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Dick Francis

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Beschreibung

James Tyrone ist Sportreporter eines englischen Massenblattes und spezialisiert auf Pferderennen: ein Mann mit eisernen Nerven. Doch ist er internationalen Wettbetrügern gewachsen?

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Dick Francis

Hilflos

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Diogenes

{5}1

Der Brief von Tally kam an dem Tag, an dem Bert Checkov starb. Er sah ganz harmlos aus; bloß eine Einladung von einem Hochglanzmagazin, einen Artikel über den Lamplighter Gold Cup zu schreiben. Ich schnippte ihn über den Schreibtisch zum Ressortleiter und öffnete weiter die Post, die sich freitags immer bei mir häufte. Luke-John Morton grunzte, streckte träge die Hand aus und blinzelte geistesabwesend, während er seinem offenbar ungemein redseligen Gesprächspartner am Telefon lauschte.

»Ja … ja. Laß die Fetzen fliegen«, sagte er.

Die Fetzen fliegen zu lassen war oberster Leitsatz der Sunday Blaze, einem Muster an Kaltherzigkeit. Warum ich nicht für die Sunday Times schrieb, wollte meine Schwiegermutter ständig wissen, anstatt für ein Schmierblatt wie die Sunday Blaze. Weil man dort keine Verwendung für mich hatte, darum. Für sie war das kein Argument, und sie entschuldigte sich weiter bei sämtlichen Bekannten für meine Arbeit, wenn sie das Thema nicht mit Schweigen übergehen konnte. Daß die Blaze achtundzwanzig Prozent mehr bezahlte als die Times und daß ihre Tochter einiges kostete, übersah sie geflissentlich.

Ich schlitzte einen billigen braunen Umschlag auf und erfuhr, daß irgendein Spinner fand, nur ein fieser, skrupelloser Saukerl wie ich könne an dem Mann, den ich letzten Sonntag verteidigt hatte, irgend etwas Gutes finden. Der Brief war auf Klopapier geschrieben und troff förmlich vor Gehässigkeit. Über meine Schulter gebeugt, las Derry Clark mit und lachte.

»Hab dir ja gleich gesagt, einige würden sich auf den Schwanz getreten fühlen.«

{6}»Was tut man nicht alles für ein unruhiges Leben«, meinte ich.

Derry schrieb jede Woche seine bedächtigen, unverfänglichen Rennberichte und überließ die Glaubenskriege und die heißen Eisen prinzipiell mir. Mein Kreuz, behauptete er ständig, sei breiter als seines.

Acht weitere Leserbriefschreiber, so stellte sich heraus, dachten wie er. Alle anonym, selbstverständlich. Ihre Probleme, überlegte ich, während ich ihre Ergüsse in den Papierkorb warf, waren noch größer als meine.

»Wie geht’s deiner Frau?« fragte Derry.

»Gut, danke.«

Er nickte, ohne mich anzusehen. Er hatte es nie geschafft, sich ohne Verlegenheit nach Elizabeth zu erkundigen. Manche Leute reagierten eben so.

Luke-Johns Gespräch näherte sich dem Ende. »Klar … klar. Telefonier’s bis spätestens sechs durch.« Er legte auf und konzentrierte sich auf meinen Brief von Tally, den sein Blick mit professioneller Geschwindigkeit überflog.

»Eine Studie mit Tiefgang … wie diese schicken Blätter dieses Wort lieben. Hast du denn Lust dazu?«

»Wenn das Honorar stimmt.«

»Ich dachte, du wärst noch immer als Ghostwriter von Buster Figgs Autobiographie zugange.«

»Ich hänge in Kapitel sechs fest. Er ist auf die Bahamas abgedüst und hat mir kein Material dagelassen.«

»Wie weit bist du denn mit seiner popeligen Vita?«

»Beim Ende seiner Lehrzeit und seinem ersten Sieg in einem klassischen Rennen.«

»Meinst du, so was verkauft sich?«

»Keine Ahnung.« Ich seufzte. »Alles, was ihn interessiert, ist Geld, und bei manchen Rennen erinnert er sich nur noch an die Eventualquote. Er hat Tausende gewettet. Und er besteht darauf, daß ich seine dicksten Wetten mit hereinnehme. Er sagt, jetzt, wo {7}er pensioniert ist, können sie ihm seine Lizenz nicht mehr wegnehmen.«

Luke-John schniefte, rieb sich mit der von Sommersprossen übersäten Hand die stark hervortretenden Sehnen seines mageren Halses, massierte seinen walnußgroßen Kehlkopf und senkte die schweren Augenlider, während er über den Brief von Tally nachdachte. Mein Vertrag mit der Blaze war ziemlich restriktiv: Bücher waren o.k., aber ich durfte ohne Luke-Johns Genehmigung – die ich meist nicht bekam – keine Artikel für andere Zeitungen oder Zeitschriften schreiben.

Derry drängte mich von seinem Schreibtischstuhl und setzte sich selbst darauf. Da ich nur freitags in der Redaktion auftauchte, stand mir kein eigener Schreibtisch zu, so daß ich jedesmal den meines jüngeren Kollegen usurpierte, wenn er gerade nicht hinsah. Derrys Schreibtisch enthielt in den obersten drei Schubladen eine stattliche Sammlung von Rennberichten, sozusagen seine Handbibliothek, und in der untersten eine halbe Flasche Wodka, zweihundert Bennys und einen Katalog pornographischer Filme. Letztere waren nur Staffage. Sie stellten den abgebrühten Burschen dar, der Derry gern sein wollte, nicht den maßvollen, zurückhaltenden und eher spießigen Mann, der er war.

Ich setzte mich auf die Schreibtischkante und besah mir den Freitagmorgenbetrieb, einen Viertelmorgen Schreibmaschinen und Telefone, die auf halber Kraft liefen, während die Woche dem Samstag entgegenstrebte. Dienstags war die Redaktion wie ausgestorben: samstags summte sie wie ein mit DDT besprühter Fliegenschwarm. Freitags fühlte ich mich ihr zugehörig. Samstags ging ich zu den Rennen. Sonntags und montags hatte ich offiziell frei. Dienstag bis Donnerstag dachte ich mir irgendein faszinierendes Thema aus und schrieb darüber. Freitags lieferte ich ab, so daß Luke-John und der Chefredakteur es lesen und absegnen konnten.

{8}Ergebnis: eintausend Wörter die Woche, ein Stapel Schmähbriefe und ein saftiger Scheck, der meine Ausgaben nicht deckte.

Luke-John sagte: »Wer macht das Lamplighter, du oder Derry?«

Ohne mir eine Sekunde Zeit zum Überlegen zu geben, sagte Derry: »Ich.«

»Bist du einverstanden, Ty?« fragte Luke-John skeptisch.

