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Das furiose Finale der Bourbon-King-Reihe
Lane Baldwine hat sich nie an der Spitze des Bourbon-Imperiums gesehen. Doch nach dem Tod des Patriarchen findet er sich in der Rolle des Familienoberhaupts und als Leiter der Bradford Bourbon Company wieder. Eine Position, die eigentlich seinem älteren Bruder Edward bestimmt war. Allerdings sitzt dieser im Gefängnis, hat er doch den Mord an ihrem Vater gestanden. Überzeugt davon, dass Edward jemanden schützt, machen sich Lane und seine große Liebe Lizzie auf die Suche nach dem wahren Täter - nur um einem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das ihre Welt für immer verändern wird.
"Ein Roman voller Skandale, verbotener Liebe sowie Wendungen, die niemand kommen sieht!" FreshFiction
Spiegel-Bestseller-Serie
DEUTSCHE ERSTAUSGABE
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Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2017
J. R. WARD
Bourbon Lies
Roman
Ins Deutsche übertragen von Marion Herbert und Katrin Kremmler
Die Bradfords kommen nicht zur Ruhe. Als sich herausstellt, dass der Tod des Patriarchen kein Suizid, sondern Mord war, geraten alle seine Kinder unter Verdacht. Jedes von ihnen hätte ein Motiv. Doch es ist schließlich Edward, der die Tat gesteht. Schützt er jemanden oder hat er seinen Vater tatsächlich vorsätzlich getötet? Während Edward in Haft ist, versucht Lane, die Familie zusammenzuhalten und das Bourbon-Imperium vor dem Ruin zu bewahren. Und obwohl er mit einem riskanten Pokerspiel das Schlimmste abgewendet hat, liegt das Schicksal der Firma nach wie vor in den Händen ihrer größten Konkurrentin: Sutton Smythe, Chefin der Sutton Distillery Corporation. Wird sie sich für ihr Unternehmen entscheiden oder siegt ihre Liebe zu Edward? Denn trotz aller Umstände fühlt sie sich nach wie vor unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Da trifft ein weiterer Schicksalsschlag die Familie, und nur ein Wunder kann die Bourbon Kings noch vor dem Untergang bewahren.
In Liebe für
Dominique Boel Freese
und Mindy Wiseman
alias Greta und Lizzie
Virginia Elizabeth Bradford Baldwine, genannt »Little V. E.«: Witwe von William Baldwine, Mutter von Edward, Max, Lane und Gin Baldwine und direkte Nachkommin von Elijah Bradford, dem Begründer von Bradford Bourbon. Lebt völlig zurückgezogen und nur mithilfe ihrer Medikamente. Für ihre Tablettenabhängigkeit gibt es zahlreiche Gründe, von denen einige das Grundgerüst der Familie bedrohen.
William Wyatt Baldwine: Verstorbener Ehemann von Little V. E. und Vater ihrer Kinder Edward, Max, Lane und Gin Baldwine. Außerdem Vater eines unehelichen Sohnes mit der verstorbenen Rosalinde Freeland, frühere Rechnungsprüferin auf dem Bradford Family Estate, sowie Vater eines ungeborenen Kindes von Chantal, der zukünftigen Exfrau seines Sohnes Lane. Zu Lebzeiten Chef der Bradford Bourbon Company. Ein Mann niederer Moral, hoher Ziele und geringer Skrupel, dessen Leiche kürzlich am Ohio-Wasserfall gefunden wurde.
Edward Westfork Bradford Baldwine: Ältester Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Rechtmäßiger Erbe der Bradford Bourbon Company. Nur noch ein Schatten seiner Selbst infolge einer tragischen Entführung und Folterung, die sein eigener Vater veranlasst hatte. Hat seiner Familie den Rücken gekehrt und sich auf das Red-&-Black-Gestüt zurückgezogen.
Maxwell Prentiss Baldwine: Zweitältester Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Schwarzes Schaf der Familie. Seit Jahren fort von Easterly, dem historischen Anwesen der Bradfords in Charlemont, Kentucky. Sexy, schockierend und rebellisch. Seine Rückkehr bedeutet Probleme für eine Reihe von Leuten inner- und außerhalb der Familie.
JonathanTulaneBaldwine,genannt»Lane«: Jüngster Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Ehemaliger Playboy und großartiger Pokerspieler. Steckt mitten in der Scheidung von seiner ersten Frau. Da das Vermögen der Familie in Gefahr ist und immer gravierendere Veruntreuungen in der Bradford Bourbon Company ans Licht kommen, ist er gezwungen, die Rolle des Familienoberhaupts zu übernehmen. Muss sich nun mehr denn je auf seine große Liebe Lizzie King verlassen.
Virginia Elizabeth Baldwine Pford, genannt »Gin«: Jüngster Spross und einzige Tochter von Little V. E. und William Baldwine. Eine widerspenstige, aufmerksamkeitssüchtige Rebellin, die sich nie besonders um den Ruf ihrer Familie geschert hat, vor allem, als sie in ihren College-Jahren ein uneheliches Kind bekam und kaum ihren Abschluss schaffte. Seit Kurzem verheiratet mit Richard Pford, dem Erben einer Spirituosen-Vertriebsgesellschaft und eines immensen Vermögens.
Amelia Franklin Baldwine: Tochter von Gin und Gins großer Liebe Samuel T. Lodge, auch wenn weder Amelia noch Samuel T. etwas davon wissen. Besuchte bis vor Kurzem die Hotchkiss School, ist aber nach dem Tod ihres Großvaters nach Hause gekommen, um künftig in der Nähe zur Schule zu gehen.
Lizzie King: Gartenbauexpertin, die schon fast zehn Jahre auf Easterly arbeitet und dafür sorgt, dass die Gärten ihrer landesweiten Berühmtheit für seltene Pflanzen und Blumen gerecht werden. Liebt Lane Baldwine und würde für ihre Beziehung alles tun. Ist jedoch weniger begeistert von den Dramen der Familie.
Samuel Theodore Lodge III.: Anwalt, sexy Südstaaten-Gentleman und stets stilvoll gekleideter, privilegierter Bad Boy mit Stammbaum. Der einzige Mann, der je wirklich an Gin herankommen konnte. Hat keine Ahnung, dass Amelia seine Tochter ist.
Sutton Endicott Smythe: Frisch eingesetzte Chefin der Sutton Distillery Corporation, der größten Konkurrenz der Bradford Bourbon Company auf dem Markt. Seit Jahren in Edward verliebt. Hat es beruflich weit gebracht, aber ihr Privatleben auf Eis gelegt – hauptsächlich, weil niemand mit Edward vergleichbar ist.
Shelby Landis: Tochter einer Legende des Galopprennsports. Von ihrem Vater Jeb hat Edward sein Wissen über Pferde. Nun kümmert sich die fleißige, starke Frau um Edward – auch gegen seinen Willen.
Miss Aurora Toms: Seit Jahrzehnten Chefköchin von Easterly. Serviert mit starker Hand und warmem Herzen Soul Food ebenso wie Haute Cuisine. Leidet an Krebs im Endstadium. Mütterliche Kraft in Lanes, Edwards, Max’ und Gins Leben und der wahre moralische Kompass für die Kinder.
Edwin »Mack« MacAllan: Master Distiller der Bradford Bourbon Company. Züchtet einen neuen Hefestamm und kämpft gegen die Zeit und begrenzte Ressourcen, um die Destillierapparate weiterlaufen zu lassen. Traf kürzlich die Liebe seines Lebens und ist besorgt um die Zukunft von BBC.
Chantal Blair Stowe Baldwine: Lanes zukünftige Exfrau. Schwanger mit William Baldwines unehelichem Kind. Die Schönheitskönigin mit dem Tiefgang einer Untertasse droht, die Vaterschaft ihres ungeborenen Babys öffentlich zu machen, um im Scheidungsprozess mehr Geld von Lane zu erpressen.
Rosalinda Freeland: Frühere Rechnungsprüferin auf dem Bradford Family Estate. Beging mit einer Dosis Schierling Selbstmord in ihrem Büro in der Villa. Mutter des achtzehnjährigen Randolph Damion Freeland, dessen Vater William Baldwine ist.
Easterly, das Bradford Family Estate, Charlemont, Kentucky
Ein Eindringling war unten im Garten.
In der warmen, dunstigen Südstaatennacht, unter den blütenübersäten Obstbäumen, zwischen den riesigen Teerosen und den in Formation geschnittenen Buchsbaumhecken bewegte sich innerhalb der efeubewachsenen Mauern eine Gestalt über die gepflasterten Wege zur Rückseite des Herrenhauses wie ein Stalker.
Jonathan Tulane Baldwine kniff die Augen zusammen und lehnte sich näher an sein Schlafzimmerfenster. Wer immer das war, ging geduckt und hielt sich in den Schatten verborgen. Seine Zielstrebigkeit ließ darauf schließen, dass er wusste, was er tat und welchen Weg er wählen musste. Aber andererseits war es nicht sonderlich schwer, eine weiße Geburtstagstorte von Haus mit fast zwei Quadratkilometern Grundfläche im Dunkeln zu finden.
Lane wandte sich von den blasig verzogenen antiken Fensterscheiben ab und sah zu seinem Bett hinüber. Lizzie King, die Liebe seines Lebens, schlief tief und fest in den Kissen, ihr blondes Haar schimmerte im Mondlicht, und unter der seidenen Bettwäsche lugte ihre gebräunte Schulter hervor.
