Hüllen - Alauda Roth - E-Book

Hüllen E-Book

Alauda Roth

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Beschreibung

Karolin wurde vor ihrem Haus in Baden bei Wien entführt. Doch niemand hat Lösegeld verlangt oder eine Forderung an ihre Familie gestellt. Und niemand will ihr glauben. Die Polizei findet keine Spuren und legt den Fall zu den Akten. Ihr Lebensgefährte unterstellt ihr eine Ausrede zu erfinden, um eine finanzielle Unterstützung seines Galeriebetriebes zu vermeiden. Zurück in ihrer Arbeit als Restauratorin wird sie plötzlich von einer Kollegin gemobbt. Spontane Wutausbrüche und Alpträume quälen Karolin. Um endlich die namenlose Last ihrer Gefangenschaft abzustreifen, macht sie sich selber auf die Suche nach den Entführern. Vor allem will sie wissen: Warum?

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Zum Buch

Karolin wurde vor ihrem Haus in Baden bei Wien entführt. Doch niemand hat Lösegeld verlangt oder eine Forderung an ihre Familie gestellt. Und niemand will ihr glauben.

Die Polizei findet keine Spuren und legt den Fall zu den Akten. Ihr Lebensgefährte unterstellt ihr, eine Ausrede zu erfinden, um eine finanzielle Unterstützung seines Galeriebetriebes zu vermeiden. Zurück in ihrer Arbeit als Restauratorin wird sie plötzlich von einer Kollegin gemobbt.

Spontane Wutausbrüche und Alpträume quälen Karolin. Um endlich die namenlose Last ihrer Gefangenschaft abzustreifen, macht sie sich selber auf die Suche nach den Entführern. Vor allem will sie wissen: Warum?

Zum Autor

Alauda Roth, seit 2004 als Autorin tätig, seit 2017 freischaffend. Diverse Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Lyrik in Magazinen und Anthologien, mehrere Bücher im Eigenverlag Edition ANDRANN und bei BoD. Lebt mit zwei- und vierbeiniger Familie im südlichen Niederösterreich.

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Eines Nachts hörte ich sie reden

die keine Stimme hat als den Wind

von all dem Leben

von all dem Verderben

Hat mir den Schlaf geraubt

mit sonderbarer Rede

die sich mir leise stahl ins Ohr

Vergessen sein ist blind

Vergessen sein ist blind

hörte ich sie im Dunkeln sagen

die keine Rede hat als vom Tod

(nach Versen von Dylan Thomas)

KAROLIN RUBEY

Der Schlamm saugt mit seinem wuchtigen Dunkel alles aus mir heraus. Kein Antrieb. Keine Abwehr. Für ihn bin ich eine leere Stelle. Ein Fremdkörper, in Haut gegossen. Er zieht seine nasse Hülle darüber. Ich verändere mich, nehme mich in mich zurück, passe mich dem Raum an. Nichts fürchte ich mehr, als in meinem blinden Tasten das Helle zu finden.

Der schwarze Mann hat mich wie eine Dose Bier aufgerissen, mich ausgetrunken, mich weggeworfen. Mein Inneres ist klebrig. Von Zeit zu Zeit zieht es meine Haut nach. In mir ist beinahe kein Raum mehr. Die nasse Hülle ist wie eine Schlangeneischale aufgeplatzt. Lose liegt sie hinter mir. Ich hülle mich in Nacktheit und flüstere mir vertraulich zu.

Sie schlug um sich, krabbelte ans Licht. Spuckte Schlamm. Eine Brandtruhe hatte ihr Leben gerettet. Ein vergessenes Utensil der früheren Bewohner. Als sich die Erde aufgetan hatte, war sie in die Eichenholzkiste gekrochen. Der Hang war abgerutscht, hatte sie mit zersplitterten Brettern und Geröll auf den Talboden gespült. Eine Weile lag sie zusammengekrümmt im Matsch. Gedanken trieben lose vorbei. Sie versuchte einen Hoffnungsschimmer festzuhalten, sich an ihm aufzurichten. Doch nur ein Gedanke ließ sich einfangen: Wie kann ich weiterleben? Wie nur? Wie?

Inhaltsverzeichnis

Die schale Trance der Einsamen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Die innere Macht der Kunst

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

I

DIE SCHALE TRANCE DER EINSAMEN

1

»Wie oft soll ich das noch erzählen?« Karolin lehnte sich zurück und verschränkte die Finger. Sie unterdrückte den Impuls lauter zu sprechen.

Doktor Schell rückte ihre Brille zurecht. »Sie haben eine Anzeige erstattet. Aber die Ermittler haben nichts gefunden.«

»Wie auch? Nach dem Erdrutsch wird nicht viel übriggeblieben sein. Fast wäre ich nicht übriggeblieben.«

»Der Innenraum Ihres Autos konnte untersucht werden, auch wenn es sonst ein Wrack war.«

»Wie soll ich das erklären? Ich verstehe nichts von Spurensicherung.«

Die Polizeipsychologin schob den Aktenordner von sich. »Ich versuche nur, Ihnen die Widersprüche aufzuzeigen.«

»Kriminelle Vorgänge sind also logisch?«

»Das habe ich nicht gesagt. Bitte interpretieren Sie nicht, Frau Rubey.«

»Das mache ich nicht, Frau Schell.«

»Zurück zu Ihrer Geschichte.«

»Wieso Geschichte? Ich erzähle keine Geschichte, sondern ich gebe nur wieder, woran ich mich erinnere.«

»Gut – zurück zu dem, was Sie glauben erlebt zu haben.«

So leicht ließ sich Karolin aber nicht ablenken. »Warum meinen Sie, ich würde so etwas machen? Etwas erfinden?«

»Sie lügen nicht bewusst, Frau Rubey. Man nennt diesen Vorgang Konfabulation. Sie versuchen Sinn im Erlebten zu finden. Und für Sie ist Entführung ein passendes Konzept.«

»Ein Konzept?« Karolin beherrschte sich. Am liebsten hätte sie geschrien. Genauso laut, wie es in ihr schrie. »Sie glauben, dass ich halluziniere?«

Doktor Schell hob beschwichtigend die Hände. »Bitte – verstehen Sie das nicht so, als würde ich Sie psychisch krank beurteilen.«

»Nein?«

»Es gibt für Ihr Erleben eine ganz einfache Erklärung: Sie waren lange isoliert. Kaum Licht, kaum Geräusche. Eine Art der sensorischen Deprivation. Da entstehen Trugwahrnehmungen.« Doktor Schell malte Blümchen auf ihren Block. »Wenn das Gehirn nur noch mit sich selbst beschäftigt ist, dann beginnt es irreale Sinneseindrücke zu produzieren.«

»Und mein Gehirn hat es lustig gefunden, sich Folterszenen zu erfinden? Das glauben Sie?«

»Es geht nicht darum, was ich glaube. Diese Effekte sind wissenschaftlich nachgewiesen. Und die Bilder, die entstehen, sagen nichts Spezielles aus. Es sind Spontanimpulse aus dem Gedächtnisspeicher. Im normalen Leben werden diese inneren Bilder durch andere Sinneseindrücke überdeckt. Wahrscheinlich sehen Sie öfters Krimis.«

Karolin schwieg. Die Polizeipsychologin hatte insofern recht, als dass Christoph häufig Actionfilme ansah, wenn sie einen Abend daheim verbrachten. Auch wenn das nicht Karolins Filmgeschmack war, schaute sie manchmal nebenbei mit. Trotzdem wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass sie sich die Entführung nicht einbildete. Und schon gar nicht die Misshandlungen.

