Claudia Mey - Dick war gestern - Sabine Richling - E-Book

Claudia Mey - Dick war gestern E-Book

Sabine Richling

0,0

Beschreibung

Dies ist der 1. Teil der "Dick war gestern"-Buchreihe. Der 2. Teil: Dick war gestern - Rezeptbüchlein Claudia ist ihr Leben lang dick. Etliche Diäten führen ins Leere und oh weh, lassen die Rettungsringe sogar anwachsen. Mit den Jahren multipliziert sich ihr Gewicht. Sorgen und Probleme frisst sie buchstäblich in sich hinein - bis sie eines Tages feststellt, nicht mehr glücklich zu sein. Ihre Ängste vor einem frühen Tod nehmen zu und ihre Gesundheit verschlechtert sich. Es wird Zeit umzudenken, denn die Uhr tickt ... Sabine Richling erzählt für Claudia Mey in der Ich-Form und lässt den Leser mit viel Einfühlungsvermögen und einer witzigen Erzählweise an Claudias Erfahrungen als übergewichtige Person teilhaben. "Berührend und wunderbar komisch." "Mehr Selbstironie geht nicht - herrlich!" Für alle "Dick war gestern"-Fans ist für das Jahr 2023 das "Dick war gestern"-Rezeptbüchlein geplant. Claudia stellt ihre Rezepte vor, mit denen sie so erfolgreich abgenommen hat. Den Erscheinungstermin erfahrt Ihr dann unter: www.sabine-richling.com

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Inhalt

Vorwort Svenja Hellwig

Vorwort Claudia Mey

„Dick war gestern“

Danksagungen

Vorwort

Svenja Hellwig

Kinderkrankenschwester

und

Heilpraktikerin

Menschen in Industrieländern geht es gut. Sie haben in der Regel ein Dach überm Kopf und müssen keinen Hunger erleiden. Wenn die Lebensmittel zu Hause ausgehen, fährt man mal eben zum Supermarkt und wird mit einem Angebot überschwemmt, das einem die Entscheidung schwermacht. Nehme ich diesen Käse oder jenen? Heute mal Vollkornbrot oder Toast? Und so nebenbei könnte ich ja noch ein paar Kekse mitnehmen oder eine Tafel Schokolade. Oder doch lieber ein Stück Kuchen?

Jeder ist der täglichen Versuchung ausgesetzt. Schließlich macht es uns die Lebensmittelindustrie nicht gerade leicht mit den bunten Verpackungen der Süßwaren, die einen regelrecht einladen zuzugreifen.

Viele von uns kennen das: Man kauft mit Hunger ein und schon landet mehr im Korb als geplant. Ein Einkaufszettel kann hier Abhilfe schaffen, ist aber keine Garantie fürs Vernünftigsein. Vor allem, wenn einen das übertriebene Angebot regelrecht erschlägt.

Man wird aufs Neue schwach, kauft sich zuckerhaltige Lebensmittel, weil sie einfach supergut schmecken, obwohl man genau weiß: Das schadet mir.

Zucker ist ungesund, schwächt das Immunsystem, kann den Cholesterin- und Insulinspiegel negativ beeinflussen und dick machen. Obwohl uns das klar zu sein scheint – jedenfalls den meisten von uns –, lassen wir das übertriebene Naschen nicht sein.

Zucker hat einen Suchtfaktor und ist der Körper erst mal daran gewöhnt, sendet er ein Alarmzeichen ans Gehirn, wenn kein Nachschub kommt. Unser Verlangen nach Schokolade und Co wird angeregt und nimmt weiter zu. Wir geben unserem Appetit auf Süßes nach und kaufen uns die nächste Zuckerbombe. Somit beginnt der Kreislauf von Neuem. So lange, bis wir ihn durchbrechen und der Sucht widerstehen.

Claudia Mey hat es nach vielen Jahren des Dickseins geschafft, aus diesem Teufelskreis herauszukommen mit einem starken Willen und Durchhaltekraft. Chapeau vor dieser enormen Leistung, sich innerhalb von eineinhalb Jahren buchstäblich zu halbieren.

