Crethrens - Verloren in der Eiswüste - Niklas Quast - E-Book

Crethrens - Verloren in der Eiswüste E-Book

Niklas Quast

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Beschreibung

Der jugendliche Oskar findet sich inmitten einer gigantischen Eiswüste mit neunzehn anderen Jugendlichen wieder. Schon bald erkennen alle, dass sie sich in einem perfiden Test befinden, bei dem es nicht nur um das blanke Überleben geht...

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Zum BUCH

Der jugendliche Oskar findet sich inmitten einer gigantischen Eiswüste mit neunzehn anderen Jugendlichen wieder. Schon bald erkennen alle, dass sie sich in einem perfiden Test befinden, bei dem es nicht nur um das blanke Überleben geht…

Zum AUTOR

Niklas Quast wurde am 7.3.2000 in Hamburg-Harburg geboren und wuchs im dörflichen Umland auf. Nachdem er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann absolvierte, arbeitet er nun in einem Familienbetrieb und widmet sich nebenbei dem Schreiben.

Inhaltsverzeichnis

Verloren im Eis

Auf der Suche

Pfeil und Bogen

Nachtwache

Feingefühl

Zusammen sind wir stark

Tief in der Höhle

Hoffnung auf Leben

Die Todespassage

Aufopferung

Verloren im Eis

Oskar schlug die Augen auf. Um ihn herum war es hell und es herrschte eine Eiseskälte. Er kniff die Augen wieder zusammen und drehte sich um, versuchte, mit seinen Blicken die Gegend zu erkunden. Ziemlich schnell war er sich sicher, dass er diesen Ort nicht kannte. Er wusste nicht, wo er war, und es fiel ihm schwer, sich zu orientieren, da es in der Ferne nichts gab, was sich von der tristen Umgebung abhob. Eis, überall, die Kälte fraß sich augenblicklich in seinen Körper und hinterließ ein lähmendes Gefühl. Er drehte seinen Kopf in die andere Richtung, und erkannte dort Eisberge, deren Spitzen bis in den tiefblauen Himmel ragten. Direkt davor hatte sich eine Gruppe Jugendlicher versammelt. Der Großteil von ihnen saß in einem Kreis, einige andere hingegen schliefen noch. Der Wind war eiskalt, und Oskar war froh, dass er mit einer dicken Winterjacke, Handschuhen und dicken Schuhen ausgestattet war. Einen Augenblick noch ließ er die Umgebung auf sich wirken, danach stand er auf und begab sich langsam zu der Gruppe. Unter starren Blicken wurde er empfangen, die meisten wirkten still, nur wenige sprachen miteinander. Sie saßen um ein Feuer herum und wärmten sich auf. Ein Junge, der ihn schon seit er aufgestanden war beobachtet hatte und ziemlich groß war, sagte:

»Hey. Setz dich doch zu uns.«

Er wies auf einen Platz direkt neben sich. Oskar zögerte kurz, setzte sich dann aber doch in Bewegung und nahm Platz. Die Wärme des Feuers tat gut, er zog seine Handschuhe aus und legte sie beiseite um seine Hände an der warmen Flamme etwas zu wärmen.

»Mein Name ist Fynn. Wir sind hier insgesamt zwanzig, zehn Jungen und zehn Mädchen. Du wirst sie alle noch mit der Zeit kennenlernen, aber zunächst gibt es etwas wichtigeres.«

Er zögerte kurz und Oskar nutzte diesen Moment und fragte ihn: »Was denn? Wo sind wir hier überhaupt?«

Er blickte in die Menge, sah ein Gesicht nach dem anderen genau an. Doch keines gab ihm irgendeinen Hinweis auf die Situation, in der er steckte. Sie waren alle starr und ihre Blicke leer.

Es dauerte etwas, bis Fynn ihm antwortete und ihn mit seinen Worten wieder in die Realität holte.

»Das wissen wir alle nicht. Jonas war der erste, der aufgewacht ist, und hat vor der Feuerstelle diesen Brief gefunden. Lies ihn dir mal durch.«

Er kramte ein abgenutztes Blatt Papier hervor und reichte es Oskar. Zögernd nahm dieser es entgegen, klappte es auf und las den Text, der dort geschrieben stand.

Jugendliche.

