direkte Aggression, indem er nicht wie erwartet reagiert und eine Hintertürlösung für sein Dilemma findet.

Die Wechselspiele und Unterströmungen bei Vater-Sohn-Kämpfen haben mich während meiner ganzen Arbeit an Knochenbruch

[7]1

Die beiden trugen dünne Gummimasken.

Identische.

Mit ungläubigem Erstaunen starrte ich die beiden identischen, gesichtslosen Gesichter an. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die zwanzig Minuten vor Mitternacht Besuch von gummimaskentragenden Individuen bekommen, die nichts Gutes im Schilde führen. Ich war vierunddreißig Jahre alt, ein nüchtern denkender Geschäftsmann, der gerade in aller Ruhe die Rechnungsbücher der väterlichen Trainingsställe in Newmarket auf den neuesten Stand brachte. Ich saß über meiner Arbeit, im Lichtkegel der Schreibtischlampe, und die beiden Gummigesichter bewegten sich bleich vor der fast schwarzen Vertäfelung des düsteren Raumes wie zwei fremde Monde, deren Bahnen sich der Sonne nähern. Ich hatte aufgeblickt, als ich das Schnappschloß klicken hörte, und da waren sie, zwei dunkle Gestalten, die gelassen eintraten; kurz waren sie als Silhouetten im sanften Licht des Flurs des großen Hauses zu sehen, bevor sie die Tür schlossen und vor der dunklen Vertäfelung wieder unsichtbar wurden. Sie bewegten sich ohne jedes Quietschen, ohne jedes Scharren über den blanken, gebohnerten Fußboden. Abgesehen von den vermummten Gesichtern waren sie von Kopf bis Fuß schwarz.

Ich griff nach dem Telefonhörer und wählte die erste von drei Neunen.

Einer von ihnen näherte sich nun schneller, riß den Arm hoch und ließ ihn auf das Telefon herunterkrachen. Ich zog meinen Finger gerade noch rechtzeitig zurück, kurz bevor er mit der [8]zweiten Neun fertig war; die dritte würde ohnehin niemand mehr zuwege bringen. Die schwarzbehandschuhte Hand befreite langsam einen schweren Polizeiknüppel aus den zerschmetterten Resten des Posteigentums.

»Es gibt nichts zu stehlen«, bemerkte ich.

Der zweite Mann hatte nun auch den Schreibtisch erreicht. Er stand auf der anderen Seite, mir gegenüber, und blickte auf mich herab. Dann zog er eine Automatik – ohne Schalldämpfer – hervor, mit der er unerschütterlich auf meinen Nasenrücken zielte. Ich konnte weit in den Lauf hineinsehen.

»Sie«, sagte er, »Sie kommen mit uns.«

Seine Stimme war ausdruckslos, ohne Betonung, bedächtig. Er hatte keinen besonderen Akzent, aber er war kein Engländer.

»Warum?«

»Sie kommen mit.«

»Wohin?«

»Sie kommen mit.«

»Das werde ich nicht, wissen Sie«, sagte ich freundlich, streckte die Hand aus und drückte auf den Knopf, der die Schreibtischlampe ausschaltete.

Die plötzliche, totale Dunkelheit verschaffte mir einen Zwei-Sekunden-Vorteil. Ich nutzte ihn, um aufzustehen, nach der schweren, gebogenen Lampe zu greifen und den Fuß mit einem weiten Bogen in die ungefähre Richtung zu schwingen, aus der die Stimme der Maske gekommen war.

Es gab einen dumpfen Aufprall, als ich zuschlug, und ein Stöhnen. Treffer, dachte ich, aber kein K. o.

Ohne den Knüppel zu meiner Linken zu vergessen, sprang ich hinter dem Schreibtisch hervor und sprintete zur Tür. Aber niemand verschwendete Zeit darauf, in der Dunkelheit herumzufuchteln, in der Hoffnung, mich zu treffen. Ein Taschenlampenstrahl blitzte auf, fuhr herum, zuckte über mein Gesicht und kam hüpfend hinter mir her.

[9]Ich sprang zur Seite. Duckte mich. Kam von meinem geraden Weg zur Tür ab und sah aus den Augenwinkeln, daß das Gummigesicht, das ich mit der Lampe getroffen hatte, entschlossen seinem Ziel zustrebte.

Der Taschenlampenstrahl flackerte von mir weg, kreiste kurz und ruhte schließlich felsenfest auf dem Lichtschalter neben der Tür. Bevor ich ihn erreichen konnte, schoß die schwarzbehandschuhte Hand herunter und klickte die fünf doppelten Wandleuchter an, zehn nackte Kerzenbirnen, die den quadratischen, holzvertäfelten Raum in kaltes Licht tauchten.

Es gab zwei Fenster mit grünen, bodenlangen Vorhängen. Einen Teppich aus Istanbul. Drei nicht zusammenpassende William-und-Mary-Stühle. Eine Eichentruhe aus dem sechzehnten Jahrhundert. Einen niedrigen Walnußschreibtisch. Es war ein karges Zimmer, Spiegel der kargen und spartanischen Seele meines Vaters.

Ich war immer der Meinung gewesen, daß der beste Zeitpunkt, eine Entführung zu vereiteln, der Augenblick war, in dem sie begann; daß man sich, wenn man den Marschbefehlen gehorchte, zwar augenblicklichen Schmerz, aber keine Langzeitangst ersparen konnte; daß Entführer später töten mochten, aber nicht am Anfang, und daß ein Mensch, dessen Sicherheit auf dem Spiel stand, töricht wäre, sich kampflos geschlagen zu geben.

Nun, ich kämpfte.

Ich kämpfte noch ganze neunzig Sekunden lang, während derer es mir mißlang, die Lichter auszuschalten, durch die Tür zu entkommen oder mich durch eines der Fenster ins Freie zu stürzen. Ich hatte dem Knüppel des einen und der schußbereiten Automatik des anderen nur meine Hände und keine besonderen Fähigkeiten entgegenzusetzen. Die identischen Gummigesichter kamen mit entnervendem Mangel an menschlichem Ausdruck auf mich zu, und obwohl ich – wahrscheinlich [10]unklugerweise – versuchte, einem von ihnen die Maske wegzureißen, erreichte ich nicht mehr, als zu spüren, wie meine Finger über die zähe, glatte Oberfläche glitten.