»Klar doch«, sagte ich. »Ist ein kompliziertes Handicap. Genau seine Kragenweite.«

Luke-John schürzte die schmalen Lippen und sagte mit ungewöhnlicher Großzügigkeit: »Tally schreibt, sie wollen Hintergrundinformationen, keine Tips … Ich wüßte nicht, warum du das nicht machen solltest, wenn du Lust hast.«

Er kritzelte ein großes OK unten auf die Seite und setzte seine Unterschrift daneben. »Aber wenn du irgendwelchen Dreck ausbuddelst«, fügte er hinzu, »reservierst du ihn natürlich für uns.«

Donnerwetter, wie großzügig, dachte ich ironisch. Luke-Johns Seele gehörte der Blaze, und sein schlichter Prüfstein für sämtliche Entscheidungen war: »Könnte es der Zeitung möglicherweise direkt oder indirekt von Nutzen sein?« Jeder Angehörige der Sportredaktion war irgendwann einmal bedenkenlos auf seinem Altar geopfert worden. Verschobene Ferien, geplatzte Verabredungen, entgangene Gelegenheiten waren ihm vollkommen egal.

»Klar«, sagte ich sanft. »Und danke.«

»Wie geht’s deiner Frau?« fragte er.

»Gut, danke.«

Er erkundigte sich grundsätzlich jede Woche. Er konnte durchaus höflich sein, wenn es die Blaze nichts kostete. Vielleicht interessierte es ihn ja wirklich. Vielleicht interessierte es ihn aber auch nur deshalb, weil meine Arbeit litt, wenn es meiner Frau nicht »gut« ging.

Ich schnappte mir Derrys Telefon und wählte.

»Redaktion Tally, was kann ich für Sie tun?« Eine {9}Mädchenstimme, sehr sanft, sehr gestelzt (typisch West Kensington) und gelangweilt.

»Ich möchte gern Arnold Shankerton sprechen.«

»Wer ist am Apparat?«

»James Tyrone.«

»Einen Moment, bitte.« Klickgeräusche und kurzes Schweigen. »Ich stelle Sie durch.«

Eine ebenso sanfte, höchst kultivierte Tenorstimme stellte sich als Arnold Shankerton, Features, vor. Ich bedankte mich für seinen Brief und sagte, daß ich den Auftrag gern übernehmen würde. Er meinte in einigermaßen erfreutem Ton, das sei schön, und ich fügte freundlich hinzu: »Natürlich nur, wenn wir uns über das Honorar einig werden.«

»Natürlich«, räumte er ein. »Was hatten Sie sich denn vorgestellt?«

Denk dir eine Zahl aus und verdopple sie. »Zweihundert Guinees, plus Spesen.«

Luke-Johns Augenbrauen hoben sich, und Derry sagte: »Da mußt du aber Schwein haben.«

»Unsere Gewinnspanne ist gering«, gab Shankerton in leicht klagendem Ton zu bedenken. »Hundert ist die absolute Höchstgrenze.«

»Ich zahle zu viele Steuern.«

Ein tiefer Seufzer kam über die Leitung. »Also gut, hundertfünfzig. Aber dafür muß es gut sein.«

»Ich tue mein Bestes.«

»Ihr Bestes«, sagte er, »würde die Zeitung nicht verkraften. Wir wollen den Stil und die Sachkenntnis, aber nicht die Skandalgeschichten, in Ordnung?«

»In Ordnung«, stimmte ich zu. Ich war nicht gekränkt. »Wie viele Wörter?«

»Es ist das Hauptfeature, also sagen wir, so um die dreitausendf ünfhundert.«

{10}»Wie steht’s mit Fotos?«

»Sie können einen von unseren Fotografen haben, wenn Sie soweit sind. Natürlich nur, solange es sich in Grenzen hält.«

»Natürlich«, sagte ich höflich. »Bis wann wollen Sie’s haben?«

»Wir gehen mit dieser Nummer am – Moment – am zwanzigsten November in Druck. Also bräuchten wir Ihren Artikel bis spätestens siebzehnten vormittags. Aber je früher, desto besser.«

Ich warf einen Blick auf Derrys Kalender. Zehn Tage bis zum siebzehnten.

»In Ordnung.«

»Und wenn Sie sich überlegt haben, wie Sie die Sache angehen, dann schicken Sie uns ein Exposé.«

»Mach ich«, sagte ich, aber ich dachte nicht daran. Mit Exposés handelte man sich nur Ärger in Form von Änderungen des Chefredakteurs ein. Shankerton konnte – und würde – nach Herzenslust an dem fertigen Artikel herumschnippeln, aber ich hatte etwas dagegen, daß er schon den Embryo mit seiner Schere traktierte. Luke-John ließ den Brief zu mir zurücksegeln, und Derry griff danach, um ihn zu lesen.

»Mit Tiefgang«, sagte er sarkastisch. »Das müßte dir eigentlich liegen; du bist es ja gewöhnt, tief zu bohren.«

»Ja«, stimmte ich geistesabwesend zu. Was war eigentlich Tiefgang im Wert von hundertfünfzig Guinees?

Ich faßte spontan den Entschluß, daß Tiefgang in diesem Fall die Leute im Hintergrund bedeutete, nicht die Stars.

Die Stars hatten Woche für Woche die Schlagzeilen gepachtet. Die Leute im Hintergrund hatten keinen Nachrichtenwert. Ich würde ausnahmsweise mal die Rollen vertauschen.

Spontane Entschlüsse hatten mich schon ein-, zweimal in die Klemme gebracht. Trotzdem blieb ich dabei. Die Klemme, in die ich dadurch geraten sollte, war von allen die dickste.

 

{11}Derry, Luke-John und ich machten kurz nach eins Mittag, gingen in leichtem Nieselregen die Straße hinunter und drängelten uns in die Bar des Devereux in Devereux Court, gegenüber vom Gericht.

Dort trafen wir auf Bert Checkov, der versuchte, seine stinkende alte Pfeife in Gang zu bringen, und sich dabei die Finger an den Streichhölzern verbrannte. Der formlose Tweed, der seine massige Gestalt umhüllte, war wie üblich mit Asche bestreut, und wie üblich waren seine Schuhspitzen abgestoßen und grau. Die verwaschenen blauen Augen waren glasiger, als es um halb zwei normalerweise der Fall war: etwa eine Stunde glasiger, grob geschätzt. Er hatte früh angefangen.

Luke-John sprach ihn an, und er glotzte dumpf zurück. Derry bestellte uns drei kleine Bier und fragte Bert aus Höflichkeit, ob er auch eins wolle, obwohl er ihn noch nie hatte leiden können.

»Doppel’n Scotch«, nuschelte Bert, und Derry dachte an seine Hypotheken und runzelte die Stirn.

»Wie geht’s denn so?« fragte ich. Ich wußte, daß auch das ein Fehler war. Checkovs Gemecker nahm nie ein Ende.

Diesmal allerdings war der Strom ausnahmsweise eingedämmt. Der wäßrige Blick konzentrierte sich mit Mühe auf mich, und ein weiteres Streichholz verbrutzelte ihm die Haut. Er schien es gar nicht wahrzunehmen.

»Ge’ dir’n gu’n Rat«, sagte er, aber damit endete der Text auch schon. Er behielt den guten Rat für sich.

»So? Was denn?«

»Gu’n Rat.« Er nickte feierlich.

Luke-John verdrehte entnervt die Augen zur Decke, aber das war nur gespielt, denn für alte Hasen wie Bert empfand er eine grenzenlose Hochachtung, der keine noch so große Menge Alkohol Abbruch tun konnte.