Herzlich Willkommen. Ihr befindet euch in einer Eiswüste und seid weit entfernt vom sicheren Ufer. Von eurer Rettung, die aber nur vorerst eine solche sein wird. Dies ist Phase eins von drei. Habt ihr diese Aufgaben gemeistert, seid ihr bereit für das große Ganze.

Oskar ließ die rätselhaften Worte auf sich wirken und las den Brief erneut. Aufgaben. Phase eins von drei. Was hatte das alles zu bedeuten? Er wusste es nicht, verspürte aber den Drang, es unbedingt in Erfahrung bringen zu wollen.

»Hey.«

Er hörte eine Stimme in seinem Rücken, woraufhin er sich umdrehte. Ein Mädchen mit blondem, langem Haar stand dort und lächelte ihn an. Ihre saphirblauen Augen glänzten im hellen Sonnenlicht. Oskar fühlte sich sofort wohl in ihrer Gegenwart und spürte, wie sich in seinem Inneren eine leichte Wärme ausbreitete.

»Mein Name ist Cassandra, du kannst mich aber auch Cassie nennen.«

»Ich bin Oskar«, sagte er und versuchte, zurückzulächeln. In diesem Moment schwirrten jedoch so viele Gedanken durch seinen Kopf, dass er bemerkte, dass ihm dies misslang. Er hoffte jedoch, irgendwie einen freundlichen Blick hinbekommen zu haben.

»Freut mich, Oskar. Wie geht es dir?«

Er fand ihre Frage in Anblick der aktuellen Situation etwas unpassend, ließ sich jedoch nichts anmerken.

»Hm. Nicht besonders gut, ich bin wohl zu verwirrt, und ich kann mir keine Antwort auf die Frage geben, was hier überhaupt los ist.«

»Das Gefühl hatte ich auch eben. Ich weiß nicht, was ich hier soll, und es ist alles so… anders. Ich habe auch schon mit einigen gesprochen, sie haben alle keine Ahnung, warum wir hier sind. Fast alle waren auch relativ offen und gesprächig.«

»Fast alle?«, fragte Oskar.

»Ja. Es gibt da so einen Jungen namens Ian, er war verschlossen und hat noch kein Wort gesagt. Aber ich will ihm das auch nicht übelnehmen, vielleicht ist es auch einfach zu viel für ihn, was ja auch nicht weiter verwunderlich wäre.«

Sie zeigte auf einen Jungen, der etwas abseits des Feuers saß.

Er wirkte in sich gekehrt und irgendwie apathisch. Er hatte kurze, schwarze Haare, mehr konnte Oskar aus der Ferne nicht erkennen.

»Da hast du recht. Manche reagieren auf die Situation einfach anders.«

»Genau. Allerdings gibt es auch noch jemanden, der nicht bloß nichts sagt, sondern sich gefühlt gegen alles auflehnt was gesagt wird. Er heißt Dave.«

Sie rollte mit den Augen.

»Dort hinten, da ist er.«

Sie zeigte auf einen mittelgroßen Jungen, der am Feuer direkt neben Fynn saß.

»Er beschwert sich über so ziemlich alles und hat auch schon seine erste Verbündete gefunden.«

Cassie zeigte auf ein Mädchen direkt neben ihm. Sie hatte kurze, dunkelblonde Haare, eine hagere Statur, war ziemlich groß und machte einen unsicheren Eindruck.

»Inwiefern verbündet?«, fragte Oskar.

»Die beiden wollen wohl irgendwie alleine losziehen, keine Ahnung. Sollen sie halt machen, ist mir ziemlich egal.«

Plötzlich hörte Oskar ein lautes Rauschen, das alle sonstigen Gespräche übertönte. Es schmerzte ihm in den Ohren, sein Trommelfell schien zu explodieren. Er blickte nach oben, und sah dort einen Jet am Himmel fliegen. Eine Klappe öffnete sich, ein Paket flog hinaus und fiel auf den Boden, etwas abseits der Feuerstelle. Fynn, Cassie, Oskar und die anderen begaben sich direkt zu der Box. An ihr klebte ein Zettel, auf dem „NAHRUNG“ geschrieben stand. Fynn öffnete das Paket und kippte den Inhalt auf den Boden. Oben drauf lag ein zusammengefalteter Zettel, der genauso aussah wie der Brief, den er zuvor am Feuer gelesen hatte. Fynn nahm ihn, öffnete den Umschlag und las:

»Hier ist die Nahrungsversorgung für euch, es sollte bis heute Abend reichen, denn dann werdet ihr euren Schlafplatz erreichen. Mit diesem Paket senden wir euch auch die erste Aufgabe, die wie folgt lautet: Erreicht das Eisloch, ihr müsst dazu nur dem Weg folgen. Dort angekommen werdet ihr weitere Anweisungen erhalten.«

Oskar wartete darauf, dass Fynn noch weitersprach. Das passierte jedoch nicht, der Brief war beendet.