Sie zogen den Nahkampf vor, das Opfer an die Wand gedrängt. Da sie zu zweit waren und Meister ihres Gewerbes zu sein schienen, bezog ich in diesen ewigwährenden neunzig Sekunden solche Dresche, daß ich zutiefst wünschte, meine Entführungsvermeidungstheorien nicht in die Praxis umgesetzt zu haben.

Es endete damit, daß ein Fausthieb in meinem Magen landete, die Pistole mich mit voller Wucht im Gesicht traf, mein Kopf gegen die Holzvertäfelung krachte und der Knüppel das Werk dann irgendwo hinter meinem rechten Ohr krönte. Als ich später wieder zu Bewußtsein kam, war die Zeit nur allzu deutlich fortgeschritten. Ansonsten hätte ich nicht mit dem Gesicht nach unten und schmerzhaft hinter meinem Rücken gefesselten Händen auf dem Rücksitz eines fahrenden Wagens liegen dürfen.

Für eine schöne lange Zeit glaubte ich zu träumen. Dann wachte mein Gehirn langsam auf und machte mir klar, daß das nicht stimmte. Ich fühlte mich abscheulich unwohl und fror furchtbar, da der dünne Pullover, den ich im Haus getragen hatte, sich als jämmerlicher Schutz gegen eine frostkalte Nacht erwies.

Mein Kopf dröhnte wie ein Dampfhammer. Peng, peng, peng.

Hätte ich die dazu erforderliche geistige Energie aufbringen können, wäre ich schrecklich wütend auf mich gewesen, weil ich mich als solcher Schlappschwanz erwiesen hatte. Wie die Dinge lagen, brachte ich jedoch nur unkomplizierte Reaktionen zustande, wie dumpfes, geistloses Erdulden und nebelhafte Verwirrung. Unter allen Entführungskandidaten hätte ich mich zu den unwahrscheinlichsten gerechnet.

Es gab vieles, was für ein halb bewußtloses Gehirn in einem halb bewußtlosen Körper sprach. Mens blotto in corpore ditto… [11]Die Worte tröpfelten unlogisch durch meine Gedanken, und ein Lächeln begann irgendwo entlang des richtigen Nervs, kam jedoch nicht bis zu meinem Mund. Mein Mund war ohnehin halb auf Tuchfühlung mit irgendeinem Bezug aus Lederimitat, der nach Hund roch. Es heißt, viele erwachsene Männer riefen in Augenblicken der Todesangst nach ihren Müttern und dann nach ihrem Gott: Ich jedenfalls hatte keine Mutter mehr, seit ich zwei war, und bis ich sieben wurde, hatte ich geglaubt, Gott sei jemand, der mit ihr davongelaufen war und nun an irgendeinem anderen Ort mit ihr zusammenlebte… (»Gott hat deine Mutter genommen, Schätzchen, weil er sie mehr brauchte als du«), ein Umstand, der ihn mir nie besonders sympathisch gemacht hatte, und außerdem hatte ich gar keine Todesangst, sondern lediglich eine gewaltige Gehirnerschütterung, ein paar sehr schmerzhafte Stellen am Körper und vielleicht eine grausige Zukunft am Ende der Reise. Inzwischen ging die Fahrt weiter und weiter. Sie wurde in keiner Hinsicht angenehmer. Nach mehreren Jahren blieb der Wagen ruckartig stehen. Ich fiel beinahe vom Sitz. Mein Gehirn war schlagartig wach, und mein Körper verwünschte es dafür.

Die beiden Gummigesichter ragten über mir auf, zerrten mich aus dem Auto und trugen mich ein paar Stufen hinauf und in ein Haus. Einer von ihnen hatte seine Hände unter meinen Achseln, und der andere hielt mich an den Fußknöcheln fest. Meine hundertsechzig Pfund schienen keine besondere Last zu sein.

Das plötzliche Licht hinter der Tür blendete mich, ein Grund so gut wie jeder andere, die Augen zu schließen. Ich schloß sie. Der Dampfhammer hatte keineswegs aufgegeben.

Sie ließen mich fallen, auf die Seite, auf einen hölzernen Fußboden. Gebohnert. Ich konnte das Bohnerwachs riechen. Parfümiert. Schauderhaft. Ich öffnete meine Augen einen kleinen Schlitz weit und fand meine Vermutung bestätigt. In kleinen, [12]zusammengesetzten Quadraten verlegtes Parkett, modern. Birkenfurnier, hauchdünn. Nichts Besonderes. Dicht über mir sprach eine Stimme, die den unverkennbar aufsteigenden Zorn nur mit hörbarer Anstrengung beherrschte.

»Und wer bitte ist das hier?«

Es entstand eine lange, atemlose Stille, in der ich gelacht hätte, hätte ich es gekonnt. Die Gummigesichter hatten nicht mal den richtigen Mann geschnappt. Diese ganzen Prügel für nichts und wieder nichts. Und auch keine Garantie, daß sie mich wieder nach Hause bringen würden.

Ich blinzelte ins Licht. Der Mann, der gesprochen hatte, saß auf einem ledergepolsterten Lehnstuhl, die Finger steif über einem anschwellenden Wanst gefaltet. Seine Stimme hatte ziemliche Ähnlichkeit mit der von Gummimaske: ohne besonderen Akzent, aber nicht englisch. Seine Schuhe, die mehr auf meiner Höhe lagen, waren weich, handgemacht und aus Genueser Leder.

Italienischer Stil. Nicht besonders aufschlußreich: Italienische Schuhe werden von Hongkong bis San Francisco verkauft.

Eines der Gummigesichter räusperte sich. »Es ist Griffon.«

Die Überreste des Lachens erstarben kalt. Griffon war tatsächlich mein Name. Wenn ich nicht der richtige Mann war, mußten sie es auf meinen Vater abgesehen haben. Aber das machte genausowenig Sinn: Er war wie ich in keinem entführungsanfälligen Beruf tätig.