»Na, sag schon«, meinte Luke-John. »Einen guten Rat kann er immer gebrauchen.«

Der Checkovsche Blick schlingerte von mir zu meinem Boß. {12}Der Checkovsche Mund rülpste hemmungslos. Derrys blasses Gesicht verzog sich pikiert, und Checkov bekam es mit. Als fröhliche Mittagspause nicht gerade ein Erfolg. Ein Freitag wie jeder andere, dachte ich, aber da war ich im Irrtum. Bert Checkov hatte noch weniger als eine Stunde zu leben.

Luke-John, Derry und ich setzten uns an die Bar und aßen kalten Braten mit Silberzwiebeln, während Bert Checkov schwankend hinter uns stand und uns Pfeifenrauch und Whiskydunst in den Nacken blies. Statt des üblichen, ununterbrochenen, wirren Gemosers, an das wir gewöhnt waren, bekamen wir nur dann und wann ein Grunzen zu hören, die vernehmliche Interpunktion des Checkovschen inneren Monologs.

Irgend etwas beschäftigte ihn. Es interessierte mich nicht so sehr, daß ich nachgefragt hätte. Ich hatte genug eigene Probleme.

Luke-John bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick und einem weiteren Whisky, und der Alkohol überspülte die fahlblauen Augen wie eine Flut, die stecknadelkopfgroße Pupillen und einen Ausdruck blanken Stumpfsinns zur Folge hatte.

»Ich bringe ihn in seine Redaktion zurück«, sagte ich abrupt. »Wenn er allein geht, kommt er noch unter einen Bus.«

»Geschähe ihm recht«, murmelte Derry, sorgsam darauf bedacht, daß Luke-John nichts hörte.

Wir beendeten unseren Lunch mit Käse und einem weiteren Bier. Checkov schlingerte zur Seite und kippte mein Glas über Derrys Knie und den Kneipenteppich. Der Teppich nahm das nicht weiter krumm, was man von Derry nicht behaupten konnte. Luke-John zuckte resigniert und halb belustigt die Achseln, und ich kippte den Rest meines Biers in einem Zug hinunter und bugsierte Bert Checkov zwischen den Gästen hindurch auf die Straße.

»Es ist noch nicht Feierabend«, sagte er deutlich artikuliert.

»Für dich schon, mein Alter.«

Er torkelte gegen die Wand und wedelte fahrig mit der Pfeife herum. »In Kneipen muß man drinbleiben, solange nicht {13}Feierabend ist. An Storys muß man dranbleiben, solange sie heiß sind. Und Weibern muß man treu bleiben, solange man nichts Besseres findet. Sätze und Röcke müssen kurz sein, Titten und Fasanen müssen abhängen.«

»Klar«, sagte ich seufzend. Toller Rat.

Ich nahm seinen Arm, und er folgte mir durchaus willig den Bürgersteig der Fleet Street entlang. Sein Getorkel Richtung City zog zwar den einen oder anderen Blick auf sich, führte aber nicht zu Kollisionen. Untergehakt überquerten wir die Straße, als der Verkehr kurz nachließ, und gingen an den weitherzigen Fronten des Telegraph und des schwarz verglasten Express weiter ostwärts. Die Fleet Street hatte schon alles gesehen: Ein älterer Sportjournalist, der angetüddelt vom Lunch zurückbegleitet wurde, hatte keinerlei Nachrichtenwert.

»Einen guten Rat«, sagte er plötzlich und blieb wie angewurzelt stehen. »Einen guten Rat.«

»Ja?« sagte ich geduldig.

Er blinzelte ungefähr in meine Richtung.

»Wir sind schon an der Blaze vorbei.«

»Ja.«

Er machte Anstalten, umzukehren und denselben Weg zurückzugehen.

»Ich habe am Ludgate Circus was zu erledigen. Heute hab ich mal den gleichen Weg wie du«, sagte ich.

»Ach ja?« Er nickte fahrig, und wir taperten weiter, aber nur zehn Schritte. Dann blieb er wieder stehen.

»Guten Rat.«

Er blickte geradeaus, aber ich bin sicher, er nahm überhaupt nichts wahr. Keine geschäftige Straße. Nichts als das, was sich in seinem Kopf abspielte.

Ich hatte es satt, auf seinen guten Rat zu warten, mit dem es allem Anschein nach sowieso nichts wurde. Es hatte wieder zu nieseln begonnen. Ich nahm ihn am Arm, um ihn die letzten fünfzig {14}Meter bis zum protzigen Portal seiner Zeitung weiterzuzerren, aber er rührte sich nicht.

»Berühmte letzte Worte«, sagte er.

»Von wem?«

»Von mir, natürlich. Berühmte letzte Worte. Ein guter Rat.«

»Ach so, klar.« Ich seufzte. »Wir werden naß.«

»Ich bin nicht besoffen.«

»Nein.«

»Ich könnte jederzeit meine Kolumne schreiben. Jetzt, in diesem Augenblick.«

»Klar.«

Er torkelte plötzlich los, und wir schafften es bis zum Portal seiner Zeitung. Drei Stufen, und er wäre am Ziel und im Trockenen.

Er blieb unsicher schwankend im Eingang stehen. Die fahlen blauen Augen mühten sich redlich, aber ohne Aussicht auf Erfolg, nüchtern zu werden.

»Wenn dir jemand damit kommt«, sagte er schließlich, »dann tu’s nicht.«

»Was soll ich nicht tun?«

Ein besorgter Ausdruck huschte über sein bleiches, feistes Gesicht. Seine Nase war voller Mitesser, seine Wangen zierten kurze, schwarze Bartstoppeln. Er schob eine Hand in seine Jackettasche, und die Besorgnis verwandelte sich in Erleichterung, als er sie mit einer Flasche Scotch wieder herauszog.

»Schon Angs’ gehabt, ich hättse vergessen«, nuschelte er.

»Also bis dann, Bert.«

»Vergiß es nicht«, sagte er. »Den guten Rat.«

»Bestimmt nicht.« Ich drehte mich um.

»Ty?«

Allmählich reichte es mir. »Was?«

»Ich weiß, du würdest dich nie auf so was einlassen – aber manchmal kriegen gerade die Stärksten die schlimmsten {15}Prügel … im Ring, meine ich … weil sie nie wissen, wann sie genug haben …«

Er beugte sich plötzlich vor und packte mich am Mantel. Whiskydunst kroch mir in die Nase, und ich spürte durch die feuchte Luft seinen heißen Atem.

»Wegen deiner Frau bist du doch ständig pleite. Luke-John hat’s mir erzählt. Immer total abgebrannt. Tu’s trotzdem nicht … verkauf nicht deine Seele, verdammte Scheiße …«

»Werd mir Mühe geben«, sagte ich entnervt, aber er hörte gar nicht zu.

Mit der verzweifelten Heftigkeit des Betrunkenen sagte er: »Zuerst kaufen sie dich, und dann erpressen sie dich …«

»Wer?«

»Weiß nicht … Verkauf – verkauf deine Kolumne nicht.«

»Nein«, seufzte ich.

»Ich mein’s ernst.« Er schob sein Gesicht noch näher heran. »Verkauf nie deine Kolumne.«

»Bert, hast du deine verkauft?«

Da machte er dicht. Er löste sich mühsam von mir und schwankte wieder vor sich hin. Dann blinzelte er mir zu, die groteske Karikatur eines Blinzelns.

