Dach der Hölle - Sabine Richling - E-Book

Dach der Hölle E-Book

Sabine Richling

4,9

Beschreibung

Autorin Sabine Richling für prickelnde Romantik + spannende Fantasy - Romantik auf www.sabine-richling.com besuchen. Eine mitreißende Science-Fiction - Romanze und eine außergewöhnliche Liebesgeschichte. "Spannendes und fesselndes Liebesabenteuer in einer fernen Zukunft." In einer düsteren Welt verrichtet Arun seine Arbeit als regierungstreuer Captain der Sicherheit. Im 25. Jahrhundert wird der Großteil der Menschheit im Untergrund versklavt, während die Minderheit an der Oberfläche im Überfluss lebt. In der Hölle der Verdammnis trifft Arun auf die schöne Untergründlerin Sharie. Wie kann es sein, dass dieses zarte Geschöpf in der Rohheit der Unterwelt überlebt? Durch sie wird er auf die Missstände unter der Erde aufmerksam und nimmt sie kurzentschlossen mit. Doch seine Macht reicht nicht aus, um die junge Frau zu schützen. Der machthungrige General Ley erteilt ihm den Befehl, Sharie zurückzubringen. Arun fügt sich widerwillig, aber seine Leidenschaft für das Mädchen ist entfacht. Hat er jemals so gefühlt? Umgeben von einem dunklen Geheimnis zieht Sharie ihn in ihren Bann. "Lesen und abtauchen in eine düstere Zukunft, in der ein Mann die Welt zu retten versucht und dabei die Liebe findet." "Superspannend!"

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Seitenzahl: 356

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 1

Es wiederholte sich jeden Tag. Nichts veränderte sich – seitdem sie geboren wurde. Dieses Leben war ihr bestimmt, denn sie war arm. Keiner konnte sie retten und sie aus diesem eintönigen Dasein befreien. Das wusste sie. Die Hoffnung auf ein Wunder war seit Langem verblichen. Nur wenigen gelang es, aus dem Untergrund zu fliehen. Nach der Geburt wurde man gekennzeichnet und der Arbeiterschicht zugeteilt. Seit frühester Kindheit arbeitete sie in dieser Fabrik und reinigte die Wäsche fremder Menschen: die der Privilegierten. Gott allein vermochte zu wissen, wie vielen gesundheitsschädlichen Dämpfen sie täglich ausgesetzt war. Es war eine erbarmungslose Wirklichkeit; sie plagte sich ununterbrochen – ohne Pausen. Lediglich ein paar Stunden Schlaf pro Tag standen ihr zu, dreißig Minuten für die Nahrungsaufnahme während der Schichten. Das war alles.

Sharie würde niemals die Sonne sehen und eine Existenz in Glück und Frieden war ihr nicht vergönnt. Hier in dieser Halle, tief unter der Erde, gab es bloß Schweiß, Blut und den Tod. Auch sie würde hier eines Tages sterben, so wie ihre Eltern zuvor.

„Du sollst arbeiten und nicht träumen!“, schrie der Wächter Sharie an und ließ seine Energiepeitsche knallen, welche die junge Frau um einige Zentimeter verfehlte. Sie war es gewohnt, geschlagen und wie ein Stück Vieh behandelt zu werden. Doch noch immer zuckte sie bei dem Geräusch zusammen, wenn der Energiestrahl sich bündelte und mit Karacho auf sie niederknallte. Oft roch es danach nach verbranntem Fleisch.

Ihr Körper war übersäht mit Narben von den ständigen Peitschenhieben. Alle Arbeiter wurden auf dieselbe Weise drangsaliert, um sie zum pausenlosen Schuften zu bewegen. Dieses raue Leben hielt man nicht lange durch. Die meisten starben früh und erreichten nicht einmal das Alter von dreißig Jahren. Aber das war auch nicht das Bestreben der Privilegierten. Soviel Sharie gehört hatte, war die Erde überbevölkert. Jeder zusätzliche Mensch war für die Gesellschaft eine Last. Jeder Arbeiter, der starb, war ein guter Arbeiter, somit verbrauchte er keine weiteren Ressourcen. Es gab genug Arme, die einen verstorbenen Knecht ersetzen konnten.

Die Privilegierten hingegen waren in der Minderheit, gleichwohl kontrollierten sie das Geschehen auf diesem Planeten. Viel war Sharie nicht bekannt. Es drangen kaum Informationen von der Oberfläche in den Untergrund.

Die Oberfläche … Was würde Sharie dafür geben, sie ein einziges Mal zu sehen. Wie mochte es dort oben sein? Ihre Mutter hatte ihr oft davon erzählt. Sie war dort gewesen, um einem Privilegierten zu dienen. Dies war noch vor Sharies Geburt. Ihr Vater hatte diese Geschichten nicht gern gehört, wollte es nie so genau wissen. Sharie dagegen sog die Informationen ihrer Mutter auf, träumte von der Sonne, dem Himmel und der guten Luft …

Wieder erschallte eine Peitsche und der Energieblitz traf Sharie am Arm. Die Stelle war versengt und blutete ein wenig, doch die junge Frau beachtete sie nicht weiter und konzentrierte sich von nun an besser auf ihre Arbeit. Eines Tages würde sie diesen Mann umbringen, dachte sie und zweifelte keine Sekunde daran, dass ihr dies gelingen könnte. Sie war von zarter Statur, aber an Mut mangelte es ihr nicht. In dieser Hölle musste sie sich bereits vor manchen unsittlichen Zugriffen zur Wehr setzen. Nicht nur die Wächter vergaßen sich zuweilen, auch die Arbeiter gingen nicht zimperlich miteinander um. Immerzu gab es Kämpfe unter ihnen um ein Stück Brot oder Nichtigkeiten. Die Gemüter waren schnell erhitzt in dieser unmenschlichen Welt.

Was hatte sich dieser Kerl bloß dabei gedacht? Arun bemühte sich, seine Geschwindigkeit unter Kontrolle zu halten. Mit dem Schwebemobil war er unterwegs zur Sicherheitsbehörde – seinem Arbeitsplatz. Er war zu spät dran und seine Leute warteten sicherlich ungeduldig auf ihn.

Es kam nicht oft vor, dass sich Arun verspätete und selbst dann gab es niemanden, der sich deswegen den Kopf zerbrach. Schließlich war er der Chef dieser Behörde und gerade mal zwei Personen waren ihm überstellt: Der General und der Präsident.

