Cassandras Bestimmung - Katica Fischer - E-Book

Cassandras Bestimmung E-Book

Katica Fischer

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Beschreibung

"Cassandras Bestimmung" ist der dritte Teil der YDEN-Reihe und knüpft an den Roman "ADLERHERZ" an, dem wiederum "XEYOS TRÄNEN" vorangegangen ist. Es ist eine weitere fantastische Geschichte, die ein Vater seiner todkranken Tochter erzählt, um sie aufzumuntern und ihr – sofern es geht – die Furcht vor dem unausweichlichen Ende zu nehmen. Obwohl sie zusammengehören, sind die drei Bücher in sich abgeschlossen und können daher jedes für sich allein gelesen. Lange Zeit glaubt Cassandra, dass sie ein ganz gewöhnliches Mädchen ist. Selbst als sie erkennt, dass sie mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet ist, will sie sich nicht als etwas Besonderes sehen. Doch dann begegnet sie Menschen, die ebenfalls übersinnlich begabt sind, und muss sich endlich eingestehen, dass die Bilder und Szenen, die sie während ihrer vermeintlichen geistigen Aussetzer sieht, keineswegs Hirngespinste sind. Vielmehr soll sie darauf vorbereitet werden, dass sie – gemeinsam mit einigen Helfern – den Kampf gegen ein bösartiges Geschöpf aufnehmen soll, welches eine Gefahr für die gesamte Menschheit darstellt.

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Seitenzahl: 798

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CASSANDRAS BESTIMMUNG

Katica Fischer

Roman

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutsche Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten.

Die Personen und Handlungen in diesem Roman sind allesamt fiktiver Natur. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt.

© 2021 Katica Fischer

http://www.katica-fischer.de

Covergestaltung:

Tina Hope

K. Fischer

Foto: Tina Hope

Herstellung und Vertrieb:

Epubli (Neopubli GmbH / Berlin)

Bevor Sie beginnen …

Liebe Leserinnen

Liebe Leser

„Cassandras Bestimmung“ ist der dritte Teil der Yden-Reihe und knüpft an das Buch „Adlerherz“ an, dem wiederum „Xeyos Tränen“ vorangegangen ist. Es ist eine weitere fantastische Geschichte, die ein Vater seiner todkranken Tochter erzählt, um sie aufzumuntern und ihr – sofern es geht – die Furcht vor dem unausweichlichen Ende zu nehmen. Obwohl sie zusammengehören, sind die drei Romane in sich abgeschlossen und können daher für sich allein gelesen.

Da auch in diesem Werk sehr viele Charaktere mitwirken, wurden am Ende des Buches unter den Punkten „Familienchronik von Arthur Harper und Blaue-Taube“, „Familienchronik von Arthur Harper und Deborah Harper“, sowie „Der Helferkreis“ und „Die Yden“ Erklärungen zusammengestellt. Dies kann Ihnen möglicherweise weiterhelfen, wenn es für Sie beim Lesen unübersichtlich oder verwirrend wird.

Prolog

Die Geschichten, die sie in den vergangenen Tagen von ihrem Vater gehört hatte, kreisten immer noch durch Yzas Kopf. Von fantastischen Wesen, Unsterblichen, Magiern und Hexen wurde ihr erzählt, die im Kampf zwischen Gut und Böse viele Abenteuer erlebten. Auch von Indianern und ihrer Kultur wurde geredet. Dabei hatte es sich fast immer um Menschen gehandelt, die außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, und die allesamt ein aufregendes und abwechslungsreiches Schicksal erleben durften. Vor allem die Charaktere von Eric Harper, der den indianischen Namen Adlerherz erhalten hatte, und die seiner Familie waren ihr förmlich ans Herz gewachsen, denn ihre Geschichte war tatsächlich so fesselnd gewesen, dass sie es kaum erwarten konnte, mehr zu hören.

„Was ist aus Erics Schwester Corinne geworden? Durfte sie ein glückliches Leben mit Lachender-Bieber verbringen?“, fragte Yza. „Und sein Sohn Arthur? Wie ist es ihm ergangen?“

Bryan war müde, denn er hatte bereits einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Dennoch dachte er nicht daran, seiner todkranken Tochter zu sagen, dass er eine Pause benötigte. Sarah, seine Frau, war nicht weniger erschöpft als er. Sie schlief bestimmt schon, um für den kommenden Tag fit zu sein. Er hingegen wollte noch eine Weile bei seiner Jüngsten sitzen, denn viel gemeinsame Zeit blieb ihnen vermutlich nicht mehr. Die Geschichten, die er ihr seit nunmehr vier Wochen erzählte, sollten sie ablenken. Ja, er wünschte sich von Herzen, dass sie für eine Weile vergessen sollte, dass sie mittlerweile ans Bett gefesselt war und nur auf seinen oder auf den Armen ihres großen Bruders Leonard in den Wohnraum hinunterkommen konnte.

Woher die Worte kamen, die aus ihm herausströmten, sobald er sich bequem zurückgelehnt hatte, wusste Bryan nicht. Genauso wenig konnte er verstehen, wieso er das Gefühl hatte, dass nicht alles erfunden war, was er hervorbrachte. Allerdings dachte er nicht weiter darüber nach, denn es spielte keine Rolle. Wichtig war allein, dass Yza die Schmerzen und das unerbittlich nahende Ende für eine Weile ausblenden konnte.

„Corinne ging es gut, denn sie verstand es, ihre Liebe für einen Indianer geheim zu halten und den Mann ihres Herzens dadurch zu schützen“, begann er zu erzählen. „Sie hat den Gemischtwarenladen ein paar Jahre nach Erics Tod verkauft, den sie in seinem Auftrag geführt hat. Danach hat sie sich auf ihre kleine Farm zurückgezogen. Na ja, nicht für lange. Ihre Hühner und ihr Gemüsegarten waren keine wirkliche Herausforderung für eine Frau, die es gewohnt war, wie ein Mann zu schuften. Darum hat sie mit Lachender-Bieber und ein paar anderen Indianern eine Tischlerei aufgebaut, die sich relativ schnell zu einer kleinen Möbelmanufaktur entwickelte. Und Erics Tochter Carolyn sorgte mit ihrem Ehemann Schwarzer-Stein dafür, dass die Sachen gut zahlende Abnehmer fanden, was ihrer Familie und der Dorfgemeinschaft für eine Weile zu einem relativ komfortablen Leben verhalf. Arthur hingegen brauchte lange, um sein Glück zu finden.“

„Ist er wieder nach Hause gekommen?“, wollte Yza wissen.

„Nein“, gab Bryan zur Antwort. „Dass seine Eltern kurz hintereinander verstorben waren, erfuhr er erst ein Jahr nach dem Unglück, denn er ist praktisch von einem Schiff aufs nächste gegangen, um unter wechselnden Kapitänen die Erde zu umsegeln. Aus diesem Grund hat ihn der Brief seiner Schwester nicht rechtzeitig erreicht. Aber selbst wenn er ihn beizeiten bekommen hätte, wäre er nicht zur Beisetzung erschienen. Es zog ihn nämlich nichts an den Ort zurück, an dem er aufgewachsen war. Er hat sich auch in der Folgezeit nicht dazu überwinden können, wieder dorthin zu gehen, wo einst seine erste große Liebe begraben wurde. Selbst seinen Sohn Joseph hat er nicht sehen wollen, weil er keinerlei Bindung zu seinem Erstgeborenen verspürte. Aber er hat seinen späteren Nachkommen von den Indianern und dem Land erzählt, das er voller Kummer und Schmerz verlassen hatte.“

„Er hat also noch mal geheiratet?“ Yza war sichtlich gespannt.

„Ja, er hat noch einmal geheiratet“, bestätigte Bryan lächelnd. „Aber erst im reifen Alter und nur, weil er seiner Haushälterin und einzig echten Freundin eine sichere Zukunft bieten wollte. Er hatte nämlich im Laufe seines Lebens ein ansehnliches Vermögen durch verschiedene Geschäfte erworben, und dachte, dass das Zusammenleben auch nach der formellen Eheschließung so verlaufen würde, wie gewohnt. Doch Deborah liebte ihn schon lange und ließ sich darum auch nicht davon abhalten, ihn zu ihrem richtigen Ehemann zu machen. Nun, das Ergebnis ihrer Beharrlichkeit war ein Sohn, der trotz der vierunddreißig Lebensjahre seiner Mutter vollkommen problemlos und gesund zur Welt kam. James blieb ein Einzelkind. Er heiratete mit zweiundzwanzig und zeugte dann selbst acht gesunde Söhne.“

„Wow! Stolze Leistung.“ Yza hatte Mühe, eine bequeme und vor allem schmerzfreie Liegeposition zu finden. Das ließ sie jedoch nicht erkennen, denn sie wollte nicht riskieren, dass ihr Vater seine Erzählung abbrach. „Was ist aus ihnen geworden?“

„Du willst es aber ganz genau wissen, was?“ Bryan lachte. „Nun, sie wurden auf teure Privatschulen und später dann auf renommierte Universitäten geschickt, damit sie die bestmögliche Ausbildung bekamen. Danach haben sie das Vermächtnis ihres Großvaters so clever verwaltet, dass alle davon leben konnten.“

„Wie langweilig“, schnaubte Yza. „Da ist die Geschichte von Arthurs Erstgeborenem bestimmt interessanter. Oder?“