»Klingt interessant«, meldete sich ein Junge zu Wort.

Er kam direkt auf Oskar zu und trug ein sympathisches Lächeln im Gesicht.

»Mein Name ist Jonas. Und deiner?«

»Ich bin Oskar.«

Auch Jonas wirkte auf Oskar direkt sympathisch. Er hatte kurze, hochgestylte dunkelblonde Haare.

»Du hast vorhin also den Brief gefunden?«

Jonas nickte und zwinkerte einem Mädchen zu, welches sich daraufhin zu ihm gesellte.

»Ich bin Nora.«

Sie lächelte Jonas an, und Oskar merkte direkt, dass die beiden sich bereits vertraut waren. Nora sah Cassie ähnlich, sie hatte ebenfalls blonde Haare, nur nicht ganz so lang. Außerdem hatte sie haselnussbraune Augen, und wenn sie lächelte, sah man ihre weißen Zähne.

»Wir waren eben etwas abseits vom Feuer, wir hatten einfach keine Lust, uns in das Getümmel zu stürzen.«

Nora lächelte.

»Kommt doch mit zu unserer alten Stelle. Dort können wir noch ein bisschen plaudern.«

Nora blickte abwechselnd in die Gesichter von Oskar und Cassie und wartete eine Antwort ab.

»Gute Idee«, meinte Cassie.

»Warum nicht? Aber lasst uns vorher etwas aus der Kiste herausnehmen, ich habe wirklich Hunger«, entgegnete Oskar.

Sie gingen zu besagter Kiste, an der sich mittlerweile fast alle anderen versammelt hatten. Es fehlte einzig und alleine Ian, der seinen Platz nicht verlassen hatte und weiterhin reglos in der Gegend herumblickte. Oskar wartete, bis der Großteil sich auf dem Eis verteilt hatte und ging danach näher zu der Kiste und beäugte deren Inhalt.

Er sah noch fünf Äpfel und fünf Wasserflaschen. Oskar, Jonas, Cassie und Nora nahmen sich je ein Teil von beidem und entfernten sich dann von der Kiste und dem Rest der Gruppe. Oskar setzte sich auf den Boden, drehte den Deckel der Flasche auf, setzte sie sich an die Lippen und trank. Es war so kalt, dass seine Zähne schmerzten. Nach wenigen Sekunden hatte er sich jedoch daran gewöhnt, und als er fertig war, schraubte er den Deckel wieder drauf und drehte sich zu den anderen.

»Dann erzählt doch mal etwas über euch«, sagte Jonas.

Nora ergriff als erstes das Wort.

»Ich bin Nora Terrell, sechzehn Jahre alt und wohnte, bevor ich hierhergebracht wurde, in Glasgow, Schottland. Mehr kann ich euch nicht über mich erzählen, denn mehr weiß ich nicht. Meine Erinnerungen sind irgendwie... verschwunden.«

Sie blickte Jonas traurig an. Er übernahm das Wort.

»Mein Name ist Jonas Grant, ich bin siebzehn Jahre alt und komme aus der Nähe von New York.«

Er machte eine kurze Pause. Cassie nutzte diese und fragte ihn: »Kanntet ihr euch?«

»Nein. Wir haben uns heute zum ersten Mal gesehen.«

Nora blickte Jonas kurz an, er erwiderte ihren Blick.

»Ich bin mir da nicht ganz sicher«, meinte sie.

»Ich glaube, wir kennen uns. Du kommst mir irgendwie bekannt vor.«

»Wirklich?«, fragte Jonas und beäugte sie kritisch.

»Ja. Wirklich.«

»Vielleicht kommen uns ja irgendwann die Erinnerungen wieder. Auf jeden Fall… mein Name ist Cassandra Doyle, ihr könnt mich aber auch Cassie nennen. Ich bin ebenfalls sechzehn Jahre alt und wohnte in…«

Sie machte eine kurze Pause, überlegte.

»In?«, hakte Jonas nach.