Zuckersucht scheint kein Thema mehr zu sein und trotzdem gönnt sie sich mal ein kleines Stück Kuchen oder eine Nascherei. Solange das in Maßen geschieht, ist es doch völlig in Ordnung und schadet auch nicht weiter.

Ich bin kein Freund vom erhobenen Zeigefinger und werde selbst öfter „naschrückfällig“, als mir lieb ist. Wenn mir jemand ständig erklären wollte, wie ich davon wegkomme und welche Methode fürs Abnehmen die geeignetste ist, würde ich meine Ohren zuklappen.

Claudia aber gelingt es in diesem Buch, niemandem auf die Füße zu treten, und erzählt auf lustige Weise, welche Erfahrungen sie als übergewichtige und später als schlanke Person gemacht hat. Wie es ihr gelungen ist, so viel abzunehmen, thematisiert sie ebenfalls, macht aber deutlich, dass es ihr Weg war und jeder selbst herausfinden muss, wie er sein Ziel erreichen kann.

Vorwort

Claudia Mey

Bevor ich beginne, möchte ich noch etwas loswerden:

Als dicke Person ist es nicht immer leicht, Menschen um sich zu sammeln, die ehrlich zu einem sind und es gut meinen.

Zum Glück bin ich mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet, das sich prima ergänzt mit meiner fröhlichen Natur. Deshalb bin ich recht kontaktfreudig und habe mir – auch bedingt durch meinen Friseurberuf – einen beachtlichen Bekanntenkreis erarbeitet. Ich bin froh, viele liebe Menschen in meinem Umfeld zu wissen, und ich möchte allen von Herzen danken.

Ein besonderes Dankeschön geht an meine Mutter, für die ich einfach nur ihre Tochter bin – ob übergewichtig oder schlank.

Meiner Familie möchte ich ebenso danken und meinen Freunden, insbesondere Sabine und Ingo, die mit mir seit Jahren durch „dick und dünn“ gehen und immer direkt an meiner Seite stehen – mich nehmen, wie ich bin.

1

Also, in diesem Buch geht’s um mich. Ich dachte mir, ich erzähle mal meine Geschichte, in der es vor allem um mein Gewicht geht: zum einen das Gewicht, das ich Jahrzehnte mit mir herumgetragen habe und in mühevoller „Häppchen-Arbeit“ multipliziert habe, und zum anderen jenes Gewicht, welches ich in der Mitte meines Lebens durch Disziplin und die Umstellung einiger Gewohnheiten halbiert habe.

Und hier stehe ich nun mit meinen gesammelten Erfahrungen, die ich unmöglich alle für mich behalten kann, denn schließlich gibt es da draußen jede Menge Leidensgenossen und -genossinnen, denen ich mitteilen möchte: Es ist möglich! Du bist nicht allein! Gib nicht auf!

Ich möchte gern ganz von vorne beginnen. Vielleicht nicht gerade bei der Geburt. Daran erinnere ich mich nur schwach und ob mir über die Nabelschnur zu viele Kohlenhydrate zugeführt wurden, ist nicht überliefert. Aber eines ist sicher: Als Kind wurde ich schon dick. Was mich direkt zu meiner Schulzeit führt.

(Um mich wieder besser einzufühlen und auch dem Leser die Möglichkeit zu geben, direkt an meinem vergangenen Leben teilzuhaben, erzähle ich in der Gegenwartsform. Deshalb bitte nicht irritieren lassen, wenn ich plötzlich sechs Jahre alt bin.)

Ich heiße Claudia, bin also – wie eben erwähnt – 6 Jahre alt und … dick. Meine Mitschüler kennen mich nicht anders, ich mich eigentlich auch nicht. War ich jemals schlank? Falls ja, muss das in einem anderen Leben gewesen sein.

