Herbstfrau - Alauda Roth - E-Book

Herbstfrau E-Book

Alauda Roth

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Beschreibung

Das Leben von Rabea Tomas gerät aus den Fugen. Ihrer gescheiterten Ehe folgen finanzielle Forderungen, gleichzeitig wird sie mit Umstrukturierung in ihrer Firma konfrontiert. Außerdem stellt ihr der Internist eine beunruhigende Diagnose. Nach einer Vernissage in der Wiener Innenstadt fällt Rabea eine Gestalt auf, die sie beobachtet. Und sie bekommt bizarre Botschaften geschickt. Wird sie verfolgt? Außer Rabea scheint niemand den Mann zu bemerken.

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Zum Buch

Das Leben von Rabea Tomas gerät aus den Fugen. Ihrer gescheiterten Ehe folgen finanzielle Forderungen, gleichzeitig wird sie mit Umstrukturierung in ihrer Firma konfrontiert. Außerdem stellt ihr der Internist eine beunruhigende Diagnose.

Mit Anfang fünfzig empfindet Rabea ihr Dasein als missglückt. Im Gegensatz zu ihrer lebenslustigen Mutter, die in eine neue Wohngemeinschaft zieht und den Selbstzweifeln ihrer Tochter ungenierten Optimismus entgegenstellt.

Nach einer Vernissage in der Wiener Innenstadt fällt Rabea eine Gestalt auf, die sie beobachtet. Und sie bekommt bizarre Botschaften geschickt. Wird sie verfolgt? Außer Rabea scheint niemand der Mann aufzufallen …

Zum Autor

Alauda Roth, seit 2004 als Autorin tätig, seit 2017 freischaffend. Diverse Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Lyrik in Magazinen und Anthologien, mehrere Bücher im Eigenverlag Edition ANDRANN und bei BoD. Lebt mit zwei- und vierbeiniger Familie im südlichen Niederösterreich.

Kann es gelingen, gleichermaßen im Fiktiven und in der Realität zu leben? Das Kunststück glückt, wenn wir erkennen, wie wir in Wahrheit leben: auf einem fliegenden Teppich, der Halt ohne festen Boden bietet und dennoch durchs Leben trägt.

Gert Scobel

Das englische Wort to stalk bedeutet in der Jägersprache »jagen, heranpirschen, hetzen, steif gehen, stolzieren.«

[…]

Juristisch Nachstellung ist das willentliche und wiederholte (beharrliche) Verfolgen oder Belästigen einer Person, deren physische oder psychische Unversehrtheit dadurch unmittelbar, mittelbar oder langfristig bedroht und geschädigt werden kann.

[…]

Vor allem bei Opfern, denen aufgelauert wird, oder die körperlich verfolgt werden, zeigen sich rasch tendenziell reaktive Verhaltensmuster, wie etwa Vermeidungsverhalten, Abkapselung (Vereinsamung) oder Kontrollverhalten. So, wie der Täter auf sein Opfer fixiert ist, ist durch die als lästig und als unberechenbare Bedrohung empfundene Situation auch das Opfer auf den Stalker fixiert.

Wikipedia / Version August 2017

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

1

Wäre sie doch heute nur im Bett geblieben! Stattdessen schaute Rabea in die Tiefe. Der Gehsteig verschwamm mit der Straße. Es schüttete seit Stunden. Als hätte ein anonymer Gott beschlossen, die Sintflut zu wiederholen, dachte sie. Plötzlich knallte ein Kaffeebecher hinter ihr gegen die Wand. Sie fuhr herum.

»Scheiße. Das kann doch nicht euer ernst sein«, brüllte Klaus. Der Laborant sah sie am Panoramafenster stehen und stapfte mit geballten Fäusten auf sie zu. »Und Sie machen dabei mit? Ihr Anzugstypen steckt doch alle unter einer Decke.«

Ein Sicherheitsmann kam angerannt und hielt ihn am Arm fest. Klaus ließ die Schultern hängen. »Schon gut, schon gut. Geht schon wieder.« Der Security sah Rabea an, sie nickte. Er ließ Klaus los, der sich umdrehte und Richtung Toiletten rannte.

Neben dem Pausenbüfett liefen dunkle Rinnsale die Wand herunter, sogen sich in die weiß getünchte Rigipsplatte. Rabea schaute wieder beim Panoramafenster hinaus, hinter dem graue Schleier die Urania und den Donaukanal verwischten. Dann drückte sie die Espresso-Taste an der Kaffeemaschine, wartete bis die heiße Flüssigkeit in die Tasse gelaufen war und ging damit in den Konferenzsaal zurück. Die Stimmung unter den Mitarbeitern glich dem Italientief vor den Fenstern. Die Firma hatte für das Townhall-Meeting den obersten Stock des Hochhauses am Ring gebucht. Nobel geht die Welt zugrunde, dachte Rabea, als würde das schicke Ambiente es leichter machen die bittere Pille zu schlucken.