Der Mann auf dem Lehnstuhl sagte, noch immer mit demselben gezügelten Zorn, durch zusammengebissene Zähne: »Es ist nicht Griffon.«

»Doch«, beharrte Gummigesicht matt.

Der Mann erhob sich von seinem Lehnstuhl und rollte mich mit seiner eleganten Schuhspitze auf den Rücken.

»Griffon ist ein alter Mann«, sagte er. Die beißende Schärfe [13]seiner Stimme ließ die beiden Gummigesichter einen Schritt zurücktaumeln, als hätte er sie geschlagen.

»Sie haben uns nicht gesagt, daß er alt ist.«

Das andere Gummigesicht unterstützte seinen Kollegen mit einem defensiven Jaulen und einem anderen Akzent. Diesmal waschechtes Amerika. »Wir haben ihn den ganzen Abend beobachtet, er ist durch die Ställe gegangen und hat sich die Pferde angesehen. Jedes einzelne. Die Männer, die haben ihn wie ihren Boß behandelt. Er ist der Trainer, er ist Griffon.«

»Griffons Assistent«, sagte der dicke Mann wutentbrannt. Er setzte sich wieder und hielt sich mit derselben Anstrengung an der Armlehne fest, mit der er seine Fassung zu wahren versuchte.

»Stehen Sie auf«, sagte er plötzlich zu mir.

Ich schaffte es mühsam fast bis auf die Knie, aber der Rest war entmutigend, und ich dachte, warum um alles in der Welt sollte ich mir solche Mühe machen, also legte ich mich vorsichtig wieder hin. Es trug nicht dazu bei, das allgemeine Klima zu verbessern.

»Stehen Sie auf«, sagte er wütend.

Ich schloß die Augen. Es folgte ein scharfer Schlag auf meinen Oberschenkel. Ich öffnete die Augen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie das Gummigesicht mit der amerikanischen Stimme zu einem neuen Tritt ausholte. Alles, was man sagen konnte, war, daß er Schuhe trug und keine Stiefel.

»Hör auf damit.« Die scharfe Stimme ließ ihn mitten im Tritt innehalten. »Setz ihn einfach nur auf den Stuhl da.«

Amerika-Gummigesicht zog besagten Stuhl herbei und stellte ihn dem Lehnstuhl gegenüber auf, zwei Meter davon entfernt. Viktorianische Epoche, Mitte, schätzte ich automatisch. Mahagoni. Hatte wahrscheinlich einmal eine Sitzfläche aus Rohrgeflecht, war aber jetzt mit einem rosagrundigen, geblümten, glänzenden Chintz bezogen. Die beiden Gummigesichter [14]hoben mich gewaltsam hoch und drapierten mich so auf den Stuhl, daß meine gefesselten Handgelenke hinter der Rückenlehne hingen. Als sie damit fertig waren, traten sie zurück, genau so weit, daß sie einen Schritt hinter jeder meiner Schultern standen.

Aus dieser Höhe hatte ich einen besseren Blick auf ihren Herrn, wenn nicht gar auf die ganze Situation.

»Griffons Assistent«, wiederholte er. Aber diesmal war der Zorn verklungen. Er hatte den Fehler erkannt und überlegte jetzt, was er aus der Situation machen sollte.

Er brauchte nicht lange.

»Pistole«, sagte er, und Gummigesicht gab sie ihm.

Er war korpulent und glatzköpfig, und ich vermutete, daß es ihm kein Vergnügen bereiten würde, alte Fotos von sich zu betrachten. Unter den gerundeten Wangen, dem schweren Kinn, den Falten der Augenlider lag eine feine Knochenstruktur. Sie trat immer noch in dem starken, klaren Höcker der Nase zutage und in den Bögen über den Augenhöhlen. Er verfügte über die Basisausrüstung eines gutaussehenden Mannes, aber er sah aus, dachte ich abstruserweise, wie ein vornehm vor die Hunde gegangener Cäsar. Und man hätte das Fett als Zeichen von Weichheit werten können, wäre da nicht die Härte gewesen, die unübersehbar aus seinen schmal gewordenen Augen blickte.

»Schalldämpfer«, sagte er scharf. Er war voll Verachtung und gereizt, und seine gummigesichtigen Narren waren ihm ein offensichtlicher Greuel.

Ein Gummigesicht zog einen Schalldämpfer aus seiner Hosentasche, und Cäsar begann, ihn aufzuschrauben. Schalldämpfer bedeuteten blutigen Ernst, wo nackte Läufe das vielleicht nicht taten. Er hatte die Absicht, den Fehler seiner Angestellten aus der Welt zu schaffen. Meine Zukunft sah entschiedenermaßen düster aus. Zeit für ein paar wohlgewählte Worte, vor allem, wenn sie sich als meine letzten erweisen sollten.

[15]»Ich bin nicht Griffons Assistent«, sagte ich. »Ich bin sein Sohn.«

Er war fertig mit dem Aufschrauben des Schalldämpfers und machte sich daran, ihn auf meine Brust zu richten.

»Ich bin Griffons Sohn«, wiederholte ich. »Und was genau soll das Ganze eigentlich?«

Der Schalldämpfer erreichte den Breitengrad meines Herzens.

»Wenn Sie mich töten«, sagte ich, »könnten Sie mir zumindest sagen, warum.«

Meine Stimme klang mehr oder weniger normal. Er konnte, wie ich hoffte, nicht sehen, daß mir am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.

Eine Ewigkeit verstrich. Ich starrte ihn an. Er starrte zurück. Ich wartete. Wartete, während die Zahnräder in seinem Gehirn ineinandergriffen: Wartete darauf, daß ein Daumen nach dem anderen nach unten zeigte, klick, klick, klick, wie bei einem Spielautomaten, der mit drei Nieten das Aus verkündet.

Schließlich sagte er, ohne die Pistole einen Millimeter zu senken: »Wo ist Ihr Vater?«

»Im Krankenhaus.«

Neuerliche Pause.

