Blues in New Iberia - James Lee Burke - E-Book

Blues in New Iberia E-Book

James Lee Burke

0,0

Beschreibung

Als kleiner Junge träumte Desmond Cormier immer davon, es allen zu beweisen. 25 Jahre später ist er ein erfolgreicher Filmproduzent. Durch einen Zufall entdeckt Detective Dave Robicheaux in der Nähe von ­Desmonds Strandhaus eine Leiche. Die junge Frau wurde gekreuzigt, der Mord gleicht einem Ritual. Bald werden weitere Menschen auf ähnliche Weise getötet und die Tatorte theatralisch inszeniert. Stecken vielleicht Mitglieder von Desmonds Filmcrew dahinter? Robicheaux traut niemandem. Jeder scheint etwas zu verheimlichen. Doch dann lässt sich seine Tochter Alafair ausgerechnet auf die Filmcrew ein und schon bald verspürt er eine unerklärliche Angst um sie …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 695

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



James Lee Burke • Blues in New Iberia

Für Julian Higgins, ein Poet mit Filmkamera

JAMES LEE BURKE

Blues in New Iberia

Ein Dave-Robicheaux-Krimi

Band 22

Aus dem Amerikanischenvon Jürger Bürger

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog

1

Desmond Cormiers Erfolgsgeschichte war höchst ungewöhnlich, selbst angesichts der zahlreichen selbstgefälligen Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten, die wir uns in der noch unvollendeten Saga unserer unausgereiften Republik erzählen; eine, die sich immer wieder ändert und doch auch immer dieselbe bleibt, eine Saga, die sowohl die Gräber von Shiloh einbezieht als auch die ausgebrannte Asche von Dörfern der Ureinwohner. Was überhaupt nicht zynisch gemeint ist. Desmonds Geschichte war ein typisches Beispiel amerikanischer Folklore, das uns versichert, Reichtum und ein Zauberland seien selbst für den Geringsten unter uns erreichbar, immer vorausgesetzt, wir erwecken nicht die uns innewohnende Neigung, unsere Helden auf einem mittelalterlichen Rad zu brechen und sie später neu zu beurteilen, aus sicherem Abstand und im Windschatten der Geschichte.

Desmond wurde nicht nur in die Not hinein geboren, in der Schlafkoje eines Sattelschleppers, in der seine Mutter die Nabelschnur abband und sich für immer verabschiedete, sondern von seinen Großeltern im Chitimacha Indianerreservat im Hinterzimmer eines Gemischtwarenladens, der kaum mehr war als eine stickige Baracke, in Armut aufgezogen. Sie stand an einem Feldweg inmitten baumlosen Ackerlandes, wo Schatten und eine kalte Limonade im Vorraum des Ladens bereits als Luxus galten, bevor die Spielkasinobetreiber aus Jersey kamen und, mit Unterstützung des Staates Louisiana, Leute in großer Zahl davon überzeugten, dass ein Laster eine Tugend sei.

Wie seine Großeltern, gehörte auch er zu dieser Gruppe indianischer Mischlinge, die wenig freundlich als Redbones bezeichnet werden. Sein Haar war zimtbraun, typischer für Cajun-Frauen als für Männer. Seine Haut war glatt wie Lehm, fast haarlos, seine zu weit auseinander stehenden Augen von einem ausgewaschenen Blau wie bei jemandem mit einem Fetalen Alkoholsyndrom. Wie die meisten seines Volks war er sich seiner ethnischen Abstammung sehr bewusst und lächelte nur selten, doch wenn er es tat, konnte er einen ganzen Raum erhellen. Ich hatte immer das Gefühl, Desmond versuche, sich in seinen Kleidern zu verkriechen, fast als ob er sowohl Angst als auch eine große Traurigkeit in sich trüge. Wie der sein sagenumwobenes Horn blasende Proteus, erschuf und erfand Desmond sich immer wieder neu, vielleicht ohne je zu wissen, wer er war.

Wie auch immer. Schon als kleiner Junge konnte er die Welt nicht akzeptieren, wie sie war, genauso wenig wie er sein persönliches Schicksal akzeptierte. Im Alter von zwölf Jahren schien es ihm bestimmt zu sein, spindeldürr und zart zu bleiben, und der Überträger von Darmwürmern und Kopfläusen. Eines Morgens, hinter dem Laden seiner Großeltern, band er mit nacktem Oberkörper unter einer weißen Sonne, der kleine Körper schweißgebadet, einen Hohlblockstein an jedes Ende eines Besenstiels und stemmte. Und er blieb dabei. Und knetete still einen Gummiball im Schulbus, während die größeren Jungs ihn auslachten und häufig runter auf den Kies drückten. Mit 14 hatte er den Körper und die verborgene Erbitterung eines Mannes, und die Jungs, die ihn zuvor tyrannisiert hatten, versuchten nun, sich mit einem schwachen, untertänigen Lächeln einzuschmeicheln. Er reagierte darauf mit der freundlichen Aufmerksamkeit eines Menschen, der einem Fremden beim Pusten von Seifenblasen zuschaute, bis sie schließlich den Kopf senkten und stumm gingen, um ihn nur ja nicht zu provozieren.

Nach der Highschool kellnerte er im French Quarter und ging auf dem Jackson Square bei einem Straßenmaler in die Lehre, wo er herausfand, dass er besser war als sein Lehrer. Manchmal sah ich ihn in den frühen Morgenstunden, zerzaust, Farbe auf dem Hemd und in den Haaren, Beignets aus einer Papiertüte essen und Milchkaffee aus einem Styroporbecher trinken. An einem besonders kalten und grauen Morgen im Januar sah ich ihn im Nebel an der St. Louis Cathedral zusammengekauert auf einer eisernen Bank sitzen, wie ein noch nicht entwickeltes Lebewesen aus einer früheren Zeit. Er trug keine Jacke, und die Ärmel hatte er weit hochgekrempelt, wie dem Wetter zum Trotz. Er wirkte melancholisch, seine Sorglosigkeit eine Maske für seine Einsamkeit, und ich setzte mich unaufgefordert neben ihn. Die Luft roch nach Fluss, toten Käfern in einem Regenwasserkanal, nach den Wein- und Bierbechern im Rinnstein, nach nasser Erde und Nachtblumen und Flechten auf Stein. Es roch eher wie in einer karibischen Stadt als nach Amerika. Er erzählte mir, er werde nach Hollywood gehen, um Filmregisseur zu werden.

„Muss man dafür nicht studieren?“, fragte ich.

„Hab ich schon“, erwiderte er.

„Wo?“

Er richtete einen Finger auf seinen Kopf. „Hier drinnen.“

Ich lächelte gutmütig, sagte aber nichts.

„Du glaubst mir nicht, hm?“, fragte er.

„Was weiß ich schon?“

„Gehst du noch in die Kirche?“, fragte er.

„Klar.“

„Das heißt, du glaubst an die Sachen, die sich jenseits dieser Welt befinden. Genau das ist ja Malerei. Genau das ist es, was Filmemachen bedeutet. Man betritt eine Zauberwelt, von der andere nichts wissen.“

Ich erhob mich von der Bank. Ich fühlte mich alt. Meine Kriegsverletzungen taten weh. Die harte Bank hatte sich auf meinem Hintern abgezeichnet. Ich hörte das Läuten zum Angelusgebet vom Turm der Kathedrale, vielleicht als Erinnerung an unsere Veränderlichkeit und unser endgültiges Schicksal.

„Viel Glück“, sagte ich. „Tritt denen in Kalifornien ordentlich in den Hintern.“

Er hatte Puderzucker auf der Wange. Einen kurzen Moment dachte ich an ein armes Kind, das sich in eine Bäckerei geschlichen hatte. Er lächelte, als er zu mir aufblickte.

„Was gibt’s zu lachen?“, fragte ich.

„Was man nur durch Glück bekommt, lohnt nicht zu besitzen, Dave. Ich dachte, das wüsstest du.“

25 Jahre später kehrte Desmond als Regisseur mit einem Golden Globe und einer Oscar-Nominierung nach Hause zurück. Er ließ sich vorübergehend in einem Haus auf Stelzen unten am Cypremort Point nieder, mit Eichen und Palmen im Garten und einem herrlichen Blick auf die Bucht, wo er jeden Abend, wie er behauptete, Haie aus dem Sonnenuntergang gleiten sah, eintauchend in die Dünung, ihre Rückenflossen so klar und deutlich wie zerbrochene Rasierklingen. Das Problem war, dass sie niemand sonst sah. Vor langer Zeit hatte man einvernehmlich beschlossen, dass Desmond nicht ganz von dieser Welt war und am Rande eines Traums lebte, aus dem er seine Kunst und auch seine offenkundige Verachtung für Erfolg und Geld ableitete.

Er passte in keine Schublade und bekam infolgedessen mit jedem Ärger – mit Produzenten, den politisch Korrekten und den unpolitisch Korrekten, einem Schauspieler, den er in einen Swimmingpool warf, einem Araberscheich, der täglich rund um die Uhr im Parkhaus des Beverly Hills Hotels ein Dutzend Autos im Leerlauf laufen ließ und zu dessen Haus Desmond eine Lkw-Ladung Ziegen liefern ließ.

Am ausgebrannten Ende eines Augustnachmittags nach einem Sommer der Dürre, des Fischsterbens und des ausgetrockneten Marschlandes, das sich in Keramik zu verwandeln begann, fuhr ich zur Spitze des Cypremort Point mit einem jungen uniformierten Deputy namens Sean McClain, der seit sieben Monaten bei der Polizei war, immer noch an die Menschheit glaubte und jeden Morgen mit Vogelgezwitscher im Kopf aufwachte. Er war in einer Kleinstadt an der Grenze von Louisiana und Arkansas aufgewachsen und hatte einen Akzent wie jemand, der mit einer dünnen Haarklammer trommelte.