Seufzend setzte sie sich an den Tisch, um den sich das Team der Qualitätssicherung gruppiert hatten. Der Personalchef erläuterte gerade die Bewerbungsbögen, die jeder Mitarbeiter digital ausfüllen musste. Alle Jobs standen zur Disposition, wurden neu zugeteilt. Aber nur für achtzig Prozent der Belegschaft gab es ein Kästchen im Organigramm.

»Wir spielen gerade Reise nach Jerusalem«, flüsterte ihr die Laborleiterin zu.

Rabea nickte, aber sie wusste: Es gab natürlich auch gleichere Mitarbeiter. Ein paar Positionen blieben unberührt, doch diese Rechtecke hatte man vorsorglich in den Power-Point-Bäumen ausgeblendet.

Die unterste Führungsebene, der Rabeas Job zugeordnet war, befand sich in der Grauzone. Noch wurden die Abteilungsleiter gebraucht, um ihre Mitarbeiter bei der Stange zu halten und ihnen im Anlassfall die Bedingungen des Sozialplanes zu erklären. Und vor allem den älteren Kollegen einen vorzeitigen Ausstieg schmackhaft zu machen. Klaus hatte das schon richtig erkannt. Seine Wut war bei ihr aber an der falschen Adresse.

Auch der Fahrer des Additivtransports war aufgrund eines Eingabefehlers der Distribution an der falschen Adresse, sogar im falschen Land. Mit Mühe organisierte Rabea über die Einkaufsabteilung eine Ersatzlieferung. Normalerweise durften nur freigegebene Lieferanten das Werksgelände anfahren, aber sie hatte eine Sondererlaubnis erwirkt. Drohender Produktionsstillstand ermöglichte fast immer einen kurzen Dienstweg. Erst am späten Nachmittag war alles geregelt und Rabea konnte sich endlich den Schichtplänen widmen. Seit dem Frühjahr kamen sie kaum mehr mit der Produktion nach, mussten die Werksarbeiter mit Kontraktoren aufstocken. Nicht einmal im Sommer hatten sie alle Aufträge in Frist abarbeiten können. Gegen sieben marschierte Rabea in die Kaffeeküche. Von der Geschäftsleitung launig Alpine-Lounge betitelt. Sie bückte sich zum Kühlschrank unter der Espressomaschine, räumte die Flaschen mit stillem Wasser zur Seite, um eine prickelnde zu finden. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr schwarz vor den Augen. Rabea krallte sich an die Kante, rutschte ab, taumelte gegen den Tisch. Stolpernd schaffte sie es zum Sofa. Ihr Atem kam stoßweise. Flimmernde Punkte zersetzten ihr Gesichtsfeld. Sie lehnte sich zurück, legte die Beine auf die Lehne. Hielt sich die kalte Wasserflasche in den Nacken. Nach ein paar Minuten beruhigte sich ihr flatternder Kreislauf. Das Triptychon mit den Mohnblüten an der gegenüberliegenden Wand leuchtete grell. Ein Kunstdruck aus dem Großhandel für Inneneinrichter. Rabea rieb sich ihre Narben am rechten Handgelenk.

Zeit nach Hause zu gehen, dachte sie. Nach Hause. Das Wort hatte einen ätzenden Nachgeschmack.

2

Ein Jingle jaulte ungefragt los. Im Browserfenster poppten Werbebanner auf. Rabea fluchte leise. Die Interneteinstellungen waren durch das letzte Update wieder einmal in den Standard-Modus zurückgesetzt worden. Ein Fehler, den sie aufgegeben hatte der IT-Abteilung zu melden. Sie klickte sich durch die Schließen-Symbole bis nur mehr die Nachrichten übrigblieben. Neben der Schlagzeile Die Weltmeere ersticken in Plastik erschien der Ticker Unfassbar: 90% Rabatt auf Apple-Produkte.

»In welcher Welt leben wir inzwischen«, murmelte Rabea.

»Ja, früher war alles besser, nicht wahr?«, sagte die Laborleiterin und fläzte sich auf den Drehstuhl vor Rabeas Schreibtisch.

»Das wollte ich damit nicht sagen.«

»Ist aber so. Können Sie sich noch erinnern, wie wir hier angefangen haben? Mehr Engagement und weniger Papierkram. Da haben die Manager noch über den Schreibtischrand hinausgeschaut.«

Rabea bejahte. »Und es hat sie nicht nur der jährliche Budgetplan interessiert.«

»Haben Sie sich das Formular angeschaut? Sechs Seiten – wie sollen das meine Mitarbeiter bloß ausfüllen? Ich selber verstehe einen Teil der Fragen nicht.«

»Es gibt ein Tutorial dazu. Am besten Sie machen ein Teamgespräch und gehen das Punkt für Punkt durch.«

»Als ob ich dafür Zeit hätte.«

Rabea druckte ein Wareneingangsprotokoll aus. »Die Zeit sollten Sie sich nehmen. Ihr Team hat sich das verdient.«

»Mich interessiert mehr, was mit Bertram passiert ist. Der war doch gut vernetzt im Konzern. Warum haben sie ihn abgesägt?« Die Laborleiterin rückte die Zettelbox auf Rabeas Schreibtisch gerade.