Zu meiner Einschulung bin ich beinahe dankbar, nicht die einzige Dicke zu sein. Da ist noch Bianca, deren Volumen mit meinem vergleichbar ist. Ich mag sie, trotzdem werden wir keine Freundinnen, was daran liegen mag, dass sie eher still ist. Aber vielleicht passen wir auch einfach nicht zusammen. Obwohl wir das gleiche Schicksal teilen und unsere überdimensionalen Schultüten neben uns wie winzige Streichholzschachteln aussehen. Ich wünschte, ich könnte mich dahinter ebenso verstecken wie meine schlanken Mitschüler hinter ihren. Doch ich bin nun mal keine Gazelle, eher ein übergroßer Kloß in der Hochzeitssuppe.

Trotz meines Übergewichts finde ich schnell Anschluss, werde von den Klassenkameraden akzeptiert. Natürlich kann ich nicht beurteilen, was hinter meinem Rücken geschieht, ob nicht der eine oder andere heimlich über mich lästert. Aber darüber stehe ich, denn der liebe Gott hat mich mit einem Selbstvertrauen ausgestattet, das bis zur Himmelspforte reicht. Mich kann nichts aus dem Gleichgewicht bringen, bis auf mein eigenes Gewicht.

Bianca hingegen hat es schwerer als ich. Mit ihr gehen die anderen Schüler nicht gerade zimperlich um. Regelmäßig wird sie zu ihrem Objekt der Begierde – zu ihrer Lieblingsbeute. Es ist wirklich schlimm, wie sie über sie herziehen, keine Gelegenheit auslassen, Bianca wegen ihrer Pfunde zu ärgern. Natürlich stehe ich ihr bei, wenn meine Mitschüler es zu bunt mit ihr treiben. Ich ergreife für sie Partei und bin ihre Fürsprecherin. Aber mal ehrlich, was kann ich da schon ausrichten – eine ebenfalls Dicke, die zwar mit einem regen Mundwerk ausgestattet ist, aber nicht weniger Taillenumfang mitbringt als das Mobbingopfer? Obwohl die Hänselei nicht mir gilt, fühle ich die seelische Pein wohl ebenso stark wie Bianca.

Wahrscheinlich bin ich mir von nun an erst richtig im Klaren, was es heißt, dick zu sein – nicht der Norm zu entsprechen. Trotzdem finde ich meinen Platz in der Schule, habe viele Freunde und sogar Spaß. Denn ich weiß mich zu behaupten.

2

Inzwischen bin ich 9 Jahre alt und nach wie vor moppelig. Kann gut sein, dass das eine oder andere neue Pfündchen hinzugekommen ist. Da schaue ich nicht so genau hin. Und weil ich wachse, wie jedes Kind in meinem Alter, ändern sich meine Konfektionsgrößen ohnehin ständig. Außerdem will ich ein glückliches Kind sein, darum verdränge ich das Problem und genieße schlichtweg alles, was mir das Leben zu bieten hat. Auch den Keks oder die Schokokugel für Zwischendurch. Wer will sich diese kleinen Freuden schon nehmen lassen?

Aber meine Eltern haben ein Auge auf mich und bemühen sich um Schadensbegrenzung. Deshalb kommen sie auf die glorreiche Idee, mich in einem Turnverein anzumelden. Wenn die kleine Claudi schon nicht weniger essen will, dann soll sie sich wenigstens mehr bewegen. Denn laut neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse führt regelmäßige sportliche Betätigung zu einem definierten Körperbau.

Ja, davon träume ich bereits seit Längerem. Wär doch gelacht, wenn ich auf diese Weise nicht meine Traummaße erreichen würde! Womöglich erwartet mich noch eine steile Karriere im Profisport.

Na ja, wie so oft im Leben, kommt es auch hier ganz anders als erhofft. Ich bleibe mollig, aber ich habe eine Menge Fun beim Turnen. Und da ich mein neues Hobby durchaus diszipliniert betreibe, werde ich bewundernswert gelenkig. Bald kann ich meine Beine in alle Richtungen drehen – falle in den Spagat wie eine Zirkusartistin.

Da kann ich mit meinen dünnen Mitturnerinnen durchaus mithalten und ich gebe zu, darauf bin ich mächtig stolz. Meine Schulnote in Sport verbessert sich durch das regelmäßige Training ebenso wie meine gute Laune, die ohnehin kaum zu bremsen ist. Denn trotz meines Handicaps habe ich ein sonniges Gemüt.