Schon seltsam, diese Momente der Klarheit, dachte er, während er sich Boxershorts überzog. Als er überlegte, wer der Eindringling sein könnte, und ihm nichts Gutes schwante, wusste er ohne jeden Zweifel, dass er töten würde, um seine Frau zu beschützen. Obwohl sie auf sich selbst aufpassen konnte und er das Gefühl hatte, dass er sich mehr denn je auf sie verließ. Aber wenn jemand versuchte, sie zu verletzen, würde er ihn abknallen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Mit dieser Gewissheit ging er lautlos über den Orientteppich zu einem antiken Sekretär aus dem 19. Jahrhundert, der seither im Besitz seiner Familie war. Seine Pistole war in der linken oberen Schublade, unter den zusammengerollten fein gewebten Socken, die er zu seinen Smokings trug. Die Neunmillimeter war kompakt, aber sie hatte einen Ziellaser – und war voll geladen.
Er entsicherte sie.
Dann ging er auf den Gang hinaus, der so lang wie eine Straße in der Großstadt und mit all der förmlichen Eleganz der Korridore im Weißen Haus ausgestattet war, und hielt die Waffe neben seinen Oberschenkel. Unter Easterlys gewaltigem Dach gab es etwa zwanzig Schlafzimmersuiten für Familie und Gäste, und während er an Türen vorbeiging, zählte er ab, wer dahinter war – oder es hätte sein sollen: seine jüngere Schwester Gin, allerdings ohne ihren frischgebackenen Ehemann Richard, der auf Geschäftsreise war; Amelia, Gins sechzehnjährige Tochter, die bald zurück auf die Hotchkiss School zu ihren Abschlussprüfungen musste; Jeff Stern, Lanes alter College-Mitbewohner, der erst kürzlich zum Geschäftsführer der Bradford Bourbon Company ernannt worden war – von Lane. Und nicht zu vergessen Lanes und Gins Mutter, Little Virginia Elizabeth.
Natürlich konnte sich jeder von ihnen dort unten um zwei Uhr früh auf einen Spaziergang gemacht haben. Mit Ausnahme seiner Mutter. Little V. E. hatte in den letzten drei Jahren nicht mehr das Zimmer verlassen, außer für die Aufbahrung seines Vaters vor wenigen Tagen – und obwohl der Anlass die Anstrengung gerechtfertigt hatte, war es doch ein Schock gewesen, sie nicht im Nachthemd und im Erdgeschoss zu sehen.
Also war es unwahrscheinlich, dass sie im Garten herumschlich.
Und das Personal? Der Butler hatte gekündigt, und keiner der Hausangestellten übernachtete im Haus – außerdem waren die Hausangestellten ohnehin alle entlassen worden.
Niemand sonst hätte auf dem Grundstück sein dürfen.
Auf halbem Weg den Gang hinunter ging er durch die Sitzecke im ersten Stock und blieb oben an der großen Treppe stehen.
Die Alarmanlage unten blieb stumm. Er hatte sie nicht eingeschaltet, als er und Lizzie vom Krankenhaus nach Hause gekommen waren.
So was Blödes.
Verdammt, hatte er überhaupt daran gedacht, die gefühlten tausend Türen im Erdgeschoss abzuschließen? Er konnte sich nicht erinnern. Es war fast Mitternacht gewesen, sein Hirn ein einziges Chaos, und Bilder von Miss Aurora in ihrem Bett auf der Intensivstation machten ihn fast verrückt vor Angst. Lieber Gott, diese Afroamerikanerin war mehr seine Mutter als die Neo-Daisy-Buchanan, die ihn geboren hatte – und der Gedanke daran, dass der Krebs ihm Miss Aurora nahm, Organ für Organ, brachte ihn fast dazu, Amok zu laufen.
Er ging die große Treppe hinunter, auf der man »Vom Winde verweht« hätte drehen können, und trat auf den schwarzweißen Marmorfußboden des leeren Foyers. Nirgends brannte Licht. Er blieb erneut stehen und lauschte. Wie alle alten Häuser war Easterly äußerst redsam. Seine Balken und Dielenbretter, Türangeln und Türklinken führten Zwiegespräche mit den Menschen, die sich in ihm bewegten.
Nichts.
Schade. In Kentucky gab es ein Heimstättengesetz, das einem das Recht gab, Eindringlinge im eigenen Haus zu töten. Wenn er also heute Nacht jemanden erschießen müsste, würde er es lieber drinnen als draußen tun. Dann müsste er die Leiche nicht durch eine Tür ins Haus zerren und es so aussehen lassen, als wäre der Mistkerl ein Einbrecher.
Lane ging weiter, durch die dunklen Räume im öffentlichen Teil des Hauses. Zwischen all den antiken Möbeln und alten Gemälden kam er sich vor wie ein Wachmann in einem Museum, der nach den Öffnungszeiten seine Runden drehte. Es gab unzählige Fenster und Glastüren, eingefasst von bodenlangen antiken Vorhängen, aber da im ganzen Erdgeschoss kein Licht brannte, war er genauso ein Geist wie der Typ draußen im Garten. Wer immer das war.
An der Rückseite des Herrenhauses angekommen, ging er zu einer der Türen und starrte über die gepflasterte Terrasse hinaus, suchte die schmiedeeisernen Liegesessel, Stühle und Tische mit den Glasplatten nach etwas ab, das nicht dorthin gehörte oder sich bewegte. Nichts. Zumindest nicht an der schiefernen Sockelverkleidung des Hauses.
Aber irgendwo dort draußen im Grünen lauerte jemand seiner Familie auf.
Er drückte die Messingklinke hinunter, öffnete halb die Tür und lehnte sich hinaus. Die schwülwarme Mainacht umfing ihn so duftend wie ein Blumenstrauß. Er sah nach links. Nach rechts. Die Gaslaternen an der Rückseite des Herrenhauses flackerten, aber ihr pfirsichfarbener Lichtschein reichte nicht weit.
Mit schmalen Augen suchte er die Dunkelheit ab, während er in die Nacht hinaustrat und vorsichtig die Tür hinter sich schloss.
Wie alle Häuser dieser Größenordnung wurde das prunkvolle Südstaatenanwesen von ausgedehnten Gärten eingefasst, die diversen Anlagen und Pflanzzonen bildeten Landschaften, die so einzigartig und individuell waren wie die unterschiedlichen Postleitzahlen einer Stadt. Was sie alle vereinte, war die Eleganz an jeder Ecke: die römischen Statuen, die in der Mitte von geometrisch geschnittenen Heckenformationen posierten, oder die Springbrunnen, die kristallklares Wasser in Teiche voller Koikarpfen rieseln ließen, oder die mit Glyzinien bewachsene Gartenlaube des Poolhauses.
Das war Mutter Natur, dem menschlichen Willen unterworfen, die Pflanzenwelt kultiviert und bis ins kleinste Detail und mit der Präzision gepflegt, die man für die Dekoration eines Innenraumes aufwandte. Und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er daran, was es kostete, das alles zu unterhalten – die Arbeitsstunden, das Pflanzenmaterial, das ständige Mähen und Unkrautjäten und Heckenschneiden, die Instandhaltung der zweihundert Jahre alten Backsteinmauern und gepflasterten Wege, die Poolreinigung.
Der helle Wahnsinn. Die Art von Kosten eben, die sich nur die Superreichen leisten konnten – und in dieser Liga spielte die Familie Bradford nicht mehr mit.
Danke Vater, du Hurensohn!
Lane konzentrierte sich wieder auf seine Mission. Er lehnte den Rücken gegen das Haus und wurde zu einem Hirschjäger auf dem Hochsitz: Er rührte sich nicht. Atmete kaum. Wartete lautlos, dass das Wild sich zeigte.
Ob es Max ist?, fragte er sich.
Aus der lieblosen Ehe seiner Eltern waren vier Kinder hervorgegangen – erschreckend eigentlich, wenn man bedachte, dass sie sich nur selten im selben Raum aufgehalten hatten, schon lange bevor seine Mutter vor drei Jahren bettlägerig geworden war. Aber dennoch gab es sie: Edward, den perfekten ältesten Sohn, den ihr Erzeuger gehasst hatte; Max, das schwarze Schaf; Lane, der das Playboydasein zur Kunstform erhoben hatte – zumindest bis er so klug geworden war, sich für die richtige Frau zu entscheiden; und schließlich Gin, die mit ihrer Promiskuität gegen alle gesellschaftlichen Konventionen rebellierte.
Edward saß jetzt im Gefängnis, für den Mord an ihrem schrecklichen Vater. Gin war gerade eine hasserfüllte Ehe eingegangen, für Geld. Und Max war nach mehrjähriger Abwesenheit als bärtiger, tätowierter Schatten des Studenten nach Hause gekommen, der er einmal gewesen war, und verachtete alle, einschließlich seiner Familie – so sehr, dass er in einem der Bedienstetenhäuser im hinteren Teil des Anwesens übernachtete, weil er sich weigerte, unter dem Dach von Easterly zu sein.
Vielleicht war ja Max zum großen Haus heraufgekommen, um Gott weiß was zu tun. Um sich eine Tasse Zucker zu leihen. Eine Flasche Bourbon zu holen. Vielleicht um das Tafelsilber zu stehlen?
Aber wie war er in den Garten gekommen? Wie kam überhaupt jemand hinein? Auf zwei Seiten wurde der Garten mit seinen mehreren Morgen großen Blumenbeeten und Rasenflächen von der Backsteinmauer geschützt, die dreieinhalb Meter hoch und von Stacheldraht gekrönt war und zwei mit Vorhängeschlössern gesicherte Tore hatte. Und die dritte Seite war noch schwerer zu bezwingen: Sein Vater hatte die alten Stallungen zu einem hochmodernen Business Center umgebaut und die Bradford Bourbon Company in den letzten Jahren von dort aus geleitet. Durch diese Anlage war definitiv kein Durchkommen, es sei denn, man hatte eine Zugangskarte oder die Codes.