„Kann man so sehen, ja.“ Bryan brauchte einen Moment, um das bereits zurechtgelegte Grundgerüst seiner Geschichte neu zu ordnen. „Joseph galt bei den Weißen aufgrund seiner seherischen Gabe als geisteskrank und wurde daher von den vermeintlich zivilisierten Menschen gemieden, so als hätte er eine ansteckende Krankheit. Allein Grace, ein von Geburt an gehbehindertes Mädchen, ließ sich nicht abschrecken und begann eine Freundschaft mit ihm, die über die Schulzeit hinaus Bestand hatte. Später haben sie dann geheiratet und vier Söhne bekommen. Leider fielen die drei älteren in verschiedenen Kriegen Anfang des vorigen Jahrhunderts. Tyron, der jüngste, war der Einzige, der nicht zum Militär musste, weil ja schon drei seiner Brüder für Ehre und Vaterland ihr Leben gelassen hatten. Allerdings wurde ihm die Verantwortung für die Harper-Ranch und die darauf lebenden Menschen aufgeladen, was seine eigene Lebensplanung völlig auf den Kopf stellte. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Damian seine Aufgaben, konnte jedoch auch nicht besser wirtschaften, weil man ihm nicht nur in Oaktown dauernd Steine in den Weg legte. Er galt als reiner Indianer, obwohl er nur noch ein Achtel Indianerblut in ich trug. Entsprechend respektlos und unfair wurde er behandelt. Als er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit einem Orden und einer zusätzlichen Belobigung durch seinen General zurückkam, wurde es vorübergehend besser. Doch das hielt nicht lange an, denn er schnappte sich die hübscheste Frau, die in Oaktown herumlief, und nahm sie mit auf die Ranch. Sein Sohn Robert tat es ihm später nach. Kein Wunder also, dass die Harper-Männer in der Stadt nicht gern gesehen waren.“

„Blöde Rassisten!“ Yzas Wangen leuchteten knallrot, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie sich ärgerte. „Als ob Hautfarbe oder Herkunft wirklich so wichtig wären!“

„Die Menschen sind nicht so geboren, das weißt du“, versuchte Bryan zu beschwichtigen. „Sie werden vielmehr so gemacht. Kinder lernen von ihren Eltern. Und schwache Charaktere lassen sich nur zu gern von wortgewandten Anführern beeinflussen, weil sie sich in der Gesellschaft vermeintlich starker Persönlichkeiten sicherer fühlen.“

„Trotzdem blöde Rassisten“, schimpfte Yza. „Wenn ich könnte, würde ich ihnen allen mal ordentlich was über die Rübe ziehen, damit sie sehen, dass Blut bei allen Menschen die gleiche Farbe hat!“

„Du kannst ja richtig garstig sein.“ Bryan grinste breit. „Nun, ich denke, dass jeder am Ende genau die Retourkutsche oder Strafe bekommt, die er verdient.“

Yza schwieg ein Weilchen, wobei sie sich auch wieder beruhigte. Doch dann sah sie ihren Vater erwartungsvoll an.

„Wie geht es mit den Harpers weiter?“, wollte sie wissen. „Und vergiss nicht die Yden. Deren Geschichte ist doch noch nicht zu Ende. Oder?“

„Nein, das ist sie nicht“, bestätigte er. „Aber die muss ich dir nicht separat erzählen, denn ihr Schicksal ist seit der unumkehrbaren Verschmelzung von Arvyd und Eric Harper im Grunde das Gleiche, wie das der Menschen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass auch alle anderen Verbindungen zwischen den Menschen und den Unsterblichen dauerhaft waren. Selbst nach dem Tod ihrer menschlichen Träger blieben die Lebensfunken der Yden mit den Seelen ihrer Symbionten untrennbar verbunden und wurden durch jede neue Verschmelzung mehr oder weniger verändert. Allein die Erinnerung an die vergangenen Existenzen ging bei einigen ganz verloren, während andere ihren angesammelten Erfahrungsschatz nutzen konnten, um ihren neuen Symbionten das Leben zu erleichtern.“

„Hm.“ Die Kranke überlegte kurz und grinste dann breit. „Jetzt weiß ich endlich, warum es Genies und Idioten auf dieser Welt gibt.“

„Was?“ Bryan war ein wenig irritiert, weil er den Gedankengängen seiner Tochter nicht gleich folgen konnte.

„Na, die Superhirne auf diesem Planeten.“ Yza lachte. „Endlich habe ich eine Erklärung dafür, wieso die fähig sind, Dinge zu erfinden oder zu entwickeln, die jedem Normalsterblichen wie Wunder vorkommen.“ Sie hatte mittlerweile eine akzeptable Liegeposition gefunden und entspannte sich. „Ihr Talent, oder besser gesagt, ihr Wissen, stammt ganz sicher von ihren außerirdischen Bewusstseinsanteilen. Auf jeden Fall klingt das für mich glaubwürdiger als die These, dass sich ein primitives Affenhirn im Laufe der Evolution zu einem Hochleistungscomputer gemausert hat, dass Raketen für den Flug in den Weltraum entwickeln und Roboter bauen kann, die kaum noch von einem Menschen zu unterscheiden sind. Ganz zu schweigen von den Leuten, die Gedanken lesen oder kommende Ereignisse voraussagen können.“

Bryan überdachte die Aussage seiner Tochter, während er einen großen Schluck aus seiner Teetasse nahm. Ganz falsch lag sie damit vermutlich nicht, musste er sich eingestehen. Allerdings konnte ihre Theorie weder erforscht noch bewiesen werden, denn dafür hätte es Personen geben müssen, die an ihre eigene Reinkarnation glaubten und die sich für Tests zur Verfügung stellten. Doch das würde niemand freiwillig auf sich nehmen, selbst wenn er tatsächlich zu den Wiederkehrern gehörte. Eine Laborratte zu sein, der man diverse, möglicherweise schmerzhafte Experimente zumutete, war selbst unter bestmöglichen Bedingungen garantiert keine angenehme Sache.

„Dad?“ Yza stupste ihren Vater sanft an. „Schläfst du?“

„Nein, Liebes“, erwiderte er, indem er seine Tasse beiseitestellte. „Ich war nur mit den Gedanken abgeschweift. Aber jetzt geht es weiter.“

1

Phillip

Juni 1990

Wo er sich gerade befand, konnte der verwirrte Mann nicht einordnen. Selbst sein Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Zudem konnte er nicht verstehen, warum er sich so merkwürdig fühlte. Als ob er fliegen würde. Nicht in einem Flugzeug oder mit einem Drachen. Nein. Es fühlte sich an, als ob er direkt von den unterschiedlich temperierten Luftschichten auf und ab geschaukelt würde. Als hätte er Flügel, die von einer aufwärts wirbelnden Thermik nach oben gedrückt wurden, spürte er gleichzeitig den Luftzug an seinem Körper entlangstreichen.

Die Augen öffnend, blickte er um sich. Dass er tatsächlich frei in der Luft schwebte, erschreckte ihn im ersten Moment so sehr, dass er zunächst nicht in der Lage war, vernünftig zu denken. Im nächsten jedoch erwachte seine Neugierde, sodass er seinen Blick in einem weiten Rund schweifen ließ.

Eine sonnenüberflutete, in verschiedenen Farben leuchtende Landschaft lag wie ein bunter Teppich unter ihm. Große und kleine Tiere grasten friedlich im Schutze ihrer Herden. Andere rannten über eine ausgedehnte, überwiegend baumlose Ebene vorwärts, und änderten die Richtung ihres Laufs, sobald ein Hindernis auftauchte. Auch Bach-und Flussläufe konnte er ausmachen, die immer breiter wurden, bis sie in einen scheinbar grenzenlosen Ozean mündeten. Als er dann endlich registrierte, dass er keinen menschlichen Körper mehr besaß, sondern wie ein Vogel aussah, verlor er für einen Moment seine Fassung.

„Ruhig!Du bist bloß verwirrt, weil du lange nicht mehr auf dieser Bewusstseinsebene gewesen bist.“

Woher die Stimme kam, oder zu wem sie gehörte, konnte er nicht einordnen. Allein der Klang kam ihm seltsam vertraut vor und sorgte dafür, dass sein Schock allmählich nachließ. Als er jedoch realisierte, dass der Vogel mittlerweile weitergeflogen war, er hingegen immer noch an gleicher Stelle schwebte, stieg neue Furcht in ihm auf, weil er nicht verstand, was mit ihm passierte. Vor allem die Tatsache, dass er keine sicht-oder greifbare Gestalt besaß, ließ seine Panik sprunghaft anwachsen.

„Du musst keine Angst haben“, versuchte man ihn zu beruhigen. „Es ist alles in Ordnung. Du bist bloß durcheinander, weil du diesmal ohne Vorwarnung zu deiner Reise aufgebrochen bist.“

Reise?

Was denn für eine Reise?

„Du machst gerade eine Bewusstseinsreise“, erklärte ihm die körperlose Stimme. „Dein Geist befindet sich momentan auf einer anderen Bewusstseinsebene und ist zudem nicht an die Zeit gebunden, der alle Luft atmenden und Schmerz empfindenden Geschöpfe unterworfen sind.“

Was sollte denn dieser Blödsinn?

Wieso andere Bewusstseinsebene?

War er etwa vollkommen durchgeknallt?

Oder erlebte er bloß einen fürchterlichen Rausch?

Nein, entschied er nach kurzer Überlegung. Bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen hatte er bestimmt nicht, denn ihm wurde schon nach drei Gläsern so schlecht, dass er nichts mehr herunterbekam. Es blieb daher nur die andere Sache. Er konnte sich zwar nicht erinnern, wann und wo das passiert sein sollte, aber er ging nun davon aus, dass man ihn unter Drogen gesetzt hatte, sodass er jetzt halluzinierte. Es gab nämlich keine andere Erklärung für diese vollkommen verrückte Situation. Bestimmt hatte ihm jemand etwas in sein Essen oder in seinen letzten Kaffee getan, um sich jetzt einen gemeinen Spaß mit ihm zu erlauben. … Aber neugierig war er doch. Besser gesagt wollte er jetzt herausfinden, wieso die unsichtbare Sprecherin so auf seine Gedanken reagierte, als hätte sie diese gehört. Außerdem wäre es interessant, herauszufinden, inwieweit er seinen Drogen-Trip beeinflussen oder kontrollieren konnte.