Man konnte nicht behaupten, dass Arun seine mächtige Position ausnutzte. Er war jung, aber erfahren und wusste, was er tat. Seinen Posten hatte er sich hart erkämpft und niemand stellte seinen hohen Rang infrage. Doch heute wuchs in ihm ein Zweifel heran, ob er das Richtige tat. Denn dass er bis jetzt nicht reagiert hatte auf das Treffen mit diesem Remos, irritierte ihn selbst. Er hätte längst Meldung machen und eine Horde Sicherheitsmänner auf ihn hetzen müssen. Und was tat er stattdessen? Nichts! Er fuhr verspätet zur Arbeit und fragte sich pausenlos, weshalb dieser Verrückte ausgerechnet ihn kontaktiert hatte. Ihn, den Captain der Sicherheitsbehörde, der einen Eid darauf geschworen hatte, sämtliche Flüchtlinge aus dem Untergrund ausfindig zu machen und die Kriminalität, die von dort ausging, auszurotten.

Arun redete sich ein, jetzt größeren Gangstern auf der Spur zu sein und Remos hinten anstellen zu müssen. Aber der Rebellenboss war der größte Verbrecher und der mächtigste von allen. Sein Netzwerk war gigantisch und sein Einfluss beträchtlich.

Was war es also, was Arun zögern ließ? Hatte er Angst vor Remos’ nicht einschätzbarer Macht, die ihn möglicherweise hart treffen könnte? Darüber brauchte er nicht lange nachzudenken. Angst war für ihn ein weitgehend unbekanntes Gefühl. Er hatte eine gute Ausbildung in diversen Kampfkünsten erhalten. Seit frühester Kindheit übte er sich darin und war so wendig und schnell wie eine Kobra im Angriff. Seine Augen konnten der Geschwindigkeit herannahender Objekte folgen. Er war schnell wie ein Blitz. Diese Gabe schulte Aruns Meister zur annähernden Perfektion. Einem Schuss aus einer Projektilwaffe wich Arun ohne Weiteres aus. Ein auf ihn gezieltes Messer im Anflug war keine Gefahr. Er fing es noch im Flug ab. Die modernen Photonenstrahlwaffen hingegen blieben auch für ihn unbezwingbar, aber sie kamen selten zum Einsatz. Nur wenige Privilegierte und die Männer der Sicherheit trugen solche Waffen.

Warum also hatte er bisher niemandem von dem Treffen erzählt? Und weshalb war Remos der Meinung, Arun könnte ihm helfen? Wie kam er darauf, dass der Captain bereit wäre, dem Oberhaupt der Untergrundbewegung Unterstützung anzubieten?

„Da sind Sie ja!“, sagte Jonas erleichtert, als er seinen Chef zur Tür hereinkommen sah.

„Ich bin zu spät, tut mir leid … der Verkehr …“

Arun ließ außer Acht, dass der Verkehr im 25. Jahrhundert kein Problem mehr darstellte, da alle Autos in der Lage waren zu fliegen. Sein Assistent hingegen reagierte nicht auf diese unsinnige Bemerkung und hielt seinem Boss den mobilen Datenmonitor unter die Nase.

„Diese Meldung kam vor einer halben Stunde direkt vom General. Wir sollen nach einem Igor suchen, der im Verdacht steht, mehrere Menschen ermordet zu haben. Möglicherweise gehört er den Rebellen an, doch das ist nicht klar. Sicher ist allerdings, dass der Kerl gefährlich ist. Er treibt sich im Untergrund herum und wurde das letzte Mal in der Wäschefabrik gesehen.“

Der Captain horchte auf, als er den Namen des Flüchtigen hörte. Hatte Remos nicht von einem Igor gesprochen? Einem Mann, der im Begriff war, allen gefährlich zu werden – der gesamten Erdbevölkerung. Arun hatte milde gelächelt und nicht geglaubt, dass ein Einzelner für die gesamte Erde zur Gefahr werden konnte. Dies war unvorstellbar und widersinnig, der Planet stand unter dem Regiment des Präsidenten. Mit der Armee, die der General befehligte, und dem Sicherheitspersonal, das Arun unterstand, stand ihm ein unbezwingbares System zur Verfügung. Die weltweite computertechnische Vernetzung, die man Lexa nannte, führte im Kontrollbunker zusammen und überwachte den gesamten Globus. Eine denkende Maschine mit einem eigenem Bewusstsein. Sie befand sich tief unter der Erde und war praktisch nicht aufzuspüren. Lediglich ein einziger Weg führte dort hinein und nur eine Handvoll Menschen verrichtete dort ihre geheime Arbeit. Sollte diese Institution überfallen werden, ließ sich ein Selbstzerstörungsmechanismus aktivieren, um den Bunker zu sprengen. Die stationierten Wissenschaftler opferten im Notfall ihr Leben. Ein Ersatzbunker mit einer zweiten Lexa am entgegengesetzten Ende der Welt würde unter diesen Umständen zum Einsatz kommen. Niemand konnte die Weltherrschaft an sich reißen, dazu war das Amt des Präsidenten zu geschützt. Sein Aufenthaltsort blieb unbekannt, bloß sein Stab war informiert. In der Regel pflegte der Präsident zwei bis drei Doppelgänger vorzuschicken. Wie also sollte jemand in dieses geschützte System eingreifen können?

„Gut“, sagte Arun und wusste wie immer sofort, wie er vorgehen wollte. „Sie werden uns eine kleine Führung durch die Wäschefabrik arrangieren. In einer Stunde. Ich brauche Kim und René an meiner Seite. Sagen Sie ihnen, dass sie sich für ihren Einsatz bereithalten sollen.“

Arun steuerte auf seinen Schreibtisch zu, um seine elektronischen Nachrichten abzurufen, die sich seit gestern Abend angesammelt haben dürften, aber Jonas hielt ihn am Ärmel fest.

„Captain, Sie werden doch wohl nicht mit zwei Mann losziehen wollen? Das ist zu gefährlich!“

„Machen Sie sich keine Gedanken, Jonas, ich weiß, was ich tue. Sollte der Kerl so gefährlich sein, wie ich gehört habe, wäre es unüberlegt, dort mit einer Garnison von Sicherheitsleuten aufzukreuzen. Das riefe ihn nur auf den Plan. Solange er keine Ahnung hat, dass wir nach ihm suchen, wird er sich in Sicherheit wiegen, möglicherweise sogar Fehler begehen.“

„Aber, Captain …“

„Sie wissen, was zu tun ist“, erwiderte Arun und hatte nicht vor, das Thema länger zu erörtern. Auf seinem Schreibtisch lag eine Menge Arbeit, die er zu erledigen beabsichtigte.

Seit über neun Stunden stand Sharie auf den Beinen, ohne eine einzige Pause. Ihren Hunger stillte sie mit kurzen Zwischenmahlzeiten, die sie während der Arbeit heimlich zu sich nahm. Übermorgen war ihr freier Tag, der einzige in diesem Monat. Sie wollte ihn mit ihrer Freundin Eva verbringen, nachdem sie ausgiebig ausgeschlafen hatten. Die Freundinnen teilten sich eine Unterkunft, die lediglich aus zwei Einzelbetten und einer Kochzeile bestand. Zum Glück verfügten sie über einen kleinen Waschraum. Diesen Luxus hatten nur wenige. Die meisten Arbeiter teilten sich Waschräume mit anderen.