Plötzlich flitzte von rechts eine Gestalt die Allee von blühenden Holzapfelbäumen hinunter.
Hab ich dich, dachte Lane, und sein Herz begann zu hämmern. Er rannte über die Terrasse, seine nackten Füße lautlos auf den Steinplatten, und suchte Deckung hinter einer Pflanzvase, die groß genug war, um ein Vollbad darin zu nehmen.
Es war definitiv ein Mann. Zu breitschultrig für eine Frau.
Und der Mistkerl kam in seine Richtung.
Lane nahm ihn mit der Waffe ins Visier, hielt sie mit beiden Händen und ausgestreckten Armen und betätigte den Selbstlader. Völlig reglos wartete er, dass der Eindringling über den Weg und diese Seitentreppe heraufkam.
Er wartete …
… und wartete …
Da fiel ihm seine zukünftige Exfrau Chantal ein, mit der er mitten im Rosenkrieg steckte. Vielleicht hatte sie einen Privatdetektiv geschickt, um Informationen zum Finanzskandal bei der BBC zu besorgen. Schmutzige Details dazu, wie schlimm es um den Bankrott stand, die sie gegen ihn einsetzen konnte, während sie ihrer nicht existenten Beziehung den amtlichen Todesstoß versetzten.
Oder vielleicht war Edward aus dem Gefängnis ausgebrochen und kam nach Hause.
Wohl eher nicht.
Der Eindringling bog auf dem Weg ab und kam nun direkt auf Lane zu. Aber er hatte den Kopf gesenkt und sich die Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen.
Lane blieb weiter in Schussposition, bis er absolut sicher war, dass er die Brust treffen würde. Dann drückte er den Abzug halb durch. Das rote Laservisier durchschnitt die Nacht, und direkt über dem Herzen des Typen erschien ein kleiner tanzender Punkt.
Lane sprach laut und deutlich: »Ich habe kein Problem damit, dich zu töten.«
Der Mann blieb so abrupt stehen, dass seine Füße über das Pflaster schlitterten. Und riss so schnell die Hände hoch, als hätte er Matratzenfedern in den Achseln.
Lane runzelte die Stirn, als er endlich das Gesicht sah. »Was machen Sie denn hier draußen?«
Bezirksgefängnis von Washington County, Innenstadt von Charlemont
Mondlicht fiel in die Gefängniszelle. Das vergitterte Fenster zerschnitt den milchigen Lichtstrahl in fünf Teile, bevor er auf den Rand des Waschbeckens aus Edelstahl traf und sich von dort aus auf den Betonboden ergoss. Die Nacht draußen war feucht, daher die trübe Beleuchtung. In der Zelle existierten keine Jahreszeiten. Die Wände, der Boden und die schwere solide Tür waren in unterschiedlichen Tönen von Knastgrau gestrichen, die Luft war stickig und roch nach Metall und Desinfektionsmitteln.
Edward Bradford Baldwine setzte sich auf dem Bett ganz zurück. Sein schlimmer zugerichtetes Bein hatte er in dem seltsamen Winkel aufgestellt, der ihm ein wenig Erleichterung brachte, denn die dünne Matratze bot den Knochen seines verkümmerten Unterkörpers wenig bis gar keine Polsterung.
Er war nicht das erste Mal eingesperrt, aber jetzt wenigstens nicht gegen seinen Willen. Das alles hatte er freiwillig auf sich genommen: Er hatte den Mord an seinem Vater gestanden und sich damit selbst in dieses Gefängnis eingeliefert. Auch war er, anders als beim letzten Mal, nicht der einzige Gefangene hier. Obwohl die Tür verstärkt war, drangen immer wieder Schnarchen, Husten und gelegentliches Stöhnen an seine Ohren.
Ein gedämpfter Schlag und ein korrespondierendes Echo ließen ihn an Red & Black denken, sein Gestüt für Vollblutpferde. All diese Männer in ihren Einzelzellen waren wie seine Stuten in ihren Stallboxen – unruhig, aufgewühlt, sogar mitten in der Nacht. Vielleicht besonders nach Einbruch der Dunkelheit.
Er stützte seine Handflächen in die Matratze und entlastete die Druckpunkte auf seinem Gesäß, solange er konnte. Zu bald schon war er gezwungen, sich wieder hinzusetzen, sein Oberkörper war nicht kräftiger als seine untere Körperhälfte. Mit dem ständigen unterschwelligen Störgeräusch von körperlichem Unbehagen war er inzwischen sehr vertraut geworden.
Als er sich in der Zelle umblickte, mit ihren Wänden aus Betonsteinen und ihrem polierten Betonboden, dem Waschbecken und der Toilette aus Edelstahl, dem mit Hühnerdraht vergitterten Fenster, dachte er an die Pracht von Easterly. Der Keller des Herrenhauses seiner Familie war mit größerem Luxus ausgestattet als diese Unterkunft. Besonders der Weinkeller, der aussah, als wäre ein englisches Herrenzimmer von oben durch den Fußboden gefallen und auf dem Muttergestein des Hügels gelandet.
Aus keinem besonderen Grund – nun, außer dem offensichtlichen, dass er nichts Besseres zu tun hatte und kein Auge zubekam – dachte er an eine Geschichte, die er vor Jahren gelesen hatte, über einen kleinen Jungen, der in einem Pappkarton aufgewachsen war. Oder hatte es nicht einmal eine Fernsehsendung gegeben über eine Figur, die auf ähnliche Weise gefoltert worden war …
Moment, jetzt hatte er den Faden verloren.
Sein Verstand, zäh und träge, versuchte, den letzten Gedanken wieder einzufangen.
Oh, richtig. Der Junge im Karton. Bei seiner Rettung war er ziemlich untraumatisiert gewesen. Er war erst wütend geworden, als er herausfand, dass andere Kinder dieser Art von Missbrauch nicht ausgesetzt waren.
Die Moral der Geschichte? Wenn man in einer gegebenen Umgebung aufwuchs und nichts anderes kannte, keine Vergleichsmöglichkeiten und keinen Kontrast hatte, blieben die Seltsamkeiten der eigenen Existenz einem unsichtbar und unbegreiflich. Das Leben mit seiner Familie und auf Easterly war völlig normal für ihn gewesen. Er hatte angenommen, dass alle Menschen auf Anwesen mit siebzig Leuten Personal lebten. Dass Rolls-Royces nur Autos waren. Dass es etwas ganz Normales war, wenn zu den Partys der eigenen Eltern Präsidenten und Würdenträger und Leute aus Film und Fernsehen kamen.
Weil die Leute auf seiner Schule, der Charlemont Country Day, und dann auf der University of Virginia größtenteils einer ähnlichen sozialen und finanziellen Schicht angehörten, war seine verzerrte Wahrnehmung nie herausgefordert worden. Und nach seinem Abschluss hatte seine Perspektive sich nicht weiterentwickelt, weil er vollauf davon in Anspruch genommen war, sich in das Familienunternehmen einzuarbeiten.
Er hatte auch angenommen, dass alle Väter ihre Kinder hassten.
Natürlich waren seine Brüder und seine Schwester nicht mit derselben Verachtung behandelt worden wie er, aber trotzdem mit genügend Feindseligkeit, um sein Weltbild nicht infrage zu stellen. Und die Prügel und kalten Tribunale hatten immer hinter geschlossenen Türen stattgefunden. Als er dann schon etwas herumgekommen war und Väter gesehen hatte, die sich ihren Sprösslingen gegenüber zivilisiert benahmen, hatte er einfach angenommen, dass es nur Show war und auch hier ein Vorhang von Privatsphäre und gesellschaftlichen Ausflüchten eine Realität verbarg, die sehr viel finsterer war.
So wie im Bradford-Haushalt.
Die Augen waren ihm endlich aufgegangen, als er in der BBC zu einer Führungsposition aufgestiegen war und entdeckte, dass sein Vater nicht nur ein beschissener Erzeuger, sondern auch ein miserabler Geschäftsmann war. Und dann hatte er den Fehler gemacht, William Baldwine zur Rede zu stellen.
Zwei Monate später war Edward in einer Routineangelegenheit nach Südamerika geflogen und entführt worden. Sein Vater hatte sich geweigert, das Lösegeld zu zahlen, woraufhin Edward schlimme Dinge angetan worden waren. Teils, weil seine Kidnapper frustriert waren, teils, weil ihnen langweilig war.
Aber vor allem, weil sein Vater ihnen aufgetragen hatte, ihn zu töten.
Da war ihm endgültig klar geworden, dass William ein bösartiger Mann war, der sein ganzes Leben lang schlimme Dinge getan und sehr viele Menschen dabei verletzt hatte, auf sehr viele unterschiedliche Arten.
Zum Glück für Edward hatte sich im Dschungel ein unerwarteter Retter materialisiert, und man hatte ihn zu einem Stützpunkt der US-Armee ausgeflogen und von dort nach Hause. Er war in Charlemont gelandet wie ein ramponiertes Paket, das auf dem Weg durch den Zoll beschädigt und aufgehalten worden war.
Erinnerungen daran, wie er wieder neu lernen musste zu gehen und Treppen zu steigen, selbst zu essen und sich zu waschen, stürmten auf ihn ein, und er dachte darüber nach, wie sehr ihm der Alkohol fehlte.
In einer Nacht wie dieser, mit nur seiner Schlaflosigkeit und seinem kannibalistischen Hirn zur Gesellschaft, hätte er töten können für einen Filmriss.