Um fünf Uhr morgens des gleichen Tages hatten wir drei Notrufe wegen einer Frau bekommen, die irgendwo am südlichen Ende des Point schrie. Ein Anrufer sagte, der Schrei käme aus einem leichten Kajütboot. Die anderen Anrufer waren sich nicht sicher. Die Sonne war aufgegangen, als der diensthabende Deputy eintraf. Niemand im Hafen oder den Bootshäusern hatte irgendetwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen. Ich hätte die ganze Sache einfach vergessen können, aber wenn drei Leute einen Schrei melden, dann rufen sie nicht wegen eines Geräuschs an, sondern wegen einer Erinnerung im kollektiven Unbewussten, eine, die bis in die Höhlen zurückgeht. Wenn wir so alarmiert sind, dass wir anderen davon erzählen müssen, greifen wir auf ein urzeitliches Wissen um das dunkle Potenzial des Genpools zurück. Oder zumindest habe ich das immer geglaubt.

Ich machte Sean auf Desmonds Haus aufmerksam.

„Da wohnt also dieser berühmte Film-Fritze?“, fragte er. „Schon ein ziemliches Ding, was?“ Ich bin überzeugt, dass seine Worte eine Botschaft enthielten, hatte allerdings keine Ahnung, welche.

„Genau, da wohnt er einen Teil des Jahres“, sagte ich.

„Ist er einer dieser Hollywood-Liberalen?“

„Frag ihn. Falls er zu Hause ist, stelle ich dich ihm vor.“

„Im Ernst?“

„Aber vorher arbeiten wir noch etwas.“

„Aber sowas von“, sagte er. Er blickte ernst aus der Seitenscheibe hinüber zu den Büschen und Palmen und Eichen, in denen das Louisianamoos wucherte. „Wonach suchen wir eigentlich?“

„Wenn du einen Toten mit dem Gesicht nach unten auf dem Strand liegen siehst, wär das ein Anhaltspunkt.“

Ich stellte den Streifenwagen am Straßenrand ab, und wir gingen zum Wasser hinunter. Die Ebbe hatte eingesetzt, der Sandstrand war bei Sonnenaufgang glitschig, mit abfließenden Rinnsalen und Krustentieren überzogen, und die Bucht schimmerte wie ein bronzenes Schild. Wir gingen bis ans Ende des Point, von dort 500 Meter zurück nach Norden. Ich sah einen Tennisschuh, der verkehrtherum im Schaum trieb. Ich hob ihn auf und schüttelte Sand und Wasser aus. Er war limettengrün mit blauen Streifen, Größe 40.

„Einpacken?“, fragte Sean. Er war schlank, größer als 1,80, die Schultern unter seinem Hemd so rechtwinklig wie Kleiderbügeldraht, der Bauch flach wie ein Brett. Sein Gesicht strahlte eine Unschuld aus, von der ich ihm wünschte, dass er sie nie verlor.

„Warum nicht?“, fragte ich.

Wir betraten Desmonds Garten und gingen die Stufen zu seiner Haustür hinauf. Ich hatte Desmond seit Jahren nicht gesehen und fragte mich, ob es klug war, die Vergangenheit wieder in mein oder sein Leben einzuladen. Ich klingelte. Rückblickend wünschte ich, ich hätte es nicht getan.

Das Haus aus Teak und Eiche war L-förmig, mit ausladenden Räumen, gläsernen Schiebetüren, einem Dachaufsatz und einem Verandageländer, das an die Gilling eines Schiffs erinnerte. Die Sonne hing wie glühende Kohle im Westen, die Wolken waren orange und violett, eine Wasserhose drehte sich wie Glaswolle am Horizont. Desmond schüttelte mir die Hand, sein Griff war entspannt und kühl, ohne jeden Hinweis auf die Macht, die sie tatsächlich besaß. „Du siehst gut aus, Dave. Ich hab einen Braten auf dem Grill. Du und dein junger Freund hier, leistet mir doch bitte Gesellschaft.“

„Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Filme, Mr. Cormier“, sagte Sean.

„Dann sind Sie hier genau richtig“, erwiderte Desmond.

Sean hätte nicht glücklicher aussehen können. Desmond schloss hinter uns die Tür. Überall im Haus standen Topfpflanzen. Der Teppich war fünf Zentimeter dick, Möbel aus hellem Treibholz, auf den Sesseln und Couches dicke Lederkissen, ein Flügel schwarz wie Onyx vor den Glasschiebetüren, eine Martin-Gitarre und ein goldenes Tenorsaxophon auf Instrumentenständern. Aber das bemerkenswerteste Detail der Inneneinrichtung waren die in Edelstahl gerahmten Fotos aus den Filmen von John Ford. Sie zogen sich über die gesamte Länge des Flures und über eine Wand des Wohnzimmers hinweg.

„Wir haben heute Morgen mehrere Anrufe wegen einer schreienden Frau bekommen“, sagte ich.

„Ging’s um häusliche Gewalt?“, fragte Desmond.

„Gut möglich. Vielleicht kam der Schrei von einem Kajütboot“, sagte ich. „Kennst du jemanden mit einem Kajütboot, der gern Frauen schlägt?“

„Auf Catalina Island, ja. Kommt mit raus auf die Veranda. Ich möchte euch etwas zeigen.“

Ich setzte mich in Bewegung, um ihm zu folgen. Sean starrte auf ein Schwarzweiß-Standfoto aus der letzten Szene von Faustrecht der Prärie. „Das macht mich ganz schwindlig.“

Auf dem Standfoto war Henry Fonda in der Rolle des Wyatt Earp zu sehen; er redete mit Cathy Downs, die die Clementine Carter spielte. Sie standen am Rand eines Feldwegs, der ins Ödland führte. In der Ferne befand sich ein kahler Berg geformt wie ein Denkmal oder ein verfaulter Zahn, die Oberfläche durchzogen von senkrechten Rinnen. Die vorsintflutliche Trockenheit und unendliche Weite der Umgebung ließen einem den Kopf schwirren.

„Die Frau sieht so hübsch und unschuldig aus“, sagte Sean. „Verabschiedet er sich von ihr?“

„Ja, macht er“, antwortete Desmond.

„Ich versteh das nicht. Warum nimmt er sie denn nicht mit?“

„Das weiß keiner“, sagte Desmond.

„Macht mich irgendwie ganz traurig“, meinte Sean.

„Wahrscheinlich, weil Sie ein einfühlsamer Mensch sind“, sagte Desmond. „Kommen Sie mit nach draußen. Ich habe Erfrischungsgetränke in der Kühlbox. Ich würde euch ja auch was anderes anbieten, aber ich schätze, ihr trinkt keinen Alkohol bei der Arbeit, stimmt’s?“

„Genau“, erwiderte Sean. „Exakt so isses.“

Desmond lächelte mit den Augen, zog die Glastür auf und trat hinaus auf die Veranda, in den Wind und die Wärme des Abends. Auf dem Verandageländer war ein Teleskop montiert. Doch das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit erregte. Ein barfüßiger und praktisch nackter Mann, ein weißes Handtuch über Genitalien und Pobacken gebunden, führte in Zeitlupe eine Kampfkunstübung durch und hob sich dabei als Silhouette vor dem Sonnenuntergang ab, sein schlanker Körper sonnengebräunt und mit Babyöl eingerieben, das stahlgraue Haar in einem verschwitzten Gewirr zurückgekämmt.

„Dies ist mein guter Freund Antoine Butterworth“, stellte Desmond vor.

„Ciao“, sagte Butterworth. Sein Blick verweilte auf Sean.

„Wir können nicht bleiben“, sagte ich zu Desmond. „Wir haben am Strand einen limettengrünen Tennisschuh mit blauen Streifen gefunden. Fällt dir dabei irgendwer ein?“

„Ich fürchte nicht, nein“, sagte Desmond.

„Suchen wir nach einer Leiche, so was in der Richtung?“, fragte Butterworth. Er hatte einen leicht britischen Akzent, der nach selbstgefälliger Heuchelei roch.

„Wir sind nicht sicher“, sagte ich. „Kennen Sie eine Frau, die grüne Tennisschuhe trägt?“

„Kann ich nicht sagen.“

„Heute morgen eine Frau schreien gehört?“, fragte ich.

„Ich war am frühen Morgen noch nicht hier, also fürchte ich, dass ich Ihnen da nicht helfen kann“, erwiderte Butterworth.

„Sie kommen aus England?“, fragte ich.

„Nein“, entgegnete er honigsüß und verzog dabei den Mund zu einem Knopf.

Ich wartete. Er fuhr nicht fort, als hätte ich seine Privatsphäre verletzt.

„Machen Sie auch Mixed Martial Arts?“, fragte Sean.

„Oh, ich mache alles Mögliche“, erwiderte Butterworth.

„Sind Sie Schauspieler?“, fragte Sean, ohne die vulgäre Andeutung zu bemerken.

„Nichts so Spektakuläres“, antwortete Butterworth.

Sean nickte auf seine unschuldige Art.

Ich hörte, wie Desmond zwei Limo-Dosen öffnete. „Wirf mal einen Blick durch mein Teleskop“, sagte er.

Ich beugte mich herab und warf einen Blick durch das Okular. Die Vergrößerung war außergewöhnlich. Ich konnte Marsh Island bis ins kleinste Detail sehen, auch die Öffnung auf den Southwest Pass, der wiederum in den Golf von Mexiko führte. Im Herbst 1942 hatte ich fast von genau dieser Stelle aus am Horizont das rote Leuchten der Öltanker gesehen, die von deutschen U-Booten torpediert worden waren. Ich sah die Leichen der verbrannten und ertrunkenen amerikanischen Matrosen, die von Krabbennetzen herausgefischt und wie riesige Karpfen auf dem Sand abgeladen worden waren.