„Wer bist du? Zeig dich“, verlangte er.

„Wer oder was ich bin, ist jetzt nicht von Bedeutung“, antwortete man ihm. „Wichtig ist allein, dass du dich auf deinen menschlichen Körper konzentrierst und zu ihm zurückgehst.“

Es war eindeutig eine Frauenstimme, da war er sich jetzt absolut sicher. Aber zu wem gehörte sie? Und was meinte sie mit ihrer seltsamen Aufforderung?

„Du bist auf dem falschen Weg“, ließ man ihn wissen. „Wenn du dich nicht konzentrierst, wirst du nicht mehr zurückfinden.“

Zurück?

Was hieß denn, zurückgehen?

Wohin?

Und vor allem, warum?

„Weil sonst ein Mensch stirbt, der wichtig ist.“

Es war nach wie vor eine weibliche Stimme, die in seinem Bewusstsein widerhallte. Sie hatte sich jedoch grundlegend verändert. Konnte man vorher Sorge aus dem Tonfall erkennen, war nun Ungeduld herauszuhören. Außerdem war der Klang anders und wollte ihn an etwas erinnern, was er im Augenblick jedoch nicht erfassen konnte.

„Derya! Hilf mir!“

Mit einem Mal hatte er nicht nur das Gefühl, als würde er gepackt und mitgezerrt. Er konnte plötzlich auch zwei Lichtgestalten erkennen, die links und rechts von ihm ebenfalls in der Luft schwebten. Allerdings glichen sie nicht Vögeln, sondern silbern und golden schimmernden Gespenstern, mit langen, wehenden Haaren und hellen Augen. Das Sonderbarste jedoch war, dass auch er jetzt so aussah wie sie. Zum einen war es beruhigend, eine sichtbare Gestalt zu haben. Zum anderen aber auch wieder beängstigend, denn er konnte beinahe durch seine Hand hindurchsehen, so als wäre sie aus golden mattiertem Glas gemacht.

„Zu seinem Menschen“, verlangte das golden glänzende Lichtgeschöpf an seiner linken Seite. „Wir müssen uns beeilen.“

Nahezu sofort veränderte sich seine Umgebung. Und so fand er sich mit einem Mal in einem hellen Raum wieder, in welchem es auf den ersten Blick nur ein großes Bett zu geben schien, das von verschiedenen Gerätschaften umgeben war. Die ständig blinkenden Lichter irritierten ihn zunächst so sehr, dass er die beiden Menschen erst nach genauerem Hinsehen bemerkte.

Da lag ein schlafender, ziemlich blass wirkender Mann in einem Krankenhausbett, stellte er für sich fest. Aber was hatte das mit ihm zu tun? Und die andere Person, die zusammengesunken neben dem Bett auf einem Stuhl saß. Wer war das? Warum fühlte er beim Anblick der Frau so große Wiedersehensfreude? Und wieso meinte er, dass er allein durch ihre Anwesenheit gewärmt und getröstet wurde?

Seiner Sehnsucht folgend wollte er an die zusammengesunkene Gestalt herantreten und das kupferfarbene Haar berühren, damit die Frau den Kopf heben und ihn ansehen sollte. Doch dann wurde ihm bewusst, dass dies ganz unmöglich war. Außer einer nicht greifbaren Illusion von einer eigenen, wenn auch gespensterhaften Gestalt und seinen Gedanken war ihm nichts geblieben. Weder ein realer Körper, den er willentlich steuern konnte, noch das andere Wesen, welches ihn seit ewigen Zeiten begleitete. Und das war eine Katastrophe, denn es war ein unverzichtbarer, ja, es war lebensnotwendiger Teil seiner selbst gewesen!

Als würde die Frau seine Anwesenheit spüren, hob sie den Kopf und sah ihn an. Zumindest wollte es ihm scheinen, als ob ihre strahlend blauen Augen ihn direkt fixierten. Doch das war noch nicht alles. Bei näherer Betrachtung wurde nämlich erkennbar, dass vor dem erschöpft wirkenden Frauengesicht ein anderes schwebte, welches ihm wie das Antlitz eines goldschimmernden Engels vorkommen wollte. Und das kannte er sehr gut, denn es gehörte jemandem, der ihm wichtiger war als sein eigenes Leben.

„Weißt du jetzt, warum du zurücksollst?“

Die Frage riss ihn jäh aus seiner Betrachtung.

„Nein? Ich werd’s dir sagen.Der Körper da, der da so jämmerlich aussieht, ist deine menschliche Hülle in diesem Leben.Und die Frau ist eine von mehreren Menschen, die dich jetzt mehr brauchen, als du ahnst. Man hat euch in diesem Leben für eine Aufgabe vorgesehen, die ihr nur gemeinsam bewältigen könnt. Also wird es Zeit, dass du wieder zu deinem Symbionten zurückkehrst. Wenn du es nämlich nicht tust, wird deine menschliche Hülle ein geistloses Wrack bleiben, weil sein Bewusstsein unwiderruflich mit dem deinen verschmolzen ist und darum nicht eigenständig zurückgehen oder sonst wie handeln kann. Es gibt aber noch einen wichtigeren Grund für dich, zu deinem Träger zurückzukehren. Wacht der Menschenmann nicht auf, wird die Frau nicht das tun, was sie soll. Und das wäre fatal für uns alle.“

Er wandte sich nach links, um zu ergründen, wer die Frau war, die ihm so vehement zusetzte. Allerdings war sie jetzt genauso wenig zu sehen, wie das Wesen zu seiner Rechten. Auch er war jetzt nicht mehr als Form besitzende Erscheinung erkennbar.

„Was suchst du?“, wurde er im ungnädigen Tonfall gefragt.

„Dich“, gab er zur Antwort. „Warum kann ich dich nicht mehr sehen?“

„Weil Derya wieder gegangen ist“, gab man ihm zur Antwort. „Sie hat Besseres zu tun, als darauf zu warten, dass du dich wieder mit deinem Träger vereinst.“

„Wer ist Derya?“Er wusste, er strapazierte die Geduld seiner Gesprächspartnerin jetzt schon zu lange. Dennoch wollte er nicht auf die Antwort verzichten.

„Sie ist die Bewahrerin des Wissens und die Hüterin der Großen-Gemeinschaft. Zudem hat sie die Gabe, uns auch auf dieser Bewusstseinsebene sichtbar zu machen, was uns schon viele Male von Nutzen gewesen ist. Du hingegen bist ein Reisender, der in die Zukunft wandern kann, um kommendes in Erfahrung zu bringen, damit wir gewarnt sind und entsprechend reagieren können.“ Die Stimme der unsichtbaren Frau verriet, dass sie nicht länger diskutieren wollte. „Und jetzt los!“

Was bildete sie sich eigentlich ein?

Wie kam sie denn dazu, so mit ihm zu reden?

Er war doch kein unmündiges Kind, dachte er in einem Anflug von Trotz.

„So, wie du dich momentan benimmst, könnte man tatsächlich meinen, dass du eines bist“, wurde ihm auf seine Feststellung hin im herablassenden Tonfall beschieden.

„Du redest, als wärst du meine Mutter“, empörte er sich.

„Es reicht jetzt, Arvyd. Die Zeit drängt.“

Allein der Klang des Namens bewirkte, dass seine Erinnerungen von jetzt auf sofort und in ihrer vollständigen und ziemlich verwirrenden Gesamtheit wieder präsent waren, so als wären sie einem Speicher entwichen, den man bisher fest versiegelt hatte. Sie durfte tatsächlich so mit ihm reden, gestand er sich ein. Immerhin war sie nicht nur ein sehr mächtiges Geschöpf, sondern auch die Frau, der er seine Existenz zu verdanken hatte.

„Also gut.“Er mochte nicht mit ihr streiten, auch wenn die Versuchung immens groß war, ihr die eigenen Schwächen vor Augen zu führen. „Ich hab’s verstanden.Sag mir nur noch eines. Warum hat man mich von meiner Gefährtin getrennt?“

„Eure Verbindung kann nicht aufgelöst werden, denn sie wurde vor der Höchsten-Macht durch Xeyos Tränen besiegelt“, bekam er im ungeduldigen Tonfall zur Antwort. „Allein deine Überzeugung, du wärst auf einmal von allen verlassen, hat dazu geführt, dass du völlig durcheinandergeraten und deshalb ausschließlich deinem Irrglauben gefolgt bist, statt vernünftig nachzudenken. Und so hast du auch nicht begriffen, dass es deine Gefährtin gewesen ist, die anfangs versucht hat, dich auf den richtigen Weg zu bringen. Und deshalb bin ich jetzt hier.“

„Danke.“ Er war ihr wirklich zutiefst dankbar dafür, dass sie ihn zur Raison gebracht hatte, weil er sich sonst tatsächlich vollends verirrt und am Ende wahrscheinlich aufgegeben hätte.