»Wie lange wird er dort bleiben?«

»Das weiß ich nicht. Zwei oder drei Monate vielleicht.«

»Wird er sterben?«

»Nein.«

»Was ist los mit ihm?«

»Er hatte einen Autounfall. Vor einer Woche. Hat sich ein Bein gebrochen.«

Wieder Pause. Die Waffe rührte sich immer noch nicht. Niemand, dachte ich wild, sollte so unfair sterben. Aber Menschen starben unfair. Wahrscheinlich hatte es nur einer von einer Million wirklich verdient. Der Tod an sich war etwas [16]Unfaires, aber in mancher Gestalt eben unfairer als in anderen. Mord, so erschien es mir mit Nachdruck, war die unfairste Todesart von allen.

Alles, was er am Ende – in milderem Ton – sagte, war: »Wer wird in diesem Sommer die Pferde trainieren, wenn es Ihrem Vater nicht gut genug geht?«

Nur lange Erfahrung mit gerissenen Verhandlungspartnern, die mit großen Drohungen um sich warfen, so daß sie ihre eigentlichen Ziele erreichen konnten, indem sie sie als harmlose Nebensächlichkeit präsentierten, bewahrte mich davor, ins offene Messer zu laufen. Um ein Haar und aus Erleichterung über eine so arglose Frage hätte ich ihm die Wahrheit gesagt: daß darüber noch nicht entschieden war. Wenn ich das getan hätte, so begriff ich später, hätte er mich erschossen, denn was er wollte, ging ausschließlich den augenblicklichen Trainer von Rowley Lodge an. Temporäre Stellvertreter, irrtümlich entführt, waren zu gefährlich, als daß man sie frei herumlaufen und alles mögliche erzählen lassen konnte.

Instinktiv antwortete ich also: »Ich werde sie selbst trainieren«, obwohl ich nicht die geringste Absicht hatte, dies länger zu tun, als ich brauchte, um jemand anderes zu finden.

Es war tatsächlich die entscheidende Frage gewesen. Der furchteinflößende schwarze Kreis des Schalldämpferlaufs senkte sich um einen Bruchteil, wurde zur Ellipse, verschwand vollkommen. Er legte die Waffe auf seinen Schoß und balancierte sie auf einem wohlgepolsterten Oberschenkel.

Mein Atem hob und senkte meine Brust in hektischen Stößen, und die Lösung der unmittelbaren Anspannung verursachte mir Übelkeit. Nicht, daß plötzlich absolute Sicherheit als Verheißung am Horizont aufgeflackert wäre. Ich war immer noch gefesselt und in einem fremden Haus, und ich hatte immer noch keine Ahnung, zu welchem möglichen Zweck ich als Geisel dienen konnte.

[17]Der dicke Mann beobachtete mich weiter. Dachte weiter nach. Ich versuchte, die Steifheit, die in meine Muskeln kroch, zu mildern, versuchte, die unbedeutenden Schmerzen und das pochende Kopfweh auszublenden, die ich nicht im geringsten wahrgenommen hatte, solange ich einer noch größeren Bedrohung gegenübergestanden hatte.

Im Zimmer war es kalt. Die Gummigesichter schienen es mollig warm zu haben in ihren Masken und Handschuhen, und der dicke Mann war gut isoliert und unempfindlich, aber in meinem Falle trug die Kälte eindeutig das Ihre zu meinem Jammer bei. Ich fragte mich, ob die Kälte als psychologische Einschüchterungsmaßnahme für meinen schon älteren Vater geplant oder ob sie einfach nur Zufall war. Nichts in dem Raum machte einen gemütlichen, bewohnten Eindruck.

Alles in allem war es ein Mittelklassewohnzimmer in einem kleinen Mittelklassehaus, erbaut, so schätzte ich, in den dreißiger Jahren. Man hatte die Möbel vor die gestreifte, cremefarbene Tapete geschoben, um dem dicken Mann ausreichenden Handlungsspielraum zu geben: Möbel, die aus einer phantasielosen dreiteiligen, mit rosafarbenem Chintz bezogenen Sitzgarnitur bestanden, einem Klapptisch, einer Stehlampe mit pergamentfarbenem Schirm und einer Glasvitrine mit gähnender Leere hinterm Glas. Auf dem auf Hochglanz gebrachten Birkenparkett lagen keine Teppiche, es gab keinen Schnickschnack, keine Bücher, keine Zeitschriften, überhaupt nichts Persönliches. So kahl wie die Seele meines Vaters, aber nicht sein Geschmack.

Der Raum paßte nicht im geringsten zu dem, was ich bisher von der Persönlichkeit des dicken Mannes gesehen hatte.

»Ich werde Sie freilassen«, sagte er, »unter gewissen Bedingungen.«

Ich wartete. Er schätzte mich ab und ließ sich immer noch Zeit.

»Wenn Sie meine Anweisungen nicht aufs genaueste befolgen, werde ich Ihren Vater ruinieren.«

[18]Ich spürte, wie mein Mund sich erstaunt öffnete. Ich klappte ihn wieder zu.

»Ich nehme an, Sie bezweifeln, daß ich das tun könnte. Zweifeln Sie nicht. Ich habe schon Besseres zerstört als den kleinen Reitstall Ihres Vaters.«

Ich reagierte nicht auf die Stichelei mit dem Wort »klein«. Vor Jahren schon hatte ich gelernt, daß man sich, wenn man auf Sticheleien reagiert, eine Verteidigungshaltung aufzwingen läßt, die nur dem Gegner nutzt. In Rowley Lodge standen, wie er zweifellos wußte, fünfundachtzig Vollblüter, deren Gesamtwert sechs Millionen Pfund überstieg.

»Wie?« fragte ich ohne Umschweife.

Er zuckte mit den Schultern. »Was wichtig für Sie ist, ist nicht, wie ich es tun könnte, sondern wie Sie mich davon abhalten können. Und das ist natürlich vergleichsweise einfach.«

»Nur die Pferde nach Ihren Instruktionen laufen lassen?« meinte ich in neutralem Ton. »Nur auf Befehl verlieren?«

Ein Anfall neu entfachten Zorns verzerrte die dicklichen Gesichtszüge, und die Pistole hob sich um fünfzehn Zentimeter von seinem Knie. Die Hand, die sie hielt, entspannte sich langsam, und er legte sie wieder hin.