„Schon bald werden die Haie kommen“, sagte Desmond.

„Bist du sicher?“, fragte ich.

„Riesige Teile. Hammerhaie vielleicht.“

Ich richtete mich am Teleskop wieder auf. „Die kommen normalerweise aber nicht in die Bucht. Viel zu seicht, und es gibt auch nicht genug Nahrung.“

„Wahrscheinlich hast du recht, ja“, sagte er.

Das war Desmond, immer ganz der Gentleman, nie auf Diskussionen erpicht.

Ich beugte mich wieder zum Okular hinunter. Dieses Mal sah ich eine Finne eine Welle zerteilen. Dann verschwand sie. Ich erhob mich wieder von dem Teleskop. „Ich nehm’s zurück.“

„Hab’s dir ja gesagt“, meinte er lächelnd. „Was dagegen, wenn ich auch mal durchsehe?“

Er beugte sich zum Okular hinab, sein Hemd blähte sich im Wind auf, seine dünnen Haare flatterten. „Jetzt ist er weg. Aber er wird zurückkommen. Sie kommen immer zurück. Raubtiere, meine ich.“

„Genaugenommen sind sie ja gar keine Raubtiere, zumindest auch nicht mehr als andere Fische“, sagte ich.

„Das hätte ich nicht gedacht“, sagte er. „Lass mich dir und deinem Freund einen Teller zurechtmachen.“

Ich wollte schon ablehnen.

„Keine schlechte Idee“, sagte Sean.

Desmond holte den Braten vom Grill und begann, ihn auf einem Teller mit einer Gabel und einem Fleischermesser in Scheiben zu schneiden. Butterworth zog das Handtuch von seinen Lenden und begann, seine Haut abzureiben, völlig gleichgültig gegenüber den Empfindlichkeiten anderer, das Gesicht dabei in den Wind gehalten, die Augen geschlossen.

Ich beugte mich erneut zum Teleskop. Die letzten Sonnenstrahlen lagen wie eine Glasur auf der Bucht und dem Kanal des Southwest Pass. Ich bewegte das Teleskop auf seinem Drehgelenk und suchte die Weeks Bay ab. Dann sah ich ein Bild, das mir wie eine Sinnestäuschung erschien, hervorgezerrt aus dem Unterbewusstsein, als würde die menschliche Neigung zur Grausamkeit die natürliche Welt überlagern.

Ich rieb die Feuchtigkeit aus meinen Augen und sah wieder hin. Die Gezeitenströmung hatte sich umgekehrt, das Wasser kam jetzt wieder auf den Strand zu. Ich war sicher, ein riesiges Holzkreuz sich in der Dünung auf und ab bewegen zu sehen. Jemand war daran befestigt, die Arme ausgestreckt auf dem Querbalken, Knie und Knöchel seitlich verdreht auf dem unteren Teil. Das Kreuz hob sich mit dem Wellengang, der obere Teil ragte jetzt deutlich aus dem Wasser hervor. Ich atmete tief aus. Ich sah die Person auf dem Kreuz. Sie war schwarz und trug ein lila Kleid. Es klebte wie ein nasses Kleenex an ihrem Körper. Ihr Gesicht war schrumpelig, entweder durch die Sonne oder das Wasser oder ihr Martyrium. Der Kopf war auf ihre Schulter gesunken; die Haare klebten an ihren Wangen und ringelten sich in Locken um ihren Hals. Sie schien mich direkt anzusehen.

„Was ist los, Dave?“, fragte Desmond.

„Da draußen ist eine Frau. Auf einem Kreuz.“

„Was?“, fragte er.

„Du hast mich schon verstanden.“

Er beugte sich zum Teleskop, bewegte es dann hin und her. „Wo?“

„Drei Uhr.“

„Ich sehe nichts. Moment, ich sehe die Rückenflosse eines Hais. Nein, drei.“

Ich schob ihn beiseite und sah wieder selbst durch das Teleskop. Eine lange Welle rollte auf das Ufer zu, beladen mit Sand und organischen Abfällen nach einem Sturm, der Kamm brach, Möwen stürzten sich hinein.

„Wahrscheinlich hast du eine Reflexion gesehen, darin irgendwelche entwurzelten Bäume oder so“, sagte Desmond. „Licht und Schatten können einem ziemliche Streiche spielen.“

„Sie hat mich direkt angesehen“, sagte ich. „Sie hatte dickes, schwarzes Haar. Es ringelte sich um ihren Hals.“

Ich spürte, wie Antoine Butterworth dicht hinter mir atmete. Ich drehte mich um, versuchte, meine Abscheu zu verbergen.

„Lass mich sehen“, sagte er.

Ich trat beiseite. Er beugte sich ans Teleskop, drückte das zusammengeknüllte Handtuch auf seine Genitalien. „Wie’s aussieht, ist sie weggetrieben.“

Ich sah noch einmal hinein. Die Sonne schien hell wie Messing auf dem Wasser. Wieder spürte ich Butterworth’ Atem im Nacken. „Würden Sie bitte einen Schritt zurücktreten?“, fragte ich.

„Tschuldigung?“

„Ich leide unter Klaustrophobie“, sagte ich. „Hatte ich schon als Kind.“

„Absolut verständlich“, sagte er. Er zog einen blauen, seidenen Morgenrock über und band den Gürtel zu. „Besser so?“

„Wir machen uns jetzt vom Acker“, sagte ich zu Desmond. „Wir werden die Küstenwache verständigen.“

Sean sah durch das Teleskop, richtete sich auf.

„Gehen wir, Deputy“, sagte ich.

„Moment noch“, sagte er. Er wischte das Okular mit einem Taschentuch ab und sah erneut hindurch. Dann drehte er sich um und sah mich direkt an.

„Was ist?“, fragte ich.

„Das Drecksding ist an einem Hindernis hängengeblieben“, sagte er. „Außerdem sind das da draußen auch keine Haie. Das sind Delfine.“

Ich starrte Desmond und Butterworth an. Desmond war blass geworden. Butterworth grinste breit, stand über dem Geschehen und genoss den Augenblick.

„Ich hab ein Boot“, sagte Desmond, kam wieder zu sich. „Ist da draußen wirklich eine Leiche? Ich hab sie nicht gesehen, Dave.“

„Junge Junge Junge, wenn das mal kein Freudenfest ist“, meinte Butterworth.

Ich gab Helen Soileaus Nummer in mein Handy ein. „Ihr bleibt hier. Meine Chefin hat vielleicht die eine oder andere Frage an euch.“

2

Um 22 Uhr 34 erreichten wir die Leiche und das Kreuz mit einem Rettungsboot des Departments. Im grellen Licht der Suchscheinwerfer sprangen zwei Taucher vom Bug, befreiten das Kreuz aus einem unter Wasser liegenden Baum, und zogen es auf eine Sandbank. Die Wellen schwappten über das Gesicht der Toten. Man hatte sie mit einer Wäscheleine an die Balken des Kreuzes festgebunden. Ihre Augen waren geöffnet; sie hatten das gleiche blasse Blau wie Desmonds Augen.

Unser Sheriff war Helen Soileau. Sie hatte sich im NOPD von einer Politesse zum Detective hochgearbeitet und war später in der Mordkommission des New Iberia Police Department meine Partnerin geworden. Nach der Zusammenlegung der städtischen Polizei mit der Polizei des Parish war sie zu unserem ersten weiblichen Sheriff gewählt worden.

Helen, ein Sanitäter, Sean und ich wateten durch das seichte Wasser auf den Sand. Helen richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf den Leichnam. „Mein Gott.“

Ich hatte mit meiner vorherigen Beschreibung falsch gelegen. Die Tote war nicht einfach nur mit einer Wäscheleine ans Kreuz gebunden worden. Man hatte ihre Knöchel seitlich ans Holz genagelt, wodurch ihre Knie im Verhältnis zu den Hüften abgewinkelt wurden. Helen beugte sich vor, strich das Kleid der Frau glatt und band ihre Handgelenke los. Der Sanitäter zog den Reißverschluss eines Leichensacks auf. Ich hockte mich neben das Kreuz. „Was meinst du, wie lange sie im Wasser war?“

Helen richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Gesicht der toten Frau. „Sie war nicht unter Wasser. Schwer zu sagen. Vielleicht acht oder neun Stunden.“

„Das stimmt leider nicht mit den Notrufen überein, die heute Morgen wegen eines Schreis eingegangen sind“, sagte ich.

„Vielleicht ist das hier nicht dieselbe Frau“, sagte Helen.

„Wir haben am Strand einen Tennisschuh gefunden“, sagte ich. „Größe 40.“

„Die Größe stimmt so ungefähr“, sagte sie. „Abgesehen von den Knöcheln kann ich keine Verletzungen erkennen. Keinerlei Spuren von Erdrosselung oder Quetschungen am Hals. Wer zum Teufel tut so etwas?“

Wir trugen beide Latexhandschuhe. Ich berührte einen der Nägel, die durch die Knöchel der Frau geschlagen worden waren. „Wer immer das war hat etwas über römische Kreuzigungen gewusst. Die Nägel sind durch die Knöchel geschlagen worden statt von oben durch die Füße. Die Knochen der Füße wären von den Nägeln auseinandergerissen worden.“

Helen blickte mit ausdruckslosem Gesicht auf die Leiche hinab. „Armes Mädchen. Sie kann nicht viel älter als 25 sein.“

Ich blieb in der Hocke, nahm die Taschenlampe aus Helens Hand und richtete sie auf die Wunden an den Knöcheln. Sie waren sauber, als hätten sie gar nicht geblutet. An einem Knöchel befand sich eine billige Metallkette. Ein winziges Stück Silberdraht hing an einem der Glieder.