Als nach der ersten, medizinisch intensiveren Periode seiner Genesung seine Opiate abgesetzt wurden, war der Schnaps seine Stütze gewesen. Dann, als die Tage und Nächte sich weiter dahinzogen, waren seine kleinen Ferienkreuzfahrten auf dem Suff-Dampfer, die Benommenheit und Erleichterung, die der Schnaps ihm gab, die einzige Ruhepause von seinem Verstand und seinem Körper gewesen. Aber dieses leberschädigende Hobby hatte er aufgeben müssen.
Sobald ihm klar wurde, dass er ins Gefängnis gehen würde, war der Entzug unumgänglich. Und die ersten zweiundsiebzig Stunden waren die Hölle gewesen. Eigentlich war es immer noch schlimm, und nicht nur, weil ihm seine psychologische Krücke fehlte. Er fühlte sich körperlich noch geschwächter, und obwohl das Zittern in seinen Händen und Füßen allmählich nachließ, war es mit seiner Feinmotorik und seinem Gleichgewichtssinn noch nicht weit her.
Er blickte auf seine weiten orangefarbenen Gefängnishosen hinunter und erinnerte sich an sein altes Leben, seinen früheren Körper, seinen früheren Verstand. Damals war er so heil und gesund gewesen. Hatte sich darauf vorbereitet, die Bradford Bourbon Company zu übernehmen, wenn sein Vater in den Ruhestand ging, hatte strategische Geschäftsentscheidungen getroffen und sich mit Racquetball und Tennis ausgepowert.
Wie der Junge im Karton hätte er sich nie träumen lassen, dass ein anderes Leben auf ihn wartete. Eine andere Existenz. Dass eine Veränderung schon in den Startlöchern stand und ihn zu einem neuen Bewusstsein führen würde.
Aber im Unterschied zu dem Jungen im Karton war sein Leben schlimmer geworden, zumindest nach fast allen objektiven Kriterien. Und das galt bereits, bevor seine Taten ihn hierher geführt hatten, zu dieser Toilette, die nur einen kalten Rand zu bieten hatte, um sich zu setzen.
Aber die gute Nachricht war, dass es allen, die ihm etwas bedeuteten, nun gut gehen würde. Sein jüngster Bruder Lane hatte die BBC übernommen und würde das Unternehmen angemessen leiten. Ihre Mutter, Little V. E., war vom Alter und den Medikamenten so verwirrt, dass sie ihr restliches Leben – vielleicht auf Easterly, vielleicht auch nicht – in seliger Unwissenheit über den sozialen Abstieg der Familie verbringen würde. Gin, seine Schwester, war mit einem sehr vermögenden Mann verheiratet, den sie für ihre Ziele manipulieren konnte. Und sein anderer Bruder Max, das schwarze Schaf der Familie, würde bleiben, was er immer gewesen war: ein Herumtreiber, der damit zufrieden war, außerhalb von Charlemont zu leben, und wie ein Geist ein Vermächtnis heimsuchte, für das er weder Wertschätzung aufbrachte noch Interesse an dessen Bewahrung.
Und er selbst? Wenn er aus seiner vorübergehenden Haft im Bezirksgefängnis in ein richtiges Gefängnis verlegt würde, gäbe es dort vielleicht Physiotherapie, die ihm helfen würde. Er könnte noch einen Uniabschluss machen. Sich seiner Liebe zur englischen Literatur neu zuwenden. Oder lernen, Autokennzeichen herzustellen.
Es gab keinen Grund zur Vorfreude auf dieses Leben, aber an Hoffnungslosigkeit war er gewöhnt.
Und was noch wichtiger war: Manchmal blieb einem als einziger Trost die Gewissheit, das Richtige zu tun. Auch wenn es ein großes Opfer erforderte, konnte man Frieden finden durch das Wissen, dass die Menschen, die man liebte, endlich vor einem Albtraum sicher waren.
Wie seinem Vater.
Dass niemand William Baldwine betrauerte, war eigentlich bereits Verteidigung genug für die Mordanklage, die ihm bevorstand, dachte Edward. Schon eine verdammte Schande, dass das keine gesetzlich anerkannte Rechtfertigung war.
Schwere, zielstrebige Schritte näherten sich. Und für einen Augenblick zersplitterte die Gegenwart, und Edwards Vergangenheit erhob sich wie ein Monster aus dem Sumpf seines Bewusstseins. Er wusste nicht mehr sicher, ob er nicht im Dschungel war, gefesselt mit groben Stricken, und gleich wieder geschlagen würde. Oder ob er sich im Rechtssystem seiner Geburtsstadt befand.
Ein lautes Klirren an seiner Tür jagte seinen Blutdruck in die Höhe, sein Herz hämmerte, und unter den Armen und auf dem Gesicht brach ihm der Schweiß aus. Erstarrt vor Angst verkrallte er die Finger in der Matte unter ihm, sein geschundener Körper zitterte so heftig, dass ihm die Zähne klapperten.
Dass der Deputy Sheriff die Tür öffnete, machte seine Verwirrung nur schlimmer.
»Ramsey?«, sagte Edward mit schwacher Stimme.
Der Afroamerikaner in der hellbraunen und goldenen Sheriffuniform war riesig, seine Schultern so breit, dass sie den Türrahmen ausfüllten, die muskulösen Beine wie in den Boden geschraubt. Mit seinem rasierten Schädel und seinem Kiefer, der verkündete, dass jede Debatte mit ihm Zeitverschwendung war, war Mitchell Ramsey eine Naturgewalt mit Sheriffstern – und das war bereits das zweite Mal, dass er in der Nacht zu Edward kam.
Tatsächlich war Edward nur noch am Leben, weil der Deputy in den Dschungel gekommen war, um ihn zu suchen. Als ehemaliger Army Ranger hatte Ramsey die nötigen Überlebenstechniken und Kontakte dort unten am Äquator gehabt, um den Auftrag auszuführen – und zudem spielte er für die reichen Familien in Charlemont regelmäßig die Rolle des Problemlösers.
Wenn man einen Bodyguard, einen Vollstrecker, einen Privatdetektiv oder jemanden als Vermittler zu den Strafverfolgungsbehörden brauchte, stand Ramsey ganz oben auf der engeren Auswahl der Leute, die man anrief. Diskret, durch nichts aus der Fassung zu bringen und ein ausgebildeter Killer, war er der sprichwörtliche Mann für heikle Situationen. Rettungsaktionen jeder Art waren sein Spezialgebiet.
»Besuch für dich, Mann«, sagte der Deputy mit seiner tiefen Südstaatenstimme.
Edward brauchte eine Weile, um die Worte zu verarbeiten. Weil sein Hirn vor Angst gelähmt war, hatte sein Sprachzentrum ausgesetzt.
»Komm!« Ramsey zeigte auf den Ausgang. »Wir müssen.«
Edward blinzelte. Seine Emotionen drohten seine Brust zu überfluten und durch seine Tränenkanäle herauszubrechen. Aber er konnte es sich nicht leisten, in seiner posttraumatischen Belastungsstörung zu versinken. Das hier war die Gegenwart. Hier kam niemand mit einer Keule, um ihm die Beine zu brechen. Keine Messer würden sich in seine Haut graben. Niemand würde auf ihn einprügeln, bis er Blut auf seinen Arm erbrach und sein Kopf nur noch schlaff herumrollte.
Ramsey kam herüber und hielt ihm seine Bärentatze hin. »Ich helfe dir.«
Edward sah in diese dunklen Augen auf und sprach die exakt gleichen Worte wie schon vor zwei Jahren: »Ich glaube, ich kann nicht aufstehen.«
Einen Moment lang schien auch Ramsey davon ergriffen, was sie in Südamerika zusammen durchgemacht hatten. Er schloss kurz die Augen, und der mächtige Brustkasten hob und senkte sich, als er sich mit einem tiefen Atemzug zu wappnen schien.
Offensichtlich hatten sogar ehemalige Army Ranger Erinnerungen, an die sie nicht gerne zurückdachten. »Ich stütze dich. Na komm.«
Ramsey half ihm von der Liege und wartete, bis seine Beine ihn trugen, denn das stundenlange Sitzen hatte seine deformierten, schlecht verheilten Muskeln in Stein verwandelt. Als er schließlich loshumpeln konnte, war es demütigend, besonders neben der unglaublichen Kraft des Deputy. Aber als er aus seiner Zelle zum Geländer hinkte, kam wenigstens die Klarheit zurück, und durch den Sumpf seiner Traumatisierung nahm die Realität wieder feste Konturen an.
Ihre Schritte klirrten über den Metallboden zur Treppe, und Edward blickte über das Geländer zum Gemeinschaftsbereich hinunter. Alles war sauber, aber die Stahltische und Bänke waren sehr abgenutzt, der orangefarbene Anstrich verblichen, wo Kartenspiele gespielt worden waren und unzählige Häftlinge sich niedergelassen hatten. Nirgends lag etwas herum: keine Zeitschriften oder Bücher, keine vergessenen Kleidungsstücke, keine Verpackungen von Schokoriegeln oder leere Getränkedosen. Aber unter den richtigen Umständen konnte alles zur Waffe werden, und die normalen Regeln des Respekts galten hier nicht.