»Guter Rat«, sagte er nickend. Er machte auf Gummibeinen kehrt und wankte in einer Schlangenlinie durch die Eingangshalle zum Fahrstuhl. Drinnen drehte er sich um, und ich sah ihn dort im Licht stehen, wie er die Flasche umklammert hielt und unentwegt »Guter Rat, guter Rat« vor sich hin sagte.

Die schweren Türen schoben sich vor ihm zu. Ein wenig verwirrt machte ich mich achselzuckend auf den Rückweg zur Blaze. Fünfzig Meter weiter schaute ich bei den Leuten herein, die meine Schreibmaschine warteten, und fragte, ob sie schon fertig sei. Sie war es nicht. Ich sollte Montag noch einmal nachfragen.

Als ich wieder auf die Straße hinaustrat, schrie eine Frau.

Köpfe drehten sich. Der schrille, gequälte Laut durchdrang das {16}Dröhnen der Räder und übertönte mühelos das Gehupe der Autos. Wie alle anderen hielt ich nach der Ursache Ausschau.

Fünfzig Meter weiter bildete sich auf dem Bürgersteig rasch eine Menschentraube, und ich überlegte, daß gerade dort in Sekundenschnelle scharenweise gestandene Reporter an Ort und Stelle sein würden. Trotzdem ging ich hin. Zurück zum Portal von Berts Zeitung und ein paar Schritte weiter.

Auf dem Bürgersteig lag Bert. Eindeutig tot. Auf den Platten um ihn herum glitzerten die Scherben seiner Whiskyflasche, und der scharfe Geruch des vergossenen Alkohols mischte sich auf beklemmende Weise mit den alles durchdringenden Abgasen.

»Er ist heruntergefallen. Er ist heruntergefallen.« Die schreiende Frau war am Rande der Hysterie und konnte einfach nicht still sein. »Er ist heruntergefallen. Ich hab’s gesehen. Von da oben. Er ist heruntergefallen.«

 

Luke-John sagte mehrmals »Mein Gott«; er wirkte arg mitgenommen. Derry kippte ein ganzes Päckchen Büroklammern auf seinem Schreibtisch aus und sammelte sie dann geistesabwesend Stück für Stück wieder ein.

»Bist du sicher, daß er tot war?«

»Sein Büro liegt im siebten Stock.«

»Ja.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Armer alter Kerl.« Nil nisi bene. Ein deutlicher Meinungsumschwung.

Luke-John blickte aus dem Fenster der Blaze auf die Straße hinunter. Die zerschmetterten Überreste von Bert Checkov waren dezenterweise entfernt, der Bürgersteig gereinigt worden. Ahnungslos trampelten die Passanten über die Stelle hinweg, wo er gestorben war.

»Er war betrunken«, sagte Luke-John. »Und zwar schlimmer als sonst.«

Er und Derry machten sich halbherzig an die Nachmittagsarbeit. Für mich bestand eigentlich kein Grund mehr zu bleiben, {17}da der Chefredakteur meinen Artikel abgesegnet hatte, aber ich hatte einfach noch keine Lust zu gehen und drückte mich noch ein, zwei Stunden in der Redaktion herum.

In Berts Büro hatte es geheißen, er sei sternhagelvoll vom Lunch zurückgekommen und einfach aus dem Fenster gefallen. Zwei Sekretärinnen hatten es gesehen. Er habe einen Schluck aus der Whiskyflasche genommen, sei plötzlich gegen das nach außen aufschwingende Fenster getaumelt und hinausgefallen. Die Fensterbank befand sich in Hüfthöhe – kein Hindernis für jemanden, der so betrunken war wie Bert.

Ich erinnerte mich daran, welche Verzweiflung durch den guten Rat hindurchgeklungen war, den er mir gegeben hatte.

Und ich machte mir so meine Gedanken.

{18}2

Dreierlei stach einem bei dem Mädchen, das mir die im Neotudorstil gehaltene Tür öffnete, auf Anhieb ins Auge. Erstens ihre Selbstsicherheit, zweitens ihr Modegeschmack und drittens ihre Hautfarbe. Sie hatte honigfarbene Haut, große schwarze Augen und einen üppigen Schopf glänzender, schulterlanger schwarzer Haare. Eine etwas breite Nase und ein dazu passender Mund vervollkommneten die Gesamtwirkung, zu der sich afrikanische und europäische Elemente auf höchst geglückte Weise verbanden.

»Guten Tag«, sagte ich. »Ich bin James Tyrone. Ich habe angerufen.«

»Kommen Sie rein«, meinte sie nickend. »Harry und Sarah müßten jeden Moment zurückkommen.«

»Sind die beiden immer noch auf dem Golfplatz?«

»Mhm.« Sie drehte sich mit leichtem Lächeln um und bat mich mit einer Handbewegung ins Haus. »Sind vermutlich noch nicht mit dem Lunch fertig.«

Es war fünf nach halb vier. Warum nicht?

Sie führte mich durch die Halle (auf Hochglanz gebohnertes Parkett, sorgfältig arrangierte Blumen, Schirmständer aus Leder mit Ziernägeln) in ein Wohnzimmer, in dem Chintz und Chrysanthemen vorherrschten. Sämtliche Fenster des Hauses bestanden aus unzähligen bleigefaßten Glasrauten, was ganz sinnvoll gewesen sein mochte, solange man Glas nur in zwanzig Quadratzentimeter großen Plättchen herstellen konnte, die man entsprechend zusammenfügen mußte. Die moderne Imitation trübte das Licht und den Ausblick und mußte einen Fensterputzer schier wahnsinnig machen. Harry und Sarah hatten sich außerdem für {19}freiliegende dunkle Eichenbalken mit maschinell eingekerbten Beitelspuren entschieden. Das einzige Bild an der Wand stand dazu in schreiendem Kontrast: ein modernes abstraktes Gemälde von irgendeiner kosmischen Explosion, deren Farben in Klumpen aufgetragen waren.

»Nehmen Sie Platz.« Sie wies mit anmutiger Bewegung auf ein dick gepolstertes Sofa. »Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Nein, danke.«

»Trinken Journalisten nicht den ganzen Tag?«

»Wenn man trinkt und schreibt, kommt nicht allzu viel dabei heraus.«

»Ganz recht«, sagte sie. »Dylan Thomas hat einmal gesagt, er müsse stocknüchtern sein, wenn er etwas Vernünftiges schreiben wolle.«

»Thomas ist eine andere Gewichtsklasse«, sagte ich lächelnd.

»Aber das Prinzip ist das gleiche.«

»Durchaus.«

Sie musterte mich ausgiebig, den Kopf leicht zur Seite geneigt, den schlanken, reglosen Körper von den Falten des grünen Kleides umflossen. Phantastische Beine in topmodischen Strümpfen endeten in grünen Lackschuhen mit Goldschnallen, und das einzige andere Accessoire war eine goldene Armbanduhr mit breitem Band am linken Handgelenk.

»Sie werden mich wiedererkennen«, sagte sie.

Ich nickte. Ihr Körper in dem grünen Kleid bewegte sich fast unmerklich.

»Und ich Sie auch«, sagte sie langsam und vieldeutig.

Stimme, Gesicht und Verhalten waren völlig gelassen. Vielleicht hatte ich mir das kurze Aufblitzen intensiver sexueller Spannung nur eingebildet. In ihrer nächsten Bemerkung jedenfalls schwang keinerlei Unterton und keinerlei Aufforderung mit.