Religion ist im Süden Louisianas eine komplexe Angelegenheit. Nicht alles hatte seinen Ursprung in Jerusalem oder Rom. Manches kam von den Karibikinseln oder aus Westafrika. Für viele arme Weiße und Farbige kann das gris-gris — Unglück oder ein böser Fluch — nur durch das Tragen eines gelochten Zehncentstücks an einem Kettchen um den Knöchel abgewendet werden. Ich kannte ein weißes Pärchen, Cajuns, die weder lesen noch schreiben konnten, die ihrem Baby eine Schnur um den Hals banden, damit sich der Pseudokrupp nicht in der Brust des kleinen Mädchens einnisten konnte. Das Kind erdrosselte sich in ihrem Bettchen.

„Siehst du irgendwas?“, fragte Helen.

Ich stand auf, meine Knie knackten. „Falls sie einen Glücksbringer getragen hat, hat der ihr jedenfalls nicht besonders geholfen.“

„Da wäre ich nicht so sicher“, sagte Helen.

Gelbes Wetterleuchten waberte in dicken Sturmwolken auf und verschwand wieder lautlos. „Was meinst du?“

„Sie hat nicht den kleinsten Kratzer“, sagte Helen. „Du weißt, was Krebse mit einem Kadaver machen?“

Ich sah über die Bucht zum Cypremort Point hinüber. In Desmonds Haus brannte überall Licht. Ich fragte mich, ob er oder sein Freund uns gerade durch das Teleskop beobachteten, und ob ich Desmond Cormier je wirklich gekannt hatte.

„Verschwinden wir von hier“, sagte Helen. „Ich krieg hier Gänsehaut.“

Ich war dreifacher Witwer und lebte mit meiner Adoptivtochter Alafair in einem kleinen Haus an der East Main in New Iberia. Nach meiner Rückkehr von der Weeks Bay ging ich direkt ins Bett und erzählte Alafair erst am nächsten Morgen, wo ich gewesen war und was ich gesehen hatte. Es regnete, der Bayou Teche war über die Ufer getreten und lief durch die Bäume am unteren Ende unseres Grundstücks, und die Graupel im Regen prasselten auf das Blechdach wie Vogelschrot. Alafair hatte Zeitungen auf dem Boden in der Küche ausgebreitet und unseren Kampfkater Snuggs und seinen Freund Mon Tee Coon reingeholt, um die beiden zu füttern. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, während ich ihr von der Frau am Kreuz erzählte.

„Nichts, was sie identifiziert?“

„Eine winzige Kette um den Knöchel.“

„Nichts an der Kette?“

„Ein Stückchen Draht. Vielleicht ein Glücksbringer, der abgerissen wurde.“

Ihr Blick suchte mein Gesicht ab. „Was hast du bei deiner Geschichte ausgelassen?“

„Ich habe das Kreuz und die Frau durch Desmonds Teleskop gesehen. Der Deputy ebenfalls. Aber Desmond und dieser Typ namens Butterworth haben gesagt, sie könnten nichts sehen.“

Sie stellte einen Teller Kekse und zwei Tassen Kaffee auf den Tisch, setzte sich dann hin. „Würde es Sinn ergeben, dass die beiden über etwas lügen, was du schon gesehen hattest?“

„Wahrscheinlich nicht“, sagte ich. „Aber wie schlau sind Lügner?“

„Der Frau sind Nägel durch die Knöchel geschlagen worden?“

Ich nickte.

„Aber die Todesursache kennst du nicht?“

„Nein. Es befand sich kein Blut an den Nagelwunden. Ich hoffe, sie war schon tot, als die Nägel eingeschlagen wurden.“

„Du musst diese Bilder aus dem Kopf bekommen, Dave.“

Sie hatte ihr Studium an der Reed cum laude abgeschlossen und gehörte zu den Besten der juristischen Fakultät der Stanford University. Bevor sie anfing, Romane und Drehbücher zu schreiben, hatte sie beim United States Court of Appeals für den neunten Gerichtsbezirk und als stellvertretende Bezirksstaatsanwältin in Portland, Oregon, gearbeitet. Für mich war sie jedoch immer noch das kleine Mädchen, das Nancy Drew- und Baby Squanto-Bücher sammelte.

„Was ist mit diesem Butterworth?“, fragte ich.

„Er hat als Schauspieler und Drehbuchautor begonnen, ist dann Produzent geworden. Es gibt Gerüchte über ihn, aber tatsächlich besitzt er großes Talent.“

„Was sind das für Gerüchte?“

„Koks und Pillen, Sadomaso.“

Ich erwiderte nichts.

„Er macht Filme, die bei den Leuten ankommen“, sagte sie. „Er hat immer die größten Stars der Branche.“

„Und er ist mit Sicherheit auch Stammgast in der Kirche“, sagte ich.

„Ich glaube, du hast nicht genug geschlafen.“

„Ich sollte mich jetzt besser für die Arbeit fertigmachen.“

„Heute ist Samstag“, sagte sie.

„Wirklich?“

„Ich hol dir noch eine Tasse Kaffee“, sagte sie.

Ich setzte meinen Hut auf, verließ das Haus durch die Hintertür, ging den Hang hinunter, blieb unter einer Eiche stehen und schaute zu, wie die Regentropfen kleine Dellen auf die Oberfläche des Bayou zauberten. Ich bekam weder den Blick der toten Frau aus dem Kopf noch ihre perfekte Schokoladenhaut – deren einzige sichtbare Beeinträchtigung die Nagelwunden waren. Helen hatte recht. Die Meereslebewesen sind nicht sonderlich freundlich zu den Toten. Aber die Frau schien verschont worden zu sein. War es Zufall, dass die Delfine sie eskortierten?

Ich habe schon in vielen Mordfällen ermittelt. Es sind immer die Augen, die einen nicht loslassen. Und das nicht aus dem Grund, den die Leute sich vorstellen. Sie tragen keine Botschaft. Stattdessen zwingen sie einen, den Schrecken und die Verzweiflung und den Schmerz nachzuempfinden, die ihre letzten Augenblicke auf der Welt definierten. Zwei Arten Cops stecken sich die eigene Pistole in den Mund: die Korrupten und diejenigen, die den Toten erlauben, Anspruch auf die Lebenden zu erheben.

Später an diesem Nachmittag bog Clete Purcel mit dem restaurierten 1956er Cadillac in meine Einfahrt, den er in der Woche zuvor gekauft hatte. Neben seiner schnittigen Karosserie, der von Hand polierten, bordeauxroten Lackierung, den Weißwandreifen auf verchromten Speichenfelgen und der ledernen Innenausstattung wirkten unsere modernen Modelle wie Schuhkartons auf Rädern. Das Verdeck war offen; auf dem Rücksitz lagen zwei Angelruten. Er stieg aus, entfernte ein Blatt von der Kühlerhaube und ließ es auf den Rasen fallen, wie er es vielleicht auch mit einer verletzten Motte getan hätte. „Hast du Lust, die Fische zu bespaßen?“

„Ich bin mit dem Gerichtsmediziner im Iberia General verabredet“, antwortete ich.

„Wegen dieser Leiche, die ihr aus dem Meer gefischt habt?“

„Steht’s schon in der Zeitung?“

„Ja“, erwiderte er. Er sah die Straße hinunter zum Shadows – einem 1834 erbauten Plantagenhaus –, die Haare frisch frisiert, das Gesicht rosa im Licht des zwischen den Eichen hereinfallenden Sonnenscheins. „Ich muss dir was sagen.“

Ich kannte das Muster. Wenn Clete irgendeinen Fehler gemacht hatte, kam er zu mir nach Hause oder in mein Büro. Ich war sein Beichtvater, sein Allheilmittel, seine Flasche Aspirin und Vitamin B, seine Ladung Wodka Collins, um die Spinnen wieder in ihr Nest zu fegen. Er trug eine gebügelte graue Hose, ein frisches Hawaiihemd und polierte, ochsenblutfarbene Halbschuhe. Er war nicht zum Angeln gekommen.

„Ist irgendwas los?“, fragte ich.

„Vor zehn Tagen hab ich an der Eisenbahnbrücke über den Mermentau River ein Boot zu Wasser gelassen. Ziemlich genau bei Sonnenuntergang. Kein Mensch in der Nähe. Regte sich kein Lüftchen. Das Wasser war perfekt. Der Steinbarsch kam zwischen den Seerosenblättern hoch. Dann hörte ich den Zug kommen. Ein Güterzug, vielleicht 40 Kilometer die Stunde schnell.“

Clete war kein Mann der wenigen Worte. „Verstanden“, sagte ich.

„Weißt du, es war ein absolut perfekter Abend. Ist so was wie meine ganz private Stelle da draußen. Also träumte ich so mit offenen Augen vor mich hin, war mental nicht wirklich auf der Höhe.“

„Wovon reden wir hier eigentlich, Cletus?“

„Ich rede von dem Güterzug. Er wackelte und klapperte, der Mond ging auf, so ungefähr acht, neun Waggons fuhren vorbei, und dann sah ich einen Kerl in weißer Hose und weißem Hemd auf dem Dach eines leeren Güterwagens stehen. Kragen und Hemdtaschen trugen einen blauen Rand. Dann flog der Kerl von diesem Güterwagen in den Fluss. Er muss wohl ziemlich genau die Mitte erwischt haben, denn andernfalls hätte er sich die Beine gebrochen.“

„Er trug eine Uniform?“

„Ja.“ Clete wartete.

„Was für eine?“, fragte ich.