»Er hat in einem europäischen Plant-Manager-Meeting unverblümt seine Meinung zu den Einsparungsmaßnahmen gesagt. Das hat dem Projektleiter für Westeuropa nicht gepasst und der hatte anscheinend die besseren Kontakte.«

»Werden Sie sich für seinen Job bewerben?«

Rabea wiegte den Kopf. »Eher nicht. Ich bin erst seit drei Jahren Leiterin der Qualitätssicherung. Noch habe ich nicht alle Maßnahmen aus den Audits umgesetzt.«

»Als ob der Aktionsplan jemals ein Ende nimmt …«

»Sehen Sie es positiv. Arbeitssicherung.« Rabea stand auf und holte sich den Wareneingangsordner. Ihr wurde schwindelig und sie musste sich an der Stuhllehne festhalten.

»Alles okay mit Ihnen?«

Rabea atmete tief ein. »Ja, geht schon. Nur der Kreislauf. Ich habe schlecht geschlafen.«

Die Laborleiterin stand auf. »Ich muss dann. Bis später.« Sie verließ das Büro.

Noch immer hielt sich Rabea am Stuhl fest, der Schwindel wollte nicht aufhören. Sie ließ sich auf die Sitzfläche fallen und stützte den Kopf auf die Hände. Kündigte sich ein Infekt an? Außer der häufigen Kreislaufschwäche merkte sie aber keine Symptome. »Wahrscheinlich das Alter«, murmelte sie und suchte die Nummer eines Internisten im vierzehnten Bezirk heraus. Die Praxisassistentin ließ sich ihre Symptome schildern und gab ihr einen Termin in drei Wochen. Als Rabea von ihrem Kalender aufblickte, stand Klaus im Türrahmen. Bevor sie etwas sagen konnte, drehte er sich um und lief davon.

Ihr Smartphone läutete. Das Bild ihrer Freundin Sabine poppte auf. Eine willkommene Abwechslung. »Hallo, Sabi«, meldete sich Rabea. »Nein, ich habe noch zu tun …- Dräng mich nicht …- Samstag? …- Wenn es sein muss …- Okay, okay, ich bin begeistert …- Weinverkostung und Ausstellung einer Privatsammlung, toll …-Nein, ich vergesse nicht …- Zwanzig Uhr, Villon Weinkeller in der Habsburgergasse …- Ist notiert …- Ja, ich freu mich. See you.« Sie lächelte, als sie auflegte. Niemand konnte Sabine etwas ausschlagen. Bei der letzten Vernissage, die sie gemeinsam besucht hatten, drängte sie Rabea ein Bild zu kaufen. Der Künstler war ein Student von Daniel, Sabines Ehemann. Rabea hatte nichts gefallen, bis sie in einem Raum den Träumer sah. Das Bild glich keinem der anderen Werke und Sabine nannte es kitschig. Aber Rabea musste es unbedingt haben.

Ein Holzschnitt in Blautönen und Schwarz. Gesicht und Oberkörper eines jungen Mannes. Seitlich liegend, eine Körperhälfte im Wasser eingetaucht. Seine Silhouette als verschwommenes Bild darauf gespiegelt. Den Arm vor sich abgelegt, schaute er den Betrachter unverwandt an. Und schien trotzdem zu schlafen.

Sie hatte das Bild gleich in die Firma mitgenommen. Marcus, inzwischen ihr Ex-Mann, sollte es nicht sehen. Auch Besucher in ihrem Büro bemerkten es nur, wenn sie die Tür schloss. Der Träumer sollte nur ihr gehören. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, warum sie der Mann darauf so faszinierte. Vielleicht war es eine physische Präsenz, die er ausstrahlte, bei gleichzeitiger Abstraktion.

Rabea seufzte und verschickte via Outlook eine Einladung für ein Team-Meeting. Sie wollte mit ihrer Mannschaft über die Bewerbungsbögen sprechen und die Ängste der Mitarbeiter möglichst beschwichtigen.