Doktor Schell schien ihr die Zweifel anzusehen und sagte: »Warum hätte man Sie entführen sollen, Frau Rubey? Sind Sie vermögend? Oder Ihre Familie? Ihr Lebensgefährte?«

Karolin schüttelte den Kopf, starrte die Tischplatte an, zählte die Rillen in der zerkratzten Oberfläche.

»Hat jemand Forderungen gestellt?«, fuhr die Psychologin fort.

Wieder schüttelte Karolin den Kopf. Frau Doktor Schell fühlte sich scheinbar bestätigt und fuhr fort: »Unser Gehirn sucht in allem eine Bedeutung. Wenn Fakten nicht zu dem passen, was wir meinen oder glauben, dann versucht es Widersprüche aufzulösen, macht eine große mythische Erzählung daraus.«

Was rede ich überhaupt mit ihr?, dachte Karolin. Weil ich muss, beantwortete sie sich selber die Frage.

Die Psychologin klopfte mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Können wir uns darauf einigen?«

Karolin schloss die Augen, fühlte eine müde Leere in ihrem Denken. Schließlich nickte sie.

»Gut. Also – so geht es jetzt weiter: Ich schreibe meinen Bericht. Man wird Sie nicht wegen Irreführung der Behörden belangen, da Sie das Erlebte ja wirklich glauben. Die Akte wird daraufhin geschlossen.« Sie schrieb ein paar Sätze auf ihren Block. »Ich gebe auch dem Kollegen in der Klinik eine Empfehlung. Sie beenden Ihre Behandlung und kehren in Ihren Alltag zurück. Und …«, sie hob den Kugelschreiber wie einen Zeigestab, »keine Beruhigungsmittel, keinen Alkohol. Bei Ihrer familiären Vorbelastung …«

Karolin nickte wieder und schwieg, schluckte jegliche Erwiderung hinunter. Sie wollte nur hinaus aus diesem fensterlosen Raum. Während Doktor Schell ihre Notizen vollendete, betrachtete Karolin den Sekundenzeiger der Wanduhr. Die Bewegung und das leise Klicken beruhigten sie. Die Zeit stand nicht still.

Schneeregen bildete eine glitschige Schicht auf den Steinplatten. Karolin schaute der Psychologin nach, die über den Vorplatz des Klinikums Baden stakste, dabei den Kragen des blauen Wollmantels zuhielt. Doktor Schell hatte ihr froschgrünes Auto gleich neben dem Klinikeingang abgestellt, die markierte Parkfläche missachtet. Der behandelnde Arzt hatte darauf bestanden, dass die Psychologin zur Befragung in die Klinik kam. Das war anscheinend ihre Art des Protests. Eine Polizeistrafe musste sie sicher nicht fürchten.

Doktor Schell klopfte sorgfältig die Sohlen ihrer Stöckelstiefel ab, bevor sie die Beine ins Innere des Wagens hob. Karolin wandte sich ab. Vormittags stand eine Physiotherapiestunde und die Entspannungsgruppe auf dem Therapieplan, mittags eine Infusion mit Schmerzmittel. Durch die Befragung hatte Karolin die Visite verpasst, aber der Oberarzt würde nachmittags noch einmal vorbeikommen. Die Station für Integrierte Psychosomatik versuchte sich den Bedürfnissen ihrer Patienten anzupassen. Auch Kliniken waren lernfähig.

Karolin stieg die Treppe hinauf, durchquerte den Gang, wich Patienten und Pflegern aus, ging in ihr Zimmer. Ein heller Raum mit Blick auf einen kleinen Park. Zumindest würde die braune Fläche mit den Baucontainern und dem Kran einmal eine Grünfläche werden. Noch war der Umbau nicht abgeschlossen. Sie stellte sich ans Fenster, beobachtete abwechselnd die Wanduhr und die Arbeiter auf der Baustelle.

»Wird das wieder?«, fragte Peter und deutete auf ihre geschienten Finger.

»Nur einfache Brüche. Der Arzt meint, dass keine Beeinträchtigung der Feinmotorik bleibt«, antwortete Karolin.

»Das sind gute Nachrichten. Ich soll dir übrigens von allen Kollegen liebe Grüße und gute Besserung ausrichten. Sie hätten dich auch besucht, aber wir gehen unter in Arbeit.« Er langte über den Kantinentisch, wollte ihren Handrücken streicheln. Karolin griff nach ihrem Kaffee, rührte um, betrachtete die Schlieren der Instantmilch.

»Wie lange musst du noch hierbleiben?« Peter rückte seinen gemusterten Seidenschal zurecht. Wie immer trug er eine emaillierte Anstecknadel mit der Aufschrift Paper & Book am Aufschlag seines Sakkos. Ein Marketingartikel, der letztes Jahr allen Mitarbeitern der Restaurations-Werkstatt geschenkt worden war. Karolin hatte ihre in einer Schublade verstaut.

»Bis zum Wochenende«, antwortete Karolin. »Anfang Dezember wird die Fingerstütze entfernt, dann komme ich wieder in die Arbeit.«

»Sehr gut. Schade, dass du die Art and Antique verpasst hast. Der Gemeinschaftsstand hat sich bewährt. Obwohl der Chef zuerst bezweifelt hat, dass sich der Aufwand rechnet. Wir haben gleich in der Hofburg ein Dutzend Aufträge bekommen.« Er beugte sich vor, legte ihr sachte die Hand auf den Unterarm. »Und deshalb vermissen dich auch alle so.«

Karolin zog den Arm zurück. »Gut zu wissen«, murmelte sie.

»So ein Pech auch. Gerade dort unterzukommen, wo der Hang so instabil ist. Du musst schreckliche Angst gehabt haben.« Er richtete seinen Schal, strich sich durch die grauen Locken. »Und so ein Glück, dass dir nicht mehr passiert ist. Uns wäre auf der Messe auch fast ein Unglück geschehen. Stell dir vor – da haben sich doch tatsächlich Demonstranten zusammengerottet und wollten den Eingang entern. Als hätte die Antiquitätenmesse etwas mit der Börse zu tun. Seltsame Chaoten.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Glücklicherweise hatte der Veranstalter vorsorglich einen Sicherheitsdienst engagiert. Die haben diese ganze unangenehme Situation höflich aber unnachgiebig bereinigt. Ich habe mir gleich eine Visitkarte geben lassen. In Zeiten wie diesen …« Peter verlor sich in Betrachtungen zur Flüchtlingswelle, die gerade die Medien dominierte. Karolin ließ ihn reden, streute ab und zu ein bestätigendes Murmeln ein, schaute an ihm vorbei. Sie beobachtete den Eingangsbereich. Auch heute schien Christoph nicht zu kommen.