Ihren gesamten Lohn gaben die Frauen für Lebensmittel aus, die sie auf den Untergrundmärkten für viel Geld kauften. Gemüse und Obst waren teuer, aber ihnen war die Gesundheit wichtiger als Geld. Wollte man hier unten überleben, musste man dieser Regel folgen.

Die Halle, in der Sharie ihre Arbeit verrichtete, war so groß wie eine Kleinstadt. Eva stand gut zwanzig Meter von ihr entfernt. Hin und wieder warfen sie sich Blicke zu, doch eine Unterhaltung war nicht möglich. Die Wächter achteten penibel darauf, dass man seine Konzentration auf die Arbeit lenkte.

Wenigstens konnten Sharie und Eva nach der Arbeit einen Moment für sich sein. Es handelte sich um ein paar Stunden, in der sie ihre Einkäufe erledigten und schliefen, bevor alles von vorne begann. An Flucht war kaum zu denken, selbst in der spärlichen freien Zeit nicht. Sämtliche Untergründler trugen Fußgelenkringe, die ein elektronisches Signal aussandten. Jeder ihrer Schritte wurde kontrolliert, jedes noch so kleine Fehlverhalten registriert. Sobald man die Grenze einer Zone überschritt, gab es einen Stromstoß, der beim ersten und zweiten Fluchtversuch schmerzhaft war. Nach dem dritten Verstoß entlud sich eine tödliche Stromdosis. Für den Fall, jemand machte sich an der Fußfessel zu schaffen, um sich davon zu befreien, schossen Injektionsnadeln heraus und injizierten ein wirksames Gift.

Im Untergrund lebte der Großteil der Bevölkerung. Die Dimensionen der unterirdischen Metropolen waren gigantisch. Trotzdem war jeder seinem Viertel zugeteilt, das er niemals zu verlassen hatte.

Sharie stand an einer großen Maschine und mangelte Laken, als sie in der Ferne einen kahlen Kopf ausmachte, der ihr bisher nie aufgefallen war. Er gehörte weder einem Wächter noch einem Arbeiter aus der Halle. Sie starrte auf den Mann, der sich hinter einer Wand versteckte. Wie kam er dorthin und was hatte er vor? Er beobachtete das Treiben in der Halle und schien angestrengt zu überlegen. Gern hätte sie gewusst, um wen es sich handelte, aber womöglich war es besser, ihn nicht zu kennen. Seine Erscheinung jagte ihr Angst ein.

Von Weitem konnte sie eine lange Narbe in seinem Gesicht erkennen, die von der Augenbraue bis zum Kinn führte. Sein Aussehen war finster und seine Augen irrten ruhelos umher. Auf einmal hatte er Sharie im Visier, was sie erschrecken ließ. Eine Zeit lang glotzte er sie an und wirkte unzufrieden, von ihr entdeckt worden zu sein. Nervös wandte sie ihren Blick ab – für einen kurzen Moment. Als sie aufblickte, war die Gestalt verschwunden. Sharie ließ ihre Augen durch die Halle kreisen und schaute abermals zu der Wand, aber der Mann war weg! Wie konnte das sein? Hier gab es keine Fluchtmöglichkeiten oder Türen, die nicht bewacht wurden. Wie war ihm ein unbemerkter Rückzug gelungen? Jetzt zweifelte Sharie an dem, was sie gesehen hatte. Bestimmt spielten ihr ihre Sinne einen Streich. Sie war müde, der Tag lang und sie hatte Hunger. Hoffentlich fand ihr Arbeitstag bald ein Ende. Alle Glieder taten ihr weh.

Der Lift sauste abwärts in den Untergrund und die klopfenden Geräusche, die er dabei verursachte, waren nicht vertrauenerweckend. Arun hoffte, sein Ziel in einem Stück zu erreichen.

Er hatte Kim und René angewiesen, sich gut zu bewaffnen. Es war nicht sicher, was sie in der Untergrundfabrik erwartete, auch wenn sie offiziell nur zu einer Führung vorbeikamen. Wer konnte schon beurteilen, welche Verbindungen Igor hatte oder wie viele Gefolgsleute ihm angehörten? Aruns Auftrag lautete, den Mann zu fangen. Er wurde nicht darüber aufgeklärt, wer dieser Igor war und was er für Absichten verfolgte. Der Kerl war gefährlich und diese Information hatte ihm nicht seine Regierung zukommen lassen, sondern Remos, der Führer der Rebellion, zu dem Arun eigentlich keinen Kontakt haben sollte. Im Aufzug ließ der Captain seine Erinnerungen Revue passieren:

Mitten in der Nacht hatten Remos’ Leute vor seinem Appartement gestanden. Sie benutzten den Türsummer und behaupteten, ein Freund schickte sie. Arun war im Pyjama und griff zu einer Waffe, bevor er die Tür öffnete. Langsam kamen die Typen herein und setzten ihre dunklen Sonnenbrillen ab. Da war dem Captain alles klar, denn ihre Augen leuchteten weiß. Alle Menschen im Untergrund besaßen weiße Augen, sie kannten kein natürliches Licht. Somit passten sich ihre Gene den Umständen ihrer Lebensweise mit jeder Generation besser an.

„Wer schickt euch?“, fragte Arun.

„Remos“, antwortete der größere der beiden und verzog keine Miene.

„Was will Remos ausgerechnet von mir?“ Der Captain konnte nicht glauben, dass der Kopf der Terroristen Kontakt zu ihm aufnahm.

„Reden“, entgegnete der andere und verstummte sogleich wieder.

Eine gute halbe Stunde später saß Arun in einer Schwebelimousine mit abgedunkelten Fenstern, die ihn zu einem unbekannten Ort fuhr. Den Weg konnte er sich nicht merken, da er keinen Blick nach draußen bekam. Den letzten Teil des Weges musste er es sich gefallen lassen, eine Mütze über dem Gesicht zu tragen. Sie gingen ein paar Schritte zu Fuß, verschiedene Gänge entlang und fuhren mit einem Lift abwärts. Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, wurde ihm die Wollkappe vom Kopf gezogen. Remos stand vor ihm und zog an einem Zigarrenstummel, der bereits erloschen war. Als er es bemerkte, schnipste er den Stummel achtlos in die Ecke. Der Kerl hatte die Blüte seiner Zeit längst überschritten, war ein alter, gezeichneter Mann, dem das Leben im Untergrund viel abverlangt hatte. Sein weißes Haar trug er kurz, sodass die kahle Stelle am Hinterkopf stärker hervortrat. Doch ihn zu unterschätzen, wäre ein Fehler, denn mit seinem Intellekt war er jedem eine Nasenlänge voraus.