Heute war sie nicht wie üblich mit der Bahn in die Arbeit gefahren. Der alte Volvo V70 war anstandslos angesprungen, obwohl sie ihn seit drei Wochen nicht mehr benutzt hatte. Bei der Heimfahrt machte sie einen Umweg über Liesing, staute sich über die Südosttangente. Vor dem MyPlace-SelfStorage war ihr Auto das einzige Fahrzeug. Sie stellte den Motor ab, blieb noch sitzen, lehnte ihre Stirn gegen das Lenkrad. Eine Weile schweiften ihre Gedanken durch lose aneinander gereihte Bilder aus ihrer Vergangenheit: eine nächtliche Fahrt mit dem London Eye, das Donauufer in Linz mit den Skulpturen, ein Unfall am deutschen Eck, die unerträglich süße Geburtstagstorte an ihrem Fünfziger. Rabea öffnete ruckartig die Tür. Sie schlichtete die beiden Kartons aus dem Kofferraum auf eine Rodel und schob die Last durch die Betongänge bis vor die blaue Tür mit der Nummer 5116. Den Raum nannte sie ihre Schatzkammer. Schon am Anfang ihrer Ehe hatte Marcus ein Haushaltsbuch angelegt und alle Einkäufe akribisch eingetragen. Als er nach dem Tod ihrer Großeltern nach ihrem Erbanteil gefragt hatte, mietete sie einen Lagerraum an.

Die Wellblechwand schepperte, als sie die Kartons ablud. Bevor sie das Licht abdrehte, hob sie den Deckel einer Holzschachtel und strich sachte über die Rosenthal-Figur in ihrem Inneren. Ein Liebespaar, engumschlungen. Ihre Großmutter hatte die Keramik geliebt. Rabea musste ihr versprechen sie nie zu verkaufen. Liebesfrühling. Großmutters Morgengabe.

Bei der Fahrt nach Penzing malte Rabea sich aus, was Marcus sagen würde, wenn er von dem Lager wüsste. Missbräuchliche Nutzung des gemeinsamen Vermögens. Das hätte der Scheidungsanwalt ihres Ex-Mannes zum Vorwurf des feindseligen und respektlosen Verhaltens hinzugefügt. Noch immer ärgerte sie sich darüber, dass er Ansprüche auf die Wohnung hatte. Nie hatte Marcus auch nur eine Rate der Kreditrückzahlung beglichen.

»Ich bin auch mit einer Wohnung in Favoriten zufrieden.« So sein Argument. »Wenn du dir diese Lage einbildest, dann muss du das auch zahlen.«

Als sie in die Wurzbachtalgasse einbog, seufzte sie erleichtert. Das Apartmenthaus lag genau zwischen dem Schottenwald, der zu Wien gehörte, und dem niederösterreichischen Waldgebiet von Hadersdorf-Weidlingau. Sie hatte sich sofort in die Aussicht verliebt. Unverbaubar, wie der Makler betont hatte.

Sie öffnete das Autofenster und atmete ein. Die Luft roch nach Moos und feuchten Blättern. Die untergehende Sonne färbte die hochziehenden Wolken blassorange. Zwei Krähen kreisten über einer Baumkrone. Der Himmel verschwand unter Sichtbeton, als Rabea in die Tiefgarage steuerte. Ihr Parkplatz lag direkt neben der Brandschutztür, die zum Stiegenhaus führte. Das Ganglicht schaltete automatisch an. Rabea stieg in den zweiten Stock hoch, steckte den Schlüssel ins Türschloss, sperrte auf und erstarrte. Wo ihre Möbel und Bilder hätten sein sollen waltete Leere.

3

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte Rabea ins Telefon. »Was heißt Anzahlung …- In der Scheidungsvereinbarung steht in angemessenen Zeitraum …- Auch eine Ratenzahlung ist möglich …- Was kann ich dafür, dass deine neue Flamme finanzielle Probleme hat, soll sie doch Konkurs anmelden …- Nein, ich bin nicht nachtragend …- Du bringst mir eine Abrechnung, bist du noch ganz dicht? Das sind Antiquitäten und Kunstwerke, die gehören offiziell geschätzt …- Was heißt deine Rechnungen? Und was ist mit der Wertsteigerung? …- Das hast du dir ja gut ausgedacht …- Nein, du bekommst keinen Cent, bis das geklärt ist.« Sie wartete seine Antwort nicht ab, legte auf und sprang vom Bürostuhl auf. Ihr neuer Chef wartete.

Rabea beeilte sich in den dritten Stock des Bürogebäudes. Interimistisch hatte der Einkaufsleiter den Job des geschassten Werksleiters übernommen und war ob der Zusatzbelastung not amused.

»Nur herein, Frau Tomas.« Er winkte ihr durch die Glastür zu und Rabea atmete auf. Sie kannten sich flüchtig vom Standort in Linz, an dem Rabea einige Jahre in der Prozessentwicklung tätig gewesen war. Obwohl er um knapp zehn Jahre jünger war als sie, hatte er eine vergleichbare Position in der Hierarchie. Sein geschniegeltes Auftreten würde ihn noch weit bringen. Sie setzte sich ihm gegenüber. Ihren Personal-Development-Plan und die letzte Leistungsbeurteilung hatte sie ihm schon vorab geschickt. Trotzdem musste sie warten, bis er die Dateien geöffnet und überflogen hatte.