»Nein, Mama«, beeilte sich Karolin zu sagen, »es ist alles in Ordnung. Ich habe nur spontan zugesagt und hier ist weit und breit kein Mobilempfang. Ich muss eine halbe Stunde radeln.« Ein Pfleger schob einen Speisecontainer vorbei und Karolin legte die Hand auf das Sprechteil.

Kurz war es still am anderen Ende der Leitung. »Hast schon recht«, seufzte ihre Mutter. »Ich sollte mir schon längst so ein Bildschirm-Ding zulegen, damit du mir elektronisch schreiben kannst.«

»Ein Tablet, Mama.«

»Ja, ja. Ob sich das noch auszahlt?«

»Jetzt hör aber auf. Dir geht es doch passabel. Wie war der Urlaub in der Toskana?«

»Wie eine Busreise mit Senioren und Pflegern nun einmal ist. Umständlich.«

»Hätte es dir beim mir im Kloster besser gefallen? Ich hätte dich mitnehmen können?« Karolin wollte ihre Mutter necken, die Kirchen nur besuchte, wenn es eine Stadtführung inkludierte.

»Wo du das so sagst – das würde mir wirklich gefallen. In letzter Zeit frage ich mich immer wieder, ob etwas dran ist: an diesem Pilgern und der Kontemplation.«

»Echt jetzt? Du?«

»Ach, Kind, die Fragen ans Leben ändern sich eben, wenn man alt und krank ist.« Ihre Mutter seufzte. »Ich sage manchmal zu mir: Andrea, was hast du schon fertiggebracht in deinem patscherten Leben?«

Karolin schossen Tränen in die Augen, sie musste sich beherrschen, um unbeschwert zu klingen. »Mein Auftrag ist am Wochenende abgeschlossen. Ich komme dich gleich am Montag besuchen. Ich habe frei. Dann reden wir ausführlich. In Ordnung?«

»Natürlich, Karolin. Mach deine Arbeit. Das ist wichtig. Bloß nicht von einem Mann abhängig sein, auch wenn er so erfolgreich ist wie dein Chris.«

»Bis bald, Mama.« Karolin legte rasch auf. Christophs Erfolg. Noch so eine Notlüge.

Die Mittagsglocken läuteten. Karolin schloss die Haustür auf. Kühle Luft strömte ihr entgegen. Die dicken Mauern der Villa speicherten normalerweise stundenlang die Wärme. Sie warf einen Blick durch die Fenster der Loggia: Christophs Auto stand nicht in der Einfahrt. Karolin stellte die Reisetasche ab. Schaute sich um. Alles schien unverändert. Als wäre sie erst gestern fortgegangen und nicht vor drei Wochen. Nur die Vase mit den Levkojen und Nelken, die sie am Tag ihrer Entführung auf die Kommode gestellt hatte, war fortgeräumt.

Ein zarter Limettengeruch erfüllte das Badezimmer. Karolin räumte ihre Kosmetiktasche aus. Die Putzfrau hatte frische Handtücher hingelegt. Sie lagen unberührt neben dem Waschtisch. Christoph schien seit zwei Tagen nicht zu Hause gewesen zu sein. Karolin lief hinaus, stieg die Steinstufen in Richtung Garten hinunter. Zur ehemaligen Orangerie, die jetzt eine Galerie beherbergte. An den Wochenenden hatte Christoph üblicherweise geöffnet, in der Zeit kamen die meisten Gäste nach Baden, um das Kasino oder den Kurpark zu besuchen. Sie stoppte: Die Geschäftsräume waren verschlossen und dunkel.

Eine halbe Stunde später fiel die Haustür ins Schloss. Karolin kniete vor dem Kamin im Wohnzimmer, riss ein Streichholz an, hielt es an das zusammengeknüllte Zeitungspapier. Die Flammen fraßen sich rasch zu den Holzspänen hinauf. Sie schloss die Ofentür, rutschte ein Stück zurück: Christoph schälte sich aus seinem Trenchcoat, trat sich die Budapester von den Füssen. In Socken eilte er zu ihr, streckte die Arme aus. »Tut mir leid«, sagte er atemlos, »es war so viel zu tun. Ich hätte dich abgeholt, aber Papas Auto ist in der Werkstätte und er möchte doch noch die Hecke hinten in Form schneiden. Wer weiß, wann es das erste Mal schneit. Und dann die Vernissage. Ich sag’s dir – diese Künstler rauben einem manchmal den letzten Nerv. Sensibel und spontan dieses Volk. Totales Chaos mit den Terminen.«

Karolin stand auf, er umarmte sie flüchtig, ließ sich auf das Sofa fallen. »Einen Moment die Füße hochlegen. Ich muss gleich wieder weg. Der Makler hat mich angerufen. Er hat ein Objekt in der Josefstadt. Ganz nah zur Zweierlinie. Das besichtige ich in einer Stunde. Willst du mit?«

Karolin schüttelte den Kopf, legte ein Scheit in den Brennraum, reduzierte die Luftzufuhr.

»Kochst du uns einen Espresso? Ich möchte dir die Pläne zeigen.« Er sprang auf, holte seine Aktentasche, die er neben die Garderobe gestellt hatte.

Karolin marschierte in die Küche, drückte den Ein-Schalter an der Kaffeemaschine, schob zwei Tassen unter. »Am Sonntag?«

»Wie bitte?«, rief Christoph vom Wohnzimmer herüber.

»Eine Besichtigung am Sonntag?«

»Ja. Der Typ hat nur exklusive Objekte im Angebot. Er teilt sich seine Zeit nach Bedarf ein. Du kennst ihn übrigens.«

»Ach ja?« Karolin stellte die Tassen auf ein Tablett, füllte ein Milchkännchen, kramte aus einem Regal eine Dose mit Florentinern, legte vier Stück auf einen kleinen Teller. Vorsichtig trug sie das Tablett ins Wohnzimmer, platzierte es vor Christoph auf den Couchtisch.

»Im August. Bei unserer Fete Blanche. Du hattest ein paar Arbeitskollegen eingeladen. Er hat sich ausgiebig mit Peter und Jutta unterhalten.«

»Kann sein«, antwortete Karolin, nippte an ihrer Kaffeetasse. »Ich erinnere mich nicht. Es waren viele Leute eingeladen.«

»Ist auch nicht wichtig. Schau«, er schob ihr eine Mappe hin, »wäre das nicht was?«

Leise war aus dem Garten das Kreischen einer Kettensäge zu hören. »Meinst du nicht, die Nachbarn werden sich wieder beschweren?«, sagte Karolin.