Meine übrigen Schulnoten können sich auch sehen lassen. Wenn ich also nicht so ein Pummelchen wäre, würde ich glatt behaupten, alles wäre perfekt. Ich habe Freude am Leben und lache meine Probleme einfach weg.

Vom Turnen in meinem Verein bekomme ich aufgrund meines ungeahnten Talents gar nicht genug. Bisweilen überschätze ich mich geringfügig. Wie bei dieser Staffel, die Beate, unsere Trainerin, heute mit uns übte. Ogottogott, mir glühen die Ohren immer noch vor Scham! Dabei habe ich diese kleine Peinlichkeit aus vollem Herzen weggelacht, aber am Ende blieb doch ein unangenehmer Beigeschmack zurück. Was ist heute passiert?

Beate teilte uns in Gruppen ein für eine Art Staffellauf durch und über verschiedene Turngeräte. Und da ich einen gewissen Anspruch an mich selbst habe, verlangte ich wirklich alles von mir ab. Ich bin gehechtet wie ein Kaninchen auf der Flucht – unter dem Reck hindurch über den Schwebebalken hinweg … Ich kam mir vor wie eine Feder im Wind. Als ich dann durch die Bank klettern sollte, wusste ich, ich bin die neue Sportprinzessin – das Wunderkind meines Jahrhunderts. Doch ich habe die Rechnung nicht mit der Bank gemacht, die meinen aufkeimenden Höhenflügen ein jähes Ende setzte. Ich blieb in ihr stecken wie ein Korken in der Weinflasche. Es ging weder vor noch zurück. Zu allem Übel bekam ich einen Lachflash, dabei hätte mir eher zum Weinen zumute sein müssen. Schließlich war diese Situation äußerst delikat. Denn wer will schon aussehen wie eine rund gewachsene Hämorrhoide in der Darmpassage, wenn er gerade davon träumte, wie eine Sportelfe zum höchsten Turn-Olymp aufzusteigen?

Da steckte ich also in der Bank fest und lief krebsrot an vor Lachen. Beate beauftragte zwei Mädels, den Hausmeister zu holen. Er sollte etwas Öl vorbeibringen. Hahaha … als wäre ein Pfropfen wie ich mit ein paar Tropfen Öl zu lösen. Da hätte man schon schwerere Geschütze auffahren müssen. Zum Beispiel einen Bagger oder einen Lastenkran. Der Hausmeister sah das wohl genauso und dachte nicht im Traum daran, seine kostbare Margarine an mich zu verschwenden. Damit konnte er mindestens noch vierzig Brötchen beschmieren und für meinen Körper hätte man locker drei Margarinepackungen benötigt.

Als mir das klar wurde, verging mir das Lachen. Ist ja auch nicht wirklich komisch, wenn Brötchen einen höheren Stellenwert einnehmen als man selbst. Und was soll ich sagen, der liebe Gott hatte Erbarmen mit mir und befreite mich aus dieser misslichen Lage. Na ja, eigentlich hatte der Allerheiligste mit all dem nicht viel zu tun. Weil ich nicht mehr lachen musste, entspannte sich meine Muskulatur und schon konnte ich wie ein Regenwurm durch die Bank hindurchschlüpfen.

Das war schon seltsam, dass ich mal wieder im Mittelpunkt stand wegen meines Übergewichts. Lieber würde ich mit strahlender Schönheit punkten und dem Spargel auf meinem Teller Konkurrenz machen. Ich schiebe die Stangen mit der Gabel hin und her. Werde ich jemals schlank sein oder ist dieser Körper mein Schicksal?

Am nächsten Morgen stehe ich nackig vorm Spiegel und drücke meine Rettungsringe platt. Das bin ich: Claudi, 9 Jahre alt, unförmig wie ein ausgeleierter Gummiring und drall wie eine Stopfgans. Ich wachse mit zwei normalgewichtigen Brüdern auf. Was mache ich falsch? Oder machen die was richtig? Das Leben ist ungerecht.