„Na dann.“ Es hörte sich an, als würde sie einen erleichterten Seufzer von sich geben. „Bring es endlich hinter dich.“

Eine weitere Aufforderung brauchte er nicht, denn er war schon auf dem Weg, um seine menschliche Hülle wieder in Besitz zu nehmen. Allerdings war er kaum eingetaucht, da griff auch schon der reale Schmerz des Menschenmannes nach ihm, um ihn sogleich vollständig einzunehmen. Und so fühlte er anschließend nur noch das Bohren und Hämmern innerhalb seines Schädels, während das zuletzt Erlebte genauso verblasste wie sein Wissen um die Besonderheit seiner Persönlichkeit. Er meinte schon, die Folter würde auf ewig so weitergehen, da ließ die Pein so plötzlich nach, als hätte jemand sie anhand eines Schalters einfach ausgeknipst.

2

Elisabeth war nach der mehrstündigen Operation ihres Mannes sofort an sein Bett geeilt, um da zu sein, wenn er die Augen wieder aufschlug. Weil er dies jedoch sehr lange nicht tun wollte, war sie neben seinem Bett auf einem Stuhl sitzend eingedöst. Doch dann war sie mit rasendem Puls hochgeschreckt und hatte gemeint, da wäre jemandem ganz nahe an sie herangetreten. Da sich in diesem Augenblick aber weder der zuständige Krankenpfleger noch der Stationsarzt im Raum befanden, schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Jetzt sah sie schon Gespenster, dachte sie voller Selbstironie. Dabei war da niemand außer ihr und Phillip.

Nein, das stimmt ja gar nicht, stellte Elisabeth gleich darauf fest. Da war eine kleine, unscheinbar wirkende Krankenschwester, die gerade eine neue Infusion in Phillips Vene einlaufen ließ. Dabei handelte es sich vermutlich um das Schmerzmittel, welches in regelmäßigen Abständen verabreicht wurde, damit der Operierte sich nicht quälen musste.

Dass sie eingeschlafen war, verwunderte Elisabeth keineswegs, denn sie hatte einen sehr langen Tag und zudem eine Menge Aufregung hinter sich. Aber etwas Anderes war durchaus bemerkenswert. Sie hatte geträumt. Und das war eine höchst merkwürdige Sache gewesen, weil ihr Schlaferlebnis wie ein langer und sehr detailreicher Film gewirkt hatte. Ein fantastischer Film sozusagen. Aber trotzdem so real erscheinend, als handele es sich dabei um die chronologische Abfolge eines kompletten, längst vergangenen Lebens. Am Ende war sie sogar geflogen, erinnerte sie sich. Wie ein Vogel. Aber nicht allein. Vielmehr war es ihr so vorgekommen, als wäre sie an der Seite eines anderen Geschöpfes durch die Luft geglitten, mit dem sie sich tief verbunden fühlte. Es war sogar gesprochen worden. Und sie war sehr besorgt gewesen, weil der Flug nicht enden wollte und sie genau gewusst hatte, dass das nicht ohne Gefahr war. Und dann … Ihr unsichtbarer Begleiter war plötzlich nicht mehr zu spüren gewesen, sodass sie für die gefühlte Dauer einer Ewigkeit allein und vollkommen orientierungslos herumwirbelte. Am Ende war eine wunderschöne Lichtgestalt an ihrer Seite aufgetaucht und hatte sie an die Hand genommen, um sie ins Krankenhaus zurückzubringen. Dort hatte sie sich dann neben ihrem zusammengesunkenen Körper wiedergefunden und war sogleich in diesen eingetaucht.

Ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Schlafenden richtend, setzte sich Elisabeth seufzend zurecht. Seit über zehn Stunden lag Phillip nun hier, rührte jedoch keinen Finger. Dabei hatte ihr der Stationsarzt während der Morgenvisite versichert, dass sein Patient eigentlich über die Krise hinweg sei. Es gäbe weder ein Hinweis auf erneute Blutungen noch einen anderen Grund dafür, warum er nicht aufwachen könnte. Alle Werte wären in bester Ordnung, was nach einem solch komplizierten Eingriff sehr positiv zu bewerten sei. Warum er trotzdem nicht zu sich kommen wollte, sei daher nicht wirklich nachvollziehbar.

Elisabeth fixierte das Gesicht des Schlafenden, so als würde sie ihn anhand der Kraft ihres Blickes in die Wirklichkeit zurückholen wollen. Sie konzentrierte sich dabei so sehr auf ihren Wunsch, dass sie das Hinausgehen der Krankenschwester gar nicht wahrnahm. Als sie schließlich realisierte, dass ihr Mann allmählich wach wurde, musste sie an sich halten, um nicht laut zu jubeln. Sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, blieb sie still sitzen, um ihm ausreichend Zeit zu geben, damit er vollends wach wurde.

Phillip war nach wie vor noch etwas benebelt und sah sich entsprechend unsicher um. Der Anblick des für ihn völlig fremden Raumes beunruhigte ihn, obwohl er sich merkwürdigerweise im Klaren darüber war, dass er aus gutem Grund in einem Krankenhausbett lag. Trotzdem war ihm das Flimmern, welches in den Farben des Regenbogens an den hellen Wänden auf und ab raste, ebenso unangenehm, wie die grellen Lichter, die über seinem Kopf ständig an und ausgingen.

Sobald Phillips Blick auf die Frau traf, die neben seinem Bett saß, stutzte er sichtlich. Er wusste, er hatte sie zuvor schon mehrfach gesehen und wahrscheinlich auch mit ihr gesprochen. Aber kennen tat er sie nicht. Und einen Namen konnte er ihr auch nicht zuordnen. Sie war schön, ja. Ein Engel hätte nicht schöner sein können. Allein ihr Anblick bescherte ihm eine tiefe Sehnsucht, die so intensiv war, dass es ihm vorkommen wollte, als würde man ihm jeden Augenblick das Herz aus dem Leibe reißen. Aber wer war sie?

Beim Grübeln über seine letzte Frage, und betäubt durch das starke Schmerzmittel, dämmerte Phillip wieder ein.

Elisabeth indes stand zögernd auf, um zu gehen. Ihr Mann war in den besten Händen und würde bestimmt nicht wieder ins Koma fallen. Aber sie musste jetzt endlich in ein richtiges Bett und schlafen, ermahnte sie sich. Seit dem Zwischenfall im Flugzeug waren fast zwanzig Stunden vergangen, die sie erst wartend und dann an seinem Bett wachend verbracht hatte. Es würde schließlich niemandem nützen, wenn sie vor Erschöpfung zusammenklappte.

*

Phillip brauchte nicht lange, um sich körperlich zu erholen. Doch sein Geist war immer noch zutiefst verwirrt und konnte anfangs selbst alltägliche Abläufe nicht wirklich nachvollziehen. Dazu kam, dass man ihn meist nur irritiert ansah und bedauernd den Kopf schüttelte, wenn er den Mund aufmachte, um etwa zu sagen. Dabei verstand er die Rede des Arztes und des Pflegepersonals ohne Probleme. Als er schließlich realisierte, dass er noch nicht einmal wusste, wer er eigentlich war, begann er zu glauben, dass er den Verstand verloren hätte. Immer wieder zermarterte er sich das Hirn darüber,warum ihm der Name, mit dem man ihn ständig ansprach, so fremd in den Ohren klang, als gehöre er zu einer anderen Person. Er kam jedoch zu keinem Ergebnis. Wenn sich dann aufgrund seiner angestrengten Grübelei die gefürchteten Schmerzattacken einstellten, musste er sich gewaltsam zusammenreißen, um nicht zu schreien.

Elisabeth indes konnte bloß zuschauen, denn es gab nichts, was sie hätte tun können.

„Du bist meine Gefährtin, nicht wahr?“ Phillip wusste selbst nicht, wie er zu dieser Feststellung gekommen war. Aber sie war plötzlich in seinem Kopf gewesen, sodass er gar nicht groß überlegt, sondern einfach drauflos geplappert hatte. Als sie daraufhin zustimmend nickte, war er dann doch ein wenig perplex. Die Stirn in tiefe Falten gelegt betrachtete er sie nun noch ein wenig genauer und entschied am Ende, dass sie wohl schon lange zu ihm gehören musste. Dennoch konnte er sich beim besten Willen nicht an ihren Vornamen erinnern. Sie war das Gegenstück seines Herzens. Da war er sich mittlerweile ganz sicher, denn die tiefe Zärtlichkeit, die er bei ihrem Anblick empfand, konnte nur auf Liebe basieren. Aber welchenNamen trug sie jetzt? Sie hatte mittlerweile so viele gehabt, dass es schwerfiel, sich an jeden einzelnen zu erinnern.

Wieder meinte Phillip, er sei nun am Durchdrehen, denn die Gedanken, die ihm gerade durch den Kopf geschossen waren, klangen selbst für ihn so abwegig und irre, dass sie keinem gesunden Menschenverstand entspringen konnten. Die Lippen verbittert aufeinanderpressend, wollte er den Kopf abwenden. Das gelang ihm jedoch nicht, weil die Frau seine Wangen mit den Händen umfing und somit die Bewegung vereitelte. Gleichzeitig schienen ihre strahlend blauen Augen bis auf den Grund seiner Seele schauen zu wollen.