»Ich bin«, sagte er schwerfällig, »kein mieser, kleiner Gauner.«

Aber du reagierst auf eine Beleidigung, dachte ich, selbst auf eine, die nicht beabsichtigt war, und eines Tages, wenn das Spiel lange genug dauerte, würde mir das vielleicht einen Vorteil verschaffen.

»Ich entschuldige mich«, sagte ich ohne Sarkasmus. »Aber diese Gummigesichter sind nicht gerade Spitzenklasse.«

Er warf einen gereizten Blick auf die beiden Gestalten, die hinter mir standen. »Die Masken sind ihre eigene Wahl. Sie fühlen sich sicherer, wenn man sie nicht erkennen kann.«

Wie Strauchdiebe, dachte ich, die am Ende baumeln.

»Sie können Ihre Pferde laufen lassen, wie Sie wollen. Sie haben absolute Wahlfreiheit… mit einer Ausnahme.«

[19]Ich gab keinen Kommentar. Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort.

»Sie werden jemanden einstellen, den ich Ihnen schicke.«

»Nein«, sagte ich.

»Doch.« Er sah mich, ohne mit der Wimper zu zucken, an. »Sie werden diese Person einstellen. Wenn Sie das nicht tun, werde ich den Stall zerstören.«

»Das ist Wahnsinn«, beharrte ich. »Es ist sinnlos.«

»Nein, das ist es nicht«, widersprach er. »Außerdem werden Sie niemandem erzählen, daß Sie gezwungen wurden, diese Person einzustellen. Sie werden versichern, daß es Ihr eigener Wunsch sei. Sie werden sich vor allem nicht bei der Polizei beklagen, weder über heute nacht, noch über irgend etwas, was sonst noch geschehen mag. Sollten Sie in irgendeiner Hinsicht versuchen, diese Person in Mißkredit zu bringen oder aus Ihren Ställen zu entfernen, werde ich Sie ruinieren.« Er hielt inne. »Haben Sie verstanden? Wenn Sie irgend etwas gegen diese Person unternehmen, wird Ihr Vater nichts mehr haben, zu dem er zurückkehren kann.«

Nach einem kurzen, gespannten Schweigen fragte ich: »In welcher Eigenschaft soll diese Person für mich arbeiten?«

Er antwortete mit Bedacht. »Er wird die Pferde reiten«, sagte er. »Er ist Jockey.«

Ich konnte das Zucken um meine Augen spüren. Auch er bemerkte es. Das erste Mal, daß er mich wirklich erreicht hatte.

Es stand außer Frage. Er würde es mir nicht jedesmal sagen müssen, wenn er ein Rennen verloren haben wollte. Er brauchte es lediglich seinem Mann zu sagen.

»Wir brauchen keinen Jockey«, sagte ich. »Wir haben schon Tommy Hoylake.«

»Ihr neuer Jockey wird nach und nach seinen Platz einnehmen.«

[20]Tommy Hoylake war der zweitbeste Jockey Großbritanniens und gehörte zu den zwölf besten der Welt. Niemand konnte seinen Platz einnehmen.

»Die Besitzer wären nicht einverstanden«, sagte ich.

»Sie werden sie überreden.«

»Unmöglich.«

»Die Existenz Ihres Stalles hängt davon ab.«

Es entstand eine neuerliche, ziemlich lange Pause. Eines der Gummigesichter trat von einem Fuß auf den anderen und seufzte wie aus Langeweile, aber der dicke Mann schien es nicht eilig zu haben. Vielleicht verstand er sehr gut, daß mir immer kälter wurde und daß ich mich von Minute zu Minute unbehaglicher fühlte. Ich hätte ihn gerne gebeten, die Fesseln an meinen Händen zu lösen, doch mir war klar, daß er, falls er ablehnte, einen Punkt für sich verbuchen würde.

Schließlich sagte ich: »Mit Ihrem Jockey hätte der Stall ohnehin keine Zukunft.«

Er zuckte mit den Schultern. »Es wird vielleicht Einbußen geben, aber der Stall wird es überstehen.«

»Es ist untragbar«, sagte ich.

Er blinzelte. Seine Hand schob die Pistole auf seinem wohlgefüllten Hosenbein sanft hin und her.

Er sagte: »Ich sehe, daß Sie die Situation nicht ganz verstanden haben. Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie hier unter gewissen Bedingungen wegkommen.« Sein ausdrucksloser Ton ließ das Wahnsinnige vernünftig klingen. »Diese Bedingungen sind, daß Sie einen gewissen Jockey einstellen und daß Sie bei niemandem Hilfe suchen, auch nicht bei der Polizei. Sollten Sie irgendeine dieser Abmachungen verletzen, wird der Stall zerstört werden. Aber…«, er sprach nun langsamer und mit Betonung, »…wenn Sie diesen Bedingungen erst gar nicht zustimmen, werden Sie nicht freigelassen.«

Ich sagte nichts.

[21]»Haben Sie verstanden?«

Ich seufzte. »Ja.«

»Gut.«

»Kein mieser, kleiner Gauner, sagten Sie, glaube ich.«

Seine Nasenflügel bebten. »Ich bin ein Drahtzieher.«

»Und ein Mörder.«

»Ich morde niemals, es sei denn, das Opfer besteht darauf.«

Ich starrte ihn an. Er lachte innerlich über seinen hübschen kleinen Witz, und die Belustigung brach in kleinen Zuckungen seiner Mundwinkel und winzigen, schnaubenden Atemstößen aus ihm heraus.

Dieses Opfer würde wohl nicht darauf bestehen. Sollte er sich ruhig amüsieren.

Ich bewegte meine Schultern ein wenig und versuchte, die Muskeln zu lockern. Er sah aufmerksam zu und enthielt sich jeder Bemerkung.

»Wer«, sagte ich, »ist denn dieser Jockey?«

Er zögerte.