In der Schule laufe ich heute rum wie Falschgeld. Ich versuche, meinen kleinen Fauxpas von gestern aus meinem Gedächtnis zu löschen. Aber wahrscheinlich wird der sich in meine Gehirnwindungen einbrennen und mich noch im Rentenalter verfolgen. Dabei war es ja auch irgendwie lustig, in der Bank festzustecken. Trotzdem will ich diese peinliche Nummer lieber vergessen, immerhin könnte meine zarte Kinderseele Schaden nehmen. Wenn ich mal groß bin, möchte ich handelsübliche Erinnerungen an die Schule haben, und zwar solche, die man seinen möglichen späteren Kindern auch erzählen kann, ohne dabei rot zu werden.

Nun gut, ich hab ja noch Zeit, mein Leben so zu bauen, dass ich später mal von ein paar prima Erlebnissen berichten kann, auf welche ich richtig stolz sein werde.

Ich laufe also gerade griesgrämig durch den Schulflur und übe mich – wie bereits erwähnt – im Vergessen. Da wagt sich ein Junge aus der Parallelklasse an mich heran und quatscht mich blöd an. Und ich meine richtig blöd!

Meine üppige Statur scheint für ihn Grund genug zu sein, mich zu hänseln. Dabei kennt der mich überhaupt nicht wirklich und weiß nicht, ob ich womöglich ein nettes Kind bin, mit dem man Pferde stehlen kann. Statt mir die Gelegenheit zu geben, ihm zu beweisen, dass ich eine dufte Type bin, haut er Gemeinheiten raus und gibt mir das Gefühl, verkehrt zu sein, weil ich dick bin.

Da hat er mich heute auf dem falschen Fuß erwischt, schließlich knabbere ich noch an der „Korken-in-der-Flasche-Sache“ herum, die ich längst nicht vollständig aus meinem Hirnfleisch geschabt habe. Deshalb kommt diese erneute Demütigung zur Unzeit.

„Bitte hör auf damit“, gebe ich ihm zu verstehen, dass ich seine dummen Bemerkungen über mein Gewicht für deplatziert halte, immerhin sieht er selbst aus, wie frisch aus der Mülltonne entsprungen aufgrund seiner ungepflegten Klamotten. Dazu jedoch verkneife ich mir jeglichen Kommentar, auf solch ein jämmerliches Niveau möchte ich mich nicht herablassen. Den warnenden Unterton in meiner Stimme scheint er überhört zu haben. Er bringt sich nicht in Sicherheit vor mir. Dabei muss ich aussehen wie eine Biberratte in der Druckluftkammer – ich platze jeden Augenblick vor Wut! Offenbar ist sein IQ so hoch wie der eines Mohnbrötchens, denn er setzt seinen Angriff auf mich fort, statt den gescheiten Rückzug anzutreten. Letztlich bin ich ihm – breit wie hoch – überlegen und muss neben ihm wie der Mount Everest wirken. Das übersieht er geflissentlich und wagt es plötzlich, mich zu schubsen. Mich! Hat der seinen Verstand am Schuleingang abgegeben? Ich bin die Stärkere, das muss er doch sehen!

Seine Handgreiflichkeit bleibt deshalb auch ohne Folgen für mich. Ich stehe nach wie vor wie ein Hochhaus auf demselben Fleck. Doch mein Adrenalinspiegel steigt dramatisch an und da ich ein Kind bin, habe ich meine Emotionen noch nicht so gut im Griff. Also rauche ich wie eine Lokomotive und hole kräftig Schwung, um mich für sein ungehobeltes Verhalten zu revanchieren. Mit meinen flachen Händen drücke ich gegen seinen Brustkorb und schubse zurück. Nimm das, du Leuchte, denke ich und freue mich über diese gewonnene Schlacht. Denn er verliert das Gleichgewicht und fällt wie ein Kegel nach hinten. Dummerweise knallt er mit der Rübe direkt an die Heizung (was einen ziemlich hohlen Klang verursacht) und mir bleibt mein Siegesgesang, den ich gerade anstimmen wollte, im Halse stecken. Sprungartig stellt sich ein schlechtes Gewissen bei mir ein. Dabei malte ich mir in Gedanken bereits aus, wie ich seinen Skalp an die Wölfe verfüttere, mit meinen Rothautbrüdern ums Lagerfeuer tanze und das Kriegsbeil ausgrabe. Immerhin fühlte ich mich für eine Zehntelsekunde wie eine echte Kriegerin – unbesiegbar und furchteinflößend. Aber diese dämliche Heizung hat mir die Suppe versalzen und meinen grandiosen Sieg, für den ich hätte gefeiert werden müssen, zu einer krachenden Niederlage werden lassen: Das Bleichgesicht liegt mit einer Gehirnerschütterung am Boden und nun bin nicht ich das Opfer, sondern plötzlich er!