Christoph verzog den Mund und erwiderte: »Interessiert mich nicht. Papa ist gleich fertig. Oder willst du einen Gärtner zahlen? Das Haus ist teuer genug.«

Karolin nahm die Angebotsmappe, blätterte durch die Immobilienbeschreibung. »Ganz schön viel zu adaptieren.«

»Aber schau dir doch die Raumaufteilung an. Perfekt. Sogar ein kleiner Parkplatz im Innenhof. Das ist Luxus im Achten. Und die Auslage! Original Gründerzeit.«

»Die Renovierung wird einiges kosten.«

Er winkte ab. »Das geht schon. Ich habe bereits vorkalkuliert. Wenn du bei der Bank bürgst …«

»Nein«, unterbrach Karolin ihn. »Das ist dein Projekt. Ich habe die Galerie in der Orangerie mitfinanziert. Und ich sehe derzeit keinen Sinn in einem zweiten Standort. Du solltest zuerst deine Position in der Sammlerszene festigen. Oder willst du wieder für Kunstmagazine schreiben?«

Christoph kaute auf seiner Unterlippe. Für ein paar Minuten schwiegen sie. Das Holz im Ofen knackte. Karolin knabberte an einem Florentiner. Schließlich schob Christoph die Mappe in seine Aktentasche, lehnte sich zurück, trank seinen Kaffee. »Apropos Sammler. Ich hätte ein Angebot für die Pötsch.«

»Meine Ikone? Du hast sie ausgestellt?«

»Letzte Woche war doch die Sponsorenparty. In einer Ecke hat etwas gefehlt und ich habe das Bild aufgehängt. Hat gut zu den modernen Porträts gepasst. Auf alle Fälle hat mich so eine schicke Bulgarin darauf angesprochen. Máriapócs, hat sie festgestellt und ich habe es ihr bestätigt. Sie hat mehr über das Gnadenbild gewusst wie ich. Sie wusste sogar, dass Ioannis der Maler war. Tempera auf Holz, hat sie gesagt, gemalt 1782 in Wien zur Gründung der ersten griechisch-orthodoxen Kirche infolge des Toleranzpatents von 1781; im Zuge des Umbaus durch Theophil von Hansen 1856 verschollen. Künstlerisch weit besser als das Original im Stephansdom. Die war richtig klug.«

»Aber dieses Bildnis hat nie geweint.«

»Das ist dem Sammler egal.«

»Welchem Sammler?«, fragte Karolin misstrauisch.

»Keine Ahnung. Irgendein reicher Ostfritze. Ein Oligarch oder was auch immer. Ist mir wurscht. Er hat sechzigtausend Euro geboten.«

»Das ist die Maria Pötsch nicht wert.« Karolin versuchte ruhig zu bleiben. »Und sie steht nicht zum Verkauf.«

»Was trägst du eigentlich zu unserer Lebensgemeinschaft bei?« Er stellte die Tasse heftig nieder, der Löffel fiel klirrend auf das Tablett. »Du hast dich hier ins gemachte Nest gesetzt. Weißt du, was es gekostet hat, diesen alten Steinhaufen zu modernisieren?«

Karolin stockte der Atem. Diese Diskussion hatten sie schon öfters geführt. Aber im Moment war ihr Kopf voller Zweifel, sie konnte kaum Argumente zusammenkratzen. »Diese Ikone ist mein einziger Besitz. Sie hat mich durch das ganze Studium begleitet. Ihre Restaurierung war meine Abschlussarbeit. Keinesfalls verscherble ich mein Erbe. Ich zahle dir Miete, beteilige mich an den Erhaltungskosten. Ich helfe dir bei den Ausstellungen, ich habe dir Kontakte verschafft. Meinst du nicht, das genügt?«

Christoph schielte auf seine Armbanduhr. »Ich muss jetzt. Wir finden schon eine Lösung.« Er sprang auf, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, verschwand im Vorzimmer. Kurz darauf fiel die Eingangstür zu.

Eine Weile lauschte Karolin dem Knistern des Feuers, schließlich räumte sie das Kaffeegeschirr weg, wischte den Couchtisch ab. Etwas fehlte. Sie drehte sich um die eigene Achse, entdeckte die Abweichung wie den Fehler in einem Suchbild: Die Uhr am Kaminsims war stehengeblieben. Christoph hatte sie nicht aufgezogen.

Automatisch wollte Karolin auf ihre Armbanduhr schauen, aber die war in der Berghütte kaputtgegangen. Als ihr der Ledermann die Finger gebrochen hatte. Sieben Tage hatte sie in ihrem Kerker auf ein kaputtes Ziffernblatt gestarrt.

Sie drehte den Fernseher an, wählte die Infoleiste, stellte die Kaminuhr nach der digitalen Anzeige. Jetzt war das Geräusch einer Heckenschere zu hören. Karolin hätte sich gerne ins Freie gesetzt, ein Plaid um die Schultern, um die vielen kleinen Dinge zu betrachten, die der Garten zu jeder Jahreszeit bereithielt. Ein ständig wechselndes Stillleben. Aber nachdem Christophs Vater vor drei Jahren zu Silvester versucht hatte, ihr die Zunge in den Mund zu stecken, mied sie den sehnigen Alten soweit wie möglich. Seit dem Tag seiner Pensionierung trainierte er ständig für irgendein Laufevent, oder er arbeitete bis zur Erschöpfung in ihrem Garten. Ein irritierendes Beispiel von Jugendwahn.

Langsam wanderte sie durch die Stadtvilla, ein zweistöckiges Gebäude im klassizistischen Stil, dem die abschätzige Bezeichnung Steinhaufen nicht zustand. Christoph hatte keinen Cent für die Renovierung ausgegeben, er hatte sich ebenfalls ins gemachte Nest gesetzt, als er das Gebäude vor fünf Jahren von seiner Großtante geerbt hatte. Nach und nach waren alle antiken Möbel und Bilder in Auktionen gelandet. Längst hätte er das Haus verscherbelt, hätte eine Testamentsklausel das nicht erschwert.

Vielleicht habe ich mich zuerst in dieses Juwel verliebt, dachte Karolin und strich über die Stofftapete im Salon. Sie schüttelte den Kopf, steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte ins Stiegenhaus. Unentschlossen blieb sie einen Moment am Treppenabsatz stehen, dann stieg sie vorsichtig die Wendeltreppe ins Untergeschoß hinunter. Sie musste einfach Gewissheit haben.

Vor dem Krieg war die Dienstbotenwohnung dort untergebracht gewesen, heute die Büroräume und das Lager der Galerie. Aus einem Hohlraum in der Mauer holte sie den Ersatzschlüssel und sperrte die schlichte Holztür auf, drehte den Lichtschalter um. Neonröhren sprangen flackernd an. Die Klimaanlage summte. Rasch schritt Karolin die Regale ab. Das Gnadenbild lag sorgfältig verpackt an seinem üblichen Platz. Karolin seufzte erleichtert. Kurz überlegte sie, die Ikone nach oben zu bringen, in ihr Schlafzimmer, aber der klimatisierte Raum schonte das empfindliche Gemälde. Seit einem Jahr überlegte sie einen passenden Platz für das Kunstwerk, aber Christoph hatte immer wieder Einwände. Er schätzte nur moderne Kunst.