»Er ist achtzehn«, sagte er.

»Achtzehn…«

Er nickte. »Sie werden ihm die guten Pferde zum Reiten geben. Er wird Archangel im Derby reiten.«

Unmöglich. Vollkommen unmöglich. Ich betrachtete die Pistole, die so still auf der teuren Schneiderware lag. Ich sagte nichts. Es gab nichts zu sagen.

Als er wieder zu sprechen begann, lag neben der bedachtsamen Akzentlosigkeit die Befriedigung des Sieges in seiner Stimme.

»Er wird morgen zum Stall kommen. Sie werden ihn engagieren. Er hat noch nicht viel Rennerfahrung. Sie werden dafür sorgen, daß er sie bekommt.«

Ein unerfahrener Reiter auf Archangel… Der helle Wahnsinn. Ein solcher Wahnsinn, daß er mit Entführung und [22]Morddrohungen arbeiten mußte, um klarzumachen, daß er es ernst meinte.

»Sein Name ist Alessandro Rivera«, sagte er.

[23]2

Als ich das nächste Mal erwachte, lag ich mit dem Gesicht nach unten auf dem nackten Fußboden des eichenvertäfelten Raumes in Rowley Lodge. Zu viele nackte Bretter überall. Nicht meine Nacht.

Nach und nach kam ich wieder zu mir. Ich fühlte mich duselig, unterkühlt, halb bewußtlos, narkotisiert…

Narkotisiert.

Sie hatten die Höflichkeit besessen, mir für die Rückfahrt nicht wieder auf den Kopf zu schlagen. Der dicke Mann hatte dem amerikanischen Gummigesicht zugenickt, aber statt die Keule zu schwingen, versetzte der mir einen schnellen, stechenden Stoß in den Oberarm. Anschließend warteten wir etwa eine Viertelstunde lang, während der niemand irgend etwas sagte, und dann verlor ich plötzlich das Bewußtsein. Ich hatte nicht die leiseste Erinnerung an die Fahrt nach Hause.

Stöhnend und ächzend untersuchte ich alle zusammenhängenden Teile. Alles dran, alles in Ordnung und funktionstüchtig. Das heißt, mehr oder weniger, denn nachdem ich mit Ach und Krach wieder auf die Beine gekommen war, schien es mir ratsam, mich wieder auf den Stuhl neben dem Schreibtisch zu setzen. Ich legte meine Ellenbogen auf den Tisch und meinen Kopf in die Hände und ließ Zeit vergehen.

Draußen verwandelte der Beginn einer feuchten Morgendämmerung den Himmel in grauen Flanell. Die Ränder der Fensterscheiben waren vereist, dort, wo kondensierte, warme Luft gefroren war. Die Kälte ging mir bis auf die Knochen.

In der Gehirnabteilung waren die Dinge nicht weniger frostig. [24]Ich erinnerte mich nur allzu deutlich, daß Alessandro Rivera an diesem Tag seine Gegenwart fühlbar machen würde. Vielleicht glich er ja seinem Papa, dachte ich müde, und war so übergewichtig, daß das ganze Dilemma die Ohren anlegte und sich leise davonstahl. Auf der anderen Seite, wenn es nicht so war, warum sollte sein Vater einen Vorschlaghammer benutzen, um eine Erdnuß zu knacken? Warum konnte er seinen Sohn nicht auf normale Weise in die Lehre schicken? Weil er nicht normal war, weil sein Sohn kein normaler Lehrling sein würde und weil kein normaler Lehrling erwarten konnte, seine Karriere auf einem Derbyfavoriten zu beginnen.

Ich fragte mich, wie mein Vater an meiner Stelle reagiert hätte, wenn er nicht mit einer komplizierten Fraktur von Tibia und Fibula in einem Streckverband gehangen hätte. Er hätte sich, soviel stand fest, nicht so zerschlagen gefühlt wie ich, weil er widerstandslos und mit einem Höchstmaß an Würde mitgegangen wäre. Aber er hätte nichtsdestoweniger denselben schwerwiegenden Fragen gegenübergestanden, als da wären: Hatte der dicke Mann ernsthaft die Absicht, den Stall zu zerstören, wenn sein Sohn den Job nicht bekam, und wie konnte er das bewerkstelligen?

Die Antwort auf beide Fragen war ein überdimensionales Fragezeichen.

Es war nicht mein Stall, der auf dem Spiel stand. Es waren nicht meine sechs Millionen Pfund, die da in den Pferden steckten. Es war nicht mein Lebensunterhalt, nicht mein Lebenswerk.

Ich konnte meinen Vater nicht bitten, selbst zu entscheiden; es ging ihm nicht gut genug, als daß ich ihm hätte davon erzählen können, ganz zu schweigen davon, das Für und Wider mit ihm abzuwägen.

Ich konnte den Stall auch keinem anderen übergeben, genausowenig wie eine scharfe Granate.

[25]Ich wurde in meinem eigenen Job zurückerwartet und war bereits zu spät dran für meinen nächsten Auftrag, überhaupt war ich nur als Lückenbüßer im Stall eingesprungen, weil der tüchtige Assistent meines Vaters, der am Steuer des Rolls gesessen hatte, als sie von einem sich querstellenden Lastwagenanhänger von der Straße gefegt worden waren, jetzt im selben Krankenhaus wie mein Vater im Koma lag.

Das Ganze hatte sich zu einem beträchtlichen Problem entwickelt. Aber schließlich waren Probleme, so überlegte ich ironisch, mein Geschäft. Die Probleme mies gehender Geschäfte waren mein Geschäft.

Im Augenblick sah nichts mieser aus als meine Aussichten in Rowley Lodge.

Mit heftigem Zittern entfernte ich mich Stück um Stück von dem Tisch und dem Stuhl, ging hinaus in die Küche und machte mir einen Kaffee. Trank ihn. Zustandsverbesserung mäßig.

Schob mich millimeterweise nach oben ins Bad. Schabte die nächtlichen Barthaare ab und betrachtete leidenschaftslos das getrocknete Blut auf meiner Wange. Wusch es weg. Pistolenlaufschramme, trocken und schon auf dem Weg der Heilung.