Elisabeth wusste genau, was in ihrem Mann vorging. Dennoch fand sie sich zunächst außerstande, ihm mit Worten zu helfen. Zumindest nicht auf Anhieb, denn die seltsam klingende Sprache, die er seit seinem Aufwachen gebrauchte, war ihr nicht geläufig. Seltsamerweise hatte sie ihn aber schon von Beginn an so gut verstanden, als hätte er Deutsch mit ihr geredet. Zudem kreisten seit ihrem merkwürdigen Traum Bilder und Gedanken in ihrem Kopf herum, die noch seltsamer waren. Auch wenn sie sich mittlerweile sicher war, dass ihr Verstand noch genauso rational und zuverlässig funktionierte, wie früher, hatte sie das Gefühl, sich gleich an mehrere Menschenleben zurückerinnern zu können. Am deutlichsten an eines, dass sie im Laufe des vergangenen Jahrhunderts bei einem Indianerstamm im Nordosten Kaliforniens verbracht hatte. Als wäre es erst ein paar Tage her, dass sie mit ihrer Familie und ihren Freunden Glück und Unglück geteilt hatte. Selbst die außergewöhnlichen Erlebnisse mit ihrem damaligen Gefährten, der eine besondere Gabe besessen hatte, standen ihr jetzt so deutlich vor Augen, dass sie keinesfalls einer ausufernden Fantasie entsprungen sein konnten.

Obwohl sie früher kaum Interesse an den esoterischen Theorien gehabt hatte, die sich mit dem menschlichen Karma und der Reinkarnation befassten, war Elisabeth mittlerweile überzeugt, dass sie zu den Menschen gehören musste, deren Seelen ein ums andere Mal wiedergeboren wurden. Warum es gerade sie getroffen hatte, konnte sie sich jedoch nicht erklären. Auch die Frage, aus welchem Grund sie ausgerechnet jetzt damit begann, sich an vorangegangene Existenzen zu erinnern, konnte sie nicht auf Anhieb beantworten. Allerdings war das auch nicht weiter tragisch, denn es machte im Grunde überhaupt keinen Unterschied, ob es früher oder später passiert war. Na ja, vielleicht doch. Wäre ihr das alles früher widerfahren, hätte sie sich bestimmt weit intensiver mit gewissen Dingen beschäftigt und jetzt nicht solche Schwierigkeiten damit, alles so zu verstehen, wie sie es vermutlich sollte. Aber zum Glück war sie eine ziemlich wissbegierige Frau und schon immer sehr daran interessiert gewesen, sich über neue Erkenntnisse zu informieren, die in allen Bereichen der Wissenschaft gewonnen wurden. Auch wenn für sie ein Studium an einer Universität nie infrage gekommen war, hatte sie sich im Laufe ihres Lebens doch ein ziemlich umfangreiches Allgemeinwissen angeeignet. Dank gut sortierter Bibliotheken und moderner Kommunikationstechnik war das gar keine große Sache. Selbst wenn man eine Familie und ein Haus versorgen musste, blieb immer noch Zeit genug, um sich weiterzubilden. Wenn man darüber hinaus auch noch bereit war, selbst nicht bewiesene Theorien als eine mögliche Tatsache zu akzeptieren, konnte das dazu führen, dass man die Schöpfung in ihrer gesamten Vielfalt mit anderen Augen betrachtete und dabei Erkenntnisse gewann, für die man zuvor blind und taub gewesen war. Es gab schließlich mehr zwischen Himmel und Erde als der menschliche Verstand zu begreifen imstande war, oder die Wissenschaftler erklären konnten. Selbstverständlich wusste sie, dass sie ihre derzeitige Überzeugung nicht laut äußern durfte, wollte sie nicht für übergeschnappt erklärt und in eine Gummizelle gesperrt werden. Auch Phillip konnte sie vorerst nicht davon erzählen, weil er noch zu krank war. Sein Gehirn hatte immerhin ein schweres Trauma erlitten, nachdem das Aneurysma geplatzt und der Druck in seinem Schädel lebensbedrohlich stark angestiegen war. Zum Glück hatten alle so schnell reagiert, dass man keine Spätschäden befürchten musste. Dennoch durfte sie ihn nicht überfordern, indem sie ihn drängte oder von Dingen sprach, die er derzeit nicht verstehen konnte. Er brauchte Zeit, um sich wieder in seinem gewohnten Alltag zurechtzufinden. Alles andere würde man später klären.

Elisabeth streichelte die blassen Wangen ihres Mannes und fühlte dabei ihr Herz schwer gegen ihre Rippen pochen. Dann beugte sie sich noch ein wenig tiefer über ihn, um ihn zu küssen.

Phillip empfand die Berührung ihrer Lippen wie den Flügelschlag eines Schmetterlings. Langes weiches Haar streichelte seine Haut, weil es nun sein Gesicht bedeckte. Der Geruch, der daraus entströmte, erinnerte ihn an eine Sommerwiese, deren Blütenpracht einzig und allein dazu bestimmt war, diesem herrlichen, kupferfarbenen Schopf seinen Duft zu verleihen.

Erfüllt von Wärme und Freude über die angenehmen Gefühle, seufzte Phillip leise. Als er jedoch merkte, dass sich seine Frau wieder aufrichten wollte, hob er augenblicklich eine Hand, um ihren Kopf festzuhalten. Er wollte, dass dieser einzigartige Moment anhielt. Er wollte auch, dass sie für immer und ewig so nahe bei ihm blieb. Doch am Ende ließ er sie voller Bedauern gehen, weil ihr Zittern verriet, wie unbequem ihre Körperstellung für sie sein musste. Da ihre Handflächen jedoch weiterhin seine Wangen bedeckten, schaute er zu ihrem Gesicht hinauf.

Die Liebe, die Phillip nun in den strahlend blauen Augen seiner Frau erkannte, löste endlich den wirren Knoten, der seinen Geist gefangen hielt. Elisabeth. Ja, so hieß sie jetzt. Endlich erinnerte er sich. Sie hatten im Flugzeug gesessen, weil sie nach Kalifornien wollten. Aber dann war der Flieger über dem amerikanischen Bundesstaat Nevada in ein sogenanntes Luftloch geraten und ohne Vorwarnung abgesackt. Danach hatte er Kopfschmerzen bekommen und war schließlich in eine Ohnmacht hinüber gedriftet, sodass er weder etwas wahrnehmen noch auf etwas reagieren konnte. Dass man ihn vom notgelandeten Flugzeug aus direkt in einen Helikopter verfrachtet und in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht hatte, war ihm von dem Doktor berichtet worden, der gleich nach seinem Aufwachen mehrere Reaktionstests mit ihm durchführte. Von diesem Weißkittel hatte er auch erfahren, dass man ihm ein Loch in den Schädel gesägt und eine geplatzte Ader in seinem Hirn geflickt hatte. Allein darum wäre er auf einer Seite kahl rasiert und der Verband um seinen Kopf nötig. Nun, eitel war er noch nie gewesen, denn es gab Wichtigeres.

„Hallo mein Herz.“ Zum ersten Mal, seit er aus seiner Besinnungslosigkeit aufgewacht war, gebrauchte Phillip die deutsche Sprache, was ihm selbst jedoch gar nicht auffiel.

Elisabeth ließ sich unterdessen auf seine Brust sinken, unfähig, sich weiter in dieser leicht gebückten Körperstellung zu halten. Dabei füllten sich ihre Augen zusehends mit heißen Tränen der Erleichterung.

„Endlich“, hauchte sie kaum hörbar. „Ich hatte solche Angst, dass … Aber jetzt ist alles wieder gut.“

*

Eine Woche nach der Operation konnte Phillip aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er solle sich schonen, gab man ihm mit auf den Weg. Vor allem solle er jede Art von Aufregung meiden, die seinen Blutdruck erhöhen könnte. Außerdem müsse er sich sofort bei einem Arzt oder in einem Krankenhaus vorstellen, wenn die Schmerzmittel nicht mehr griffen, oder bestimmte Symptome auftreten würden.

Elisabeth hatte mittlerweile den Mietwagen abgeholt, denn die ursprünglich geplante Reise quer durch Kalifornien konnte jetzt doch noch angetreten werden, wenn auch in leicht verkürzter Form. Sie wollte jedoch nicht am selben Tag aufbrechen, weil es bereits später Nachmittag war. Allerdings gestaltete sich die erste gemeinsame Übernachtung außerhalb der Klinik anfangs ein bisschen frustrierend, denn beiden fiel es schwer, die Hände voneinander zu lassen. Allein ihrer Willensstärke war es letztlich zu verdanken, dass Phillip seufzend aufgab.

„Du bringst mich um den Verstand, Frau“, murmelte er heiser. „Wie soll ich denn kühlen Kopf bewahren, wenn ich nichts sehnlicher begehre, als deine Umarmung?“ Er hielt sie eng an sich gepresst und kämpfte dabei um seine Beherrschung.

„Das ist zwar sehr schmeichelhaft für mich, Mann“, erwiderte sie. „Aber dein Leben ist mir wichtiger als einige lustvolle Augenblicke. Wenn du wieder völlig gesund bist, werden wir noch genügend Zeit dafür haben.“

Dass sie ihm in derselben Sprache antwortete, in der er die Worte an sie gerichtet hatte, überraschte Phillip so sehr, dass er sie offenen Mundes anstarrte. Und mit einem Mal ging ihm auf, dass dasnicht zum ersten Mal geschehen war. In den vergangenen beiden Tagen war es nämlich schon einige Male passiert, ohne dass er diesem Umstand eine Bedeutung beigemessen hätte, erinnerte er sich nun. Er war so sehr mit der eigenen misslichen Lage beschäftigt gewesen, dass ihm das sonderbare Verhalten seiner Frau gar nicht weiter aufgefallen war. Doch nun sah er sie prüfend an und war wiederum irritiert, weil sie so tat, als wäre gar nichts Besonderes geschehen. Allein das Lächeln auf ihren Lippen verriet, dass sie genau zu wissen schien, was er gerade dachte.

„Ich wusste gar nicht, dass du eine Indianersprache beherrschst“, brachte er endlich hervor.

„Das wusste ich bis vor ein paar Tagen selbst nicht“, gestand sie.