„Schön, dass wir uns mal kennenlernen“, sagte Remos und verzog seinen Mund zu einem Lächeln, sodass sein mit Furchen durchzogenes Gesicht noch faltiger aussah. Der Captain sagte nichts und straffte seinen Oberkörper. War er freiwillig in eine Falle getappt? Aber nein, Remos hatte nicht die Absicht, das Oberhaupt der Sicherheitsbehörde zu kidnappen. Er ging ein Risiko ein, Arun hierherzubringen. Etwas schien dem Untergrundboss so wichtig zu sein, dass er bereit war, alle Vorsicht zu vergessen.

„Also schön, mein Junge“, sagte er, als Arun weiterhin schwieg. „Lassen wir die Floskeln der Begrüßung eben weg und kommen gleich zum Wesentlichen.“

Remos bot dem Captain einen Stuhl in dem verkramten Raum an und setzte sich selbst an seinen riesigen Tisch, der vollgestellt war mit Büchern, Malereien und anderen antiken Dingen aus der „alten Zeit“. So nannte man die Vergangenheit, die kaum mehr jemandem ein Begriff war. Die Geschichte und somit ihre Relikte waren im Großen Krieg verloren gegangen. Es gab wenige Überbleibsel, die sich offensichtlich in Hülle und Fülle in Remos’ Besitz befanden. Arun staunte nicht schlecht. Sollte dieser Mann etwa Sinn für alte Kultur haben? Woher hatte er all das Zeug? Bücher waren in der heutigen Zeit eine Rarität. Hier standen sie in erstaunlicher Vielzahl, beinahe wie Staubfänger herum.

Arun rutschte auf seinem Stuhl ein paar Mal hin und her, bevor er sich an den Sitz gewöhnt hatte. Es war ein alter Stuhl aus Holz. Der Captain war die mit Korkleder überzogenen Sessel gewohnt, die im fünfundzwanzigsten Jahrhundert üblich waren. Wie hatten die Menschen früher nur gelebt? Fast war Arun geneigt, mit Remos über die Vergangenheit zu sprechen und seine Trophäen aus dieser Zeit, aber deshalb hatte man ihn sicher nicht hergebracht.

„Ich weiß“, begann Remos, „dass wir beide nicht der gleichen Organisation angehören.“ Er lachte bei seinen eigenen Worten. „Man könnte meinen, wir sind Rivalen – wir möchten nicht das Gleiche. Ich will die notleidenden Untergründler aus ihrer aussichtslosen Lage retten und du willst sie … na ja, sagen wir mal, dort halten, wo sie jetzt sind.“

Er redete nicht weiter und sah den Captain prüfend an.

„Mir ist neu, dass du die versklavten Arbeiter retten willst“, reagierte Arun grimmig. Du lebst gut und es gibt keinen Grund für dich, etwas an der Situation zu ändern. Und mein Job ist es, die Kriminalität, die von den Armenvierteln unter der Erde ausgeht, einzudämmen. Dass unsere Gesellschaft in Arm und Reich gespalten ist, kann ich nicht ändern. Das ist Sache der Politik und in Zeiten der Überbevölkerung kaum anders zu lösen.“

Remos nickte.

„Recht so, mein junger Captain. Erfreulicherweise lebst du nicht in den Armenvierteln des Untergrunds. Deine Augen sind schwarz und gesund, nicht so farblos wie die der Untergründler. Dein Leben ist ein feines – bequem mit allerhand Luxus, den die Sklaven für dich erarbeiten.“

„Bin ich hier, um mir ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen oder kommst du langsam zur Sache?“, entfuhr es Arun ungeduldig. Ihm war klar, dass in dieser Gesellschaft nicht alles rund lief, aber es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, dies zu ändern. Außerdem war Arun überzeugt von seiner Arbeit. Sie war richtig. Die Armen, die zu Kriminellen wurden, mussten liquidiert werden. Nur so konnte man die Ordnung aufrechterhalten, sonst drohte maßloses Chaos. Dazu durfte es niemals kommen. Wer privilegiert geboren wurde, hatte eben Glück. Dies entschied das Schicksal und keine Instanz. Und die Privilegierten wollten geschützt werden vor dem Gesindel. Diese Arbeit nahm der Captain sehr ernst, gleichwohl sie nicht immer gerecht schien. Jene Doktrin war oberstes Gesetz, so war es seit Jahrhunderten und hatte den Menschen den Frieden bewahrt.

„Der Geduldige erntet die reichen Früchte, mein Junge, das wirst auch du irgendwann erkennen.“ Remos lehnte sich zurück und zündete eine neue Zigarre an. „Oh, entschuldige“, sagte er und blies den Rauch direkt in das Gesicht seines Gegenübers. „Wo hab ich meine Manieren gelassen? Bitte probiere eine.“ Er hielt seinem Gast eine kleine Schachtel auserlesener Zigarren hin.

„Danke, ich rauche nicht“, lehnte Arun ab.

„Nicht doch. Für den Notfall solltest du stets eine dabei haben. Sie könnte dir irgendwann nützlich sein.“

Um dieser grotesken Situation ein Ende zu bereiten, griff Arun nach einem braunen Stängel und bemerkte die ungewöhnliche Banderole. Es war kein Markenname darauf vermerkt. Bloß ein paar Zahlen. Er vernachlässigte seine Beobachtung und steckte die Zigarre in die Innentasche seiner Jacke.

Remos lächelte zufrieden. Er hatte damit gerechnet, ein schwieriges Gespräch mit dem Captain zu führen. Erst würde er ihm eine Lektion erteilen müssen, anders wurde dem jungen Mann nicht klar, dass seine Sicht der Dinge zu einseitig war. Die Welt stand kurz vor einem Umbruch. Die Untergründler würden sich erheben und aus ihrer Unterjochung befreien. Niemand sollte sich das Recht herausnehmen, über das Leben anderer zu entscheiden. Ein arm Geborener war automatisch rechtlos, sein Schicksal vorbestimmt. Das musste aufhören!

Remos war bereit für den revolutionären Kampf. Es fehlte nicht viel für die Umsetzung seines Plans. Doch nun gab es eine Gefahr, die nicht nur sein Befreiungsprojekt zu Nichte machen, sondern die gesamte Weltbevölkerung ins Verderben stürzen konnte. Es gab keine andere Möglichkeit, Remos musste mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten. Allerdings galt es zuvor, Arun zu überzeugen, einen gemeinsamen Feind zu haben, und das war keine leichte Aufgabe.

„Mein junger Freund, ist dir der Name ‚Igor‘ ein Begriff?“, fragte Remos den Captain.

„Nein, nie gehört.“

„Dann strecke deine Fühler zukünftig nach ihm aus. Er ist brandgefährlich und könnte der gesamten Erdbevölkerung schweren Schaden zufügen. Er muss liquidiert werden, und zwar schnell.“

„Wie ich meine Arbeit zu machen habe, überlasse besser mir“, betonte Arun und war irritiert von dem Gespräch. Bisher dachte er, Remos wäre der gefährlichste Mann, dessen weiße Augen selbst in diesem schwach beleuchteten Zimmer hell leuchteten. Er sollte die Wachposten niederstrecken und ihn in seine Gewalt bringen, stattdessen sprach er lediglich mit ihm und hörte sich diesen Unsinn an.