Karolin schloss die Tür des Lagerraumes hinter sich, warf einen Blick ins Büro. Auf dem Schreibtisch lagen wahllos Notizzettel, Ausdrucke und Business Cards. Die meisten davon von der Sponsorenparty. Unter dem Motto Ars Future hatte Christoph einen Event ausgerichtet, der junge bildende Künstler und Mäzene zusammenbringen sollte. Sicher hat sich der eine oder andere Sugardaddy gefunden, dachte Karolin bitter und stocherte die Karten auseinander. Zuletzt fand sie, wonach sie suchte: Prof.h.c. Dr.habil. Romana Konevja, Bulgarisches Kulturinstitut – Haus Wittgenstein. Sie steckte die Visitenkarte ein. Nur um sicherzugehen.

Furcht ließ nicht nach. Das hatte sie am meisten überrascht. Noch vor zwei Monaten hätte sie fest behauptet, dass man abstumpft, wenn man dauernd einer Gefahr ausgesetzt ist. Aber das stimmte nicht.

Zuerst hatte sie gefürchtet, sich in einem Internetvideo wiederzufinden. Der eine Mann hatte dauernd sein Smartphone benutzt. Aber er hatte sie nicht gefilmt, sondern ständig Nachrichten getippt und gab sich insgesamt uninteressiert an ihr. Der andere war ein widerlicher Sadist gewesen. Ein Rockertyp mit grauen Haaren, Basecap und dunkler Sonnenbrille. Noch immer standen ihr die Abzeichen der Lederweste vor Augen. Am Ende hatte sie nur noch um ihr Leben gebangt.

Inzwischen war das Wohnzimmer angenehm warm. Karolin streckte sich auf dem Sofa aus, zog eine geblümte Baumwolldecke über sich, beobachtete durch das hohe Kastenfenster eine Amsel, die in der Linde vor dem Haus durchs Geäst hüpfte. Hundert Jahre Müdigkeit beschwerte Karolins Körper. Während sie eindöste, fragte sie sich immer wieder, was die beiden Männer eigentlich von ihr gewollt hatten.

Ein karger Berg. Felsen. Eine Burg. Kälte und Feuer. Ein Stück Stoff im Schneegestöber. Eine Tür klapperte. Das Parkett knarrte. Schritte. Karolin rollte zur Seite. Im Halbschlaf murmelte sie: « Puis un château de rougeâtres couleurs, puis une dame a sa haute fenêtre, en ses habits anciens … »

»Was meinst du?« Christoph ließ sich in den Fauteuil neben dem Sofa plumpsen.

Gähnend richtete Karolin sich auf. »Habe ich etwas gesagt?«

»Ja. Etwas von einer rot gefärbten Burg und einer Frau in altertümlicher Kleidung, die am Fenster steht.«

»Nur ein Traum. Ich muss eingeschlafen sein. Ich habe auf dich gewartet.«

»Lieb von dir. Es wird dich freuen zu hören, dass ich mit dem Makler einig geworden bin. Er hält mir die Option für das Geschäftslokal noch eine Weile offen. Dafür machen wir zukünftig ein paar andere Deals. In meinem Bereich.« Christoph erzählte, wie der Mann durch seine wohlhabende Kundschaft immer wieder Kunstgegenstände zur privaten Vermittlung bekam und jemanden suchte, der ihn fachkundig beraten konnte. Oder Gegenstände sachgerecht einlagerte.

Karolin hörte verschlafen zu, nickte ab und an, gähnte. Schließlich stand sie auf, tappte ins Bad, holte sich danach in der Küche ein Schinkenbrot und einen Schwarztee.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Christoph den Fernseher eingeschalten und schaute ZIB24. Mit verschränkten Armen starrte er auf den Bildschirm, beachtete sie nicht. Während sie aß, beobachtete sie ihn verstohlen: seine Haut war gebräunt, er hatte einen frischen Haarschnitt, auch das Hemd schien neu zu sein. Und er hatte ein paar Kilo zugenommen. Obwohl er seinen Körper als Tempel betrachtete.

Sein Schweigen machte sie zappelig. Die Nachrichten erschienen ihr aufdringlich laut. Eine Frage brannte seit zwei Wochen in ihr. Die wollte sie Christoph an den Kopf werfen, fürchtete aber gleichzeitig seine Reaktion. Karolin trommelte mit den Fingerkuppen auf die polierte Tischplatte. Ihre Nägel klackten. Christoph drehte den Kopf, schaute sie mit zusammengepressten Lippen an. Sein Gesichtsausdruck löste eine kochende Welle in ihr aus. »Wie konntest du das nur glauben?«, stieß sie hervor.

»Was glauben?«, sagte er ruhig.

Karolin setzte sich näher an ihn heran, beugte sich vor. »Wie konntest du nur glauben, dass diese SMS von mir war?«

»Sie ist von deinem Smartphone gekommen.«

»Aber ist dir der Text nicht seltsam vorgekommen? Dass ich spontan eine Pilgerreise mache?«

Er gähnte verhalten. »Ich dachte, das wäre ein Joke. Du arbeitest doch öfters ein paar Tage auswärts. Dieses Mal halt in einer Klosterbibliothek.«

»Aber doch nicht von einem Tag auf den anderen. Wir haben Terminpläne. Warum hast du Peter nicht angerufen?«

»Ich spioniere dir doch nicht nach.«

»Das hat doch nichts mit Misstrauen zu tun. Ich hatte ja nicht einmal Sachen mitgenommen.«

Er schnauzte sie an: »Meinst du, ich zähle deine Hosenanzüge?«

»Kennst du mich eigentlich?«

»Soll das jetzt eine große Aussprache werden?«

Karolin zögerte, schließlich sagte sie leise: »Ich will nur von dir wahrgenommen werden. Du ignorierst mich.«

Er schrie: »Jetzt mach einmal halblang. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet. Es ist nach Mitternacht, ich bin zu müde für so einen Scheiß.«

Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich fühle mich so ausgeliefert. Nackt, obwohl ich angezogen bin. Ich finde mein Rüstzeug nicht mehr. Und du hast nur Interesse daran, ob deine App fürs Zähneputzen upgedated ist.«

»Hörst du dir eigentlich zu?« Er schlug auf den Couchtisch.

Karolin zuckte zusammen. Sie fröstelte, wollte nur umarmt werden. »Es tut mir leid, Chris. Ich will nicht streiten. Ich habe momentan einfach anderes im Kopf als deine Galeriepläne. Ich muss einmal alles sortieren. Die Empfehlungen des Therapeuten, du verstehst?« Sie tastete nach seiner Hand.