Phillip meinte nun, jemand hätte seinen Kopf genommen und sein Hirn zu Mus geschüttelt, denn er verstand plötzlich gar nichts mehr. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass während seiner Operation etwas sehr Merkwürdiges mit ihm passiert war. Er hatte sich während seines Narkoseschlafes in einer Welt wiedergefunden, die urtümlich, wild und höchst aufregend gewesen war. Zudem hatte es so ausgesehen, als ob er ein sehr aktives Teil einer fantastischen Geschichte wäre. Am Ende hatte er sich dann außerhalb seines Körpers wiedergefunden und dabei sehr eigenartige Dinge erlebt. Und nicht nur das! Da waren auch Gedanken und Bilder durch seinen Verstand geschossen, die vollkommen irreal angemutet hatten, weil ihm eine Welt offenbart worden war, die tatsächlich wie aus einem Fantasyfilm zu stammen schien.

„Ich dachte … Ich … Es war doch nur ein Traum.“ Seine Stimme klang heiser und seinem Gesicht fehlte es plötzlich an Farbe.

„Nein“, erwiderte Elisabeth nach kurzem Zögern leise. „Ich denke nicht, dass es ein Traum gewesen ist. Es sieht vielmehr so aus, als hätte dein Hirn aus allem, was du bisher gesehen und gelernt hast, eine schöne Geschichte zusammengestellt, um den Stress abzumildern, der dich nach dem Zwischenfall fest im Griff hatte.“ Das war eine Erklärung, die nicht unbedingt ihren neuesten Erkenntnissen entsprach, die aber für ihn leichter zu akzeptieren war, weil sie nicht zu fantastisch klang. Ihre eigentliche Meinung dazu würde sie ihm mitteilen, sobald sie sicher sein konnte, dass er sie anschließend nicht in die Klapsmühle einweisen ließ, entschied sie.

Phillip wusste, seine Frau hatte recht. Dennoch konnte er ihr nicht wirklich zustimmen. Vor allem deshalb nicht, weil es da etwas gab, was er nicht auf Anhieb begreifen konnte.

„Ich … Du weißt, was in meinem Kopf vorgegangen ist?“, fragte er mit einem Mal sehr verunsichert. „Kannst du dich etwa in mein Hirn einklinken?“

„Nein.“ Elisabeth lachte verhalten. „Ich kann nicht einfach so in deinen Verstand eintauchen und darin herumrühren. Aber ich kenne fast alle deine Geheimnisse und Eigenarten, weil du schon immer alles mit mir besprochen und geteilt hast.“ Das war nicht ganz richtig. Aber auch für diese Offenbarung war er noch nicht bereit. Sie selbst war ja auch ziemlich irritiert gewesen, als sie drei Tage zuvor realisiert hatte, dass sie tatsächlich seine Gedanken entschlüsseln und seine Erinnerungen mit ihm teilen konnte. Allerdings hatte sie danach schnell begriffen, dass das nicht nur an der sehr engen Bindung zwischen ihnen lag, sondern an ihrer telepathischen Begabung. Nun, sie hatte dieses Talent mittlerweile akzeptiert und auch mehrfach bei ihm und den Pflegekräften ausprobiert. Er hingegen würde wahrscheinlich mit Schock auf eine derartige Eröffnung reagieren. Zudem musste er sehr behutsam darauf vorbereitet werden, dass auch er möglicherweise eine außergewöhnliche Gabe besaß. „Auf deine Sprach-und Geschichtskenntnisse warst du schon immer sehr stolz“, fuhr sie fort. „Und dein Wunsch, einmal für ein Weilchen wie ein Trapper im wilden Westen zu leben, begleitet uns schon seit unserer Hochzeit. Darum denke ich, dass sich dein Geist während der OP mit Dingen beschäftigt hat, die angenehmer waren. Das ist alles.“ Wenn er wieder völlig gesund war, würde sie ihre neuesten Entdeckungen mit ihm teilen. Aber jetzt noch nicht. Nicht, solange er so geschwächt und unsicher war.

Im Laufe der vergangenen Tage war Elisabeth auch noch zu anderen Erkenntnissen gelangt. Doch das waren Geschichten, die sie derzeit gar nicht zur Sprache bringen wollte, weil es ihren Mann in der Tat vollkommen überfordert hätte. Dass sie zusammengehörten, so wie es ein paar gleicher Schuhe taten, war schon lange klar. Aber dieser Umstand beschränkte sich offenbar nicht nur auf ihre aktuelle Partnerschaft. Vielmehr sah es so aus, als wären sie schon sehr lange durch ein besonderes Band miteinander verbunden. Auch schien ihr der exotisch klingende Name ‚Safyra‘ so normal und vertraut, als wäre es tatsächlich ihr eigener. Außerdem meinte sie, nicht nur die Erfahrungen und das Wissen aus früheren Existenzen in sich zu tragen, sondern auch noch etwas Anderes, was sie derzeit nicht benennen konnte. Es fühlte sich manchmal so an, als wäre ihre Seele keine singuläre Einheit, sondern aus mehreren Teilen zusammengesetzt. Sicher, das klang jetzt wirklich total irre. Und doch … Es fühlte sich manchmal so an, als wäre da noch jemand, der hin und wieder Einfluss auf ihre Entscheidungen nahm.

Phillip kämpfte unterdessen mit einem riesigen Kloß, der ihm die Kehle zuschnürte. Seine Frau sagte die Wahrheit, da war er sich absolut sicher. Trotzdem hörte sich ihre Aussage unglaublich an. Wenn es tatsächlich stimmte, dass er sich während der Narkose mit seinen Erinnerungen beschäftigt hatte, dann musste das heißen … Erinnerungen gingen auf reale Erlebnisse zurück. Also musste er … Offenbar hatte er schon einmal gelebt. Früher. Zu einer anderen Zeit. Und an einem anderen Ort. Das Einzige, was gleichgeblieben war, war offensichtlich die Frau, die sein früheres Leben mit ihm geteilt hatte.

„Hör auf zu grübeln“, sagte Elisabeth in seine Gedanken hinein. „Das bringt jetzt ohnehin nichts. Schlaf lieber. Morgen haben wir einen langen Tag vor uns.“

„Wieso?“, fragte er.

„Na, wir werden unsere Tour machen“, erwiderte sie lächelnd. „Wir starten zwar mit Verzögerung und werden die eine oder andere Station auslassen müssen. Aber unsere Reise wird trotzdem gemacht.“ Sich eng an ihn schmiegend, lächelte sie gleichzeitig zu ihm hinauf. „Gute Nacht mein Herz. Träum etwas Schönes.“

Phillip indes betrachtete seine Frau voller Zärtlichkeit. Sie war nicht nur eine sehr kluge Frau, stellte er fest. Sie konnte einem auch durch ihren alleinigen Anblick und ihre katzenhafte Anschmiegsamkeit den letzten Rest an Beherrschung nehmen. Ihre Augen wirkten dunkler als sonst und auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer. Ihr natürlich roter Mund lud förmlich zum Küssen ein, und ihr duftendes Haar streichelte seinen Hals. Ihr Schlaf-Shirt verbarg zwar den aufregendsten Teil ihres Körpers, doch allein das Wissen um ihren schönen Busen und die Wärme ihrer Haut wollte seine Finger umgehend auf Wanderschaft schicken. Nur ihre Hand, die seine auf ihren Hüften aufhielt, erinnerte ihn wieder daran, dass er sich zurückhalten musste.

Zwei Tage hielt es Elisabeth aus. Dann begann sie von den Theorien zu reden, mit denen sich ihr Verstand unablässig beschäftigte, seit Phillip in Todesgefahr geraten war. Dass er ihr zuhörte, ohne Fragen zu stellen, verwunderte sie zunächst ein wenig, denn sie war es gewohnt, dass er sein Interesse durch Nachhaken oder eigene Auslegungsweisen zu dem Gesagten deutlich machte. Sobald ihr jedoch aufging, dass sie ihm im Grunde nichts Neues erzählte, weil er sich mit den gleichen Themen auseinandersetzte, wie sie, seufzte sie erleichtert. Anschließend begann sie vorsichtig ein paar Fragen zu stellen.

„Hältst du mich für verrückt?“, wollte er daraufhin merklich alarmiert wissen.

„Nein!“ Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie ein Hinweisschild, welches eine Parkmöglichkeit ankündigte. Also steuerte sie das Wohnmobil umgehend auf den ausgewiesenen Rastplatz. „Hast du mir denn nicht zugehört?“ Der Wagen stand mittlerweile, sodass sie sich ihrem Mann zuwenden konnte. „Ich habe Erinnerungen, die nicht aus diesem Leben sein können. Und ich wollte, dass du verstehst, was mir im Kopf herumgeht.“

Phillip reagierte nicht gleich, denn er wusste nicht, wie oder womit er anfangen sollte. Doch dann begann er zu reden. Erst stockend und unsicher. Aber dann immer schneller, was ihn bald atemlos machte. Zudem wurde der Kopfschmerz immer stärker, je länger er sich mit den Erinnerungen beschäftigte, die nicht die seinen waren, aber dennoch zu ihm gehörten, wie seine Hand oder sein Fuß.