„Sicher doch“, bekräftigte Remos. „Ich werde mich nicht einmischen und gebe dir heute eines mit auf den Weg: Igor ist der Feind! Allein kann ihn keiner aufhalten. Er hat ein Netzwerk, das meines bei Weitem übertrifft. Seine Macht wächst von Tag zu Tag an und wenn wir ihn bekämpfen wollen, dann nur gemeinsam. Du hast die Männer, die Verbindung nach ganz oben, zum General, ja, gar zum Präsidenten. Ich habe die Informationen, mein Junge.“

Kurz darauf wurde Arun zurück an die Oberfläche gebracht und in einer ihm unbekannten Gegend weit außerhalb der Stadt ausgesetzt. Es dauerte ein paar Stunden, bis er zu Hause ankam und danach unausgeschlafen und verspätet seinen Dienst antrat.

Jetzt befand er sich in der Wäschefabrik und ließ sich mit seinen Leuten vom leitenden Personal durch die Hallen führen. Mit unruhigem Blick hielt er Ausschau nach einer Person, die er nicht kannte. Das Foto von Igor, das er in der Verbrecherdatei auf dem Holobildschirm beäugt hatte, war nicht besonders nützlich gewesen, da die Aufnahme mehrere Jahre alt war. Heute konnte der Kerl ganz anders aussehen. Vielleicht hatte er einen Bart oder kein Haar mehr. Auch musste in Betracht gezogen werden, dass ihm eine mögliche Gesichtsoperation ein neues Äußeres verschafft hatte. Im fünfundzwanzigsten Jahrhundert eine übliche Praxis.

Als der Fabrikleiter Roland Schweig beunruhigt durch die Halle lief, schaute Sharie ihm hinterher. Sein Stellvertreter führte Auswärtige herein, auf die Herr Schweig zueilte. Die Männer waren zu dritt und trugen schwarze Uniformen. Offenbar handelte es sich um Mitarbeiter der Sicherheit, was Sharie wunderte. In der Wäschefabrik gab es selten Probleme. Die Arbeiter verrichteten ihre Arbeit in der Regel still und folgsam. Selten lehnte sich jemand gegen die ungerechten Bestrafungen auf. Die Antwort auf den kleinen Widerstand war meist brutal. Sharie hatte zweimal aufbegehrt und die anschließende Züchtigung würdevoll ertragen. Ihr Körper war nach den Peitschenhieben mit blutigen Striemen übersät. Danach hatte man sie über den Boden weggeschleift und in eine dunkle Arrestzelle gebracht, wo sie zwei Tage ohne Wasser und Nahrung ausharren musste.

„Captain Kasai“, sprach Roland Schweig Arun an und fuchtelte aufgeregt mit seinen Händen herum. „Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches? Gibt es Grund zur Besorgnis?“

Arun hatte gehofft, unerkannt zu bleiben, aber das schien für einen Mann wie ihn unmöglich zu sein. Immerhin bekleidete er das dritthöchste Amt im Staat und sein Gesicht tauchte nahezu täglich in den Nachrichten auf.

„Iwo, Herr Schweig“, erwiderte er und legte eine desinteressierte Mimik auf, „wir machen nur eine Stippvisite und besichtigen Ihre Anlagen. Zweifellos haben Sie nichts zu verbergen und wir können uns einen Blick in Ihre Akten ersparen.“

„Wo denken Sie hin, mein lieber Captain“, überschlug sich Roland Schweig geradezu. Es war kein Geheimnis, dass die Geschäfte im Untergrund am Rande der Legalität betrieben wurden. Arun war nicht interessiert daran, diese kriminelle Energie zu verfolgen. Sie nahm inzwischen Ausmaße an, die nicht zu stoppen und von der Regierung durchaus erwünscht waren. Die Strukturen im Untergrund hielten machtbesessene Befehlshaber aufrecht und das System versorgte sich auf wundersame Weise selbst. In den letzten Jahrhunderten brauchte sich keine Regierung mehr um die Verhältnisse der Untergründler zu kümmern. Alles lief von allein. Wie es lief, spielte keine Rolle. Hauptsache, die Menschen an der Oberfläche wurden mit den Geschehnissen unter der Erde nicht konfrontiert. Daher kam für Arun eine Razzia in den Fabriken nicht infrage.

„Dann ist’s ja gut“, sagte er und setzte seinen Weg fort. „Bitte zeigen Sie mir Ihre Räumlichkeiten. Ich möchte alles sehen und mir einen Eindruck verschaffen. Es sei denn, mein Besuch kommt Ihnen ungelegen.“

„Nein, nein, Captain Kasai, bitte folgen Sie mir.“

Sharie hatte das Gespräch der Männer verfolgt und als sie sich ihrem Platz näherten, wagte sie, sich nach ihnen umzudrehen. Doch der Wächter machte ihr einen Strich durch die Rechnung und ließ seine Energiepeitsche auf sie niederprallen. Es zischte laut, als der Strahl ihren Rücken traf und die Kleidung zum Schmelzen brachte. Den Schrei, der Sharie auf den Lippen lag, unterdrückte sie, aber ein leises Stöhnen konnte sie nicht zurückhalten. Dies reizte den Wächter umso mehr, schließlich war es verboten, während der Bestrafungen die Stimme zu erheben, weder durch Widerspruch noch durch Schreie.

„Wirst du dich wohl auf deine Arbeit konzentrieren, du faules Weib!“, bellte der Wachposten und knallte wiederholt mit der Peitsche. Diesmal traf der Energiestrahl Sharies Schulter und zeichnete eine lange Wunde auf der Haut.

Arun richtete seine Aufmerksamkeit auf den Vorfall und löste sich aus der Gruppe. Er wollte sich nicht einmischen, deshalb war er nicht hier. Wiederum konnte er nicht mit ansehen, wie dieser Schlächter auf ein wehrloses Mädchen einprügelte. Immer wieder holte er aus, um härter auf die am Boden liegende Arbeiterin einzuschlagen. Dem musste Arun ein Ende setzen. Er dachte nicht nach, sondern handelte nur. Nichts in der Welt brachte ihn jetzt davon ab, dem grausamen Treiben ein Ende zu setzen.

„Halt ein, du Tier!“, brüllte er den Wächter an und entriss ihm die Energiepeitsche. „Wie feige muss ein Mann sein, mit solch einer Waffe auf eine schmächtige, hilflose Frau einzudreschen!“

Der Wachmann bebte vor Wut, die er mühselig unter Kontrolle hielt. Hier war er der Chef und niemand hatte ihm in seine Arbeit reinzufunken! Von einem Grünschnabel ließ er sich nicht vor den Arbeitern demütigen. Für diese Schmach bezahlte das Weib!