Edward war schon auf halbem Weg die Treppe hinuntergestiegen, als er stehen blieb. Endlich setzte seine höhere Vernunft ein. »Ich will niemanden sehen.«
Ramsey schubste ihn und schüttelte den Kopf. »Doch, willst du.«
»Nein, ich …«
»Du hast keine Wahl, Edward.«
Edward blickte weg und konnte seine Situation plötzlich einordnen. »Glaubt ihnen nicht. Das ist viel Lärm um nichts …«
»Weitergehen, mein Alter.«
»Ich habe mich schon heute Nachmittag mit dem Psychiater getroffen. Ich habe ihm gesagt, dass kein Grund zur Besorgnis besteht.«
»Zu deiner Information, du bist nicht qualifiziert, deinen Geisteszustand einzuschätzen.«
»Ich weiß, ob ich selbstmordgefährdet bin oder nicht.«
»Ach ja?« Ramseys Blick war direkt. »Du wurdest mit einer improvisierten Schnittwaffe gefunden.«
»Ich habe es ihnen gesagt. Ich habe das Ding in der Kantine gefunden und wollte es abgeben.«
Ramsey packte Edwards Unterarm und zerrte den Ärmel seiner Sträflingsuniform hoch. »Du hast es benutzt. Und das ist das Problem.«
Edward machte einen Versuch, seinen Arm zurückzubekommen, aber der Deputy ließ ihn lange nicht los. Und unter den hellen Leuchtstofflampen wirkte die offene Wunde an seinem Handgelenk wie ein Schrei.
»Also, tu uns beiden einen Gefallen und komm jetzt.«
Ramsey nahm Edwards Ellbogen und schubste ihn so nachdrücklich, dass klar war, der Deputy würde sich ihn notfalls wie ein Feuerwehrmann über die Schulter werfen.
»Ich bin nicht selbstmordgefährdet«, murmelte Edward, hielt sich wieder am Geländer fest und setzte in seinen Gefängnisslippern seinen mühsamen schlurfenden Abstieg fort. »Und wer immer das ist, ich will ihn nicht sehen.«
Auf der Terrasse von Easterly senkte Lane sofort die Mündung seiner Waffe, der hellrote Laserpunkt glitt von der Brust des Mannes und verschwand, als er den Finger vom Abzug nahm.
»Himmel, ich hätte Sie erschießen können!«
Gary McAdams, der Chefgärtner, nahm seine Mütze ab und knetete sie in seinen abgearbeiteten Händen. »Tut mir leid, Mr Lane.«
Im Mondlicht hatte das faltige, dauergebräunte Gesicht so tiefe Furchen, dass sie wie Reifenspuren im Schlamm wirkten, und als Gary sein schwer zu bändigendes Haar glatt strich, war seinen ruckartigen Bewegungen deutlich anzumerken, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. »Wollte niemanden wecken.«
Lane versuchte sich die Waffe hinten in den Hosenbund zu schieben – und merkte, dass er nur Boxershorts trug. »Nein, Sie sind überall auf dem Anwesen willkommen. Ich will Ihnen bloß keine Kugel verpassen.«
»Die Filteranlage des Pools im Pumpenhaus hatte einen Kurzschluss. Ich habe das Ersatzteil bestellt, aber dann ist mir eingefallen, dass ich das verdammte Ding nicht abgestellt habe. Bin durchs hintere Tor reingekommen und habe es abgestellt. Als ich rauskam, ist mir das aufgefallen.« Der Mann zeigte auf die Rückseite des Hauses. »Die mittlere Gaslaterne ist aus. Hatte mir Sorgen gemacht, dass sie leck ist, und wollte das Gas abstellen.«
Und in der Tat, in der Reihe der altmodischen Messinglaternen gähnte ein schwarzes Loch, wie eine Zahnreihe mit fehlendem Schneidezahn.
Lane schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Sie sind zu gut zu uns.«
Mit einem Knurren schlurfte Gary die Steintreppe hinauf und setzte seine Mütze wieder auf. »Häuser und Gärten wie diese sind wie eine alte Dame, immer ist irgendwas damit. Man muss ein Auge drauf haben.«
Ob wir das Anwesen überhaupt behalten können?, dachte Lane, als er ihm folgte.
Zum ersten Mal in der Geschichte von Easterly waren Grundstück und Haus von einer Hypothek belastet. Glücklicherweise bei einer Freundin der Familie, keiner Bank, aber auch Sutton Smythe würde ihr Geld und ihre Zinsen verlangen. Was Reparaturen anging, hatte Gary recht: Irgendetwas war hier immer zu reparieren. Und wenn es sich dabei um das Dach handelte? Die elektrischen Leitungen? Das über zweihundert Jahre alte Fundament?
Es würde sehr, sehr lange dauern, bevor Dinge dieser Größenordnung finanziell in Angriff genommen werden konnten: Nicht nur war der Primär-Trust seiner Mutter leer gefegt, die Bradford Bourbon Company operierte zudem mit einem Defizit von über hundert Millionen Dollar – und das noch, nachdem Lane die fünfzig Millionen abbezahlt hatte, die sein Vater sich von Prospect Trust geliehen hatte.
Über hundert Millionen Dollar. Und der Trust seiner Mutter.
Ein schwindelerregender Verlust, und das alles hatten sie seinem Vater zu verdanken. Er hatte eine Menge Unternehmen außerbilanzlich finanziert, die zwei Dinge gemeinsam hatten: Erstens liefen alle auf William Baldwines Namen; zweitens schnitten sie nicht nur unterdurchschnittlich ab, sondern machten Verluste – oder existierten nicht einmal.
Lane hatte immer noch vollauf damit zu tun, dem Ganzen auf den Grund zu gehen.
Darum beschloss er, Gary zuzusehen, als der zu der Laterne hinüberging, einen Schraubenzieher aus der Gesäßtasche seines Overalls nahm und an der Basis des Leuchtkörpers herumzuschrauben begann.
»Brauchen Sie Licht?«, fragte Lane.
»Ist mir hell genug.«
»Sie haben Luchsaugen.« Lane lehnte sich gegen Easterlys hölzerne Wandverkleidung und rieb sich das Gesicht. »Hier ist es doch stockfinster.«
»Ich komm klar.«
Als Gary vorsichtig das schwere Glas herauszog und das Messinggehäuse von seiner Basis hob, richtete Lane sich auf. »Soll ich Ihnen das halten?«
»Nee, Sie lassen’s nur fallen.«
Lane musste lachen. »Ist es so offensichtlich, wie ungeschickt ich bin?«
»Sie haben andere Stärken.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr.«
Mit einem Fluch starrte Lane über die Blumenrabatten zum weitflächigen, dunklen Business Center. Die ehemaligen Stallungen waren umgebaut worden, als Geld keine Rolle spielte. Die Architektur ging so perfekt ineinander über, dass man kaum sagen konnte, wo der alte Teil aufhörte und der moderne begann. Unter diesem Schieferdach, hinter dieser Reihe von Glastüren – handgefertigt, damit sie zu den originalen am Herrenhaus passten – lagen Büros für Geschäftsführer und Vorstand der BBC und ihre Assistentinnen sowie eine Gourmetküche, ein elegantes Speisezimmer und Konferenzräume.
Theoretisch befand sich die eigentliche Unternehmenszentrale in der Innenstadt, aber in den letzten drei Jahren waren alle Unternehmensentscheidungen genau hier, auf der anderen Seite des Gartens, gefällt worden.
William hatte behauptet, dass der Umzug erforderlich war, weil er seine Frau unterstützen wollte, die erkrankt und bettlägerig geworden war. Aber in Wahrheit – was erst vor etwa zwei Wochen ans Licht gekommen war – hatte der Mann Privatsphäre für seine Veruntreuungen gebraucht. Diese separate Anlage, mit ihrem reduzierten Personal und den umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen hatte ihm die nötige Isolation gegeben, um seine Unterschlagungen unter Verschluss zu halten.
Es war die perfekte Tarnung, um sich vor neugierigen Blicken zu verbergen. Und zumindest kurzfristig der perfekte Plan, um BBC-Vermögen auf Williams Privatkonten umzuleiten.
Zu dumm, dass der Mistkerl ein miserabler Geschäftsmann gewesen war: stillgelegte Bergwerke in Südafrika, schlechte Hotels im Westen, geplatzte Kommunikations- und Technologieunternehmen. Williams Geld war offenbar für jede Investitionsgelegenheit ein Fluch gewesen, und Lane versuchte immer noch, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie viele gescheiterte Firmen es da draußen gab.
»Wie geht’s Miss Aurora?« Gary schob die Finger in die Arterien der Laterne und bohrte mit dem Schraubenschlüssel nach. »Schon besser?«
Ach ja, noch etwas, woran Lane nicht denken wollte.
»Nein, ich fürchte nicht.«
»Stirbt sie?«
Immer wenn ihm in den letzten paar Tagen diese Frage gestellt worden war, hatte er mit Optimismus geantwortet. Aber hier draußen im Dunkeln mit Gary sprach er aus, was er wirklich dachte: »Ja, ich glaube schon.«
Der Chefgärtner räusperte sich. Zweimal. »Sie ist eine gute Frau.«
»Ich werde ihr erzählen, dass Sie das gesagt haben.«
»Tun Sie das, Junge.«
»Sie könnten sie besuchen, wissen Sie?«
»Nee. Geht nicht.«
Mehr würde Lane nicht zu hören bekommen. Gary McAdams war ein Mann der alten Schule, und als solcher redete er nicht darüber, was ihm Sorgen machte. Er und Miss Aurora hatten beide für die Familie Bradford gearbeitet seit sie Teenager waren, und beide hatten nie geheiratet oder eigene Kinder gehabt. Das Anwesen war ihr Zuhause und das Personal und die Familie auf dem Anwesen und im Haus ihre Gemeinschaft.
Nicht, dass er das je so sagen würde.
Trotzdem war sein Kummer so greifbar wie seine Reserviertheit, und nicht zum ersten Mal erkannte und respektierte Lane die Würde dieses schweigsamen Mannes.