»Mögen Sie eigentlich Pferde?«

{20}»Ja«, sagte ich.

»Bis vor sechs Monaten hätte ich noch gesagt, daß mich kein Mensch je zu einem Pferderennen bringt.«

»Aber jetzt gehen Sie hin?«

»Seit Harry bei dieser Tombola Egocentric gewonnen hat, hat sich hier bei uns einiges geändert.«

»Genau darüber möchte ich schreiben«, sagte ich.

Ich war für Tally unterwegs, Hintergrundmaterial für das Lamplighter zu sammeln, und in diesem Moment kamen Harry und Sarah Hunterson – die untypischen Rennpferdbesitzer, für die ich mich entschieden hatte – von ihrem Lunch auf dem Golfplatz zurück; mit ihnen wehte eine Brise aus frischer Luft, teurem Zigarrenrauch und halbverdautem Gin ins Zimmer.

Harry war ein großer, autoritätsgewohnter Sechziger mit polterndem Charme und ein unerschütterlicher Tory. Ich vermutete, daß er den Telegraph las und einen Dreiliter-Jaguar fuhr – mit Automatik, selbstverständlich. Er schüttelte mir herzhaft die Hand und gab seiner Freude darüber Ausdruck, daß seine Nichte sich meiner angenommen habe.

»Ja, danke.«

Sarah meinte: »Gail, Liebes, du hast Mr. Tyrone ja gar nichts zu trinken angeboten.«

»Er wollte nichts.«

In den kultivierten Stimmen der beiden Frauen lag kühle Höflichkeit. Sarah mußte etwa dreißig Jahre älter sein, hatte sich aber alle Mühe gegeben, die Natur in Schach zu halten. Alles an ihr wirkte sorgfältig arrangiert, von der sanftgoldenen Tönung ihres Haars über das rostrote Kleid bis zu den derben braunen Golfschuhen. Ihre gut erhaltene Figur verdankte sie großenteils der Trinkerdiät, und nur eine schlaffe Hauttasche unterm Kinn verriet ihr tatsächliches Alter. Außer um die Augen hatten Golf oder Gin nirgendwo Fältchen gegraben. Ihr Mund war immer noch voll und gut geschnitten. Die Verpackung war gut genug, um {21}Hoffnungen auf einen funkelnden Geist zu wecken, aber die zerschlugen sich bald. Sarah war aus einem Guß, ihre Meinungen und Ansichten waren ebenso proper, wohlgeordnet und phantasielos wie ihr Haus.

Harry stand noch ganz unter dem Eindruck des neunzehnten Lochs und war leicht zu interviewen.

»Tja, ich habe auf dem Ball des Golfklubs dieses Los gekauft. Irgendwer hat sie dort verkauft, ein entfernter Bekannter, und ich habe ihm ein Pfund gegeben. Sie wissen ja, wie das auf so einem Ball ist. Für wohltätige Zwecke, hat er gesagt. Ich fand ein Pfund ein bißchen üppig für ein Los, auch wenn es ein Pferd zu gewinnen gab. Obwohl ich beileibe kein Pferd wollte, kein Gedanke. Und dann habe ich das verdammte Vieh doch tatsächlich gewonnen. Kleines Problem, wie? Wenn man plötzlich ein Pferd auf dem Buckel hat.« Er lachte und erwartete offenbar Beifall für seinen kleinen Scherz.

Ich tat ihm den Gefallen. Sarah und Gail machten beide ein Gesicht, als hätten sie ihn schon so oft »Pferd auf dem Buckel« sagen hören, daß sie jede Wiederholung nur noch zähneknirschend ertrugen.

»Wären Sie so nett, mir etwas über Ihre Herkunft und Ihren Werdegang zu erzählen?« fragte ich.

»Lebensgeschichte, wie?« Er lachte laut und blickte Zustimmung heischend von Sarah zu Gail. Sein Kopf sah auf etwas grobschlächtige Weise recht gut aus und war nur um den Hals eine Idee zu feist. Die tiefgebräunte Halbglatze und der sorgfältig gestutzte Schnurrbart standen ihm. Geplatzte Äderchen bildeten runde Farbtupfer auf seinen Wangen. »Lebensgeschichte«, wiederholte er. »Wo soll ich anfangen?«

»Bei Ihrer Geburt«, sagte ich, »und von da erzählen Sie einfach weiter.«

Nur Berühmtheiten, die es schon zu oft getan haben, oder extrem introvertierte oder völlig sture Menschen können einer {22}solchen Aufforderung widerstehen. Harry bekam leuchtende Augen und legte begeistert los.

Er war in einem Vorort in Surrey geboren, in einem alleinstehenden Haus, das nur ein, zwei Nummern kleiner war als das, welches er jetzt besaß. Er hatte eine Tagesschule und später eine unbedeutende Public School besucht, und die Armee hatte ihn abgelehnt, weil er gleich nach dem Abgang von der Schule Rippenfellentzündung bekommen hatte. Er trat eine Stelle in der City an, in einer Finanzgesellschaft, wo er vom kleinen Angestellten zum Direktor aufstieg und dabei hie und da kleine Informationsschnipsel nutzte, um an der Börse bescheidene Kapitalgewinne zu erzielen. Nichts Anrüchiges, nichts Gewagtes: nur soviel, daß er nach der Pensionierung seinen Lebensstandard halten konnte.

Er heiratete mit vierundzwanzig. Fünf Jahre später kamen seine Frau, seine dreijährige Tochter und seine verwitwete Mutter ums Leben, als ein Lastwagen sein Auto rammte. Danach hatte sich Harry, ein sehr gefragter Gast auf Dinnerparties, fünfzehn Jahre lang »umgetan«. Dann lernte er in irgendeinem Büro der Konservativen, wo sie als freiwillige Helfer Postwurfsendungen für eine Nachwahl adressierten, Sarah kennen, und sie hatten drei Monate später geheiratet. Aus dem selbstbewußten Dröhnen des erfolgreichen Harry war noch ein Nachhall seines Motivs für diese zweite Ehe herauszuhören: Harry hatte sich allmählich einsam gefühlt.

Verglichen mit anderen, war Harrys Leben ereignislos verlaufen. Kein Material für die Blaze in dem, was er mir erzählte, und herzlich wenig für Tally. Resigniert fragte ich ihn, ob er vorhabe, Egocentric endgültig zu behalten.

»Doch, ja, ich glaube schon«, sagte er. »Unsere Einstellung dazu hat sich sehr geändert.«

»In welcher Hinsicht?«

»Es kitzelt ihr Selbstwertgefühl«, sagte Gail kühl. »Sie können in Kneipen damit angeben.«

{23}Wir alle sahen sie an. Sie war dermaßen beherrscht, daß ich nicht erkennen konnte, ob ihre Bemerkung bösartig oder scherzhaft gemeint war; nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war sich auch ihr Onkel nicht darüber im klaren. Allerdings hatte sie fraglos den Nagel auf den Kopf getroffen, und Sarah bestrafte sie gekonnt dafür.

»Gail, Liebes, wärst du so nett, uns Tee zu machen?«

Gail war deutlich anzumerken, daß ihr das äußerst zuwider war. Aber sie stand demonstrativ gemächlich auf und ging hinaus.