Draußen sah ich durch die blattlosen Bäume die Lichter des Verkehrs, der wie gewöhnlich die Bury Road hinauf und hinunter donnerte. Diese Autofahrer in ihren warmen, rollenden Kisten – sie lebten in einer vollkommen anderen Welt, einer Welt, in der Entführung und Erpressung etwas waren, das immer nur anderen zustieß. Unglaublich, sich vorzustellen, daß ich nun tatsächlich zu diesen anderen gehörte.

Während ich unter einem umfassenden Gefühl körperlichen Unbehagens erschauderte, betrachtete ich mein veilchenäugiges Spiegelbild und fragte mich, wie lange ich weiter tun würde, was der dicke Mann mir sagte. Schößlinge, die sich vor dem Sturm beugten, lebten lange genug, um zu Eichen zu werden.

Lang leben die Eichen!

[26]Ich schluckte ein paar Aspirin, hörte auf zu zittern, versuchte ein wenig mehr Vernunft in meine schwummerigen Gedanken zu bringen und kämpfte mich in Reithosen, Stiefel, zwei weitere Pullover und eine Windjacke hinein. Was immer vergangene Nacht geschehen war, oder was in Zukunft geschehen mochte, da unten warteten immer noch diese fünfundachtzig Sechs-Millionen-Pfund-Pferde darauf, daß man sich um sie kümmerte.

Sie waren auf einem Hof untergebracht, dessen Anlage im Jahre 1870 von großzügiger Geräumigkeit inspiriert gewesen war und der nun, gut hundert Jahre später, noch immer als eine eindrucksvolle, funktionierende Einheit fortbestand. Ursprünglich hatte es zwei einander gegenüberliegende Stallgebäude von jeweils drei Stallgassen gegeben, die wiederum jede zehn Boxen beherbergten. Am hinteren Ende schlossen das Futterlager und eine große Sattelkammer den Hof ab; zwischen ihnen befand sich ein großes Doppeltor. Es hatte ursprünglich auf ein Feld hinausgeführt, aber noch ganz am Anfang seiner Karriere, als sich die ersten Erfolge einstellten, hatte mein Vater hinter dem Tor zwei zusätzliche Stallgassen gebaut, die dort einen weiteren kleinen, in sich abgeschlossenen Hof mit fünfundzwanzig Boxen bildeten. Aus diesem führte ein weiteres Doppeltor nun hinaus auf eine kleine, umzäunte Trainingsanlage.

Zuletzt hatte man noch vier Boxen zur Bury Road hin angebaut, außen an die westliche Abschlußmauer des nördlichen Blocks. Es war die hinterste dieser vier Boxen, in der man gerade ein ausgewachsenes Desaster entdeckt hatte.

Mein Erscheinen in der Tür, die direkt vom Haus auf den Hof führte, setzte die Gruppe, die sich zuvor um die Außenboxen geschart hatte, abrupt in Marsch, und sie kehrte nun in zerfranster, aber zielgerichteter Formation in den Haupthof zurück. Ich sah dem Haufen an, daß ich über die Neuigkeiten nicht glücklich sein würde. Wartete gereizt darauf, sie zu hören. Krisen waren an diesem ganz besonderen Morgen alles andere als willkommen.

[27]»Es ist Moonrock, Sir«, sagte einer der Pfleger besorgt. »Hat sich in seiner Box festgelegt und ein Bein gebrochen.«

»Aha«, sagte ich schroff. »Und jetzt kümmert euch wieder um eure eigenen Pferde. Es ist gleich Zeit fürs Morgentraining.«

»Jawohl, Sir«, bekam ich zur Antwort. Widerwillig und mit einem letzten Blick über die Schulter gingen die Männer über den Hof zu ihren Schützlingen.

»Himmel Donnerwetter!« sagte ich laut, aber ich kann nicht behaupten, daß es viel genützt hätte. Moonrock war das Reitpferd meines Vaters, ein erstklassiger, mittlerweile längst pensionierter Steeple-Chaser, den mein Vater für seine Verhältnisse ungewöhnlich gern hatte. In mancher Hinsicht der wertloseste Stallbewohner, aber auch der, dessen Verlust meinen Vater am meisten bekümmern würde. Die anderen waren außerdem versichert. Aber gegen schmerzliche Gefühle gab es ja sowieso keine Versicherung.

Langsam trottete ich zu Moonrocks Box hinüber. Der ältliche Pfleger, der ihn versorgte, stand an der Tür; das Licht aus dem Stall fiel schräg über die tiefen Sorgenfalten in seiner Schildkrötenhaut und verwandelte sie in Gletscherspalten. Als er mich kommen hörte, drehte er sich um. Die Gletscherspalten verschoben sich wie in einem Kaleidoskop zu einem neuen Bild.

»Nichts mehr zu machen, Sir. Er hat sich das Sprunggelenk gebrochen.«

Ich nickte und wünschte, ich hätte es nicht getan. Dann ging ich hinein. Der alte Moonrock war an seinem gewohnten Platz angebunden. Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein: Er drehte mir den Kopf zu, stellte die Ohren auf, und seine feuchten schwarzen Augen zeigten nichts als die übliche Neugier. Fünf Jahre im hellsten Rampenlicht hatten ihm eine Ausstrahlung gegeben, wie sie nur intelligente und äußerst erfolgreiche Pferde zu entwickeln scheinen, eine Art Bewußtsein ihrer eigenen Größe. Er wußte mehr über das Leben und über das [28]Rennen als irgendeines der vielversprechenden Jungpferde im Haupthof. Moonrock war fünfzehn Jahre alt und seit fünf Jahren meinem Vater ein guter Freund.

Die linke Hinterhand war vollkommen in Ordnung. Auf dieses Bein hatte er sein Gewicht verlagert. Die rechte Hinterhand schien er zu schonen.

Er hatte geschwitzt: Auf Hals und Flanken zeigten sich dunkle Flecken. Im Augenblick wirkte er jedoch soweit ganz ruhig. Kleine Strohhalme hatten sich in seinem Fell verfangen, das ungewöhnlich staubig war.