Er lächelte breit, tätschelte ihre Wange. »Ist schon gut, Schatzi. Ich bin ein grauslicher Mensch, gell? Du kommst vom Spital heim und ich denke nur an mich. Aber die Psychofritzen haben doch gesagt, du sollst schnell in eine Alltagsroutine zurück. Na komm, gehen wir ins Bett. Ein guter Fick bringt dich auf andere Gedanken. Ich habe dich vermisst.«

Zögerlich stimmte Karolin zu. Vor diesem Moment hatte ihr gegraut.

Die buntgefärbten Balkone leuchteten schon von weitem im Sonnenlicht. Durchsichtige Platten boten einen Blick auf die Töpfe mit Erikabüschen vor der Wohnung von Karolins Mutter. Nach einem trüben Morgen hatte es aufgeklart, ein älteres Pärchen saß im Freien, der Mann im Rollstuhl. Neben dem Gehweg zur Casa Marienheim blühten noch gelbe Rosen. Karolin blieb stehen, beugte sich vor, schnupperte an einer der Blüten: ein feines Zitronenaroma. Sie hatten lange auf den betreuten Wohnplatz gewartet. Karolin hatte ihre Mutter unbedingt in ihrer Nähe unterbringen wollen.

Als sie die Wohnungstür öffnete, stand Andrea vor dem Spiegel, probierte eine Seidentunika, drehte sich im Kreis. Sie schien einen guten Tag zu haben.

»Hallo, Mama. Mitbringsel aus Italien?« Sie beugte sich zu ihrer Mutter hin, küsste sie auf die Wange. »Steht dir gut.«

»Ich weiß, dass ich wie eine Vogelscheuche aussehe«, sagte Andrea, rückte den Stoff auf ihren dünnen Schultern zurecht.

»Eine elegante Vogelscheuche. Mit einer äußerst schicken Frisur.«

Ihre Mutter schlüpfte aus der Tunika, zog sich einen Sweater an. »Zu fein für die Rollator-Tanzstunde.«

»Schmäh ohne?«

»Ich schwöre es«, sagte Andrea und hob zwei Finger. »Um zehn geht’s los. Du kannst ja zusehen.«

Karolin griff sich ans Handgelenk, sah sich um. »Hast du keine Uhr im Zimmer?«

»Die Zeit vergeht sowieso zu langsam, da muss ich nicht auch noch daran erinnert werden. Bitte, Kind, lass ein bissel Luft herein.« Andrea setzte sich in einen Relax-Sessel.

Karolin stellte sich zum Balkon, kippte die Tür.

»Wo warst du eigentlich?«, fragte ihre Mutter.

»Im Karmel Mater Dolorosa in Maria Jeutendorf«, antwortete Karolin, drehte sich um, schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und ging damit wieder ans Fenster. Trotz der späten Jahreszeit traktierte ein Gärtner den Rasen mit einem Aufsitzmäher. Sie konnte leicht behaupten in dem Kloster gewesen zu sein. Wenn Christoph etwas erwähnt hatte, hätte es ähnlich geklungen. Aber er hatte ihre Mutter sicher nicht angerufen. Er fand immer eine Ausrede, wenn sie ihn hierher mitnehmen wollte. Und in der Arbeit erzählte Karolin kaum von ihrer Mutter. Andrea lehnte kategorisch jeden Besuch von Bekannten ab. Sie wollte niemanden mit ihrer Krankheit belästigen.

»Noch nie gehört«, sagte Andrea.

»Die haben eine Ikonenmalwerkstätte«, sagte Karolin unbestimmt. »Jetzt reden wir aber nicht von mir. Erzähl mir von deinem Urlaub. Keine aufregenden Zwischenfälle?«

»Der Bus musste auf einer schmalen Straße wenden. Ein Insasse hatte sein Gebiss vergessen«, sagte ihre Mutter ernst. Karolin lachte, stellte das Glas weg und setzte sich neben sie. Leise bat Andrea: »Legst du bitte meinen Koffer auf den Schrank? Die Putzfrau hat ihn unters Bett geschoben, aber das mag ich nicht. In der Küche ist eine Trittleiter.«

»Natürlich, Mama.« Karolin stand auf, holte die Leiter. Während sie den Lederkoffer hochhievte, murmelte ihre Mutter: »Mir wird immer schwindelig, weißt du? Selbst auf das Stockerl kann ich nicht mehr steigen. Ich hasse das. Wie ist es nur soweit gekommen?«

Karolin umarmte ihre Mutter. »Ich helfe dir doch gerne. Schreib eine Liste. Alles, was sie dir hier nicht erledigen können. Ich kümmere mich darum. Mach dir keinen Kopf.« Sie räumte die Leiter zurück. »Wie spät ist es?«

»Rollator-Time«, antwortete Andrea.

»Auf, auf.« Karolin klatschte in die Hände. »Das will ich keinesfalls verpassen.«

Ihre Mutter streckte ihr die Zunge heraus. Dann lächelte sie, legte einen gestreiften Schal um. Karolin hängte sich bei ihr ein.

Der Kreis, in dem die Therapeutin die Senioren zu Schlagermusik herumscheuchte, erinnerte Karolin an ihren ersten Abend in der Öko-Kommune. Dort hatten sie sich auch im Kreis aufgestellt und getanzt. Die Neuankömmlinge waren damit offiziell im Sonnenhof aufgenommen worden. Wie glücklich ihre Mutter damals war. Und wie verliebt. Trotz ihrer neun Jahre hatte Karolin das genau mitbekommen. Sie hatte die Hände ihrer Eltern gehalten und getanzt bis ihr die Füße brannten. Einen Monat später war alles anders gewesen.

Sie schlang die Arme um ihren Körper und fröstelte. Stieg von einem Fuß auf den anderen. Seit einer halben Stunde stand sie an der Gehsteinkante. Hatte sich der Fahrer verirrt?

Ein Mofa knatterte vorbei. Dahinter ein SUV und ein Smart. Schon wollte Karolin ins Haus zurückgehen, als ein schmutzig-weißer Kleintransporter in die Gasse bog. Im Schritttempo zuckelte der Wagen voran, sie trat auf die Straße und winkte. Der Transporter beschleunigte, kam quietschend in der Einfahrt zum Stehen. Der Fahrer stieg aus, ein schlaksiger Mann in roter Latzhose. Er nickte ihr kurz zu, öffnete die Hecktüren.

»Helfer?«, fragte er.

»Mein Lebensgefährte ist außer Haus. Er hat damit gerechnet, dass zwei Leute kommen.«

»Grippezeit«, sagte der Fahrer, schob seine Schirmmütze zurück und kratzte sich am Kopf.