»Los Angeles, glaube ich zumindest.«

»Okay, dann gibt es da schonmal keinen Zusammenhang.«

Jonas klang enttäuscht, Oskar konnte das nachvollziehen. Er fühlte sich ebenfalls so, hatte er in den letzten Minuten das Gefühl gehabt, der ganzen Sache zumindest einen Tick näher gekommen zu sein.

»Und du?«, fragte er im nächsten Moment und blickte Oskar an.

»Ich weiß es gerade nicht genau. Gib mir bitte einen Moment Zeit.«

Oskar überlegte. Vor seinem inneren Auge sah er die Stadt, das Weiße Haus...

»Washington«, sagte er.

»Irgendwo in der Nähe von Washington.«

Einen Moment herrschte Schweigen, bis Jonas das Wort ergriff: »Was haltet ihr von den anderen?«, fragte er.

»Nun«, sagte Cassie.

»Ich habe zwar noch nicht viel mitbekommen, aber soweit ich weiß hat Fynn das Sagen übernommen. Das finde ich aber auch gut, so haben wir immerhin jemanden, der dafür sorgt, dass dieses Chaos hier etwas geordneter verläuft. Dann wären da noch Dave und... Ruby? Ja, ich glaube, sie heißt Ruby. Ansonsten kann ich nicht viel sagen. Ihr seid mir sehr sympathisch, ich hoffe, wir bleiben als Gruppe zusammen und lernen uns noch etwas besser kennen.«

Sie lächelte und sprach nach einem kurzen Moment weiter.

»Ian macht wie gesagt einen merkwürdigen Eindruck, ich habe keine Ahnung, ob er sich nur aus Unsicherheit vom Rest der Gruppe abkapselt, oder ob da vielleicht mehr hinter steckt. Ansonsten… ich muss die anderen noch besser kennenlernen, ich kann mir noch kein Bild von denen machen. Ich kenne die meisten Namen ja noch nicht einmal.«

»Die wirst du im Laufe der Zeit alle bestimmt noch kennenlernen«, meinte Jonas.

»Ich glaube auch. Ich bin gespannt, was unsere erste Aufgabe sein wird. Ich kann mir vorstellen, dass sie in direktem Zusammenhang mit diesem Eisloch steht. Na ja, wir werden ja sehen.

Wir sollten uns auf jeden Fall schonmal zu den anderen begeben, sie gehen jetzt los.«

Cassie zeigte auf die Gruppe, die sich unter der Führung von Fynn schon in Bewegung gesetzt hatte. Dave und Ruby hielten sich etwas entfernt von ihnen, Ian folgte ein paar Meter später.

Er hatte seinen Kopf gesenkt, blickte den Boden unter seinen Füßen an. Oskar, Cassie, Jonas und Nora waren nur wenige Meter von ihm entfernt, aber außer Hörweite. Cassie beugte sich zu Oskar herüber und flüsterte:

»Meinst du, wir sollten ihm etwas Gesellschaft leisten? Er hat sonst niemanden, wie es scheint.«

»Ich weiß es nicht. Lass uns bitte noch etwas abwarten.«, antwortete Oskar.

So langsam lichtete sich das Chaos in seinem Kopf und er begann, sich an den Ort und die Menschen zu gewöhnen. Schon verrückt, dachte er. Ich bin doch vor zehn Minuten erst aufgewacht.

»Ich glaube, das wäre keine so gute Idee.«

Jonas holte ihn wieder in die Realität zurück.

»Wir wissen nicht, wie er tickt.«

Der Weg führte sie durch eine atemberaubende Eislandschaft.

Die Spitzen der Eisberge ragten aus Löchern im Boden heraus, teilweise fünfzig Meter hoch in den blauen Himmel. Oskar nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die er mittlerweile schon zur Hälfte geleert hatte.

»Kannst du mir noch etwas zu trinken geben?«, fragte Cassie.

»Meine ist schon leer.«

Oskar reichte ihr die Flasche, sie trank einen kleinen Schluck und gab sie ihm dann wieder zurück.

»Danke«, sagte sie und lächelte.

Oskar erwiderte ihr Lächeln und fühlte sich mit jeder weiteren Sekunde wohler in ihrer Gegenwart.