Kim und René eilten im Schlepptau des Fabrikleiters zum Schauplatz, verblüfft über die Handlungsweise ihres Bosses. Es gab Wichtigeres zu tun, als eine Untergründlerin vor ihrer sicherlich gerechten Strafe zu schützen. Unter der Erde ging es nun mal rauer zu, das wusste der Captain. Müssten sich die Menschen an der Oberfläche auch über die Zustände im Untergrund Gedanken machen, hätten sie keine anderen Aufgaben mehr. In der Unterwelt herrschte ein anderes Regime. Um den Frieden zu wahren, durfte sich die Regierung nicht in die Untergrundpolitik einmischen. An diesem Ort der Verdammnis gab es eigene Regeln. Dies ging die Oberflächler nichts an!

Arun verstand, dass er sich nicht einmischen sollte, aber das war ihm egal. Diese Brutalität duldete er nicht! Er warf die Peitsche in hohem Bogen weg und bückte sich hinunter zu der Arbeiterin, die gekrümmt auf dem Boden lag. Sie hielt ihre Arme um den Kopf geschlungen, sodass Arun nicht erkannte, ob sie auch Verletzungen im Gesicht davongetragen hatte. Ihre hellblonde Mähne bedeckte ihre Wange und als er die Strähnen sachte beiseiteschob, erschrak das Mädchen bei der ungewohnten Berührung.

„Keine Angst, ich werde dir nichts tun. Du bist in Sicherheit“, sagte er, obwohl dies nicht der Wahrheit entsprach. Sobald er diese Halle verließ, würde der Wachmann seine Arbeit vollenden. Möglicherweise prügelte er die junge Frau zu Tode. „Vertrau mir, ich möchte bloß dein Gesicht sehen.“

Endlich nahm sie ihre Arme runter und klemmte sich die Locken hinters Ohr. Arun stierte in ihre Augen und musste mehrmals hinsehen. Das konnte nur ein Irrtum sein! Diese Frau gehörte nicht hierher, das war deutlich zu erkennen! Ihre Augen stachen derart blau hervor, dass es nicht zu übersehen war. Niemand im Untergrund hatte so eine Augenfarbe! Üblicherweise schimmerte die Iris weiß, gelegentlich auch silbern. Die Natur hatte die Gene dem Leben in der Dunkelheit angepasst. Es gab Richtlinien: Gebürtige Untergründler blieben dies Zeit ihres Lebens. Wurden Menschen unter die Erdoberfläche verschleppt, war es entscheidend, sie zu retten. Vermischungen beider Rassen waren nicht erwünscht. Sie durften keine Verbindung miteinander eingehen, die Bevölkerung sollte geteilt bleiben. Die Regierung hatte kein Interesse, bewährte Strukturen zu ändern. Alles lief gut, solange die Untergründler in ihrer Welt blieben.

Ein paar Pulsschläge lang überdachte Arun sein weiteres Vorgehen.

Sharie blickte zu dem jungen Sicherheitsbeamten auf und wusste nicht, wer er war. Anscheinend verfügte er über Macht, da niemand sein Handeln verhinderte. Sogar Herr Schweig mischte sich nicht ein und ließ alles geschehen. Ihre Wunden schmerzten, doch davon bekam sie kaum etwas mit. Die schönen Augen des Fremden waren für Sharie ein ungewohnter Anblick. Eine schwarze Iris und gebräunte Gesichtsfarbe hatte sie nie gesehen. Hier unten besaß jeder kalkweiße Haut und mitunter flimmerten die Menschen im Dunkeln. Es gab unverkennbar Unterschiede zwischen den Bewohnern der Unterwelt und der Oberfläche.

„Ich nehme sie mit!“, beschloss Arun auf einmal und überging das einsetzende Gemurmel der Anwesenden. Er zog sich die Jacke aus und legte sie über die Schultern des verwunderten Mädchens.

„Bitte, Arun“, sagte Kim, der ein guter Freund des Captains war. „Hast du dir das auch gut überlegt?“

„Sieh sie dir an, Kim“, forderte Arun ihn auf, „sie ist hier falsch! Das ist eindeutig zu erkennen!“

„Das kannst du nicht wissen. Wir haben ihre Papiere nicht gesehen.“

„Captain Kasai, ich muss dagegen protestieren“, sagte der Fabrikleiter. Sie können nicht einfach in meine Fabrik kommen und meine Arbeiterinnen entführen. Das steht Ihnen nicht zu.“

„Richtig“, bestätigte Arun, „das steht mir nicht zu. Aber sie ist nicht eine ihrer Arbeiterinnen. Schauen Sie hin! Das Mädchen hat blaue Augen! Wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass sie zu Ihnen gehört?“

„Ja, doch!“ Herr Schweig fuhr sich nervös mit der Hand durchs Gesicht. Wie sollte er das erklären? Bisher gab es nie die Notwendigkeit dazu. Er hatte eine Menge Schweigegeld erhalten, damit er diese peinliche Affäre geheim hielt. Jetzt war es an der Zeit zu beweisen, dass er sein Geld wert war. „Ich zeige Ihnen gern die Papiere der Arbeiterin. Dann werden Sie mir schon glauben.“

Arun nickte und half der jungen Frau auf die Beine.

„Folgen Sie mir, Captain“, sagte Herr Schweig und zeigte seinem Gast den Weg. Der wandte sich an René und wies auf Sharie.

„Kümmern Sie sich um sie!“, beauftragte Arun seinen Mitarbeiter und begleitete den Fabrikleiter zum Bürotrakt.

Roland Schweig kramte in den Akten herum, während Arun hinter ihm stand und seinen Blick durchs Zimmer schweifen ließ. Die Beleuchtung war kalt und ungemütlich, die Einrichtung spartanisch und in schlichtem Grau gehalten. Die Arbeit in diesen Räumen musste einen zwangsläufig depressiv stimmen.

„Da ist sie!“, gab Herr Schweig kund, als er eine Akte aus der Registratur zog. Er blätterte darin herum und schien ein bestimmtes Papier zu suchen. Als er es gefunden hatte, rupfte er es schwungvoll aus dem Stapel und ließ den Rest der Akte hinter sich auf dem Tisch verschwinden. „Bitte schön! Dort ist vermerkt, dass Sharie Winters das Produkt ihrer verstorbenen Eltern Ellen und Sam Winters ist, beide ehemalige Arbeiter unserer Fabrik. Bei der Farbe ihrer Augen handelt es sich lediglich um eine genetische Verfehlung. Eine Laune der Natur. Ich gebe zu, das ist ausgesprochen selten. Frau Winters gehört zu den wenigen, bei denen sich die Ur-Gene noch einmal durchgesetzt haben. Tja, hahaha …“

Arun kräuselte die Stirn. Von solch einem Phänomen hatte er nie zuvor gehört. Es gab Untergründler, die mit den Merkmalen der Oberflächler geboren wurden? Wäre dies der Fall, müsste man dringend erwägen, solchen Menschen ein normales Leben zu ermöglichen. Wenigstens sollte sie ein Arzt untersuchen.