„Wie man sie oft in texanischen Gefängnissen sieht. Er tauchte aus dem Wasser auf und sah mich direkt an. Dann begann er, flussabwärts wegzuschwimmen.“

„Hattest du dein Handy dabei?“

„Lag im Caddy“, antwortete er. Es folgte ein kurzes Schweigen. „Ich hätt’s sowieso nicht gemeldet.“

„Warum nicht?“

„Ich war mir total unsicher. Konnte nicht klar denken. Du weißt ja selbst, wie diese kommerziellen Zuchthäuser sind.“

„Lass uns mal nicht voreilig sein, Clete. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass er aus einem kommerziellen Gefängnis abgehauen ist. Oder überhaupt aus einem Gefängnis.“

„So hab ich das ja auch gesehen. Warum einen Typen verpfeifen, von dem du nicht die Bohne weißt? Ich hasse Petzen und Informanten. Ich hätte als Krimineller auf die Welt kommen sollen.“

„Meine Rede. Und was ist nun aus dem Kerl geworden?“

„Er ist durchs Schilf und Röhricht gewatet und verschwunden. Also hab ich die Sache auch abgehakt. Leben und leben lassen.“

„Und wieso bist du jetzt beunruhigt?“

„Ich habe gegoogelt und dabei herausgefunden, dass ein Typ, der zwei Morde begangen hat, aus einem Knast in der Nähe von Austin abgehauen ist. Das war vor elf Tagen. Der Kerl ist angeblich ein religiöser Fanatiker. Dann war da heute im Daily Iberian der Artikel über die Frau, die ihr aus der Suppe gezogen habt. Von dem Kreuz stand übrigens nichts in dem Artikel. Das hab ich von dem Reporter. Jetzt liegt mir dieser Typ auf dem Gewissen.“

„Wie heißt denn dieser entflohene Sträfling?“

„Hugo Tillinger. Er hat sein Haus angezündet und seine Frau und die zehnjährige Tochter verbrannt, weil die sich Black Sabbath anhörten.“

„Warum hat er nicht den Injektionstisch bekommen?“

„Oh, hat er. Er hat versucht, sich umzubringen. Er ist aus einem Gefängniskrankenhaus entkommen. Was soll ich tun?“

„Du hast gesehen, wie ein Kerl von einem Güterzug abgesprungen ist. Du hast es mir erzählt. Von jetzt an kümmere ich mich darum. Ende der Geschichte.“

„Wer ist die Tote?“, fragte er.

„Wir haben keine Ahnung.“

„Das macht mich völlig fertig, Dave.“

Was konnte ich sagen? Er war der beste Cop, den ich je kannte, hatte aber seine Karriere mit Dope und Alk und Stripperinnen von der Bourbon Street ruiniert, sich eine Zeitlang mit der Mafia rumgetrieben und verdiente sich seine Brötchen nun als Privatdetektiv, der Kautionsflüchtlinge jagt und durch die Fenster von Leuten späht.

„Komm rein“, sagte ich. „Wir gehen zusammen essen.“

„Du hast gesagt, du hättest einen Termin mit dem Gerichtsmediziner.“

„Ich werde mit ihm telefonieren.“

„Du musst bei mir nicht den Babysitter geben. Wir sehen uns später.“

„Nicht so tief ins Glas schauen, hörst du?“, fragte ich.

„Ja, das ist allerdings die Ursache des Problems“, erwiderte er. „Danke für die Erinnerung, dass ich ein Säufer bin.“

Cormac Watts war unser Gerichtsmediziner. Er sprach mit einem vornehmen Virginia-Akzent, hatte Schuhgröße 48, zog seine Seersucker-Hose fast bis unter die Achseln und trug dazu langärmelige Anzughemden ohne Jackett. Seine Statur erinnerte an ein Strichmännchen und sein Haarschnitt an eine seitenverkehrte Schuhbürste.

Im Iberia General, in einem fensterlosen Raum, der viel zu kalt war und nach Chemikalien roch, lag unsere Jane Doe auf einem Tisch aus rostfreiem Stahl, einem Tisch mit Ablaufrinnen und Schläuchen, durch die Flüssigkeiten entsorgt werden konnten, die im Verlauf einer Leichenöffnung freigesetzt wurden. Ein Laken war bis zu ihrem Kinn gezogen worden; ihre Augen waren geschlossen. Eine Hand und ein Teil des Unterarms waren entblößt; die Finger waren an den Spitzen dunkelblau verfärbt und hatten bereits begonnen, sich zu einer Klaue zu krümmen.

„Eine schöne Frau“, sagte Cormac.

„Hast du die Todesursache?“

Er hob das Laken von ihrem linken Fuß. „Da waren drei Einstiche zwischen ihren Zehen. Sie hatte genug Heroin im Leib, um einen Elefanten auszuschalten.“

„Keine Spuren an den Armen?“

„Nichts.“

„Irgendein Hinweis auf ein Sexualverbrechen?“

„Konnte nichts dergleichen feststellen.“

„Die meisten Junkies, die den Stoff intravenös nehmen, fangen an den Armen an“, sagte ich. „Diejenigen, die zwischen die Zehen injizieren, sind für gewöhnlich schon lange dabei.“

„Es wird noch merkwürdiger“, sagte er. Er hob ihre Hand. „Man hat ihr die Nägel geschnitten und sehr gründlich gereinigt. Ihre Haare wurden erst kürzlich gewaschen, und ihre Haut ist mit einem ätzenden Reinigungsmittel geschrubbt worden. An und zwischen ihren Zähnen haben wir nicht die geringsten Nahrungsmittelreste gefunden.“

„Das alles können Sie bei einer Leiche sagen, die einen halben Tag im Wasser gelegen hat?“, fragte ich.

„Sie ist auf dem Kreuz getrieben. Die Sonne hat mehr Schäden verursacht als das Wasser.“

„Hat sie noch gelebt, als sie ans Kreuz genagelt wurde?“

„Nein“, sagte er.

„Mit was haben wir es hier Ihrer Meinung nach zu tun?“, fragte ich ihn.

„Fetischismus. Ein Opferung. Woher soll ich das wissen?“

Ich hörte das Summen eines Kühlaggregats. Das Licht in dem Raum wirkte metallisch, steril, krümmte sich auf kantigen und spitzen Oberflächen.

„Sie sollten dieses Arschloch besser bald schnappen, Dave.“

Ich hatte aus Cormacs Mund noch nie vulgäre Worte gehört. „Warum?“

„Er wird es wieder tun.“

Das Iberia Sheriff’s Department befand sich im Rathaus, einem zweigeschossigen Backsteingebäude direkt am Bayou, mit weißen Säulen, Dachgauben und einem spiegelnden Teich und Brunnen davor. Am frühen Montagmorgen betrat ich Helens Büro.

„Ich wollte dich gerade schon anrufen“, sagte sie. „Ein älterer schwarzer Geistlicher aus Cade hat angerufen und gesagt, seine Tochter sei seit sechs Tagen verschwunden. Sie heißt Lucinda Arceneaux.“

„Und jetzt erst meldet er sie als vermisst?“

„Er dachte, sie sei von Lafayette nach Los Angeles geflogen. Er hat jetzt erst erfahren, dass sie nie dort angekommen ist.“

„Wie alt ist sie?“

„26.“

„Soll ich mit ihm reden?“

„Ja. Was wolltest du mir sagen?“

„Vor etwa zwei Wochen hat Clete Purcel draußen am Mermentau River geangelt und dabei gesehen, wie ein Kerl vom Dach eines Güterwagens ins Wasser gesprungen ist. Clete hat dann den Artikel im Iberian über unsere Jane Doe gelesen und dachte, er sollte mir von dem Zwischenfall erzählen. Der Kerl hat eine weiße Uniform mit blauem Besatz getragen.“

„Wie ein texanischer Sträfling?“

„Möglich.“

Ein Herzschlag Schweigen. „Clete wollte das nicht melden?“, fragte sie.

„Eiscremeverkäufer tragen weiße Uniformen. Auch Hausmeister und Köche. Nachdem Clete den Artikel in der Zeitung las, fand er im Internet einen Bericht über einen zum Tode verurteilten Mann, der aus einem Gefängniskrankenhaus außerhalb von Austin fliehen konnte. Sein Name ist Hugo Tillinger.“

Helen stand von ihrem Schreibtischstuhl auf und schrieb etwas auf einen Block auf ihrer Schreibtischunterlage. Die Muskeln an ihrer Kinnlade bewegten sich. Sie hatte eine kompakte und kräftige Statur, ihr androgynes Gesicht war schwer zu lesen, besonders wenn sie wütend war. „Weswegen hat Tillinger gesessen?“

„Doppelmord. Seine Frau und Tochter. Er hat sein Haus angezündet.“

„Du kannst Clete ausrichten, dass er gerade eben ganz oben auf meiner schwarzen Liste gelandet ist.“

„Er hatte nicht die Informationen, die wir haben, Helen.“

„Lucinda Arceneauxs Vater sagte, sie habe für das Innocence Project gearbeitet. Die holen Leute aus der Todeszelle.“

Ich wandte meinen Blick ab. „Wie lautet die Adresse des Vaters?“

„Versuch’s bei der Free Will Baptist Church. Richte Clete aus, dass ich mir sein Macho-Gehabe nicht gefallen lassen werde.“

„Sei nicht so streng. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass der Kerl ein entflohener Sträfling war. Er wollte keinen Kerl fertigmachen, der sowieso schon am Arsch war.“

„Sag jetzt besser nichts mehr.“

Ich schnappte mir einen Streifenwagen und fuhr raus nach Cade, einer winzigen, hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Siedlung an einer Nebenstraße zwischen New Iberia und Lafayette. Die Kirche war ein mit Schindeln verkleidetes Gebäude mit einer Glockenturm-Attrappe, umgeben von einer Gruppe Pecannussbäumen. Ein Wohnwagen stand auf Betonklötzen hinter der Kirche. In dem kleinen umzäunten Garten daneben war ein Flaschenbaum. Während der Weltwirtschaftskrise und den Kriegsjahren hängten viele Menschen auf dem Land blaue Milk of Magnesia-Flaschen an die Äste von Bäumen, die dann bei jeder Brise klimperten. Ich glaube, für diesen Brauch gab es keinen anderen Grund als den Wunsch, etwas Farbe und Musik in ihr tristes Leben zu bringen. Andererseits befanden wir uns hier in Louisiana, ein Ort, an dem nicht nur die Toten bei uns sind, sondern vielleicht auch noch boshafte Geister, über die man lieber gar nicht nachdenken möchte. Ich klopfte an die Tür des Wohnwagens.