»Sieht ganz gut aus. Ich denke, da hat kein Personalist was zu meckern. Die Neubewerbung haben Sie auch schon ausgefüllt?«

Erstaunt blickte Rabea auf. »Wurde das für Level G schon lanciert?«

»Habe ich das nicht rumgeschickt?« Er stöberte mit Mausklicks in seinem Postausgang. »Verdammt – ich war mir ganz sicher. Ich weiß schon nicht mehr, welches Loch ich als erstes zuschaufeln soll. So – jetzt ist es raus.«

»Sollen wir einen neuen Termin ausmachen?«

»Bloß nicht! Sie füllen das Formular aus, schicken es mir und ich leite es mit den anderen Dateien an die Personalabteilung weiter. Sie machen diesen Formalscheiß ziemlich gut. Da müssen wir nichts nachbessern.«

»Wenn Sie meinen …«

Er scrollte in der Formularvorlage rauf und runter. »Was dieses Projekt Future außer einer Rationalisierung bringen soll? Ist Ihnen das schon klargeworden?«

»In groben Zügen.«

»Erzählen Sie mir Ihre Einschätzung?«

Rabea dachte eine Weile nach, dann fasste sie die geplante Anpassung an die geänderten Marktverhältnisse auf dem Kunstfasersektor in ein paar Sätzen zusammen. Mit konzentriertem Gesichtsausdruck tippte der Einkaufsleiter auf seiner Tastatur. Rabea wusste, dass sie ihm gerade bei seiner eigenen Bewerbung half. Sollte er sich doch um den Job des Werksleiters bemühen. Ihr war jeder Chef recht, der sie selbstständig entscheiden ließ. Und ihre Hilfe würde er hoffentlich nicht vergessen.

Zurück in ihrem Büro füllte sie das Formular aus, mit dem sie sich um den Job bewarb, den sie bereits innehatte. Sie musste lächeln. Administrative Wichserei hatte ihr Stellvertreter diese Prozedur genannt, ein Chemiewerker, der sich mit Fleiß und Zusatzschulungen hochgearbeitet hatte. Ihr loyalster Mitarbeiter.

Die Narben an ihrem Handgelenk juckten. Rabea rieb daran und schaute beim Bürofenster hinaus. Noch wirkte der Himmel heiter. Keine Spur von Regenwolken. Aber ihre Narben irrten sich selten. Behauptete sie zumindest.

Für Donnerstag abends war die S-Bahn ziemlich leer. Eine ruhige Heimfahrt. Während die Tanks und Türme der Raffinerie Schwechat vor dem Fenster vorbeihuschten, überlegte Rabea, ob sie sich bei Sabine die Campinggarnitur ausborgen sollte. Wenigstens hatte Marcus nicht in Rabeas Zimmer können. Dort hatte sie schon vor einem halben Jahr ein Wohnungstürschloss einbauen lassen. Eine Aktion, die ihr im Scheidungsverfahren prompt negativ ausgelegt worden war.

Als sie am Hauptbahnhof umstieg, rannte Rabea, um den Anschlusszug nach Purkersdorf zu erreichen. Vor den ersten Stufen zum Bahnsteig schwankte sie, prallte gegen die Ecke. Ihre Knie gaben nach, sie rutschte die Wand entlang, blieb am Boden hocken. Mein Trenchcoat, dachte sie, den Dreck bekomme ich nie wieder raus. Menschen hasteten an ihr vorbei. Rabea versuchte sich hochzustemmen, sackte wieder zusammen. Warum standen da zwei schwarze, abgewetzte Schuhe?

Eine Stimme murmelte. Ein Knistern. Über den Schuhen ein Uniformstoff. Grau mit roter Applikation. Eine andere Hose. Rot mit weißen Reflektor-Streifen. Jemand fragte sie etwas, aber sie war unendlich müde und schloss die Augen.

Das Piepsen nervte sie. Gelangweilt blätterte Rabea in einer Illustrierten. Als die Schwester bei der Patientin neben ihr die Infusion abhängte, fragte Rabea, ob sie das Zimmer verlassen dürfe. Die Filipina nickte. »Aber bleiben Sie auf der 19I, sonst schlägt der Herzmonitor an.«

Rabea schlüpfte in die Ein-Euro-Schlapfen, die man ihr beim Aufnahmegespräch gegeben hatte, holte den Trenchcoat aus dem Kasten und zog ihn über das Spitalshemd. Auf dem Gang der Station wuselten Pfleger und Schwestern. Rabea drückte sich an der Wand entlang, damit sie keiner anrempelte. Kaffeegeruch lockte sie in den Aufenthaltsbereich. Das Gebräu aus der Warmhaltekanne schmeckte scheußlich. Nachdem Rabea das zweite Mal an der Leitstelle der Internen II vorbeigekommen war, fiel ihr eine große Gestalt am Ende des Ganges auf, der Figur und Haltung nach ein Mann. Er lehnte mit verschränkten Armen entspannt an der Wand. Es erschien Rabea seltsam, dass der Besucher die Kapuze seines Hoodys über den Kopf gezogen hatte. Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, aber er schien sie zu beobachten. Oder er wartet einfach nur auf den Beginn der Besuchszeit, dachte sie, und ihm ist genauso langweilig wie mir.