»Ich bin froh, dass Sie bleiben«, hörte Lane sich sagen. Aber genauso gut hätte er über die Arrangements von Miss Auroras Beerdigung reden können. »Und ich werde Sie weiterhin bezahlen …«
»Ich glaube, dieses Ventil hier ist verstopft. Ich komme morgen früh wieder und repariere es. Aber jetzt ist es wenigstens nicht mehr leck, also besteht keine Brandgefahr.«
Als Gary das Laternengehäuse aufhob und wieder auf seinen Platz wuchtete, hatte Lane plötzlich einen Kloß im Hals. So viele Jahre lang hatte das Anwesen auf magische Weise von allein funktioniert. Genau wie er sich nie darüber Gedanken gemacht hatte, wie viel die Instandhaltung und Pflege der Gärten kostete, hatte er nie an die Kosten für das Essen oder die Getränke für all die Partys gedacht oder die Versicherungen für all die Autos, Antiquitäten und anderen Vermögenswerte oder die Heizung, Strom- und Wasserkosten. Er war ziellos durch sein Leben gebummelt und hatte sich im goldenen Sonnenschein des Reichtums auf der Oberfläche treiben lassen, während unter ihm Leute zum Mindestlohn schufteten und gerade mal über die Runden kamen, nur um den Standard zu sichern, den er genoss.
Bei der Vorstellung, dass Gary McAdams bei ihnen blieb, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er jede Woche einen Scheck bekommen würde oder nicht, fühlte Lane sich erbärmlich.
»Also, dann wäre das erledigt.« Der ältere Mann trat zurück und steckte den Schraubenzieher wieder in diejenige seiner vielen Taschen, aus der er ihn hervorgezogen hatte.
»Sie, äh …« Lane packte seine eigene Schulter und drückte, um die Verspannung zu lösen. »Sie haben immer so einen dabei?«
»Einen was? Kreuzschlitzschraubenzieher?«
»Ja.«
»Warum sollte ich nicht?«
Nun, so viel hierzu. »Da ist was dran …«
Im Augenwinkel registrierte Lane eine jähe Bewegung »Moment, was ist das?«
»Nichts«, sagte Gary. »Wieso, haben Sie was gesehen?«
»Da drüben, etwas Weißes.« Lane zeigte mit dem Laservisier über die Terrasse zum Fluss, wo zu Sonnenuntergang immer Cocktails serviert worden waren. »Da war … Ich hätte schwören können, dass ich dort jemanden in einem weißen Kleid gesehen habe …«
Er ließ seine Worte verhallen, war sich bewusst, dass sie verrückt klangen.
»Sehn Sie Gespenster?«
Der Chefgärtner wirkte nicht sonderlich beunruhigt. Andererseits konnte man ihm vermutlich ein Auto auf den Fuß fallen lassen, und er würde einfach nur seinen Schraubenzieher zücken und das verdammte Ding Stück für Stück auseinandernehmen.
Lane ging hinüber und sah um die Ecke des Hauses. Auf der Terrasse war nichts, was nicht dort hingehörte, und doch ging er weiter bis ganz zum Rand, wo der Berg jäh abfiel. Die Aussicht von dort auf den Ohio River, der sich in der Ferne in den Finanzdistrikt von Charlemont wand, war schon Wahnsinn, musste er zugeben. Vor dem dunklen Horizont erinnerten ihn die glitzernden, unregelmäßig verteilten Lichter der Wolkenkratzer an die Blasen in Champagnergläsern, und die vereinzelten Autos und Schwerlaster auf dem Autobahnkreuz bezeugten, dass im Mittleren Westen Schlafenszeit war.
Er lehnte sich über die Mauer und blickte prüfend auf die alte Treppe hinab, die sich die gewaltige Felsböschung hinunterwand. Easterly war auf dem Gipfel des höchsten Hügels der Stadt erbaut worden, und die Grundfläche des Herrenhauses war so riesig gewesen, dass sie mit aufgeschütteter Erde vergrößert und mit Zement und Stein hatte verstärkt werden müssen. Wenn die Bäume belaubt waren wie jetzt im Mai, verdeckten die dicht begrünten Äste, wie gewagt das Haus auf seiner hohen Warte stand. Aber im Winter, wenn es kalt und die Bäume kahl waren, zeigte die gefährliche Klippe sich so klar, dass von ihrem Anblick praktisch jeder Höhenangst bekam.
Niemand flitzte die Treppenstufen hinunter. Und das Tor am Fuß des Hügels war mit einem Vorhängeschloss gesichert, dort konnte niemand hinein oder hinaus.
Lane ging wieder zum Herrenhaus zurück. Jetzt begann er sich Sorgen zu machen, dass er Wahnvorstellungen hatte. Es wäre ihm so viel lieber, wenn einfach nur einer seiner Vorfahren zurückgekommen war, um in seinem früheren Zuhause zu spuken, als dass sich bei ihm der Wahnsinn meldete.
Und, lieber Gott, wenn dem so war? Dann ging hier alles den Bach runter.
»Danke, Gary«, sagte er, als er sich dem Chefgärtner wieder näherte.
»Da nich für. Ich mach nur meinen Job.« Der Mann nahm seine Mütze ab und setzte sie exakt gleich wieder auf. »Gehen Sie sich mal wieder hinlegen. Sie sehen müde aus.«
»Guter Rat. Sehr guter Rat.«
Nicht, dass er sich große Hoffnungen machte, schlafen zu können.
»Und an eins sollten Sie denken.«
»Was denn?«
»Gott lädt Ihnen nicht mehr auf, als Sie schaffen können. Heißt nicht, dass es ein Spaß wird, aber ich garantiere Ihnen, dass er Sie besser kennt als Sie sich selbst.«
»Ich hoffe, das stimmt.«
Der Handwerker zuckte die Schultern und wandte sich ab. »Ist egal, ob Sie’s hoffen oder nicht. Es ist wahr. Sie werden schon sehen.«
Der Vernehmungsraum, in den Edward geführt wurde, war derselbe, in dem er früher am Tag seinen Pflichtverteidiger getroffen und gefeuert hatte. Und wie im Gemeinschaftsbereich und seiner Zelle war die Möblierung aus rostfreiem Stahl am Boden angeschraubt, der Tisch und die vier Stühle hart, kalt und absolut unbeweglich.
Er entschied sich für den Stuhl mit Blick zur Tür, und als er vorsichtig seinen geschundenen Körper darauf niederließ, gab er sich keine Mühe, sein Ächzen zu unterdrücken. Einer der Vorteile, dass es Ramsey war, der sich hier um ihn kümmerte. Mitch hatte ihn in schlimmerer Verfassung gesehen, ihm brauchte er wenigstens nichts vorzumachen.
»Sagst du mir endlich, wer es ist?« Er betete, dass es nicht Lane war. Sein kleiner Bruder war der allerletzte Mensch, den er jetzt sehen wollte, obwohl er ihn liebte. »Oder soll ich raten?«
»Warte hier!«
»Als könnte ich irgendwohin gehen.«
Der Deputy verließ rückwärts den Raum, und mit einem Klirren wurde die Tür abgeschlossen. Sich selbst überlassen, verschränkte Edward locker die Hände auf der Tischplatte. Die Klimaanlage war hier stärker eingestellt, aus der Lüftungsöffnung über seinem Kopf fiel kalte Luft wie Schnee, lautlos und frostig. Aber die Temperatur bedeutete nicht, dass die Luft frisch war. Sie roch trotzdem nach Anstalt, dem unverwechselbaren Aroma von Metall, Gesichtswasser und Körpergeruch.
Bitte nicht Lane, dachte er.
Sein kleiner Bruder war seine Achillesferse, und er sorgte sich, dass Lane alles ruinieren würde. Als sie noch Kinder waren, hatte immer Edward alles im Griff gehabt – nun, außer wenn Maxwell seine Wutanfälle hatte, und die hatte niemand je im Griff, nicht einmal Max selbst. Aber Edward war immer die Stimme der Autorität und Vernunft gewesen, und aus dieser altehrwürdigen Tradition heraus hatte er Lane instruiert, zu akzeptieren, dass ihr Vater durch seine Hand zu Tode gekommen war, und nur durch seine.
Und dass Lane sich jetzt um die anderen kümmern musste.
Schließlich war ihre Mutter nicht in der Verfassung, sich etwas Belastenderem auszusetzen, als ihr Haar frisiert und ausgebürstet zu bekommen, bevor sie den Kopf wieder auf ihr seidenes Kissen bettete. Und Gin würde schon genug damit zu kämpfen haben, statt in Privatjets nur noch Businessclass zu fliegen. Und Max? Keine Chance. Dieser Vagabund suchte vermutlich lieber auf der Ladefläche des erstbesten Lasters das Weite, als seinen Mann zu stehen und die schweren Entscheidungen zu fällen, die bald auf sie zukamen.
Aber wenn es nicht Lane war, wer dann? Nicht der Psychiater, den Edward früher am Tag in der Klinik verjagt hatte. Kein Priester für die letzte Ölung, denn obwohl er sich wie der Tod persönlich fühlte, lag er nicht im Sterben. Mit Sicherheit niemand aus dem Red & Black-Gestüt – Moe Brown konnte das Unternehmen mit geschlossenen Augen leiten.
Wer also?
Aus den Untiefen seines Verstandes tauchte das Bild einer großen brünetten Frau mit klassisch schönen Zügen und der Eleganz des europäischen Hochadels auf und ergriff von ihm Besitz.
Sutton, dachte er. Würde sie ihn besuchen kommen?