Der Mann, der mir daraufhin aufmachte, sah viel älter aus als der Vater einer 26-Jährigen. Er war gebeugt und dünn, ging mit einem Stock, trug Hosenträger zu einer Hose, die ihm viel zu groß war. Auf seinen Wangen wucherten buschige weiße Backenbärte, die Augen hatten die Farbe von Mandeln, ganz anders als die Augen unserer Jane Doe. Ich klappte das Etui mit meiner Dienstmarke auf und sagte, wer ich war.

„Kommen Sie rein“, antwortete er. „Haben Sie Neuigkeiten für mich über Lucinda?“

„Ich bin nicht sicher, Reverend“, erwiderte ich. Ich trat ein. „Ich brauche mehr Informationen, anschließend können wir vielleicht ein paar Anrufe machen.“

„Hab ich schon gemacht. Hat nichts genutzt.“

Ich nahm auf einem gepolsterten Stuhl mit Stoffbezug Platz. Ich schaute mich um, suchte an den Wänden oder auf den Tischen nach Fotos. Meine Augen hatten sich noch nicht an das schlechte Licht gewöhnt. Auf dem Boden drehte sich ein Stand-Ventilator. Der Wohnwagen besaß keine Klimaanlage. Ich hasste jetzt schon den möglichen Ausgang des Gesprächs, das ich gleich führen würde.

„Miss Lucinda arbeitet beim Innocence Project?“, fragte ich.

„Ja, früher. Sie hat jetzt einen Job in Kalifornien gefunden.“

„Und was macht sie dort, Sir?“

„Man nennt es wohl Bio-Catering. Sie hat schon immer sehr gern gekocht und mit Essen gearbeitet. Sie hat schon mal ungefähr drei Monate bei einem Partyservice gearbeitet.“

„Wie lange war sie beim Innocence Project?“

„Zwei Jahre. Es war größtenteils ehrenamtliche Arbeit. Sie hat Männer in der Strafanstalt besucht, mit ihnen gesprochen und ihren Anwälten geholfen.“

„Drüben in Texas?“

„Jawohl, Sir. Manchmal. Auch in Angola.“

„Haben Sie schon mal den Namen Hugo Tillinger gehört?“

„Nein, Sir. Wer ist das?“

„Ein Mann, den wir gern finden würden.“

Er saß auf einer verschossenen Couch mit Rosenmuster. Auf dem Couchtisch vor ihm stapelten sich Ausgaben von National Geographic und People und Sierra. „Ich hab die Fluggesellschaft angerufen. Die wollten mir keine Auskunft geben. Und ich habe einen Freund in Los Angeles angerufen, für den sie schon gearbeitet hat. Niemand auf ihrer Arbeitsstelle weiß, wo sie ist.“

„Ist Ihre Frau da, Sir?“

„Sie ist vor neun Jahren gestorben. Wir haben Lucinda adoptiert, als sie drei war. Sie ist nie irgendwohin gegangen, ohne mir etwas zu sagen. Kein einziges Mal.“

„Haben Sie ein Foto von ihr?“

Er ging in einen kurzen Flur, der zu einem Bad und zwei Schlafzimmern führte und kehrte mit einem gerahmten Foto zurück, das er von der Wand genommen hatte. Er legte es mir in die Hand und setzte sich wieder. Ich warf einen Blick auf die junge Frau auf dem Bild. Sie stand neben dem Reverend, hinter ihr ein Strand und ein Berg. Sie lächelte. Ein Blumenkranz hing um ihren Hals. Ich spürte, wie mir flau wurde.

„Das war vor zwei Jahren auf Hawaii“, sagte er. „Wir waren mit unserer Kirche auf Tour.“ Er unterbrach sich kurz. „Sie haben meine Tochter schon mal gesehen, stimmt’s?“

„Sir, Sie müssen mich ins Iberia General begleiten.“

Er sah mich unverwandt an. Dann holte er kurz Luft. „Da ist Lucinda?“

„Wir haben eine junge Frau in der Weeks Bay gefunden.“

„Lucinda hatte keinen Grund, dort draußen zu sein.“

„Gibt es jemanden, der uns begleiten sollte?“, fragte ich.

„Hier wohnen nur wir beide. So ist es schon immer gewesen. Sie war immer das süßeste kleine Mädchen auf der ganzen Welt.“

Sein Blick ließ mich nicht los. Es gab Momente, an denen ich nicht nur meinen Job, sondern die ganze Menschheit hasste. Ich hatte keine angemessenen Worte für ihn.

„Sind Sie sicher?“, fragte er.

„Kümmern wir uns um die Identifizierung, Sir.“

„Helfen Sie mir bitte auf. Meine Knie sind kaum noch zu gebrauchen.“

Er hielt sich an meinem Arm fest, gewichtslos wie ein Vogel, als wir die Stufen zum Streifenwagen hinuntergingen. Dann entfernte er sich ein Stück von mir, als könnte er unsere Begegnung und die Nachricht ungeschehen machen, die ich ihm überbracht hatte. „Wer sollte ihr etwas antun wollen? Sie hat versucht, Menschen Gerechtigkeit zu verschaffen, für die sich sonst keiner mehr interessiert. Sagen Sie mir, was man mit ihr gemacht hat. Sagen Sie es mir jetzt.“

Aber jeder Trost, den ich ihm hätte spenden können, hätte auf einer Lüge basiert.

Er saß seitlich auf dem Beifahrersitz, die Füße noch draußen, und weinte in seine Hände. Ich hörte das Klimpern des Flaschenbaums im Wind, das leise Rascheln der Blätter des Pecannussbaums und wünschte, ich wäre auf der Rückseite des Mondes.

3

Clete rief mich am späten Nachmittag desselben Tages im Department an und bat mich, in sein Büro zu kommen. Es lag an der Main Street in einem 100 Jahre alten Backsteingebäude einen halben Block vom Shadows entfernt. Die Frau am Empfang war gegangen, und die metallenen Klappstühle waren leer bis auf einen, auf dem ein Mann mit langen Haaren, so glatt und glänzend wie schwarzes Plastik, mit einem Taschenmesser seine Nägel reinigte. Der Boden war übersät mit Zigarettenkippen, Kaugummipapierchen, dem Kerngehäuse eines Apfels und einer Bananenschale. Clete saß im hinteren Zimmer an seinem Schreibtisch, die Tür war nur angelehnt. Er winkte mich herein. „Mach die Tür zu“, sagte er.

Auf seinem Schreibtisch lagen Ausdrucke, zwei Aktenmappen und ein Block. Durchs Fenster konnte ich auf der Betonfläche hinter dem Gebäude seinen runden Tisch aus einer alten Kabelrolle mit integriertem Sonnenschirm sehen, die Zugbrücke an der Burke Street und das alte Kloster auf der anderen Seite des Bayou.

„Was gibt’s?“, fragte ich.

„Ich habe mehrere Telefonate wegen Hugo Tillinger geführt. Der Fall ist komplex. Und er stinkt.“

„Ich habe mit Helen über ihn gesprochen, Clete. Überlass uns den Fall ab hier.“

„Ist sonst alles okay? Ich meine, dass ich Tillinger nicht sofort gemeldet habe?“

Ich wich seinem Blick aus. „Mach dir deswegen keinen Kopf.“

„Hast du das Mädchen am Kreuz identifiziert?“

„Sie ist die Tochter eines baptistischen Geistlichen aus Cade. Sie heißt Lucinda Arceneaux. Sie hat ehrenamtlich beim Innocence Project mitgearbeitet.“

Er zuckte zusammen.

„Was nicht heißt, dass sie Hugo Tillinger kannte“, sagte ich.

„Hör auf.“

Er stand hinter dem Schreibtisch auf und öffnete die Tür. „Komm rein, Travis.“

Der Mann mit den zurückgegelten schwarzen Haaren klappte sein Messer zusammen und ließ es in seine Hosentasche gleiten. Er zeigte die ersten Ansätze einer Wampe und seine Wangen sahen aus, als wären sie mit Kaminruß eingerieben worden. Die Hose trug er deutlich unterhalb des Bauchnabels; Haare ragten über seinem Gürtel heraus.

„Darf ich vorstellen: Travis Lebeau“, sagte Clete. „Erzähl Dave bitte, was du über Hugo Tillinger weißt.“

„Als er bei seinem Prozess im Gefängnis saß, hab ich Eis in seine Zelle gebracht“, sagte Travis.

„Eis?“

„Das hab ich speziell in diesem Gefängnis gemacht. Ich habe Eis aus der Küche geholt und bin mit Kippen oder was auch immer bezahlt worden.“

Drei tätowierte Tränen lösten sich von seinem linken Augenwinkel. Auf dem Nacken hatte er zwei blaue Sterne tätowiert, so groß wie die Brandmale von Zigarren.

„Travis gehörte der Aryan Brotherhood an“, sagte Clete. „Jetzt versucht er, mit ein paar Sachen seine Vergangenheit wiedergutzumachen.“

„Ich dachte, die AB ist lebenslänglich“, sagte ich.

„Die haben mich an die Nigger verkauft. An die Black Guerilla Family“, erwiderte er. „Die haben behauptet, ich hätte einen Typen verpfiffen. Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie irgendwen verpfiffen.“

„Erzähl weiter von Tillinger“, sagte Clete.