»Ich bin gespannt, was gleich passieren wird, muss aber auch zugeben, dass ich etwas Angst habe. So wie es aussieht, haben wir das Eisloch bald erreicht.«

Sie deutete auf den Rest der Gruppe, die von Fynn angeführt wurde. Etwa hundert Meter weiter standen sie in einem Kreis um ein großes Loch im Boden herum. Das ist das Eisloch, dachte Oskar, und er spürte, wie ihm mulmig wurde. Fynn wartete, bis sie angekommen waren und ihm einen Blick schenkten. Oskar entdeckte einen Umschlag in seiner Hand, der mit Aufgabe eins beschriftet war. Er öffnete diesen, holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor, klappte es auf, und las: »Nun habt ihr euer erstes Ziel erreicht. Hier habt ihr jetzt eure erste Aufgabe vor euch, und die lautet wie folgt: Zwei von euch, die von uns bestimmt wurden, müssen gegeneinander antreten.

Durchtaucht das Eisloch, unten werdet ihr eine Höhle finden, in der eine Plastikbox steht. Wer sie von euch zuerst erreicht und damit zur Oberfläche zurückschwimmt, überlebt. Der oder die andere stirbt.«

Fynn machte eine kurze Pause, es schien, als überlege er. Oskar konnte nicht fassen, was er gerade gehört hatte, doch je länger er darüber nachdachte, desto weniger überraschte es ihn. Diejenigen, die sie hierhergebracht hatten, konnten nur böse Absichten haben, das wurde ihm nach und nach klarer. Einen Moment später las Fynn weiter, und Oskar versuchte, sich wieder auf das zu konzentrieren, was er sagte.

»Die Auslosung wurde wie folgt getroffen: gegeneinander antreten werden Oskar und Lucy.

Oskar hörte die Worte, die Fynn vorlas, doch er begriff sie nicht wirklich. Sein Name war genannt worden, er musste zum ersten Duell antreten. War es bereits sein letztes? Würde er vielleicht in wenigen Minuten schon tot sein? Daran darf ich jetzt nicht denken, dachte er. So hart das auch klingt.

»Oskar? Lucy?«, fragte Fynn.

Cassie hielt seinen Ärmel fest.

»Du darfst nicht gehen.«

Sie sah ihn an, und er erkannte in ihren Augen blanke Angst. Er wollte nicht von ihr weg, sah jedoch, wie im Hintergrund ein Mädchen aus der Menge trat. Sie hatte in etwa dieselbe Statur wie Ruby. Dave beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Danach klopfte er ihr aufmunternd auf die Schulter, und auch Ruby, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, wünschte ihr Glück. Also hat er noch eine Verbündete gefunden, dachte Oskar. Das ist nicht gut. Dave trat nun näher auf ihn zu und stand ein paar Sekunden später direkt vor Oskar.

»Du bist also Oskar.«

Daves Blick gefiel ihm nicht. Er wirkte in gewisser Weise wütend und verachtend. Wir haben zuvor noch nicht miteinander gesprochen. Wie kann er schon Hass gegen mich empfinden? Dave verschwand wieder, ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben. Cassie drehte sich zu ihm und blickte ihm hinterher.

»Lass dich von ihm nicht verunsichern. Oskar. Bitte... schaff es.

Bleib am Leben.«

Oskar zwang sich ein Lächeln auf, obwohl sich alles in seinem Körper dagegen sträubte.

»Ich werde alles versuchen.«

Jonas kam nun auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter.

»Du schaffst das schon. Ich glaube an dich.«

Oskar quetschte sich durch die Menge nach vorne, nachdem er Cassie noch einen letzten Blick zugeworfen hatte. Lucy stand bereits neben Fynn. Sie war im Gesicht ziemlich blass und zitterte. Oskar nahm seinen Platz neben Fynn ein und wartete, bis die Gespräche der anderen verstummt waren.

»Ich wünsche euch viel Glück.«

Oskar dachte einen Moment zu lange nach, was Lucy direkt nutzte. Sie sprang in das eiskalte Wasser und tauchte unter. So schnell er konnte, legte Oskar den Großteil seiner Klamotten ab, holte tief Luft und sprang danach ebenfalls ohne weiter zu zögern. Es war viel kälter, als er erwartet hatte, schon nach wenigen Sekunden waren seine Hände und Füße taub. Durchhalten!, spornte er sich selbst an. Lucy schwamm nur wenige Meter vor ihm, es schien aber so, als ob sie ihr Tempo nicht halten konnte.