Zurück in ihrem Zimmer legte Rabea sich in ihr Bett und ordnete die Kabel der telemetrischen Herzüberwachung unter ihrem Nachthemd. Ihre Bettnachbarin schaute die Karlich-Show. »Stört es Sie?«

Rabea verneinte. »Ich bin nur bis morgen hier. Mir ist egal, was läuft.« Ihre Zimmergenossin zu beobachten war viel interessanter als die wochentägliche Talk-Show.

Die Frau fieberte geradezu mit. Kommentierte die Aussagen der Gäste. Nach dem Abendessen zappte sie durch alle Sozialpornos der Privatsender. Blieb bei Zwischen Tüll und Tränen hängen. Rabea wanderte noch einmal im roten Bettenturm rundum. Ihr fiel ein Spruch ein, den Bertram einmal über das Spital losgelassen hatte: Der schönste Blick über Wien ist vom Dach des AKH, denn von hier sieht man die hässlichen Baukörper des AKH nicht. Sie lächelte und war gleichzeitig traurig. Ihr alter Chef hatte eine Lücke in der Belegschaft hinterlassen. Die Gespräche in der Kantine würden ihr fehlen.

Als sie ins Zimmer kam, war gerade die Nachtschwester am Werk. Sie bot Rabea eine Schlaftablette an.

»Mobiles Internet sei Dank«, murmelte Rabea. Gleich am Morgen meldete sie der Personalabteilung einen Zeitausgleich. Die Stunden bis zur Vormittagsvisite verbrachte sie mit dem Lösen von Kreuzworträtseln. Das hatte sie ewig nicht mehr gemacht. Endlich kam der Stationsarzt, eine Schwester mit Rollwagen im Schlepptau. »Die Herzüberwachung hat ein paar Extrasystolen gezeigt, aber sonst keine Auffälligkeiten. Treten Sie etwas kürzer. Machen Sie Entspannungsübungen. In Ihrem Alter beginnen die Wechseljahre, da kann das Herz schon mal stolpern. Wenn Sie aber wieder ohnmächtig werden, dann müssen Sie sofort zu einer eingehenderen Untersuchung kommen.« Er kritzelte auf sein Tablet. »Ich verschreibe Ihnen eine Zuweisung für eine Kur. Die muss ihr behandelnder Allgemeinmediziner einreichen.«

»Kann ich gleich gehen?«

»Na, auf den Entlassungsbefund müssen Sie schon warten.« Er wandte sich der anderen Patientin zu.

Rasch zog Rabea ihre Straßenkleidung an und setzte sich in den Aufenthaltsraum bei der Leitstelle. Sie musste sich bis nach dem Mittagessen gedulden.

Vor dem AKH bestieg Rabea eines der wartenden Taxis und ließ sich zum Auhof-Center chauffieren. Vor dem Spital hatte ihr Smartphone sie an die Einladung für heute Abend erinnert. In die Seestadt, das Vorzeigeprojekt der rot-grünen Stadtregierung. Die Geburtstagsparty ihrer Mutter. Ein Pflichttermin.

Die Seestadt Aspern glich einer Stadt in der Stadt. Oder besser: am Rande der Stadt. Ein modernes Ghetto für zukünftig rund zwanzigtausend Einwohner. Rabea hatte gelesen, dass die Bauphasen bis 2028 abgeschlossen sein sollten. Das wäre mein Alptraum, dachte sie, mehr als zehn Jahre in einer Baustelle wohnen.

Ihre Mutter Ilse hatte sich mit ihrer neuen Lebensgefährtin Allegra in ein Generationenhaus eingekauft. Wohnungen gruppiert um Begegnungsräume. Noch so ein Alptraum, ätzte Rabea in Gedanken. Die Geburtstagsfeier fand in einem der gemeinsamen Räume statt.

»Und das sind die Mädels von der Urban-Gardening-Bewegung.« Ihre Mutter nannte ihr acht Namen, die Rabea sofort wieder vergaß. Ilse wuselte herum, versorgte alle mit Kaffee und Kuchen und ruhte nicht einmal als ihr ein Ständchen gesungen wurde.