Prima! So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Also kann ich mir die Ordenverleihung in die Haare schmieren und mir stattdessen eine Tadel-Verleihung beim Direktor persönlich abholen.

Mit hängenden Schultern schlurfe ich zur Schlachtbank und klopfe gegen das Tor. Herr Beilfuß öffnet die Pforte und bittet mich in sein Büro.

„Aber Claudia“, beginnt er seine Standpauke, während ich mich noch frage, ob der Stuhl, auf dem ich sitze, elektrisch ist oder ein handelsüblicher Folterstuhl. „So etwas macht man doch nicht. Warum hast du den Peter denn gleich schubsen müssen? Weißt du nicht, dass man Streitigkeiten auch mit Worten begegnen kann? Gewalt ist keine Lösung.“

„Aber der hat angefangen!“, versuche ich, mich – zugegeben etwas banal – zu verteidigen. Aber hey, ich bin ein Kind und unschuldige 9 Jahre alt. Da ist man im Argumentieren noch alles andere als geschickt. Was ist ein Argument?

„Es spielt überhaupt keine Rolle, wer angefangen hat“, erwidert Herr Beilfuß deshalb auch.

„Du wirst dich bei dem Peter entschuldigen.“

Hab ich Wattekugeln in den Ohren oder warum hörte es sich gerade so an, als solle ich mich für etwas entschuldigen, was ich bloß in zweiter Instanz zu verantworten habe? Und wer entschuldigt sich bei mir? Ich bin ebenfalls verletzt, auch wenn meine Wunden nicht sichtbar sind. Meine Seele hat was abbekommen – wurde böswillig mit Füßen getreten. Das kann ich nicht so einfach wegstecken. Da reicht kein schlichtes Pflaster mehr. Ich bräuchte einen fetten Druckverband, der meine klaffende Wunde zusammenpresst – mich vorm Verbluten schützt. Aber darauf brauche ich hier nicht zu hoffen. Herr Beilfuß hat sein Urteil gesprochen. Ich bin schuldig im Sinne der Anklage. Wahrscheinlich kann ich froh sein, dass mir der elektrische Stuhl erspart bleibt. Daher nicke ich Herrn Beilfuß zu, um ihm zu signalisieren, dass ich meine Strafe akzeptiere und mich dem Urteil beuge.

Inzwischen habe ich mich bei Peter entschuldigt. Vielleicht kam meine Entschuldigung nicht aus tiefstem Herzen, aber sie war durchaus ehrlich gemeint. Wenn ich eines nicht will, dann einem Menschen schaden. Ich bin dankbar, dass Peter nichts Schlimmeres passiert ist.

Es vergehen einige Monate und langsam wächst Gras über diese Geschehnisse. Im Turnverein muss ich keine Staffel mehr mitmachen (bestimmt hat Beate Angst um die teuren Sportgeräte) und Peter geht mir seit dem Vorfall respektvoll aus dem Weg. Ihm muss klar geworden sein, dass man sich mit einem Berg von Kind wie mir besser nicht anlegen sollte. Aber ich feiere meinen späten Triumph, letztlich doch gesiegt zu haben, still und heimlich für mich allein. Ich bin kein Ätsche-Bätsche-Kind. Solche Torheiten überlasse ich den Doofnasen.