Dieser Geschichte wollte Arun nachgehen. Es war ihm unmöglich, dies auf sich beruhen zu lassen. Er würde Sandra Miller kontaktieren. Sie war eine gute Freundin von ihm und dazu eine ausgezeichnete Genetikerin. Es interessierte sie sicherlich, dass bestimmte Gene über einen Zeitraum von Jahrhunderten an Dominanz gewinnen konnten.

„Gut, das macht Sharie Winters nicht weniger interessant, Herr Schweig“, stellte Arun fest und war sich seines Vorgehens sicher. „Ich nehme sie für wissenschaftliche Tests mit. So eine Anomalie muss dringend erforscht werden. Sollte sich herausstellen, dass das Mädchen kein Sonderfall ist, kommen wir nicht umhin, neue Gesetze zu schaffen.“

„Aber, Captain Kasai, handeln Sie nicht vorschnell!“

Roland Schweig wirkte unruhig. Er rieb sich den Nacken und suchte nach Worten.

„Warum versuchen Sie, mich von meinem Vorhaben abzubringen?“, wunderte sich Arun. „Haben Sie was zu verbergen?“

Ihm fielen Schweigs unsichere Gesten auf. Das machte ihn misstrauisch. Seine jahrelange Erfahrung beim Sicherheitsdienst befähigte ihn, Täuschungen rasch aufzudecken und Lügen zu erkennen, bevor sie ausgesprochen wurden. Jedes Mienenspiel, jede Gebärde kannte er, hatte er mehr als genug zu Gesicht bekommen. Fast immer kam er Schwindlern auf die Schliche.

„Ich kann Ihnen nur so viel sagen“, ließ der Fabrikleiter durchblicken und löste sich von der Schreibtischplatte, um die Bürotür zu schließen, „Sharie Winters ist topsecret! Lassen Sie die Finger von dem Fall! Hören Sie auf meinen Rat!“

„Ich denke nicht daran!“, blieb der Captain standhaft und hatte nicht vor, auf die Mahnungen zu hören. Die Sache stank zum Himmel. Er musste herausfinden, was dahintersteckte. Etwas verschleierte der Kerl und Arun würde nicht eher Ruhe geben, bis er der Wahrheit auf der Spur war.

Kapitel 2

Gereizt knallte der Captain seinen Stift auf den Tisch, mit dem er bis eben herumgespielt hatte. Es war ihm nicht gelungen, eine Verbindung zum Präsidenten aufzubauen. Dessen Assistentin hielt alles von ihm fern, was nicht die Dringlichkeitsstufe eins aufwies. Diese Priorität besagte: Störung nur bei Terror-Alarm oder akuter Gefahr.

Also beschloss Arun, sich mit dem General zu besprechen. Der kam einem Vater und somit Vertrauten am nächsten. Im Alter von fünf Jahren hatte Arun beide Eltern verloren. Der General nahm ihn auf und zog ihn mit seiner Frau wie einen Sohn auf. Sie waren selten einer Meinung, dennoch gab der Captain einiges auf das Urteil seines Ziehvaters.

„Was sagst du da?“, rief General Olaf Ley und schaute seinen Adoptivsohn entgeistert auf dem Bildschirm an.

Arun hatte ihn angerufen, um ihn über das mysteriöse Treffen mit Remos zu informieren. Auch berichtete er von dem Mädchen, das er in Schutzgewahrsam genommen hatte. Sie saß in einer geräumigen Zelle im Sicherheitsquartier und wurde von einer Beamtin befragt. Bis jetzt war der Captain mit Sharie keinen Schritt vorangekommen.

„Es ist gut, dass du den Präsidenten nicht erreicht hast“, hob Olaf Ley hervor. „Hätte er von diesen Dingen Kenntnis, wäre es für das Mädchen äußerst tragisch.“

„Wie meinst du das?“

„Es ist besser, wenn du nicht zu viel weißt. Schick die Kleine zurück in den Untergrund. Und um diesen Remos kümmern wir uns. Du nimmst keinen Kontakt mehr zu ihm auf!“

Olaf Ley wartete auf ein Zeichen seines Sohnes, doch der schwieg, da er seine Rolle in diesem Versteckspiel wohl nicht begriff.

„Junge, ist das klar? Remos und dieses Mädchen sind für dich tabu!“

„Ich verstehe nicht …!“

„Es gibt nichts, was du verstehen müsstest. Tu einfach, was ich dir sage!“

General Ley beendete das Gespräch und schaltete den Bildschirm aus. Einige erhitzte Atemzüge starrte er auf die dunkle Mattscheibe. Arun war dabei in ein Wespennest zu stechen und gefährdete die gesamte Mission. Ausgerechnet jetzt, wo Ley so dicht an seinem Ziel war. Er hatte immer geahnt, dass sein Adoptivsohn einmal zu einer Gefahr werden konnte sowie seine Eltern zuvor. Anscheinend war der Zeitpunkt gekommen.

Die wütenden Schritte hallten durch den langen Flur, als der Captain sich auf den Weg zu Sharie machte. Sie musste ihm einiges erklären. Verdammt, was verbarg sie nur und wieso in Gottes Namen verlangte der General, dass sie im Untergrund verschwand?

„So, nun erzählst du mir, was du für ein Spiel treibst!“, fuhr Arun sie an, als er die Zelle betrat. Die Beamtin verwies er in einem rauen Ton des Raums.

Im Grunde war er ein ausgeglichener Mensch und schwer aus der Fassung zu bringen. Selbst in Stresssituationen behielt er die Ruhe, was ihn befähigte, kluge Entscheidungen zu treffen. Daher wunderte es ihn selbst, wie emotional er reagierte. Das Schicksal dieser Frau beschäftigte ihn. Seitdem er sie hergebracht hatte, dachte er ununterbrochen an sie. Er wollte ihr helfen, bloß wusste er nicht, wie er das anstellen sollte.

Sharie saß verblüfft an dem einzigen Tisch im Raum und fragte sich, warum dieser nette Mann mit den schönen Augen und schwarzen Haaren so raubeinig mit ihr umging. Was mochte den Wandel in seinem Verhalten ausgelöst haben? Könnte sie in seinen Gedanken lesen, wüsste sie, ob er das Gleiche empfand wie sie. Es war ein Gefühl der Gewissheit, als hätte sie ein Leben lang darauf gewartet, von seiner Existenz zu erfahren, ihn zu sehen und seine Gegenwart zu genießen.