„Dass es dir genauso geht, beruhigt mich ein wenig“, kam er schließlich zum Ende. „Dennoch macht es mir auch Sorgen, weil das alles nicht normal sein kann.“

„Was ist schon normal in dieser verrückten Welt.“ Elisabeth wählte absichtlich einen heiter-ironischen Tonfall. „Wissenschaftler versuchen den menschlichen Geist in Computerhirne einzuspeisen, die in Roboter installiert werden sollen, in der Hoffnung, so ewiges Leben möglich machen zu können. Sie vergessen aber völlig, dass eine Maschine keine Gefühle oder Träume haben kann. Dabei gibt es das schön längst. Ich meine, das ewige Leben. Und es scheint, als könnte der menschliche Geist durch die Symbiose mit einem unsterblichen Geschöpf genau dieses Ziel erreichen, ohne Technik oder sonstigen Schnickschnack.“

„Ewiges Leben, hm?“ Phillip war sich nicht sicher, was er von der Aussage seiner Frau halten sollte. „Würdest du das wollen? Ich meine …“

„Es geht nicht darum, ob ich das will oder nicht. Wir sind schon Teil eines Mysteriums, das wir derzeit noch nicht in seinem gesamten Ausmaß begreifen können.“ Sie sah ihn ernst an. „Für mich steht aber schon seit deiner Zeit im Krankenhaus fest, dass wir zu den Menschen gehören, die eine Reinkarnation erleben dürfen. Was jetzt noch fehlt, ist eine sicht-und greifbare Bestätigung dafür, dass wir tatsächlich vor über hundert Jahren hier gelebt und eine Familie gegründet haben.“

„Ist das deine älteste Erinnerung an ein vergangenes Leben?“, wollte er wissen.

„Nein“, antwortete sie nach einigem Zögern. „Da sind manchmal auch Bilder von einem fremden Planeten. Und Wesen, die ziemlich seltsam aussehen. Fast so, wie man sich Engel im Allgemeinen vorstellt. Nur ohne Flügel.“ Da er daraufhin bloß nickte, entschied sie, dass es vorerst gut sein sollte. Der Schmerz und die Erschöpfung waren ihm deutlich anzusehen.

„Als ich noch in Narkose lag, ist mir etwas Seltsames passiert“, begann er nach einer Weile zu erzählen. „Ich war außerhalb meines Körpers und wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Aber dann sprach mich ein unsichtbares Wesen an. Es wollte, dass ich mich auf meinen menschlichen Körper konzentriere. Na ja, ich habe es für ein Produkt meiner Fantasie gehalten, bis ein zweites Geschöpf auftauchte und wir dann alle sichtbar wurden.“ Er schluckte hart. „Seitdem habe ich das Gefühl, als würde ich durchdrehen. Ich … Eines dieser Geisterwesen nannte mich Arvyd. Und es fühlte sich richtig an, so als wäre das tatsächlich mein Name. Und … Die beiden Gespenster waren mir so vertraut, als würde ich sie schon lange kennen. Ich … Kann es sein, dass mein Hirn nicht mehr richtig funktioniert?“

Die Verzweiflung, die sie in seinen Augen erkannte, tat Elisabeth weh. Also schnallte sie sich ab, um ihn umarmen zu können.

„Wir sind sicher nicht irre“, stellte sie fest, während sie ihn immer noch an sich drückte. „Ich denke vielmehr, dass es einen Grund dafür gibt, warum wir uns wieder so genau an alles erinnern können.“

„Meinst du wirklich?“ Es war keine echte Frage. Daher erwartete er auch keine Antwort. „Ich hoffe bloß, das alles ist nicht doch beginnender Wahnsinn.“ Er seufzte.

„Das ist es bestimmt nicht“, versuchte sie zu beruhigen. „Ich denke vielmehr, dass das alles einen bestimmten Sinn hat.“ Da er sich augenscheinlich beruhigt hatte, ließ sie ihn los, um sich wieder auf den Fahrersitz zu schieben.

„Das hoffe ich.“ Er seufzte erneut. „Wenn einer hören könnte, worüber wir uns unterhalten, würde er garantiert die Leute mit der Liebhabejacke alarmieren.“ Er grinste schief.

„Gut möglich. Aber deswegen müssen wir uns glücklicherweise keine Gedanken machen, denn es hört uns ja keiner.“ Auch sie lächelte. „Entspann dich, Liebling. Die Grübelei führt zu nichts. Wir sollten uns lieber darauf freuen, was uns die nächsten Tage bringen werden.“

Phillip nickte bloß. Sie wäre sicher eine ausgezeichnete Reiseleiterin geworden, wenn er sie nicht kurz nach ihrer Ausbildung zur Reisekauffrau geheiratet und darum gebeten hätte, dass sie zu Hause blieb und mit ihm eine Familie gründete. Er hatte ihr keineswegs eine eigene Karriere missgönnt. Aber die Aussicht darauf, lange Zeitspannen ohne sie sein zu müssen, weil sie in der Weltgeschichte herumgondelte, während er tagsüber seiner Arbeit an der Frankfurter Börse nachging und abends allein vor dem Fernseher saß, hatte ihn mit Grauen erfüllt. Nun, das mit der Familienplanung hatte zunächst nicht klappen wollen, obwohl sie beide mit sehr viel Engagement und Leidenschaft bei der Sache gewesen waren. Doch dann hatte sich Marius angekündigt. Und drei Jahre nach seiner Geburt war Laura zur Welt gekommen. Damit hatte seine Elly genug zu tun und schien nicht unglücklich darüber zu sein, dass sie sich nicht mehr mit Vertragspartnern auseinandersetzen oder mit schwierigen Kunden herumärgern musste, die nicht wussten, was sie eigentlich wollten. Aber wenn eine Reise oder ein Ausflug anstand, dann lief sie zur Höchstform auf und organisierte schon im Vorfeld alles so gut, dass nichts mehr schiefgehen konnte. So auch diesmal. Sie hatte die Tour sehr umsichtig ausgearbeitet, denn es bestand immerhin die Möglichkeit, dass sie an ihrem ersten Zielort nicht willkommen waren und darum gleich wieder fahren musste. In diesem Fall stand eine Rundreise an, die zu mehreren Sehenswürdigkeiten führen und in einem Wellness-Resort enden sollte, wo sie sich für zwei Tage verwöhnen lassen wollten.

Die Idee, nach Kalifornien zu fliegen, war keineswegs aus einer Laune oder dem bloßen Wunsch heraus entstanden, ein fremdes Land und neue Leute kennenlernen zu wollen. Vielmehr gab es einen besonderen Grund dafür. Es ging um ihre persönlichen Wurzeln, erinnerte sich Elisabeth, während Phillip den Kopf gegen die Nackenstütze lehnte und die Augen schloss. Weil sie mehr über das Umfeld der Familie wissen wollte, mit der sie entfernt verwandt war, hatte sie gemeinsam mit ihrer Tochter alle möglichen Informationsquellen angezapft, die sie ausfindig machen konnten. Dabei war sie aber nur auf wenige Daten und Fotos gestoßen. Der anfänglichen Enttäuschung war dann aber schnell die Hoffnung gefolgt, dass sie möglicherweise dort mehr erfahren könnte, wo ihr Ur-Großvater geboren wurde. Und jetzt sah es so aus, als müsste sie sich nicht mehr anstrengen, denn die bisher gesammelten Fakten waren erst kürzlich von alten Erinnerungen ergänzt worden, die aus einem vorangegangenen Leben stammten. Als würde sie einen Wild-West-Film betrachten, zogen auch jetzt wieder Bilder an ihrem inneren Auge vorbei, die schön und grausam zugleich waren. Mathilda, so hatte sie damals geheißen, war auf der Flucht gewesen. Vor einem Mann, mit dem man sie zwangsweise hatte verheiraten wollen. Verfolgt durch den alten und sehr grausamen Pferdezüchter, der sie lieber tot als in den Armen eines anderen sehen wollte, war sie auf Eric Harper getroffen. Bei ihm hatte sie dann nicht nur Unterschlupf und Schutz, sondern auch die Liebe gefunden. Dass er von den Indianern als einer der ihren betrachtet und von ihnen Adlerherz genannt wurde, hatte sie damals sehr verwundert. Doch im Laufe der Zeit war ihr dann aufgegangen, dass nichts zufällig und schon gar nicht ohne Grund geschah. Na ja, das Wissen, das sie in ihren vergangenen Leben gesammelt hatte, war beim Übergang in die neue Existenz verschüttet worden. Allerdings waren durch den Stress und die bodenlose Angst um Phillip alle verdrängten Erinnerungen wieder hochgekommen, sodass sie jetzt das Gefühl hatte, als wäre das alles erst ein paar Tage zuvor geschehen. Und das war der pure Wahnsinn! Also, im positiven Sinne natürlich. Sie wusste, sie war Elisabeth Harper. Sie wusste auch, dass Phillip die Liebe ihres Lebens war und ihre beiden Kinder das gemeinsame Glück perfekt gemacht hatten. Daran gab es also nicht den geringsten Zweifel. Sie hatte aber auch als Mathilda gelebt. Und danach zwei weitere, wenn auch ziemlich kurze Verbindungen erfahren. Dabei war ihr Bewusstsein jedes Mal mit den neuen menschlichen Seelen so stark verschmolzen, dass eine Trennung der Individuen nicht mehr möglich gewesen war. Profitiert hatten wohl beide Seiten davon, denn durch die Vereinigung war eine Koexistenz entstanden, die sich für beide Seiten sehr hilfreich gestaltet hatte.