»Ein liebes Mädchen«, sagte Sarah. »Manchmal vielleicht ein bißchen anstrengend.« Die Unaufrichtigkeit nahm ihrem Lächeln alle Wärme, und sie hielt es für nötig, weiterzureden, eine Erklärung abzugeben, mit der sie meiner Vermutung nach jeden Fremden bei der erstbesten Gelegenheit überfiel.

»Harrys Schwester hat einen Rechtsanwalt geheiratet – ein ungemein kluger Mann – nur eben leider – Afrikaner.«

»Aha«, sagte ich.

»Natürlich mögen wir Gail sehr. Als die Heimat von Gails Vater unabhängig wurde, sind ihre Eltern dorthin zurückgekehrt, aber Gail ist in England geboren und wollte hierbleiben, und deshalb haben wir … deshalb wohnt sie hier bei uns.«

»Aha«, sagte ich noch mal. »Das muß sehr schön für sie sein.«

Traurig, dachte ich, daß sie es überhaupt für nötig hielt, das zu erklären. Gail hatte es nicht nötig.

»Sie unterrichtet an einer Kunstschule in Victoria«, fügte Harry hinzu. »Modezeichnen.«

»Modedesign«, verbesserte ihn Sarah. »Sie ist wirklich sehr begabt. Ihre Schüler gewinnen Preise und so weiter.« In ihrer Stimme schwang nun, da die Situation geklärt war, Erleichterung mit, und sie war bereit, großzügig zu sein. Angesichts der tief in ihr verwurzelten Vorurteile, unter denen sie offenkundig schon lange litt, mußte man gerechterweise sagen, daß ihre Mühe von Erfolg gekrönt war. Bloß schade, daß man ihr die Mühe anmerkte.

{24}»Und Sie?« fragte ich. »Wie sieht Ihr Leben aus? Und was halten Sie von Egocentric?«

Ihre Lebensgeschichte, meinte sie in entschuldigendem Ton, sei nicht so interessant wie die Harrys. Ihr erster Mann, ein Optiker, sei, ein Jahr bevor sie Harry kennenlernte, gestorben, und sie sei, von einigen kurzen Erfahrungen mit ehrenamtlicher Arbeit abgesehen, eigentlich immer Hausfrau gewesen. Sie freue sich, daß Harry das Pferd gewonnen hatte, es gefalle ihr, als Besitzerin zu den Rennen zu gehen, sie finde es aufregend zu wetten, setze aber normalerweise nur zehn Shilling, und ihr und Gail habe es großen Spaß gemacht, Harrys Rennfarben zu entwerfen.

»Wie sehen die denn aus?«

»Weiß mit scharlachroten und türkisfarbenen Fragezeichen, dazu türkisfarbene Ärmel und eine rote Mütze.«

»Hört sich gut an«, sagte ich lächelnd. »Ich werde darauf achten.«

Harry meinte, sein Trainer wolle vor dem Lamplighter noch ein Rennen für Egocentric einschieben, vielleicht könne ich ihn mir bei dieser Gelegenheit ansehen. Vielleicht, sagte ich, und Gail brachte den Tee.

Harry und Sarah schütteten zügig drei Tassen hinunter, schauten gleichzeitig auf ihre Armbanduhr und sagten, sie müßten los, auf einen Schluck bei den Murrows vorbeischauen.

»Ich glaube, ich komme nicht mit«, meinte Gail. »Sagt ihnen, es täte mir leid, aber ich habe noch zu tun. Wenn ihr wollt, kann ich euch allerdings gern abholen, falls ihr hinterher nicht mehr fahren möchtet. Ruft einfach an, wenn ihr soweit seid.«

Die Drinks bei den Murrows wären als Nachspüler auf den Golfplatz-Gin fraglos ein Risiko, wenn es ans Pusten ging. Harry und Sarah nickten und meinten, das wäre sehr nett von ihr.

»Haben Sie vielleicht irgendwelche Zeitungsausschnitte, die Sie mir eben noch zeigen könnten?« fragte ich. »Und Fotos?«

»Gewiß, gewiß«, meinte Harry, »Gail wird sie Ihnen zeigen, {25}nicht wahr, mein Schatz? Müssen jetzt wirklich los, alter Knabe, die Murrows, Sie verstehen … Vorsitzender des Golfklubs. War nett, Sie kennenzulernen. Hoffe, Sie haben alle Informationen, die Sie brauchen. Rufen Sie ruhig an, wenn Sie noch etwas wissen möchten.«

»Danke –«, sagte ich, aber er war schon weg, ehe ich ausgeredet hatte. Er und Sarah gingen nach oben, kamen wieder herunter, machten die Haustür hinter sich zu und fuhren los. Im Haus wurde es still.

»Sie sind nicht direkt Alkoholiker«, sagte Gail. »Sie hüpfen nur eifrig von Drink zu Drink.«

Offenbar war nun sie mit Erklärungen dran. Aber in ihrer Stimme lag nur Objektivität, nicht der leiseste Hauch von Entschuldigung, wie bei Sarah.

»Sie genießen eben das Leben«, sagte ich.

Gails Augenbrauen hoben sich. »Wissen Sie was?« meinte sie. »Ich glaube, Sie haben recht. Ich habe eigentlich nie darüber nachgedacht.«

Egozentrisch, dachte ich. Kühl. Gefühllos. Alles, was ich an einer Frau nicht mochte. Alles, was ich bei einer Frau brauchte. Viel zu verlockend.

»Möchten Sie jetzt die Fotos sehen?«

»Ja, bitte.«

Sie holte ein teures, ledergebundenes Album, und wir sahen uns die Bilder der Reihe nach an. Die wenigen Zeitungsausschnitte enthielten nichts, was ich nicht schon wußte. Die Fotos waren für Tally allesamt nicht gut genug. Ich sagte, ich würde in den nächsten Tagen mit einem Fotografen vorbeikommen. Gail räumte das Album weg, und ich stand auf, um zu gehen.

»Es wird mindestens noch zwei Stunden dauern, bis die beiden von den Murrows aus anrufen. Wollen Sie nicht doch etwas trinken?«

Ich sah auf meine Uhr. Der Zug fuhr alle dreißig Minuten. {26}Einen konnte ich wohl schon auslassen. Da war Elizabeth. Und da war Gail. Es handelte sich schließlich nur um eine Stunde.

»Also gut«, sagte ich.

Sie holte mir ein Bier und brachte sich auch eins mit. Ich setzte mich wieder auf das Sofa, und sie ließ sich anmutig auf einem großen, samtbezogenen Polster auf dem Boden nieder.

»Sie sind natürlich verheiratet?«

»Ja«, bestätigte ich.

»Die interessant Aussehenden sind das immer.«

»Wieso sind Sie’s dann nicht?«

Ihre strahlend weißen Zähne blitzten, als sie anerkennend lächelte. »Ach … das hat noch Zeit.«

»Wie lange?« fragte ich.

»Tja … bis ich einen Mann finde, von dem ich mich nicht mehr trennen kann.«

»Dann haben Sie sich schon von einigen getrennt?«

»O ja.« Sie nickte, nippte an ihrem Bier und musterte mich über den Rand des Glases hinweg. »Und Sie? Sind Sie Ihrer Frau treu?«

Ich räusperte mich. »Meistens«, sagte ich vorsichtig.