Sutton Smythe war die Frau, die perfekt zu ihm passte, und in seiner Zeit bei der Bradford Bourbon Company war sie als Erbin der Sutton Distillery Corporation auch seine größte geschäftliche Konkurrentin gewesen. Sie waren zusammen in Charlemont aufgewachsen, und nachdem sie zurückgekommen waren, um in ihren Familienunternehmen zu arbeiten, hatten sie einander bei Wohltätigkeitsgalas und privaten Partys gesehen, und weil sie beide in diversen Gremien saßen. Offiziell waren sie nie ein Paar gewesen, hatten ihre Leben nie miteinander verbunden, obwohl es seit Jahren zwischen ihnen knisterte und sie sich erst neulich zweimal geliebt hatten.
Sie waren wie aus einem Shakespeare-Stück: Liebende unter einem schlechten Stern, die getrennten Schicksalswegen folgten.
Aber er liebte sie. Mit dem wenigen, das er anderen zu geben hatte.
Unmittelbar bevor er der Polizei sein Geständnis abgelegt hatte, hatte er Sutton gesagt, dass es für sie beide keine Zukunft gab. Es war schrecklich für ihn gewesen, sie so zu verletzen, aber inzwischen musste sie seine Verhaftung in den Nachrichten gesehen haben – also war vielleicht sie es, die kam, um ihm die Hölle heißzumachen. Schließlich war Sutton von der Sorte, die immer alles ganz genau wissen wollte, und sie würde auch erreichen, dass Ramsey sie nach den offiziellen Besuchszeiten hier einschleuste, um das Risiko zu minimieren, dass die sensationslüsternen Medien von ihrem Besuch erfuhren.
Mit einem Klirren wurde die Tür aufgeschlossen, und für einen Moment hämmerte Edwards Herz so heftig, dass ihm schwindlig wurde.
Ruckartig verbarg er sein Handgelenk mit der Hand, obwohl sein Ärmel heruntergezogen war – und dann schwang die schwere Tür auf. Als Ramsey hereinkam, konnte Edward hinter dessen mächtigen Schultern und Oberkörper nichts sehen, und er stemmte die Hände auf den Tisch und versuchte aufzustehen.
»Oh nein«, murmelte er und ließ sich wieder fallen. »Nein.«
Ramsey trat zur Seite und gab der Person hinter ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie eintreten sollte – und die junge Frau, die seiner Anweisung folgte, ging an ihm vorbei wie ein Pony an einem Clydesdale-Kaltblut. Mit ihren knapp einsfünfzig, ungeschminkt, das blonde Haar mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, sah Shelby Landis so jung aus, als könnte sie noch gar keinen Führerschein haben.
»Ich lasse Sie beide allein«, murmelte Ramsey und begann sie einzuschließen.
»Bitte nicht«, sagte Edward.
»Überwachungskamera ist ausgeschaltet.«
»Ich will zurück in meine Zelle«, brüllte Edward, als die Tür geschlossen und verriegelt wurde.
Shelby blieb neben der Tür stehen. Sie hatte Kopf und Augen gesenkt und die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ihr T-Shirt und ihre Jeans waren sauber, aber fast so alt wie sie. Das einzig Teure an ihr waren ihre ledernen Stallstiefel mit Stahlkappen. Was alles andere anging, bedeutete schon ein Ständer mit Target-Sonderangeboten eine Steigerung. Aber bei der Arbeit mit Vollblütern, besonders den Hengsten, lernte man nun einmal, dass alles, was man anhatte, jeden Abend gewaschen werden musste und die Füße wegen all der beschlagenen Hufen der verletzlichste Punkt waren.
»Was …?« Edward versuchte, sich auf dem Stuhl anzulehnen, aber das verdammte Ding war in etwa so nachgiebig und bequem wie ein Zementblock. »Also?«
Shelbys Stimme war so weich, wie ihr von der Arbeit gestählter Körper hart war. »Ich wollte bloß sehen, ob du okay bist.«
»Bestens. Jeder Tag hier drin ist wie Weihnachten. Und wenn du mich jetzt entschuldigst …«
»Neb hat sich gestern die Nüstern aufgeschnitten. Mitten im Gewitter. Ich konnte ihm die Lichtschutzmaske nicht schnell genug überziehen.«
Im Schweigen, das nun folgte, dachte Edward daran zurück, wie Shelby vor etwa einer Woche auf der Schwelle des Verwaltercottages von Red & Black aufgetaucht war, wo er gewohnt hatte. Sie nannte nichts ihr Eigen als einen alten Laster und die Anweisung ihres toten Vaters, einen gewissen Edward Baldwine um einen Job zu bitten. Ersterer war nichts Besonderes, nur vier Reifen und eine durchgerostete Karosserie. Letzteres war eine Schuld gewesen, die Edward begleichen musste: Alles, was er über Pferde wusste, hatte er von ihrem Vater, einem widerborstigen, brillanten Alkoholiker gelernt. Und was sagte man dazu – alles, was Shelby über widerborstige Alkoholiker gelernt hatte, war ihr definitiv auch bei Edward zugutegekommen.
»Mein Hengst ist ein Idiot«, murmelte er. Aber das war sein Eigentümer auch. »Habt ihr den Tierarzt gerufen, Moe und du?«
»Fünfzehn Stiche. Ich polstere gerade die Stallbox aus. Das ganze Ding. War er immer so?«
»Ein durchgeknallter Hitzkopf, immer zwischen Arroganz und Panik? Besonders, wenn er sich dabei verletzen kann? Ja. Und im Alter ist es noch schlimmer geworden.«
Was das anging, konnten er und sein Hengst hier drin vielleicht benachbarte Zellen bekommen. Er wüsste die Gesellschaft definitiv zu schätzen, und in diesem Betonklotz waren die ständigen Frühlingsgewitter praktisch kaum zu hören.
»Den neuen Fohlen geht’s gut«, murmelte Shelby. »Sie lieben die Wiesen. Moe und ich lassen sie turnusmäßig die Weide wechseln.«
Er dachte an seinen Stallmanager. So ein guter Mann, das Salz der Erde, Kentucky-Pferdesportler durch und durch. »Wie geht es Moe?«
»Gut.«
»Und Moes Jungen?«
»Gut.«
Als ihr die Röte in die Wangen stieg, war Edward so froh, dass er sie dem Jungen, Joey, in die Arme geschubst hatte, weg von sich selbst. Nur weil man an ein Problem gewöhnt war und mit ihm umgehen konnte, bedeutete das nicht, dass man auch mit ihm schlafen musste. Und für kurze Zeit war Shelby kurz davor gewesen, sich in ihn zu verlieben. Zweifellos, weil sein Chaos ihr vertraut war.
Und er wiederum war kurz davor gewesen, sich in sie fallen zu lassen, weil Leidende Einsamkeit hassen.
Als sie beide verstummten, war er versucht, den wahren Grund abzuwarten, warum sie zu ihm gekommen war. Aber obwohl er hier nichts anderes zu tun hatte, als seine Zeit abzusitzen, konnte er die Untätigkeit nicht ertragen.
»Du bist nicht mitten in der Nacht den ganzen Weg hier herausgefahren, um über die Farm zu reden. Also los, heraus damit.«
Shelby hob den Blick zur Decke, und dass sie zu beten schien, erfüllte ihn nicht gerade mit Vorfreude. Ob es ums Geld ging? Das von seinem Ururgroßvater gegründete Gestüt war der letzte Ort, an dem Edward erwartet hätte, seine Karriere zu beenden. Es war nicht nur ein Abstieg, sondern ein regelrechter Totalabsturz von seinem hohen Posten als Geschäftsführer der Bradford Bourbon Company gewesen. Und doch war das, was seine Vorfahren nur als Hobby reicher Männer betrieben hatten, seine Rettung geworden. Eigentlich hatte er das Unternehmen in soliden finanziellen Verhältnissen zurückgelassen.
»Moment mal«, sagte er, »wenn es um Cash Flow geht – wir hatten gerade angefangen, schwarze Zahlen zu schreiben. Und es war genug Geld auf dem Betriebskonto …«
»Wie bitte?«
»Geld. Auf dem Betriebskonto. Ich habe mindestens fünfzigtausend drauf gelassen. Und wir haben keine Schulden, und der Verkauf der Jährlinge …«
»Wovon redest du?«
Als sie einander verwirrt ansahen, fluchte er. »Also bist du nicht hier, weil Ebbe auf dem Konto ist?«
»Nein.«
Das hätte eine Erleichterung sein sollen. War es aber nicht.
Shelby räusperte sich. Und dann sah sie ihn eindringlich an. »Ich will wissen, warum du die Polizei angelogen hast.«
Lane hätte wieder nach oben gehen können, aber er wollte Lizzie nicht stören, und er wusste, dass er sowieso keine Ruhe finden würde. Sein Hirn war ein Schuppen in einem Tornado. Seine Gedanken zersplitterten zu fliegenden Trümmern, so sehr waren seine Emotionen im Aufruhr. Und sosehr er es auch liebte, mit seiner Frau im Bett zu sein, kam ihm die Vorstellung, aus Rücksicht ihr gegenüber im Dunkeln reglos dazuliegen, während in seinem Kopf obsessiv die Gedanken kreisten, wie die Hölle vor.
Schließlich verschlug es ihn in die Küche.
Er trat in den dämmrig erleuchteten offenen Raum und machte sich nicht die Mühe, Licht zu machen. Es gab jede Menge Beleuchtung von draußen, vom hinteren Hof, und die Arbeitsflächen aus Edelstahl und die professionellen Geräte, die eines Gourmetrestaurants würdig waren, reflektierten den Schein. Es wirkte fast, als mache das Zwielicht hier drinnen Verschnaufpause, bis es am folgenden Abend wieder zum Dienst hinausgerufen wurde.