Rabea setzte sich an einen leeren Tisch. Hinter ihr wiegte eine junge Frau mit zwei Zöpfen ein Kleinkind. Fütterte es mit Malakoff-Torte und unterhielt sich mit einer dürren Frau in Latzhose, die einen quengeligen Fünfjährigen zu beschäftigen versuchte. »Der Novak ist nicht ganz koscher. Schleicht immer herum und späht bei den Fenstern rein. Gruselig.«

Allegra fasste Ilse am Arm und zog sie zu Rabeas Tisch. Ächzend ließ sich ihre Mutter in einen der Stühle fallen. »Hast du lange her gebraucht, Kind?«

»Über eine Stunde. Was du nur an Transdanubien findest. Die frühen Wiener haben schon gewusst, warum sie das Ostufer der Donau nicht besiedeln. Was Gott getrennt hat, soll der Mensch nicht verbinden.«

»Sagt meine agnostische Tochter. Du solltest einmal das tolle Freizeitangebot sehen.«

»Ob das noch so toll ist, wenn dann alle Wohnwürfel fertig sind?«

Ilse winkte ab. »Da leb ich eh nicht mehr. Oder kann nur noch rollatern.«

Rabea lachte. »Du? Niemals. Eher schubst du mit einem getunten Elektro-Rollstuhl langsamere Fußgänger vom Gehsteig.« Sie drehte sich zu Allegra hin. »Schicke Frisur. Sexy. Von Mama geschnitten?«

Allegra nickte: »Seit Game of Thrones sind weiße Haare vielleicht sexy. Aber auch nur bei einem jungen Gesicht. Ich bin alt, grau und faltig.«

»Ach was.« Rabea tätschelte ihr den Oberarm. Ihre Mutter hatte ihr verschwiegen, dass sie jetzt mit einer Frau zusammenlebte. Erst als sie beiden zufällig Hand in Hand auf der Mariahilfer Straße begegnete, war Ilse damit herausgerückt. »Weißt du«, hatte sie gesagt, »ich habe mich umschulen lassen, das Älterwerden ist leichter erträglich für Frauen, die auf Frauen stehen.«

Rabea deutete auf eine zierliche Person mit hennarotem Pixie, die einer anderen Frau Karten legte. »Wer ist das?«

»Ach, das ist so eine Reiki-Jüngerin, du weißt schon: Energiearbeit, belebtes Wasser und Engelssymbolik. Die war einmal Nonne und hat sich am Friedhof in einen Orgelspieler verliebt. Noch dazu einen Evangelischen.

Großer Skandal! Selbst der Bischof hat sich damals eingemischt. Natürlich musste sie sofort den Orden verlassen. Dem Übersinnlichen ist sie aber treu geblieben.«

Die Frau mit dem Kleinkind schimpfte auf den Jungen gegenüber. »Herrschaftsseiten. Der frisst wie ein Firmling.«

Die knochige Frau ignorierte ihren Kommentar. »Der Novak ist nur ein bissel traurig. Zuerst ist seine Frau mit ihm hergezogen, hat sich aber dann mit einem Jüngeren nach Serbien abgesetzt. Er sucht halt Anschluss. Jemand zum Reden.«

»Dem sein Privatleben interessiert mich einen Scheißdreck. Er soll bloß nicht spechteln.«

»Dann rennst halt nicht mit nackte Tutteln auf der Terrasse herum.«

»Ich hab wenigstens ordentliche.«

Rabea stand auf. Die Stadt mochte neu sein, der Bassena-Tratsch war der alte geblieben. Sie schlenderte durch die Terrassentür auf den Kinderspielplatz hinaus, stellte sich an den Zaun, betrachtete die beleuchtete Promenade über der Straße. Noch verdeckte kein Neubau den Blick auf den See.

Allegra folgte ihr. »Die Energie deiner Mutter ist unvergleichlich. Nicht einmal mit fünfzig war ich so aufgedreht.«

»Wem sagst du das?«, antwortete Rabea. »Ich habe so gar nichts von ihr. Bin wohl dem Vater nachgeraten. Aber das kann ich leider nicht nachprüfen.«

»Ist vielleicht besser so.« Allegra zündete sich eine Zigarette an.

»Ilse hätte sich sicher eine andere Tochter gewünscht. Aber Kinder kann man schwer umtauschen.«

»Das glaube ich nicht. Sie ist sehr stolz auf dich.«

»Stolz? Ich kann nicht sehr viel vorweisen, außer einem …« Rabea stockte. Im Halbschatten zwischen den Laternen meinte sie eine Gestalt in einem Hoody zu erkennen. Genau wie der Mann im Spital. Sie schüttelte den Kopf. Kapuzenshirts trug heutzutage jeder vierte.

Allegra dämpfte die Zigarette aus. »Was ist?«

»Ich glaube, jemand beobachtet unsere Feier.«

»Vielleicht wieder der Novak.« Allegra drehte sich um, schaute nach links und nach rechts. »Da ist keiner. Die Straße ist leer.«

Mit gerunzelter Stirn starrte Rabea in die Dämmerung. Ein flaues Gefühl verknotete ihren Magen.