Wenige Sekunden später bewahrheitete sich das auch, Oskar konnte sie nun einholen und hatte sein Ziel, die Höhle, fest im Visier. Es dauerte nicht mehr lange, aber mit jedem weiteren Moment fühlte er sich zunehmend schwächer. Er wusste, dass er seine Luft nicht mehr lange anhalten konnte. Vielleicht reicht es ja, dachte er. Bitte. Er legte nochmals an Tempo zu, Lucy konnte nicht mehr mit ihm mithalten. Obwohl Oskar sie nicht kannte, plagte ihn jetzt schon ein schlechtes Gewissen. Warum, zur Hölle, müssen wir uns überhaupt in so einer Situation befinden? Was hat das Ganze zu bedeuten? Er wusste es nicht, und das machte ihn wütend. Nun hatte er den Eingang der Höhle erreicht, ein schwacher Lichtschein drang aus dem Innerem zu ihm hervor. Von der angesprochenen Box war noch nichts zu sehen, weshalb er nochmals an Tempo zulegte. Er drehte kurz seinen Kopf, hielt Ausschau nach Lucy, doch sie hatte noch nicht einmal die Höhle erreicht. Hat sie schon aufgegeben? Oder... Beim nächsten Gedankengang wurde ihm ganz anders.

Was, wenn sie bereits... Sein Gedanke sollte sich nicht bestätigen, er konnte ihn noch nicht einmal zu Ende denken. Die Kontur ihres Körpers erschien am Eingang der Höhle und er drehte sich wieder um. Er blickte nach vorne, und im Lichtschein einer Lampe, die an der Decke angebracht war, sah er die Plastikbox.

Oskar schnappte sich selbige und legte den Rückweg ein. Dieser gestaltete sich viel schwerer als der Hinweg, er konnte nur noch mit einem Arm schwimmen und spürte, wie ihn das Gewicht der Box lähmte. Raus hier. Nur... Luft. Luft!, dachte er.

Er musste seine Lunge dringend mit frischer Luft füllen, er musste atmen. Lange gehts nicht mehr gut... Nun schwamm er so schnell er konnte, legte all seine Kraft in seine Arme und wechselte immer wieder die Hand, mit der er die Kiste trug. Am Eingang der Höhle trieb Lucy im Wasser, sie schien auf ihn zu warten. Was hat sie vor?, fragte er sich. Er schwamm direkt auf sie zu, sie streckte ihre Arme aus und griff nach der Kiste. Oskar musste sich irgendwie wehren, er wollte ihr auf keinen Fall die Möglichkeit geben, ihm die Kiste zu entreißen, denn das würde mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Todesurteil bedeuten. Andererseits... Konnte er sie töten? Denn wenn er ihr die Kiste nicht gab, würde er sie wohl oder übel töten. Seine Luft wurde sehr knapp, er hatte nun wirklich nicht mehr viel Zeit zu überlegen, nur noch wenige Sekunden. Er versuchte, im Wasser nach Lucy zu treten, sie von sich abzuschütteln, und als er seinen Fuß ausstreckte und sie am Kopf traf, ging sie zu Boden. Ohne nachzudenken, schwamm er in großen Zügen dem Loch entgegen, aus dem das Sonnenlicht oberhalb der Wasseroberfläche bereits zu ihm durchdrang. Im letzten Moment erreichte er die Öffnung, wuchtete die Kiste heraus und kletterte aus dem Loch heraus.

Er schnappte nach Luft, hustete, keuchte, und spuckte eine Ladung Wasser aus, die ihm in den Mund gedrungen war. Er wusste nicht, was er tun sollte, blickte sich um, und sah Cassie auf sich zukommen. Sie reichte ihm ein Handtuch, er blickte sie verwirrt an und fragte:

»Wo hast du das her?«

»Eben kam der Jet wieder vorbei und hat eine weitere Kiste abgeworfen. Es sind auch neue Klamotten für dich drin.«

Oskar warf einen Blick in die Kiste. Das Handtuch fühlte sich sehr angenehm an, es war aufgeheizt und wärmte seinen ausgekühlten Körper. Er zitterte bald schon nicht mehr, die Wärme fuhr tief in seine Glieder und brachte ihm nach und nach all seine Kräfte zurück. In der Kiste lagen, feinsäuberlich gestapelt, dieselben Klamotten, die er auch zuvor getragen hatte. Er warf einen Blick auf das Eisloch, doch von Lucy war nichts zu sehen.