Der Raum von der Größe einer Bowlingbahn war in zwei Hälften geteilt: die eine für große festliche Anlässe, wenn ein Dutzend Köche am laufenden Band Hunderte von Horsd’oeuvres fabrizierten, gefolgt von identischen Tellern von irgendeiner mit Blumen bestreuten und mit Soße dekorierten Delikatesse, und schließlich einer kleinen Armee von Pots de crème in winzigen Auflaufförmchen. Die andere Seite war Miss Aurora vorbehalten. Dort kochte sie für die Familie, machte blitzschnell Frühstück für die Gäste im Haus, stellte das Mittagessen zusammen und Abendessen für vier, sechs oder zwölf Personen.
Wie viele Personen waren hier wohl schon verköstigt worden, fragte er sich. Wahrscheinlich hatten Konferenzhotels weniger Betrieb, besonders damals, als seine Eltern noch beide funktioniert hatten: Als er Jugendlicher gewesen war, hatte es jeden Donnerstag Cocktailpartys gegeben, jeden Freitag ein förmliches Abendessen für vierundzwanzig Personen, und die Samstage waren für Galaveranstaltungen mit drei- oder vierhundert Gästen reserviert gewesen – für karitative und kommunale Anlässe und Wahlkampfauftritte. Und dann die Feiertage. Und das Derby.
Hölle noch mal, beim diesjährigen Derby Brunch waren erst neulich über siebenhundert Leuten Mint Juleps und Sekt Orange serviert worden, bevor sie zur Rennbahn gingen.
Solche Dimensionen waren für Easterly jetzt Vergangenheit. Zum einen war das Geld nicht mehr da. Und Horden kamen auch keine mehr. Nach der Negativpresse zum »Bradford-Bankrott« war nur eine Handvoll Leute zur Aufbahrung seines Vaters erschienen.
Schon lustig, wie ängstlich die Reichen waren. Skandale waren nur gut, wenn sie andere betrafen, und auch dann nur aus Klatsch-Distanz. Einen Tick näher, und schon bekamen sie Angst, sich den Insolvenzvirus einzufangen.
Lane ging zur mittleren Arbeitstheke hinüber und zog einen Hocker hervor. Er setzte sich, sah zum Herd mit den zwölf Herdplatten hinüber und erinnerte sich daran, wie oft er Miss Aurora beim Hantieren mit Töpfen und Pfannen zugesehen hatte. Ihr Blattkohl und ihr gebratenes Hähnchen waren für ihn bis heute der Inbegriff von Wohlfühlessen, und er fragte sich, wie er durchs Leben kommen sollte, wenn er sie nie wieder so essen konnte, wie nur sie allein sie zubereitete.
Er dachte daran zurück, wie er erst vor ein paar Wochen in Charlemont gelandet war. Einer von Miss Auroras Verwandten hatte ihn angerufen und ihm gesagt, dass seine Momma im Sterben lag. Das war das Einzige gewesen, was ihn zur Rückkehr hatte bewegen können – und er hatte keine Ahnung gehabt, was da auf ihn zukam.
Zum Beispiel, dass er die Rechnungsprüferin der Familie tot in ihrem Büro finden würde. Sie hatte Selbstmord begangen.
Mit Schierling, Herrgott noch mal. Wie ein Todesurteil im alten Rom.
Mit Rosalinda Freelands Tod hatte alles angefangen, das war der erste Dominostein von schlechten Nachrichten gewesen, der alle anderen umgeworfen hatte: von dem Geld, das der Bradford Bourbon Company fehlte, zu den Schulden seines Vaters bei der Prospect Trust Company, vom leer gefegten Trust seiner Mutter bis zum nicht anerkannten Sohn, den Rosalinda mit Lanes Vater gehabt hatte. Seither hatte Lane hektisch versucht, den Verlusten auf den Grund zu gehen, das Unternehmen umzustrukturieren, das Haus seiner Familie zu retten und in die Rolle hineinzuwachsen, von der jeder, einschließlich ihm selbst, angenommen hatte, dass sein älterer Bruder Edward sie übernehmen würde.
Und dann war die Leiche seines Vaters im Ohio River gefunden worden.
Alle, auch die Behörden, waren von Selbstmord als Todesursache ausgegangen. Besonders, nachdem die Autopsie und Krankenakten gezeigt hatten, dass William Baldwine, zeitlebens starker Raucher, an metastasierendem Lungenkrebs gelitten hatte. Der Mann war todkrank gewesen, und das, zusammen mit allen Finanzgesetzen, die er gebrochen, und dem Vermögen, das er verzockt hatte, hätte schließlich jeden in den Selbstmord getrieben.
Ach, und dann war da noch die kleine Nebensache, dass der Mann Lanes entfremdete Ehefrau geschwängert hatte.
Was aber in Williams Sündenregister wirklich nur eine Fußnote war.
Nur war es kein Selbstmord gewesen – und dafür gab es einen sprichwörtlichen Fingerzeig.
Seine Lizzie und ihre Gartenbau-Kollegin Greta hatten bei der Neubepflanzung eines Efeubeetes vor Easterly ein Stück von William Baldwine gefunden. Seinen Ringfinger, um genau zu sein. Diese Entdeckung hatte ihnen die Mordkommission der Charlemont Metro Police ins Haus gebracht. Die Spur der anschließenden Ermittlungen hatte die Polizei zwar aus dem County geführt, aber nicht aus der Familie: Sie hatte zu Edward geführt, ins Red & Black-Gestüt.
Lane stöhnte und rieb sich die schmerzenden Augen, als er in seinem Kopf die Stimme seines Bruders hörte: Ich habe es allein getan. Die werden versuchen, mir Helfer anzudichten, aber ich hatte keine. Du weißt, was Vater mir angetan hat. Du weißt, dass er mich entführen und foltern ließ …
Aus welchen Beweggründen auch immer hatte William versucht, seinen eigenen Sohn zu ermorden. Und das lieferte Edward ein klares Mordmotiv.
Lass es gut sein, Lane. Kämpfe nicht dagegen an. Du weißt, wie er war. Er hat bekommen, was er verdient hat, und ich bereue es nicht im Geringsten.
Ja, ein ganz klares Rachemotiv.
Mit einem Fluch streckte Lane die Hand aus und zog sich eine Ausgabe des neusten Charlemont Courier Journal herüber. Und was sagte man dazu: Ein Bild von Edward, der vor dem großen Gefängnisgebäude in der Innenstadt aus dem Fond eines Streifenwagens stieg, war ganz oben auf der Titelseite.
Der Artikel darunter gab genau wieder, was Edward der Polizei gesagt hatte: In der Mordnacht hatte er ihren Vater vor dem Business Center abgepasst, als der aus seinem Büro kam. Edward hatte ihn nur zur Rede stellen wollen, aber William war zusammengebrochen, noch bevor es zu einem Streit gekommen war. Als Edward klar wurde, dass der Mann einen Schlaganfall hatte, wählte er nicht den Notruf, sondern beschloss, zu Ende zu bringen, was das neurologische Gewitter begonnen hatte.
Mithilfe einer Seilwinde war es ihm gelungen, das tote Gewicht von neunzig Kilo auf die Ladefläche eines Red-&-Black-Lasters zu hieven, und dann war Edward in die verlassenen Wälder am Flussufer hinausgefahren und hatte den Mann, der immer noch atmete, unbeholfen durchs Gestrüpp geschleift. Gerade als er ihren Vater ins Wasser hinausstoßen wollte, hatte er innegehalten, sich aus dem Wagen ein Messer geholt – und ihm den Finger abgeschnitten. Danach hatte er William in den vom Gewitter angeschwollenen Strom gestoßen und war nach Easterly zurückgekehrt, wo er das grausige Souvenir im Efeubeet vor dem Haus vergraben hatte, als Tribut an seine leidgeprüfte Mutter und Familie.
Das war alles gewesen.
Als der Finger entdeckt und die Polizei eingeschaltet wurde, hatte Edward versucht, die Sache zu vertuschen, indem er die Aufnahmen der Sicherheitskamera aus dem hinteren Hof löschte. Aber es war dumm von ihm gewesen, seine Spuren zu verwischen. Die Detectives hatten das Computer-Login zur Zeit, als die Bilder gelöscht wurden, zu ihm zurückverfolgt – und da hatte er gestanden.
Lane schob die Zeitung weg.
So stand es also mit ihnen: Der Sohn, den alle liebten, saß im Gefängnis für den Mord an einem Mann, den niemand vermisste.
Ein extrem unfairer Tausch, aber so war das Leben manchmal. Unglück und auch Glück waren nicht immer eine Frage von Tugendhaftigkeit oder freiem Willen, und man fuhr am besten, wenn man diese Dinge nicht persönlich nahm.
Wenn man nicht seinen verdammten Verstand verlieren wollte.
»Wovon zur Hölle redest du?«, fragte Edward gebieterisch.
Die Akustik im Vernehmungsraum war wie in einer Duschkabine, die nackten Wände machten den unmöblierten Raum zu einer hervorragenden Echokammer, in der seine Stimme hin und her sprang wie ein Tennisball.
Vermutlich war sein Ton auch etwas schneidend.
Aber so war das mit Shelby. Sie arbeitete tagtäglich mit riesigen, unberechenbaren Tieren, ihr machte so schnell nichts Angst. Mit Sicherheit keine verkrüppelte Hülle von Mann, den sie schon öfter betrunken erlebt hatte, als ihm lieb war.
»Ich will wissen, warum du die Polizei angelogen hast«, wiederholte sie.
Edward starrte sie wütend an. »Wie bist du hier reingekommen?«
»Mit dem Auto.«