»Aber nicht immer?«

»Nein, nicht immer.«

Nach einer langen, nachdenklichen Pause sagte sie ein einziges, kurzes Wort.

»Gut.«

»Ist das ein philosophischer Kommentar oder ein Antrag?« fragte ich.

Sie lachte. »Ich will bloß wissen, woran ich bin.«

»Klaren Blicks und wachen Sinns …?«

»Ich mag kein Kuddelmuddel«, sagte sie nickend.

»Besonders kein gefühlsmäßiges?«

»Ganz recht.«

Sie hat nie geliebt, dachte ich. Sex oft. Aber Liebe nie. Nicht gerade das, was ich mochte, aber das, was ich wollte. Ich brachte die {27}tückische Stimme in mir zum Schweigen und fragte sie, wie es sich für einen guten Journalisten gehörte, nach ihrem Job.

»So lala.« Sie zuckte die Achseln. »Unter hundert Schülern finden Sie vielleicht ein einziges Talent. Meistens ist ihr Ehrgeiz fünfmal so ausgeprägt wie ihre Phantasie.«

»Entwerfen Sie auch selbst Kleider?«

»Nicht für die Konfektionsbranche. Manchmal für mich selbst, für Sarah und für die Schule. Ich unterrichte lieber. Es macht mir Spaß, abgehobene künstlerische Ignoranz in solides handwerkliches Können zu verwandeln.«

»Und Ihren Einfluß überall in der Oxford Street wiederzufinden?«

Sie nickte, ihre Augen funkelten belustigt. »Mittlerweile beschäftigen fünf der größten Modehäuser ehemalige Schüler von mir in ihren Designabteilungen. Einer davon hat einen so eigenständigen Stil, daß ich seine Modelle jedesmal in den Schaufenstern erkenne.«

»Sie lieben die Macht«, sagte ich.

»Wer tut das nicht?«

»Sie steigt einem leicht zu Kopf.«

»Alle Macht korrumpiert?« Jetzt klang sie sarkastisch.

»Jedem seine eigene Korruptheit«, sagte ich freundlich. »Womit sind Sie denn korrumpierbar?«

Sie lachte. »Mit Geld, vermutlich. Sämtliche Formen des Lehrberufs zeichnen sich durch chronischen Mangel an Barem aus.«

»Also begnügen Sie sich mit Macht.«

»Wenn man nicht alles haben kann«, sagte sie nickend, »begnügt man sich eben mit einem Teil.«

Ich schaute in mein Bier, unfähig, das Zucken zu unterdrücken, das ich in meinem Gesicht spürte. Ihre Worte brachten mein ewiges Dilemma haarscharf auf den Punkt. Nach elf Jahren hatte ich mich weniger denn je damit abgefunden.

{28}»Woran denken Sie gerade?« fragte sie.

»Daran, mit Ihnen ins Bett zu gehen.« Das verschlug ihr den Atem. Ich blickte von der schalen braunen Flüssigkeit auf, war auf jeden Grad weiblicher Entrüstung gefaßt. Vielleicht hatte ich sie falsch eingeschätzt.

Offenbar nicht. Sie lachte. Fröhlich.

»Das war ja ziemlich deutlich.«

»Mhm.«

Ich stellte das Bier ab und stand lächelnd auf. »Es wird Zeit für mich«, sagte ich. »Ich muß meinen Zug erwischen.«

»Nachdem Sie das gesagt haben? Das können Sie nicht.«

»Doch, gerade.«

Statt einer Antwort stand sie auf, stellte sich vor mich hin, nahm meine Hand und schob meine Finger in den goldenen Ring des durchgehenden Reißverschlusses an der Vorderseite ihres Kleides.

»Jetzt geh nach Hause«, sagte sie.

»Wir kennen uns doch erst seit drei Stunden«, protestierte ich.

»Du hast schon nach drei Minuten auf mich reagiert.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nach drei Sekunden.«

Ihre Zähne blitzten. »Ich mag Fremde.«

Ich zog den Ring nach unten, und genau das wollte sie offenbar auch.

Harry und Sarah hatten einen großen, weißen, flauschigen Teppich vor dem Kamin. Vermutlich war es nicht das erste Mal, daß Gail sich darauf legte. Sie war direkt, anmutig, ohne die geringste Spur von Verlegenheit. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus, streifte das Kleid ab und schlüpfte aus dem winzigen grünen Büstenhalter und dem Höschen. Ihre goldbraune Haut schimmerte warm in der einsetzenden Dämmerung, und ihre Figur nahm mir den Atem.

Es war herrlich mit ihr. Als Geliebte war sie ebenso großzügig wie erfahren. Sie wußte, wann sie zart streicheln und wann sie {29}kräftig zupacken mußte. Sie hatte starke innere Muskeln und wußte sie einzusetzen. Ich nahm sie mit leidenschaftlicher Dankbarkeit, einem passablen Ersatz für Liebe.

Hinterher lag ich neben ihr auf dem Teppich und spürte die gelöste Spannung wie eine Art schwere, wohlige Mattigkeit in den Gliedern. Die Wirklichkeit war eine Million Lichtjahre entfernt, und ich hatte es nicht eilig damit, sie an mich heranzulassen.

»Wow«, sagte Gail halb atemlos, halb lachend. »Jungejunge, du hast es aber nötig gehabt.«

»Mhm.«

»Läßt deine Frau dich nicht …?«

Elizabeth, dachte ich. O Gott, Elizabeth. Manchmal brauche ich es einfach. Nur manchmal. Das alte, quälende Schuldgefühl überflutete mich. Die Wirklichkeit hatte mich wieder.

Ich setzte mich auf und starrte blind in das dunkler werdende Zimmer. Gail merkte offenbar, daß sie nicht gerade taktvoll gewesen war, denn sie stand mit einem Seufzer auf, zog sich an und sagte kein Wort mehr.

In Freud und Leid, dachte ich bitter. In guten und in schlechten Tagen. In Glück und Unglück sie zu lieben und zu ehren, bis daß der Tod euch scheidet. Ja, hatte ich gesagt.

Ein leicht zu haltender Schwur, damals, als ich ihn abgelegt hatte. Ich hatte ihn nicht gehalten. Gail war das vierte Mädchen in elf Jahren. Das erste seit fast drei.

»Wenn du noch länger da sitzt«, bemerkte sie prosaisch, »verpaßt du deinen Zug.«

Ich sah auf meine Uhr – das einzige, was ich im Moment anhatte. Noch eine Viertelstunde.

Sie seufzte. »Ich fahre dich zum Bahnhof.«

Es blieb noch etwas Zeit, als wir dort ankamen. Ich stieg aus und bedankte mich höflich dafür, daß sie mich hergefahren hatte.

{30}»Sehe ich dich wieder?« fragte sie. Eine ganz sachliche Erkundigung ohne Anzeichen innerer Beteiligung. Wie sie mich so vor dem Bahnhof von Virginia Water durch das Fenster des Kombis betrachtete, hätte man sie ohne weiteres für das brave Frauchen halten können, das ihren Mann zur Bahn bringt. Himmelweit entfernt von dem Gerangel auf dem Teppich. Einschalten, ausschalten. Genau die Frau, die ich brauchte.