„Wir haben Dame auf dem Fußboden gespielt, zwischen den Stangen durch“, sagte Travis. „Er wusste, dass er die Nadel bekommen würde. Er sagte, die Geschworenen und der Richter und die Bullen und sein Anwalt, die würden alle für Satan arbeiten. Ich hab ihm gesagt, die brauchen keinen Satan, die arbeiten sich selbst in die Tasche, und das ist schon schlimm genug. Kann ich mich setzen? Ich fühl mich wie ein Hydrant, der gleich angepisst wird.“

„Klar“, sagte Clete.

„Er hat am laufenden Band gequasselt, wie die ganzen Wiedergeborenen, ihr wisst schon, die können gar nicht aufhören, davon zu reden“, sagte Travis. „Er hat mir erzählt, er wär ein Säufer gewesen und ein Choleriker oder wie die heißen, und dann wär er in so einem Lösungszelt von den Pfingstkirchlern gerettet worden. War echt die Hölle, dem Kerl zuzuhören.“

„Das geht mir ein bisschen schnell, Travis“, sagte ich.

„Ich will sagen, Tillinger war kein Krimineller oder einer von der Sorte, der seine Familie verbrennt. Wenn er blau war, hat er sämtliche Poster von den Wänden seiner Tochter abgerissen, und er hat im Garten gebrüllt und getobt, aber das war’s dann auch schon. Ich hab ihm geglaubt. Und das farbige Mädel auch, das dann aufgetaucht ist.“

„Welches farbige Mädel?“, fragte ich.

„Sie hieß Lucinda. Sie fing an, ihn zu besuchen, direkt nachdem er verurteilt wurde. Sie hat gesagt, die Leute vom Innocence Project würden seinen Fall übernehmen. Sie hat gesagt, sie kennt Leute in der Filmbranche, vielleicht ein paar von den Leuten, die Hurricane Carter aus dem Knast geholt haben. Er hat Hoffnung geschöpft. Aber ich hab von Anfang an gedacht, auf den wartet am Ende die Nadel.“

„Warum?“, fragte ich.

„Der Gouverneur wollte Präsident werden. Typen, die Präsident werden wollen, werden nicht gewählt, indem sie nett zu anderen Typen sind, die beschuldigt werden, ihre Familie ermordet zu haben.“

„Wie hieß diese Schwarze mit Nachnamen?“, fragte ich.

„Er nannte sie Miss Lucinda. Das ist alles.“

„Ein Choleriker würde sein Haus nicht abfackeln“, sagte ich.

„Vielleicht so einer wie ich. Tillinger gehörte nicht in den Knast. Das wusste jeder. Ihr wisst, was knasterfahren bedeutet, oder?“

Ich antwortete nicht.

„Ich hab mir direkt zwei Fehltritte erlaubt. Ich hab mich dazu bekannt und lebenslänglich bekommen. Ich hab meinen Schwager in seinem Wagen verbrannt, und ich hab im Knast einen Kerl umgelegt. Bei der Essensausgabe in der Kantine. Für eine dieser Tränen auf meinem Gesicht. Meinen Schwager wollte ich nicht umbringen, aber so ist es ausgegangen. Ich hab verdient, was ich bekommen hab. Tillinger ist das, was wir eine Jungfrau nennen. Der ist nie entjungfert worden. Das bedeutet, er hat nie wirklich zum Milieu gehört. Er gehört in die Elternvertretung und so einen Scheiß.“

„Das alles müssen wir nicht wissen“, sagte ich.

„Du meinst, den Mord in der Essensausgabe?“, fragte er. „Das gefällt dir nicht? Glaubst du, es interessiert mich einen Scheiß, ob das einer weiß?“

Ich gab ihm keine Antwort.

„Sieh mich an, Mann“, sagte er. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was diese verpissten schwarzen Tiere mit mir gemacht haben? Meine besten Freunde haben mich für zwei Schachteln Kippen verkauft. Die haben gesagt, ‚Rupft ihn.‘ Ich muss jede Nacht meines Lebens damit leben, was die mit mir gemacht haben.“

Er hatte Tränen in den Augen.

Nachdem Travis fort war, gingen Clete und ich unter den Kolonnaden die Straße runter zum Bojangles, tranken einen Kaffee und aßen ein Stück Pecannusskuchen in einer hinteren Ecke des Raumes.

„Glaubst du ihm?“, fragte ich.

„Meistens ist er ehrlich“, sagte Clete. „Er will die paar Kontakte nicht verlieren, die er noch hat. Er weiß, dass die Aryan Brotherhood ihn am Ende wahrscheinlich erwischen wird.“

„Ich kaufe ihm das mit Tillingers Unschuld nicht ab.“

„Folgendes ist passiert“, sagte Clete. „Tillingers Haus war 100 Jahre alt und trocken wie Zunder. Die Flammen waren im Obergeschoss, als er nach Hause kam. Die Tochter und die Mutter waren oben. Er behauptete, versucht zu haben, sie da rauszuholen, aber die Hitze sei zu groß gewesen. Später erzählte er dem Brandermittler der Feuerwehr, die Stromverkabelung des Hauses hätte erneuert werden müssen, aber ihm habe das Geld für nötige Reparaturen gefehlt.

So weit, so gut. Dann findet der Ermittler Anzeichen eines Brandbeschleunigers vom Balkon in den Hausflur, oder zumindest meinte er, das gesehen zu haben. Er sagte, der Brand habe im Erdgeschoss begonnen, sei dann die Wände hoch zur Decke und weiter die Treppe hinaufgestiegen. Einer der Nachbarn sagte aus, Tillinger habe nie versucht, ins Haus zu kommen. Stattdessen hat er seinen neuen Ford F-150 vor dem Feuer in Sicherheit gebracht.

Obendrein hatte Tillinger eine Lebensversicherungspolice in Höhe von 50 000 Dollar für seine Frau und Tochter abgeschlossen. Außerdem hat er im Walmart die Klappe aufgerissen und einer Gruppe Gottesdienstbesucher erzählt, seine Familie sollte sich besser mal zusammenreißen, weil er nämlich sonst die Bude abfackeln würde.

Alles sah immer mehr nach Brandstiftung und Mord aus. Dann kreuzte ein Anwalt der ACLU auf und fing an, sich das Beweismaterial anzusehen. Der Typ, der sich Brandermittler nannte, hatte überhaupt keine offizielle Beglaubigung und praktisch keine Erfahrung bei Ermittlungen von Brandstiftungen. Der Beschleuniger stellte sich als Dose Grillanzünder heraus, die jemand neben dem Grill auf dem Balkon zurückgelassen hatte. Die Hitzemarken auf den Fußleisten sind wahrscheinlich von einer Stichflamme aus dem Treppenhaus verursacht worden, nicht von einem Brand, der im Erdgeschoss begonnen hat. Der Verteidiger war von der Bürgerrechtsvereinigung und ist so gut angekommen wie Elefantenkacke in einer Bowleschüssel.“

Gäste an anderen Tischen drehten sich zu uns um.

„Und was ist deine Meinung?“, fragte ich.

„Die spielt keine Rolle. Ich hätte die 911 anrufen müssen, als ich einen Kerl in Knastkluft aus dem Zug springen sah.“

„Wir wissen nicht mit Sicherheit, dass der Kerl Tillinger war. Warum sollte er in den Mermentau River springen? Warum ist er nicht einfach weitergefahren, bis er in Florida war?“

„Das habe ich überprüft. Gleisarbeiter haben an der Strecke gearbeitet. Er konnte sie vom Dach des Güterwagens sehen. Helen ist ziemlich sauer deswegen, stimmt’s?“

„Du warst ein guter Cop, Clete. Das weiß sie.“

„Ich bin kein Cop mehr. Ich hab’s vermasselt.“

„Sag das nicht. Nicht jetzt. Nicht irgendwann.“

Er starrte ins Leere. Das Weiße seiner Augen glänzte und hatte einen leicht rosafarbenen Ton. Er sah zum Schlitz der Klimaanlage auf. „Hier drin ist es zu kalt. Lass uns einen Spaziergang machen. Ich fühle mich, als wäre ich durch Spinnweben gegangen. Ich entschuldige mich dafür, wie Travis mit dir geredet hat. Er war ein Stück Seife in der Dusche von Huntsville.“

Wie immer ging ich am nächsten Morgen zu Fuß zur Arbeit. Desmond Cormier wartete auf mich in der schattigen Zufahrt, die an der Stadtbücherei und der Grotte vorbeiführte, die der Mutter Gottes gewidmet war. Es saß auf dem Beifahrersitz eines Subaru Cabriolets mit kalifornischem Nummernschild und Antoine Butterworth am Steuer.

Desmond stieg aus und schüttelte mir die Hand. Sein Freund zwinkerte mir zu. „Ich muss mit dir reden, Dave“, sagte Desmond.

Ich antwortete nichts.

Butterworth hob eine Zigarette mit goldenem Filter aus dem Aschenbecher des Wagens, nahm einen Zug und schnipste sie dann in das die Grotte umgebende Blumenbeet.

„Ich komme mir so blöd vor“, sagte Desmond. Er trug eine kurze Tennishose, ein gelbes T-Shirt und einen Panama-Strohhut. „Wegen dieser Sache mit dem Teleskop und der gekreuzigten Frau. Mein rechtes Auge schwächelt, und im linken hab ich den grauen Star. Deswegen hab ich sie nicht gesehen. Ich hätte es dir erklären sollen.“

„Was ist mit deinem Freund da drüben? Der hat sie auch nicht gesehen.“

„So ist er eben“, sagte Desmond. „Er ist eigenwillig. Er war in einigen Kriegen. In Somalia und im alten belgischen Kongo. Du würdest feststellen, dass er ein ziemlich anständiger Kerl ist, wenn du ihm eine Chance gäbest. Iss mit uns zu Mittag.“

„Ein anderes Mal.“

„Dave, du warst einer der wenigen, zu denen ich aufgeschaut habe.“

„Der wenigen was?“

„Der Menschen, die kommen und gehen.“

„Es gibt hier ein paar ziemlich anständige Menschen, Desmond.“

„Dann bis demnächst, denke ich.“

„Hast du schon mal was von einem Kerl namens Hugo Tillinger gehört?“, fragte ich.