Karolin seufzte. »Ich werde Ihnen beim Ausladen helfen.«

Eine Stunde später schmerzten ihre geschienten Finger wie am ersten Tag der Verletzung, aber sie hatten alle Bilder und Objekte für die Vernissage in die Galerie geschafft. Karolin ließ sich in einen orangen Egg Chair fallen. Ein Designobjekt von Arne Jacobsen. Sollte sie bereits auspacken? Oder wollte Christoph zuerst kontrollieren, ob überall die Verpackung unbeschädigt war? Karolin streckte die Beine aus, die Wärme im Ausstellungsraum machte sie schläfrig. Sie schloss die Augen. Jemand fasste sie an der Schulter, Karolin schreckte hoch, schlug um sich.

»Sachte, sachte«, rief Christoph.

»Wie spät ist es?«, sagte sie verwirrt.

»Halb drei.«

»Ich bin eingeschlafen«, murmelte sie.

»Schon okay«, sagte Christoph, begann die Bilder auszupacken. »Dann bist du jetzt ausgeruht und kannst mir beim Aufhängen helfen.«

»Mir tut meine Hand weh.«

»Na, soviel wirst du schon fertigbringen«, sagte er gleichmütig.

»Kann dir nicht dein Vater helfen? Ich bin eigentlich im Krankenstand.«

Christoph kam zu ihr, hielt ihr die Hand hin. »Na komm, Schatzi. Morgen kannst du dich eh ausruhen.«

Karolin ließ sich aufhelfen, wünschte sich eine Umarmung, eine Versicherung, dass in ihrem Leben alles wieder gut werden würde. Aber er drehte sich sofort weg. Packte ein Stanley-Messer und schnitt die Klebebänder der Umverpackungen auf.

Den restlichen Nachmittag hängten sie Bilder herum, änderten Scheinwerferpositionen, schleppten zwei Sockel aus dem Lager in den Ausstellungsraum. Schließlich schien Christoph zufrieden. Er schlenderte rundum, betrachtete jedes Kunstwerk eingehend. »Was hältst du davon?«

»Willst du meine ehrliche Meinung?«

»Natürlich.«

»Um Karl Valentin zu zitieren: Kunst kommt von Können. Käme sie von Wollen, hieße sie Wunst. Das hier ist kein Künstler, sondern nur ein Wünstler.«

»Ah. Jetzt bist du auch Spezialistin für moderne Kunst. Ich will nur erwähnen, dass für vier davon schon eine Kaufoption vorliegt. Infolge einer Besprechung im Standard. Schau doch genau hin.«

»Mir genügt ein erster Eindruck. Es ist im klassischen Museumsbetrieb schon schlimm mit der Bewertung der ausgestellten Stücke. Aber in der modernen Kunst – worauf kommt es da schon an? Machtspiele von Galeristen und Kuratoren. Wer mit wem feiern geht, wer wen empfiehlt, welche Animositäten gepflegt werden, wer die entscheidende Kritik schreibt.«

»Weil du dich da ja so gut auskennst.«

»Zumindest erkenne ich einen technisch ungeschickten Maler.«

»Malerin. Und sie hat gerade die Leonardo Meisterklasse abgeschlossen. Ein Shooting-Star.«

Karolin schwieg. Daher wehte also der Wind. Das war sicher eine der Teilnehmerinnen der Ars Future gewesen. Ich sollte meinen Mund halten und in den Garten gehen, dachte sie und sagte: »Sie gefällt dir, stimmt‘s?«

»Wer?«

»Mademoiselle Farbklecks.«

»Sie heißt Evica. Was fantasierst du dir da wieder zusammen?«

»Fantasieren?«

»Ja. Genauso wie deine Entführung. Diese fixe Idee. Wieso kannst du nicht einfach akzeptieren, dass du einen banalen Unfall hattest?«

»Banal?«

»Was musstest du auch dort rausfahren? Was hast du dir dabei gedacht? Wolltest du ein wenig schmollen? Mich emotional erpressen?«

Karolin starrte ihn fassungslos an. Er drehte sich um, verließ die Galerie, stapfte Richtung Villa. Karolin rannte ihm nach.

»Der Vierziger deprimiert dich anscheinend«, fuhr Christoph fort. Kleine weiße Wolken bildeten sich vor seinem Mund. »Auch wenn du dich gut gehalten hast, das Geburtsdatum steht nun einmal fest. Ist es das? Versuchst du Aufmerksamkeit zu bekommen? Tickt die biologische Uhr? Solche Allüren brauche ich im Moment aber echt nicht.« Er stapfte die Außenstiege hoch. »Einmal habe ich Erfolg und du beginnst krank zu spielen.«

»Du glaubst ich missgönne dir dein Geschäft? Für so kleinmütig hältst du mich?«

»Ich weiß nicht mehr, wofür ich dich halten soll. Du bist komisch. Du lässt dich gehen. Und in der Nacht … na ja, lassen wir das.«

»Du meinst, ich funktioniere nicht wie sonst?«

»Wir hatten unser Leben so gut eingerichtet, waren so ein tolles Team. Und jetzt…« Er ließ den Satz zwischen ihnen stehen. Marschierte ins Haus, ließ sich im Wohnzimmer in den Fauteuil fallen, verschränkte die Arme.

Karolin baute sich vor ihm auf. »Ist das etwa meine Schuld?«

»Irgendwie schon. Warum diese Extratour? Weiß du eigentlich, was mich das verlängerte Wochenende zum Nationalfeiertag gekostet hat? Ich musste wegen den Nachforschungen der Polizei die Galerie geschlossen lassen. Und das kurz nach Erscheinen des Artikels!«

»Du bist ein geldgieriger Scheißkerl.« Karolin boxte ihm gegen die Schulter.

Christoph öffnete den Mund, schloss ihn wieder, sprang auf, schob sie zur Seite. Er stürmte ins Vorzimmer, zog Mantel und Handschuhe an, warf die Eingangstür hinter sich zu. Karolin hörte den Automotor anspringen.

Ihr Blick trübte sich, sie hustete. Rauch strömte aus der Ofentür. Ein Spalt stand offen. Das Feuer erstickte. Karolin drückte den Riegel zu, öffnete die Luftzufuhr. Brandgeruch erfüllte das Wohnzimmer. Ein heftiger Stich durchfuhr ihren Kopf, sie drückte die Hände gegen die Schläfen. Dann packte sie einen Klappstuhl, der neben dem Pianino lehnte, stemmte ihn über den Kopf und schleuderte ihn zu Boden. Hob ihn auf, hielt ihn fest und hieb solange damit auf das Parkett, bis er zertrümmerte. Sie trat gegen die Holzstücke, schrie, bis ihr die Luft wegblieb. « Raconte-moi le Sud », rief sie atemlos. « Pourquoi est-ce qu’on y est en vie? »

Dumpf stürzte sie auf das Sofa. Ein leeres Gefühl benebelte ihren Kopf. Sie verglich die Zeitangabe am Fernseher mit dem Ziffernblatt der französischen Kaminuhr. Sie ging schon wieder falsch. Das Uhrwerk war ein billiges Plagiat. Wie Christoph.