Ohne jeden Übergang fiel Elisabeth eine Geschichte ein, die sie einmal von einer bedeutenden Indianerin gehört hatte. Besser gesagt war es Mathilda gewesen, die damals von der Medizinfrau der Patwin-Sippe darüber aufgeklärt wurde, dass sie ein unsterbliches Wesen in sich trug, welches schon uralt und allein daran interessiert war, sie zu inspirieren und zu einem guten Menschen zu machen. ‚Yden‘ hatte die alte Geisterfrau das Volk der Lichtgeschöpfe genannt, das einst vom Himmel fiel und lange Zeit auf der Erde lebte, die Schöpfung achtend und schützend, die sie alle ernährte. Erst eine globale Apokalypse hätte dazu geführt, dass die Yden ihre organischen Körper im Feuer der ausbrechenden Vulkane verloren hätten und im Laufe der darauffolgenden Zeit eine Verbindung mit den Menschen eingegangen seien, um nicht länger als reine Gespenster existieren zu müssen. Dabei wäre von Anfang an das Gesetz gültig gewesen, dass das menschliche Bewusstsein nicht gezwungen oder verdrängt werden durfte. Vielmehr sollte es ein harmonisches und rücksichtsvolles Miteinander sein, damit die Symbiose nicht zum Wahnsinn des Menschen führte. Weil aber die Unsterblichen nach dem Tod ihrer Träger immer wieder neue Symbionten benötigten, gingen sie seither immer wieder neue Verbindungen ein und sammelten mithilfe ihrer Träger neue Erfahrungen und Wissen.

Es kam Elisabeth mittlerweile gar nicht mehr komisch vor, sich selbst als ein Individuum zu sehen, das durch ein außergewöhnliches Bewusstsein ergänzt wurde. Sie nahm es vielmehr als etwas Positives hin, denn bisher war ihr dadurch kein Schaden entstanden. Ganz im Gegenteil schien ihre Impulsgeberin stets darauf geachtet zu haben, dass sie ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen folgen konnte, dabei aber vor schlimmen Fehlentscheidungen bewahrt wurde. Warum aus Yden und Menschenseelen seit einiger Zeit untrennbare Einheiten wurden, wusste vermutlich nur die Höchste-Macht. Das galt auch für die Frage, warum sie und ihr Mann ausgerechnet jetzt zu dem Ort unterwegs waren, an welchem sie schon einmal gelebt hatten. Sie ging jedoch davon aus, dass sich das in den nächsten Tagen klären ließ. Zufälle widerfuhren nämlich nur gewöhnlichen Menschen. Bei ihr und Phillip hingegen schien sehr viel von einer höheren Intelligenz gesteuert zu werden, die ein bestimmtes Ziel verfolgte.

3

Fruchtbare Ebenen, die wie grün, gelb und braun gemusterte Teppiche wirkten, und unterschiedlich hohe, zumeist bewaldete Hügel zogen am Fenster des Wohnmobils vorbei. Getreideacker von unendlicher Größe erstreckten sich manchmal bis zum Horizont, nur durch kleinere Gruppen verschiedenartiger Bäume unterbrochen, welche den Vögeln einen Rastplatz und Schutz vor größeren Raubvögeln boten. Hier und da wurden vereinzelte Farmhäuser sichtbar. Doch im Großen und Ganzen hatte man den Eindruck verlassener Einöde.

Als die Reisenden schließlich in die Regionen nordöstlich von Redding gelangten, änderte sich das Bild der Landschaft. Dichte Wälder, mit Kräutern und wilden Blumen bewachsene Grasflächen und Steppen ähnliche Landschaften wechselten sich nun in unregelmäßigen Abständen ab. Phillip entdeckte ein paar Hinweisschilder, die zur nächsten Farm oder Ranch wiesen, und einigen Briefkästen, die auf Pfählen entlang der Straße aufgestellt waren. Er wurde jedoch das Gefühl nicht los, in eine menschenleere Gegend verschlagen worden zu sein. Selbst die gut ausgebaute Straße schien kaum befahren zu werden, denn innerhalb einer ganzen Stunde kam ihnen nicht ein einziges Fahrzeug entgegen.

Am Nachmittag erreichte das Paar endlich die Grenze einer Ortschaft. Dort stand es dann eine ganze Weile vor der bereits stark verwitterten Hinweistafel, auf welcher der Name ‚Oaktown‘ in verblassten Lettern zu lesen war. Ein Stückchen weiter in Richtung der ersten Häuser hatte man ein neues Ortsschild mit einem anderen Namen aufgestellt. Doch dieses fand momentan keine Beachtung.

„Da sind wir also“, stellte Elisabeth ein wenig atemlos fest. An etwas zu glauben, war eine Sache. Den realen Beweis dafür zu bekommen war jedoch eine völlig andere. „Mal sehen, wie es im Zwei-Seen-Tal und dem Dorf-am-See aussieht.“ Auf der aktuellen Landkarte waren sowohl das Städtchen als auch zwei Gewässer und eine winzige Ansiedlung in dem infrage kommenden Gebiet zu erkennen. Allerdings waren sie allesamt unter anderen Namen verzeichnet. Allein darum war sie sich bisher nicht sicher gewesen, ob und inwieweit sich ihre Erinnerungen auf reale Tatsachen stützten.

„Das wird sich bestimmt bald feststellen lassen“, erwiderte Phillip. „Mit einem schnellen und ausdauernden Pferd brauchte man etwa vier Stunden, und mit einem beladenen Fuhrwerk die doppelte Zeit, um dorthin zu kommen. Aber mit dem Auto wird es auf einer asphaltierten Straße sicher schneller gehen.“

Während Elisabeth den Wagen wieder startete, um anschließend durch Sunville zu fahren, schaute sich Phillip aufmerksam um. Es gab Straßen, da herrschte moderner Baustil vor, der eine geschäftsmäßig kühle Atmosphäre verströmte. Sie kamen aber auch durch ein Viertel, wo überwiegend alte Holzhäuser standen. Hier besaß jedes Gebäude eine breite Veranda vor der Eingangstür, von welcher ein oder zwei Stufen zum gepflasterten Gehweg hinunterführten. Sie unterschieden sich vom Baustil her kaum voneinander, wiesen jedoch viele verspielte Kleinigkeiten auf, die jedes einzelne von ihnen als ein individuelles Heim zu erkennen gaben. Selbst der Anstrich der hölzernen Fassaden wiederholte sich innerhalb eines Straßenzuges nicht ein einziges Mal, so als hätten die Bewohner peinlich darauf geachtet, jeder für sich, seinen ganz persönlichen Geschmack zum Ausdruck zu bringen. Alles wirkte sehr geschmackvoll und gediegen, denn man hatte ausschließlich Pastelltöne verwendet, was Wärme und Harmonie vermittelte. Außerdem war jedes freie Fleckchen Erde mit Blumenrabatten und verschiedenartigen Sträuchern bepflanzt worden. Und unter den meisten Bäumen, die in einigen Vorgärten wuchsen, waren Bänke und Tische aufgestellt, was zum Verweilen einlud.

Phillip wurde unvermittelt von den verschiedenartigsten Emotionen überfallen. Wären die Menschen nicht auf dieselbe moderne Art gekleidet gewesen, wie er und Elisabeth, es hätte so ausgesehen, als wäre die Zeit im Jahre achtzehnhundertsiebenundfünfzig einfach angehalten worden. Jede Straße, jeder Platz im alten Viertel von Sunville war ihm so vertraut, als wäre er erst gestern hier gewesen. Er schluckte hart, denn das Gefühl, nach Hause zu kommen, wurde immer mächtiger in ihm. Also betrachtete er erneut die Häuser, und meinte dann sogar den einen oder anderen Namen des jeweiligen Besitzers nennen zu können.

Elisabeth fuhr zunächst an den Straßenrand und machte dann den Motor aus. Vor ihnen öffnete sich nun ein großer runder Platz, dessen grasbewachsene Mitte durch eine kleine Gruppe alter Bäume beherrscht wurde. Rund um diese grüne Insel reihten sich kleine Geschäfte aneinander, deren Art bereits an den uralten Nasenschildern zu erkennen war, welche rechtwinklig von den Mauern abstehend über den Eingangstüren aufgehängt waren.

Phillip betrachtete das idyllisch anmutende Bild und musste unwillkürlich lächeln. So wie zu früheren Zeiten saßen nämlich auch heute einige Männer verschiedener Altersstufen vor den Räumlichkeiten des Friseurs, um sich auf der Veranda ein kühles Getränk schmecken zu lassen, darauf wartend, dass ihnen Bart oder Haupthaar wieder in die gewünschte Form gebracht wurden. Und die ‚Residenz‘ des Sheriffs wirkte genauso kahl, grau und einschüchternd wie eh und je.

Dass man die sogenannte Altstadt so belassen hatte, wie sie ursprünglich gewesen war, hatte einen ganz besonderen Grund. Aber das konnte Phillip zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Im Grunde hatte man aus dem ursprünglichen Oaktown eine Art Altstadtmuseum gemacht, wo weder moderne Hochhäuser noch Tankstellen oder gar mit Neonfarben beleuchtete Einkaufszentren gebaut werden durften. Diese mittlerweile unverzichtbaren Einrichtungen fand man nämlich erst ein ganzes Stück außerhalb des eigentlichen Wohngebietes auf einem eigens dafür freigegebenen Areal. Der Grund dafür war, dass das Städtchen mittlerweile in einem besonders geschützten Nationalpark lag, und dass man sich schon deshalb an gewisse Auflagen halten musste. Zudem hatte die Filmindustrie hier nicht nur eine ideale Kulisse für Abenteuer-und Wild-West-Filme gefunden, sondern auch einen perfekten Standort für ihre gesamte Crew. Unterkunft und Essen waren nicht teuer, aber meist hervorragend. Und da man in der Regel wie ein Gast der Familie behandelt wurde, kam man gerne wieder. Aber das waren nicht die einzigen Gründe. Die Menschen waren einfach stolz auf ihre ‚antike‘ Altstadt. Sie liebten die alten Dinge und pflegte sie sehr gewissenhaft, weil sie damit auch ihre Vergangenheit in Ehren hielten, die nicht immer einfach, dafür aber sehr aufregend gewesen war.