»Ich weiß nicht«, sagte ich unschlüssig. Das Signal am Ende des Bahnsteigs sprang auf Grün.

»Wiedersehen«, sagte sie gelassen.

»Spielen Harry und Sarah jeden Sonntag Golf?« fragte ich.

Sie lachte, und die gelbe Bahnhofsbeleuchtung spiegelte sich in ihren Zähnen und Augen.

» Grundsätzlich.«

»Vielleicht …«

»Vielleicht rufst du an, vielleicht aber auch nicht.« Sie nickte. »Ist mir recht. Vielleicht bin ich zu Hause, vielleicht aber auch nicht.« Sie musterte mich mit einem halb lächelnden, halb distanziert-amüsierten Blick. Sie würde nicht weinen, wenn ich nicht wiederkam, aber sie würde für mich da sein, wenn ich es doch tat. »Aber überleg’s dir nicht zu lange.«

Sie kurbelte das Fenster hoch und fuhr weg, ohne zu winken oder sich noch einmal umzublicken.

Der grüne Elektrowurm eines Zuges kam gemächlich in den Bahnhof geglitten, um mich nach Hause zu bringen. Vierzig Minuten bis Waterloo. U-Bahn bis King’s Cross. Etwas mehr als einen Kilometer Fußmarsch. Zeit, die neue Leichtigkeit in meinem Körper zu genießen. Zeit, sie zu verfluchen. Zuviel von meinem Leben war ein Schlachtfeld, auf dem Gewissen und Verlangen ständig um die Vorherrschaft kämpften, und ganz gleich, was sich durchsetzte, ich war immer der Verlierer.

Wie vorauszusehen, sagte Elizabeths Mutter gereizt: »Du kommst spät.«

{31}»Tut mir leid.«

Ich sah zu, wie sie sich mit wütenden Rucken die Handschuhe überstreifte. Hut und Mantel hatte sie bereits angehabt, als ich hereinkam.

»Du bist so rücksichtslos. Jetzt wird es fast elf, bis ich nach Hause komme.«

Ich gab keine Antwort.

»Du bist egoistisch. Alle Männer sind egoistisch.«

Es war sinnlos, ihr zuzustimmen, und ebenso sinnlos, ihr zu widersprechen. Eine kurzlebige, katastrophale Ehe hatte unheilbare seelische Wunden bei ihr geschlagen, die an ihr einziges Kind weiterzugeben sie sich alle Mühe gegeben hatte. Als ich Elizabeth kennenlernte, hatte sie eine pathologische Angst vor Männern.

»Wir haben schon zu Abend gegessen«, sagte meine Schwiegermutter. »Das Geschirr habe ich für Mrs. Woodward in die Küche gestellt.«

Nichts brachte Mrs. Woodward zuverlässiger auf die Palme, als gleich Montag früh einen Stapel Teller mit angetrockneten Speiseresten vorzufinden.

»Schön«, sagte ich mit falschem Lächeln.

»Auf Wiedersehen, Elizabeth«, rief sie.

»Auf Wiedersehen, Mutter.«

Ich hielt ihr die Tür auf, ohne dafür Dank zu ernten.

»Dann bis nächsten Sonntag«, sagte sie.

»Das wäre nett.«

Sie lächelte säuerlich, denn sie wußte, daß ich es nicht ehrlich meinte. Aber da sie die ganze Woche als Empfangsdame auf einer Schönheitsfarm arbeitete, hatte sie nur sonntags Gelegenheit, Elizabeth zu besuchen. Meistens wäre es mir am liebsten gewesen, sie hätte uns in Ruhe gelassen, aber diesen Sonntag hatte es mir die Möglichkeit verschafft, nach Virginia Water zu fahren. Gewaltsam riß ich meine Gedanken vom nächsten Sonntag, und was ich damit anfangen würde, los.

{32}Als meine Schwiegermutter fort war, ging ich zu Elizabeth hinüber und küßte sie auf die Stirn.

»Grüß dich.«

»Grüß dich auch«, sagte sie. »Hast du einen schönen Nachmittag gehabt?«

Ein knallharter Job.

»Mhm.«

»Gut … Mutter hat schon wieder das Geschirr stehenlassen«, sagte sie.

»Keine Sorge, ich wasche noch ab.«

»Was täte ich nur ohne dich.«

Die Antwort darauf kannten wir beide. Ohne mich müßte sie den Rest ihres Lebens in einer Klinik verbringen, eine Gefangene ohne Fluchtmöglichkeit. Ohne die Elektropumpe, die am Fußende ihres Bettes summte, konnte sie nicht atmen. Sie konnte sich ihr Essen nicht selbst kleinschneiden, und sie konnte nicht ins Badezimmer. Meine Frau Elizabeth war aufgrund einer Poliomyelitis zu neunzig Prozent gelähmt.

{33}3

Wir wohnten über einer Reihe Garagen in einem in Wohnungen aufgeteilten ehemaligen Stallgebäude hinter der Grays Inn Road. Eine Baugesellschaft hatte kürzlich die alten Gebäude gegenüber abgerissen, so daß wir vorübergehend Abendsonne bekamen; mittlerweile stand dort das Gerüst für einen Wohnblock. Falls es uns zu dunkel und zu beengt wurde, wenn sie fertig waren, mußte ich uns etwas anderes suchen. Keine sehr erfreuliche Aussicht. Wir waren schon zweimal umgezogen, und es war beide Male schwierig gewesen.

Da die meisten Sonderzüge zu den Rennen von London abgingen und um meine Fahrzeiten auf ein Minimum zu beschränken, wohnten wir zehn Minuten zu Fuß von der Blaze entfernt. Es hatte sich – jedenfalls in London – als viel günstiger erwiesen, etwas abseits und nicht in einer der Hauptstraßen zu wohnen: In unserer kleinen Siedlung wußten sämtliche Nachbarn über Elizabeth Bescheid; wenn sie vorbeikamen, blickten sie zu ihrem Fenster auf und winkten, und manche schauten auch auf einen Plausch herein oder erledigten Besorgungen für uns.

Die Gemeindeschwester kam jeden Morgen und rieb Elizabeth mit Alkohol ein, damit sie sich nicht wundlag; abends übernahm ich das. Montags bis samstags von halb zehn bis sechs kam Mrs. Woodward, eine angelernte Pflegerin ohne offiziellen Berufsabschluß, die im Bedarfsfall auch einmal länger blieb. Eines unserer Hauptprobleme bestand darin, daß man Elizabeth wegen eines möglichen Stromausfalls keine fünf Minuten in der Wohnung allein lassen konnte. Fiel das Stromnetz aus, konnten wir die Atempumpe auf Batteriebetrieb umschalten, und sie ließ sich auch {34}von Hand bedienen, aber das mußte umgehend geschehen. Mrs. Woodward war eine freundliche, verläßliche und ruhige Frau mittleren Alters, und Elizabeth mochte sie. Sie war außerdem sehr teuer, und da behinderte Ehefrauen im Wohlfahrtsstaat nicht vorgesehen sind, konnte ich Mrs. Woodwards unverzichtbare Dienste nicht einmal von der Steuer absetzen. Wir brauchten sie, und sie machte uns arm: So war das eben.