Benommen zappte sie durch die Fernsehkanäle, blieb bei einer Reportage auf ZDFinfo hängen: Mysterien des Weltalls – Gut gegen Böse. Laborexperimente mit harmlosen Probanden. Artig formulierte Sozialtheorien. Als ob die Welt so einfach wäre.

Warum nur? Warum? Diese beiden Männer – waren die einfach nur Sadisten gewesen und sie ein Zufallsopfer?

2

Blätter trieben vorbei. Ein ungewöhnlich warmer Windstoß bauschte ihren Trenchcoat. Karolin schob ihr Rad durch die Fußgängerzone. Die Luft roch nach Lebkuchen, Bratwurst und Wein, obwohl die Stände des Weihnachtsmarktes noch nicht geöffnet hatten. Olfaktorische Erinnerungen an den gestrigen Adventsonntag aus überquellenden Abfalltonnen. Die ersten Sonnenstrahlen röteten die Dreifaltigkeitssäule. Die Taube an der Spitze schien zu brennen. Nach dem Beethovenhaus stieg sie auf, radelte in Richtung Dobelhoffpark. Eine ehemalige Frühstückspension, drei Querstraßen vom Strandbad Baden entfernt, diente Paper & Book seit ein paar Jahren als Firmensitz.

Karolin hatte ihre Anstellung in der graphischen Sammlung der Albertina ungern aufgegeben. Nachdem der Zustand ihrer Mutter sich verschlechtert hatte und Christoph ihr gleichzeitig anbot bei ihm zu wohnen, hatte ein näherer Arbeitsplatz aber die Zeiteinteilung erheblich vereinfacht.

Als sie den Schlüssel aus ihrer Umhängetasche holte, fiel ein Flyer heraus: die Werbung für die Vernissage am letzten Freitag. Evicas Auftritt war ein medialer Erfolg gewesen. Die Ansprachen und die vielen Menschen hatte Karolin wie eine Tour de Force empfunden, sie hatte die Galerie nach zwei Stunden verlassen, Christoph war erst am nächsten Vormittag nach Hause gekommen. Sie stopfte den Flyer in einen Papierkorb neben dem Eingang, eilte durch den Vorraum in das Atelier. Wohlig schnuppernd sog sie die Luft ein, strich über einen Bogen Japanpapier, zog sich langsam um. Endlich war sie wieder in ihrer eigenen Welt.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, fuhr den Rechner hoch. Ihre Kollegen würden erst in einer Stunde kommen, bis dahin wollte sie ihren Posteingang ordnen. Aber ständig glitten ihre Augen vom Bildschirm, blieben im Nirgendwo haften.

Karolin hatte schlecht geschlafen, mitten in der Nacht hatte sie ein Alptraum geweckt und sie für eine gefühlte Ewigkeit wachgehalten. Immer wieder war ihr Blick zum Wecker gewandert. Am Morgen hatte sie verzweifelt nach einer Armbanduhr gesucht und nur eine Swatch mit eingerissenem Kunststoffband gefunden.

Eine E-Mail enthielt einen Verweis zu einer Videodatei. Der Absender sagte ihr nichts. Sie zögerte den Link anzuklicken. In der Nacht hatte sie geträumt, dass der Folterer sie fotografiert hatte und Menschen auf der Straße ihr nachgafften, sich gegenseitig die Displays ihrer Mobiltelefone zeigten, sie auslachten.

Würde noch etwas im Internet auftauchen? Bei aller Furcht vor Bloßstellung gäbe es dann wenigsten einen Beweis für ihre Geschichte. Sie seufzte, löschte die Mail, ohne sich das Video anzusehen.

Karolin schaute auf die Uhr am Bildschirm – 08:36. Zeit sich ihr offenes Projekt anzusehen, die nächsten Schritte vorzubereiten. Sie ging zu ihrem Arbeitstisch. Alles war leergeräumt. Karolin runzelte die Stirn, schaute sich um, ging von Tisch zu Tisch. Am anderen Ende des Raumes fand sie die Handschrift. Auf Juttas Arbeitsplatz.

Karolin presste die Lippen zusammen. Ausgerechnet Jutta. Wenn wenigstens Sascha das alte Buch übernommen hätte. Was hatte sich Magister Lenhart bloß dabei gedacht? Jutta war eine Frau, die Schluderei zur Kunstform erhoben hatte. Weder in der Nationalbibliothek, noch in der Albertina hätte man Karolin ein Projekt weggenommen. Nicht bei absehbarer Abwesenheit. Aber in der Privatwirtschaft blieb keine Zeit ein Objekt zwischenzulagern. Zahlende Kunden waren zumeist ungeduldig.

Zurück an ihrem Schreibtisch sperrte sie die Lade mit den Hängeordnern auf, holte die Mappe mit der Dokumentation heraus. Bilder, Ausdrucke und ein USB-Stick. Schon wollte sie alles zu Juttas Computer hinübertragen, legte stattdessen den Ordner hin, schlug ihn auf. Am Deckblatt eine kurze Beschreibung des Objektes: Französisches Stundenbuch mit einem handschriftlichen Eintrag in Altfranzösisch, zugeschrieben Marguerite, Äbtissin von Notre-Dame de Faremoutiers; Holz mit blindgepresstem Schweinsleder, zwei Metallschließen. Handschrift mit farbigen Abbildungen; Einband gedoppelt mit Einschub, darin zwei Schriftstücke: ein Papyrus-Fragment, ein Brief auf Hadernpapier (beide in gesonderter Bearbeitung, Kennzahl XXVII und XXVIII).

Der versteckte Papyrus hatte sie überrascht. War er ein Ausschnitt aus einer der der verbotenen Schriftrollen des Frühchristentums? Spekulationen waren in ihrem Beruf aber nicht zulässig. Sie hatte alles fotografiert und den Papyrus dann zu einem Gutachter nach Deutschland geschickt, eine Expertise angefordert. Ein übliches Verfahren. Karolin schloss die Aktenmappe und hängte den Ordner in die Schublade. Jutta hatte ihr eigenes System der Dokumentation. Sie brauchte Karolins Unterlagen nicht.

In der Datenbank klickte sie auf die Kennzahl für das Stundenbuch, überflog den Eintrag: kein Verweis auf den Papyrus oder den Brief war eingetragen. Eben schludrig, dachte Karolin. Sie holte die Konservierungsmappe mit dem Etikett XXVIII aus dem Schrank, zog Baumwollhandschuhe über, öffnete den Deckel. Das Seidenpapier raschelte, während sie es zur Seite schlug. Sie hob den Brief heraus. Geschrieben in schwungvoller, gleichmäßiger Handschrift – und in Hast. Darauf wiesen kleine Tintenkleckse hin:

La saint mair-

Qu'acabi d'encontrar lo ton pair.

Unser, lo vente void, lo hilh que's deishèc càser sus ua soca en tot

espiar pèr la frenèsta los ausèths qui volavan leugèrament ...