4

Die Hufeisen der Pferde klapperten auf der Fahrbahn. Rabea ließ den Fiaker vorbeitrotten und bog vom Graben in die Habsburgergasse ein. Aufkommender Wind trieb einen Handzettel um die Ecke. Gelbes Licht aus der Tchibo-Filiale färbte den Gehsteig. Ein schwarzes Schild mit der Aufschrift Villon Weinbar Historykeller wies Rabea den Weg zum richtigen Haus. Ein Flügel des Eingangstores mit dem schmiedeeisernen Gitter stand offen. Sabine wartete an der Bar. Sie musterte Rabea. »Kommst du direkt von der Arbeit?«

Rabea sah an sich herunter. »Was ist falsch daran?«

»Sehr konservativ.« Sabine stöckelte vor Rabea die Treppe in das zweite Untergeschoß hinunter. »Die Ausstellung zur Weinverkostung ist das genaue Gegenteil zu deinem Hosenanzug. Hat ein privater Sammler zur Verfügung gestellt.«

»Was für ein Thema?«

Sabine warf ihr über die Schulter einen Blick zu. »Hast du das Mail nicht gelesen? Na, egal. Es sind Shunga.«

»Was ist Shunga?«

»Japanische Nackerte.« Sabine kicherte.

Im Gewölbe drängten sich bereits einige schick gekleidete Leute um die dunklen Tische. Ein paar Besucher betrachteten auch die Bilder. Die Kreuzbögen waren zum Teil unverputzt, um das Alter des Kellers zu betonen. Die indirekte Beleuchtung vertiefte die Erdfarben der Fußbodenplatten. Der typische schimmelfeuchte Kellergeruch fehlte. Daniel kam auf sie zu und küsste sie auf die Wange. »Hallo, Rabea, schön dich zu sehen. Darf ich dir vorstellen – das ist Professor Hans Burger. Ein Kollege von der Uni.«

Der ältere Mann neben ihm hielt Rabea die Hand hin und glotzte sie an. »Ach du meine Güte. Sie sind ziemlich groß.«

Achselzuckend antwortete Rabea: »Mehr Frau fürs gleiche Geld.« Ihre Standardantwort. Nach ein paar Sätzen verzogen sich Sabine und Daniel, ließen Rabea mit dem Professor allein.

»Sie sind auch im Kunstgewerbe?«, versuchte er ein Gespräch.

»Nein. Qualitätsmanagerin. Kunststofftechnik.«

»Ah ja.« Er knetete seine Finger und schob sich die schwarzgeränderte Brille hoch. »Aber Japan affin?«

»Auch nicht – Sabine wollte mich nur unter Leute bringen.«

Sein Blick schweifte herum, er nestelte an seiner Krawatte. Rabea empfand Mitleid. »Aber Sie scheinen sich auszukennen. Sind Sie ein Japan-Fan? Was hat es mit Shunga auf sich?«

Er nickte beglückt. »Shunga bedeutet Frühlingsbilder. Frühling wird dabei als Metapher für Sex verwendet. Shunga-Darstellungen sind alle dem Ukiyo-e zuzuordnen, der Begriff bedeutet in etwa Bilder der fließenden Welt. Das ist eine Sammelbezeichnung für ein bestimmtes Genre der japanischen Malerei und Druckgraphik. Diese Bilder drücken die Weltsicht des aufkommenden Bürgertums der Edo-Zeit aus. Shunga-Darstellungen wurden 1720 offiziell in Japan verboten. Der verborgene Handel wurde aber toleriert. Erst ab 1994 durften sie unzensiert ausgestellt werden.«

»Na, da bin ich ja in der richtigen Ausstellung.«

Er neigte den Kopf, legte die Stirn in Falten.

»Mein Name – Rabea – der ist jiddisch und bedeutet Frühling. Meine Mutter wollte mich eigentlich Spring nennen, das hat meine Großmutter zum Glück verhindert.«

Er schniefte, schob seine Brille hoch und fuhr fort: »Hier – diese Pflaumenblüten bedeuten Jungfräulichkeit. Alles steckt voller Symbolik. Bei diesem Bild fehlt natürlich die Übersetzung des narrativen Textes. Die Schriftzeichen erzählen die Geschichte dazu.«

Wie eine eifrige Schülerin hob sie die Hand. Er stockte. Rabea sagte: »Warum sind die Pärchen auf den Bildern fast ganz angezogen und nur die Geschlechtsteile explizit entblößt herausgestellt?«

»Äh … das war so Sitte in Japan … Nacktheit wurde nicht als erotisch empfunden… äh … das hatte mit den öffentlichen Badehäusern zu tun. Kleidung drückte außerdem den Status aus. Der Betrachter konnte Kontext herstellen.«

»Aha. Riesige Genitalien und Standesdünkel.«

»Nein, Sie missverstehen das völlig. Sie dürfen sich nicht auf die … äh … körperliche Komponente fixieren.« Er schob die Brille hoch und näherte sein Gesicht dem Bild. »Sehen Sie diese Frisur? Historisch gesehen …«