Etty Craig, die Futtermeisterin meines Vaters, stand neben ihm, tätschelte ihn beschwichtigend und sprach mit nüchterner Stimme auf ihn ein. Bekümmert wandte sie mir ihr freundliches, wettergegerbtes Gesicht zu.

»Ich habe nach dem Tierarzt geschickt, Mr.Neil.«

»Verflixt und zugenäht«, sagte ich.

Sie nickte. »Armer alter Bursche. Man sollte eigentlich denken, er wüßte es besser – nach all den Jahren.«

Ich gab ein zustimmendes Grunzen von mir, trat in die Box, strich Moonrock liebevoll über das feuchte, schwarze Maul und sah mir seine Hinterhand an – so gut ich das konnte, ohne ihn zu bewegen. Es gab absolut keinen Zweifel: Das Sprunggelenk war deformiert.

Manchmal wälzte sich ein Pferd im Stroh seiner Box auf den Rücken. Hatte es dabei zu wenig Platz, um sich ganz umzudrehen, konnte es passieren, daß es sich in seiner Box festlegte und wie wild ausschlug, um freizukommen. Die meisten Verletzungen, die dabei auftraten, waren Abschürfungen und Zerrungen, aber es war auch möglich, daß ein Pferd sich so sehr verrenkte oder so heftig ausschlug, daß es sich ein Bein brach. Unglaubliches Pech, so etwas, aber es kam glücklicherweise nur selten vor.

»Er lag noch auf dem Boden, als George reinkam, um die Box auszumisten«, sagte Etty. »George mußte erst ein paar von den [29]Jungs dazurufen, um den alten Burschen in die Mitte der Box zu ziehen. Er ist ein bißchen langsam auf die Beine gekommen, sagt George. Und dann haben sie natürlich gemerkt, daß er nicht mehr laufen konnte.«

»Verdammte Schande«, sagte George und nickte zustimmend.

Ich seufzte. »Nichts mehr zu machen, Etty.«

»Nein, Mr.Neil.«

Während der Arbeitszeit nannte sie mich pflichtschuldigst Mr.Neil, obwohl ich als Kind einfach nur Neil für sie gewesen war. Besser für die Disziplin auf dem Hof, hatte sie einmal zu mir gesagt, und in Fragen der Disziplin würde ich ihr nie und nimmer widersprechen. Es hatte seinerzeit einen ziemlichen Wirbel in Newmarket gegeben, als mein Vater sie zur Futtermeisterin befördert hatte, aber, wie er ihr damals erklärt hatte: Sie war loyal und erfahren, würde keinerlei Unfug dulden und sich von niemandem auf der Nase herumtanzen lassen; sie hatte den Job als Dienstälteste ohnehin verdient, und wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie ihn auch ganz automatisch bekommen. Als gerechter und logisch denkender Mensch hatte er ihr Geschlecht für unerheblich befunden. Und so avancierte sie zur einzigen Futtermeisterin in ganz Newmarket, wo schon ein weiblicher Pfleger eine Seltenheit war. Und die sechs Jahre ihrer Herrschaft waren dem Stall bestens bekommen.

Ich erinnerte mich noch an die Zeit, als ihre Eltern immer wieder bei den Ställen auftauchten und meinen Vater beschuldigten, Ettys Leben zu ruinieren. Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als sie auf den Hof kam, und sie war neunzehn und hatte eine vornehme Erziehung auf einer teuren Privatschule hinter sich. Ihre Eltern waren mit zunehmender Verbitterung hergekommen und hatten sich darüber beschwert, daß der Stall Ettys Aussichten auf eine gute, standesgemäße Heirat verderbe, aber genau das hatte Etty nie interessiert. Wenn sie je mit Sex herumexperimentiert hatte, so hatte sie es nicht an die große Glocke gehängt – [30]und wahrscheinlich war ihr die ganze Angelegenheit langweilig vorgekommen. Sie hatte nichts gegen Männer, behandelte sie jedoch, wie sie ihre Pferde behandelte: mit forscher Freundlichkeit, immensem Verständnis und kühler Bestimmtheit.

Seit dem Unfall meines Vaters trug sie praktisch die volle Verantwortung für alles. Ich hatte eine befristete Lizenz bekommen, um hier die Stellung halten zu können – offiziell hatte ich nun das Sagen im Stall, aber wir wußten beide, daß ich ohne sie verloren gewesen wäre.

Während ich zusah, wie ihre geschickten Hände ruhig über Moonrocks braunes Fell glitten, kam mir der Gedanke, daß der dicke Mann in mir vielleicht einen leichten Gegner gewittert hatte – mit Miss Henrietta Craig würde sein Sohn Alessandro jedoch sein blaues Wunder erleben, falls er bei uns in die Lehre ging.

»Geh du besser mit dem Lot raus, Etty«, sagte ich. »Ich bleibe hier und warte auf den Tierarzt.«

»Gut«, sagte sie. Wahrscheinlich hatte dieser Vorschlag ihr schon selbst auf der Zunge gelegen. Diese Arbeitsteilung war nur vernünftig, denn die Pferde waren schon gut durchtrainiert, die nächste Rennsaison stand vor der Tür, und sie wußte besser als ich, was für die Tiere auf dem Programm stand.

Sie winkte George heran, damit er Moonrocks Halfter übernahm und ihn weiter ruhighielt. Zu mir sagte sie, als sie aus der Box trat: »Was halten Sie von diesem Frost? Es dürfte wohl bald tauen.«

»Bring die Pferde rüber zum Warren Hill und entscheide selbst, ob ihr sie galoppieren lassen könnt.«

Sie nickte. »Mach’ ich.« Dann warf sie noch einen letzten Blick auf Moonrock, und für einen kurzen Moment legte sich ein weicher Zug um ihren Mund. »Mr.Griffon wird traurig sein.«

»Ich werde ihm nichts davon erzählen.«

»Hm.« Mit einem knappen, geschäftsmäßigen Lächeln ging [31]sie hinaus auf den Hof, eine kleine, schlanke Gestalt, unerschrocken und kompetent.