Arun zog sich schwungvoll einen Stuhl heran und drehte ihn mit der Rückenlehne nach vorne. Er setzte sich verkehrt herum auf die Sitzfläche und stützte seine Ellenbogen auf die Lehne. Nun saß er Sharie gegenüber und beobachtete aufmerksam ihr Gesicht. Er zwang sich, ihre ungeheure Attraktivität zu übersehen, an der er von der ersten Sekunde ihrer Begegnung vorbeizusehen versuchte.

„Also los, raus mit der Sprache! Wer bist du und wie kommst du in den Untergrund? Bist du eine Spionin?“

Nicht sofort durchblickte Sharie, dass der Captain seine Fragen ernst meinte. Gerade erst hatte er sie aus den Fängen ihres Züchtigers befreit und an die Oberfläche gebracht – ihr die Sonne gezeigt. Dafür war sie ihm unendlich dankbar. Jetzt aber war sie voller Angst, ihm nicht gerecht zu werden. Was sollte sie seinen widersinnigen Worten entgegnen? Sie ergaben keinen Sinn.

„Du bist mir eine Antwort schuldig!“, brüllte Arun sie an.

Sie zuckte zusammen und sah ihn wie betäubt an. Ja, sie war ihm etwas schuldig, nur was konnte sie sagen?

Ungestüm sprang er auf. Die Stuhllehne krachte mit der Tischkante zusammen und verursachte einen kräftigen Knall. Doch davon ließ sich der Captain nicht beirren. Er schnellte auf Sharie zu, um sie an ihren Handgelenken zu packen und aus dem Sitz zu ziehen. Dabei fiel ihm nicht auf, wie grob er mit ihr umging. Er wollte sie nicht zurückschicken, aber er fühlte, dass seine Macht so weit nicht reichte und ihm keine andere Wahl blieb. Er war verzweifelt und dieses Gefühl drückte sich in seinem barschen Verhalten aus.

Sharie ließ es geschehen, sie war keinen anderen Umgang mit sich gewohnt.

„Ich setze eine Menge aufs Spiel, weil ich dich aus dem Untergrund geholt habe. Nun erfahre ich, dass ich dich zurückbringen und kein Aufsehen dabei erregen soll. Kannst du mir mal erklären, warum?“

Arun verstand nicht, weshalb er sie schützte. Sie war eine Untergründlerin und musste ihm egal sein. Etliche Fragen gingen ihm durch den Kopf und er erkannte, keine Antworten zu erhalten. Das erzürnte ihn.

Unter Sharies Handgelenken bildeten sich Hämatome. Er hielt sie so fest, als plante er, die Antworten aus ihr herauszuquetschen.

„Sag doch endlich was!“, beschwor er sie. Er wollte sie nicht fortbringen – in diese Hölle. Das Leben dort unten war zu rau für eine derart zarte Person. „Warum hast du blaue Augen? Erklär’s mir.“

Ihr liefen Tränen über die Wangen. Gern würde sie ihm sagen, dass sie nicht in die Unterwelt gehörte, ihr ein Leben an der Oberfläche bestimmt und sie versehentlich dorthin geraten war, aber das stimmte nicht. Ihre Eltern waren Untergründler mit weißen Augen. Warum sie anders war, konnte sie sich nicht erklären. Diese Tatsache hatte sie nie vor einem Leben in Knechtschaft bewahrt. Im Gegenteil, nicht selten hatte man ihre Eltern besonders hart rangenommen. Sie bezahlten früh mit ihrem Leben und schützten ihr Kind bis dahin, so gut es ging. Bestrafungen, die ihrer Tochter galten, nahmen sie auf sich, warfen sich freiwillig in den Strom der Energiepeitsche, um das Leid von ihr fernzuhalten. Sie waren großartige Eltern gewesen, Sharie vermisste sie sehr.

Sie senkte den Kopf und ließ ihren Tränen freien Lauf. Als sie sich übers Gesicht wischte, legte Arun seine Arme um sie und zog sie an sich. Er wollte ihr beistehen, sie in seine Welt nehmen. Sie würde nicht auffallen, schließlich war die Farbe ihrer Iris denen der Oberflächler angepasst. Die Verbindungen, ihr eine falsche Identität zu besorgen, hätte er. Stück für Stück könnte er sie eingliedern in die Gesellschaft der Privilegierten. Bloß was wäre, wenn es herauskäme, es bis zum Präsidenten durchsickerte, dass er einer Untergründlerin Tür und Tor zur Oberfläche geöffnet hatte? Er wäre den Job los und sein Leben zerstört. Wäre es ihm das wert? Um sich diese Frage zu beantworten, brauchte er nicht nachzudenken. Dieses Mädchen war ihm sein Leben wert. Warum er so empfand, blieb ihm ein Rätsel. Seine Gefühle ließen sich nicht abstellen. Sie waren einfach da − nicht etwa über Jahre gewachsen. Etwas verband ihn mit ihr, was größer war. Gleichzeitig ahnte er, ihr nicht helfen zu können, denn das Wort des Generals war unantastbar. Niemand, auch nicht der Captain, vermochte sich darüber hinwegzusetzen. Olaf Leys Macht gedieh nahezu ins Grenzenlose. Manchmal wunderte sich Arun, dass der Präsident ihm derart viel Entscheidungsfreiraum ließ. Er verfügte praktisch über eine Blankovollmacht, die Gesetze zu beugen, wie es ihm in den Kram passte. Den General wollte niemand zum Feind haben. Arun war machtlos in dieser Sache.

„Wenn du mir nichts zu sagen hast, muss ich dich zurückbringen, so leid es mir tut.“ Diese Worte auszusprechen, brach ihm fast das Herz. Niemals hatte er so für eine Frau empfunden. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt und waren sich fremd. Dessen ungeachtet fühlte er sich zu ihr hingezogen. Weshalb?

Er wünschte, es wäre anders. Dann fiele ihm das, was er jetzt tun musste, nicht so schwer. Er löste die Umarmung und drückte sie von sich weg. Über den Kommunikator am Handgelenk beauftragte er René, Sharie abzuholen.

„Hör zu, Sandra“, sagte Arun. Er hatte eine visuelle Verbindung zu Sandra Miller hergestellt. Sie arbeitete in dem größten biogenetischen Labor der Stadt und war eine renommierte Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Genetik. Sie musste eine Antwort haben auf Sharies Anomalie. „Was sagst du dazu: Eine Untergründlerin mit blauen Augen. Die Eltern waren Untergründler und auch die Großeltern, ebenso die Urgroßeltern. Ihr Stammbaum auf diesem Wisch reicht leider nicht weiter zurück. An ihre vollständige Akte komme ich nicht heran. Also, was meinst du? Ist das möglich?“

„Hm … grundsätzlich wäre es denkbar. Aber nur, falls wenigstens unter den Urgroßeltern eine Vermischung stattgefunden hat. Trotzdem, dass die drittnächste Generation noch Merkmale aufweist, ist relativ unwahrscheinlich, doch nicht unmöglich. Um wen geht es denn?“