„Nein. Wer ist das?“

„Ein entflohener Sträfling. Er kannte die Tote. Möglicherweise ist er hier in der Gegend.“

„Ich wünschte, ich könnte dir helfen“, sagte er. „Das ist eine ganz schreckliche Sache.“

„Bevor du gehst – dieses Standfoto, das an deiner Wand hängt, von Henry Fonda, der an einer Straße steht und sich von Clementine verabschiedet.“

„Was ist damit?“

„In dieser Szene geht es um eine gescheiterte Liebe, um den nahenden Tod, richtig?“

„Für mich geht es um den Konflikt zwischen Licht und Schatten. Jedes strebt nach Vorherrschaft. Keines ist zufrieden mit dem, was es hat.“

Ich sah ihn an. Ich versuchte nicht, seinem Gedankengang zu folgen. „Ich habe den Film 1946 im Evangeline Theater gesehen. Meine Mutter hatte mich mitgenommen.“

Er nickte.

„Ich glaube, so eine Szene könnte einem Mann den Rest geben“, sagte ich.

„So hab ich das noch nie gehört.“

„Es ist schon merkwürdig, was passiert, wenn ein Mann zu tief in seinen eigenen Verstand eindringt“, sagte ich.

„Vielleicht denkst du zu viel“, sagte er.

„Wahrscheinlich.“ Ich bückte mich und hob die noch brennende Zigarette auf, die Butterworth ins Blumenbeet geworfen hatte. Ich drückte sie auf dem Schalter der Hupe des Subaru aus und steckte sie in die Brusttasche von Butterworth’s Hemd. „Wir verstehen keinen Spaß, wenn Leute ihren Müll in die Gegend schmeißen.“

Butterworth grinste breit. „In Louisiana?“

Die zwei fuhren davon, das Sonnenlicht glitzerte auf der Windschutzscheibe.

Ich bekam das Standfoto von Wyatt Earp und Clementine einfach nicht aus dem Kopf. Fast konnte ich die Filmmusik in den Bäumen hören.

Am Hintereingang des Rathauses erwartete mich eine weitere Überraschung. Travis Lebeau lümmelte im Schatten an der Ziegelwand und fummelte an seinen Nägeln. „Hey.“

„Was gibt’s?“, fragte ich.

„Ich brauch mal dein Ohr.“

„Komm mit rauf.“

„Wie wär’s mit unten am Wasser? Ich fahr nicht so drauf ab, Bullenhäuser zu besuchen.“

Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Um Informanten anzuspornen, gibt es kein besseres Mittel als vorgetäuschtes Desinteresse. „Ich stehe unter Druck.“

„Und ich hab eine Zielscheibe auf dem Rücken“, erwiderte er.

Ich ging zum Ufer des Bayou hinunter und ließ ihn folgen. „Spuck’s aus.“

„Es gibt da ein paar Typen von der Aryan Brotherhood, die genau wissen, wo ich bin. Gib mir 500, und ich liefere dir Tillinger.“

„Der Kerl, für den du dich eingesetzt hast?“

„Ich sitze in der Klemme“, sagte er, ließ seinen Blick von mir fort wandern. „Er hat gern Namen genannt.“

„Leute, die Lucinda Arceneaux kannte?“

Er sah zur Seite und atmete tief aus. „Ja, Leute, die sie kannte.“

„Welche Leute?“

„Wie steht’s mit der Kohle?“

„Du hast mir noch nichts gegeben, Travis.“

Er kratzte sich mit beiden Händen an den Unterarmen, wie ein Mann mit Nesseln. „Ich muss punkten, meine Fehler geradebiegen“, sagte er. „Ich steh zu meinem Wort.“

„Bist du ein Junkie?“

„Nein, ich bin Dorothy auf dem gelben Ziegelsteinweg.“

„Kann dir leider nicht helfen, Partner.“

Ich machte Anstalten zu gehen.

„Vielleicht hab ich ja ein bisschen übertrieben“, sagte er. „Bezüglich was?“

„Tillinger. Der hat es mir kalt den Rücken runterlaufen lassen.“

„Warum?“

„Weil ihn der Sex zwischen Männern so extrem gestört hat. Er bekam so einen irren Blick in den Augen, wenn er hörte, dass zwei Kerle es miteinander trieben. Schon mal so einem Typen begegnet, der wahrscheinlich selbst nicht schwul war? Manchmal hat er sich mit Streichhölzern verbrannt. Er redete davon, unsere Dämonen auszutreiben und die Toten auferstehen zu lassen.“

„Hätte er Lucinda Arceneaux etwas angetan?“

Langsam schüttelte er den Kopf, so als könnte er sich nicht entscheiden. „Ich weiß nich, Mann. Ich kann keinem in den Kopf sehen.“

„In Wahrheit hast du gar nichts zu verkaufen, stimmt’s?“

Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Ich begann, wieder den Abhang hinaufzugehen.

„Zweihunnert“, sagte er zu meinem Rücken.

Ich ging weiter. Er holte mich ein und zerrte an meinem Hemd. „Du verstehst das nich. Die werden ’ne Lötlampe benutzen. Ich hab selbst gesehen, wie sie das bei ’ner Revolte gemacht haben.“

„Tut mir leid.“

„Vielleicht hat die Schokomaus ihn ja an der Nase herumgeführt. Vielleicht ist Tillinger ausgerastet. Komm schon, Mann, ich muss raus aus der Stadt.“

„Erst mal musst du deine Hand von meinem Arm nehmen.“

„Komm schon, Mann. Mir tut alles weh.“

„Ja, das Leben kann ganz schön beschissen sein.“

Sein Gesicht erinnerte mich an ein leeres Blatt Papier, das sich auf glühenden Kohlen zusammenzog. Grausamkeit hat viele Erscheinungsbilder. Am wenigsten attraktiv ist sie, wenn man sie in sich selbst entdeckt.

Zum Mittagessen ging ich zu Fuß nach Hause. Ein kirschroter Lamborghini parkte in meiner Einfahrt. Alafair aß am Küchentisch mit einem Mann mittleren Alters, den ich noch nie gesehen hatte. Ein Teller mit russischen Eiern und zwei Avocado-Shrimps-Sandwiches, eingewickelt in Wachspapier, sowie ein Glas Eistee mit Minzeblättern darin waren offensichtlich für mich gedeckt worden. Aber sie hatte nicht auf meine Ankunft gewartet, bevor sie und ihr Freund zu essen begonnen hatten.

„Hallo“, sagte ich.

„Hey, Dave“, sagte sie. „Das hier ist Lou Wexler. Er muss zum Flughafen, also haben wir ohne dich angefangen.“

Wexler war ein großer, stämmiger Mann mit einer tiefen Bräune und blonden Haaren, die an den Spitzen von der Sonne ausgeblichen waren. Er war auf eine derbe Art attraktiv, hatte intelligente Augen, große Hände und strahlte ein Selbstvertrauen aus, das manchmal auf Aggressivität hinweist. Er wischte sich die Finger an einer Serviette ab, bevor er sich erhob und mir die Hand schüttelte. „Ist mir eine Ehre.“

„Wie geht’s Ihnen, Sir?“, fragte ich, setzte mich und warf einen Blick aus dem Fenster auf den Bayou. Ich war nicht gerade wohlwollend. Aber kein Vater, wie nachsichtig auch immer er sein mag, traut bei der ersten Begegnung einem Mann, der mit seiner Tochter zusammen ist. Falls er sagt, es sei anders, dann lügt er entweder oder taugt nichts als Vater.

„Lou ist Drehbuchautor und Produzent“, sagte Alafair. „Er arbeitet für Desmond.“

„Genaugenommen arbeite ich nicht für Desmond“, sagte er. „Ich helfe ihm, seine Filme zu produzieren. Kein Mensch ‚arbeitet‘ für Desmond. Er ist Eigenbrötler. Natürlich im besten Sinne.“

„Was ist mit diesem Typen, diesem Butterworth?“, fragte ich.

„Oh, Sie sind Antoine begegnet, was?“

„Zweimal.“

Wexlers Augen glitzerten. „Und?“

„Ein ungewöhnlicher Kerl“, sagte ich.

„Nehmen Sie ihn nicht ernst“, sagte Wexler. „Das macht keiner. Er ist ein Erbsenzähler, der sich als Künstler ausgibt.“

„Ich habe gehört, er hat mehrere Kriege mitgemacht“, sagte ich.

„Am besten war er darin, Eingeborenen im Busch Angst zu machen, in einem Land Rover durch die Gegend zu rasen und bei Fototerminen aufzukreuzen. In Südafrika hat’s förmlich gewimmelt von denen.“

„Ist das Ihr Zuhause?“, fragte ich.

„Eine Zeitlang. Ich bin in New Orleans geboren. Heute lebe ich in Los Angeles.“

Wenn er in New Orleans aufgewachsen war, dann hatte er die Stadt aus seiner Sprache weggeätzt.

„Wir haben unmittelbar südlich von Desmond Cormiers Haus eine Leiche aus dem Wasser gezogen“, sagte ich. „Die Leiche war an ein Kreuz gebunden. Ich habe das Kreuz mit einem Teleskop entdeckt. Unser Freund Butterworth hat auch einen Blick durchgeworfen, konnte aber nichts sehen. Das Gleiche gilt für Desmond, allerdings hat er mir heute Morgen erzählt, dass sein Sehvermögen ziemlich schlecht ist. Butterworth schien das alles ziemlich kaltzulassen.“

Es war totenstill im Raum. Alafair starrte mich an.