Habe ich sie wirklich getötet? Habe ich ihr vielleicht mit meinem Tritt das Genick gebrochen? Er fühlte sich schlecht, sein Magen drehte sich um. Würde sie ohne mich noch leben? Nein.

Es konnte nur einer lebendig aus dem Eisloch herauskommen, das hatten die Leute, die sie hierhergebracht hatten, geschrieben. Was hätten sie gemacht, wenn wir beide… Sie hätten zweifellos einen ermordet, mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Er legte das Handtuch auf den Boden und zog sich an, während Jonas und Nora auf ihn zukamen. Cassie, die noch immer hinter ihm stand, umarmte ihn, Jonas klopfte ihm erneut auf die Schulter, und auch Nora nahm ihn in die Arme. Sie wirkten trotz der Herzlichkeit ihm gegenüber relativ verhalten. Oskar konnte es ihnen nicht verübeln – er fühlte sich selbst nicht gut mit der Tatsache, dass er, zumindest indirekt, die Schuld am Tod eines Gruppenmitglieds hatte. Nachdem er sich wieder aus der Umarmung gelöst hatte, fragte er:

»Was war in der Kiste drin?«

»Unter anderem eine Karte, die zeigt, wie wir unseren heutigen Schlafplatz erreichen. Außerdem noch ein Brief und etwas zu trinken, Wasser, wie beim letzten Mal. Mehr nicht.«

Fynn kam auf die vier zu, in seiner rechten Hand hielt er den Brief.

»Du hast es geschafft.«

Er rang sich ein Lächeln ab, es wirkte aber irgendwie aufgesetzt.

»Nicht alle stehen jedoch auf deiner Seite. Vor allem Dave und Ruby haben es auf dich abgesehen.«

»Was hätte ich machen sollen? Hätte ich für sie sterben sollen?«

»Dave meinte, dass du ja irgendetwas getan haben musst, weil sie die Wasseroberfläche nicht erreicht hat. Er vermutet sogar, dass du sie umgebracht hast. Absichtlich.«

Oskar spürte einen Kloß der Größe eines Felsbrockens in seinem Hals, er musste schlucken und konnte dann erst mit Mühe weitersprechen.

»Ich halte mich einfach von beiden fern. Aber danke für die Info.«

Zwei weitere Jungen und ein Mädchen kamen hinter Fynn an.

Sie setzten sich auf den kalten Boden, auf dem auch Oskar mittlerweile Platz genommen hatte. Einer der Jungen hatte kurze, blonde Haare und trug eine Sonnenbrille. Er war ungefähr so groß wie Oskar, der andere war etwas kleiner, er hatte längere Haare, die ihm über die Stirn hingen. Das Mädchen hatte kurze, rote Haare, Sommersprossen, und ein hübsches Gesicht.

»Glückwunsch«, sagte der mit der Sonnenbrille.

»Mein Name ist übrigens Tim. Das sind Matthew und Sophia.«

Er zeigte zunächst auf den anderen Jungen und dann auf das Mädchen. Die beiden nickten, sagten jedoch kein Wort, weshalb Tim weitersprach:

»Habt ihr den Brief schon gelesen?«, fragte er und wedelte mit einem zusammengefaltetem Blatt Papier in der Hand herum.

»Nein«, sagte Cassie.

»Zeig mal.«

Sie streckte ihre Hand aus, doch Tim behielt den Brief bei sich.

»Moment. Ich lese vor.«

Cassie zog ihre Hand zurück, Tim klappte den Brief auf und las den Text, der dort geschrieben stand.

»Die erste Challenge hat also Oskar gewonnen, Gratulation, auch wenn er sich etwas unfair durchgesetzt hat.«

Tim hielt kurz inne, hob seinen Blick und sah Oskar genau in die Augen. Er brauchte nichts sagen, Oskar wusste sofort, was er wollte, wartete dennoch ab, bis Tim ihn fragte.

»Was hast du gemacht?«

Oskar wollte ihm die Wahrheit sagen, doch er konnte nicht, er fühlte sich mit jeder weiteren Sekunde immer schlechter. Tims Blick durchbohrte ihn, er versuchte, seine Nervosität zurückzuhalten, schaffte dies jedoch nur gerade so.

»Ich habe die Aufgabe erfüllt, so wie es dort geschrieben stand.

Wenn das unfair war…«, antwortete er.

Mehr sagte er nicht, das brauchte er auch nicht, denn Tim las weiter.

»Wie dem auch sei, er hat gewonnen, und Lucy musste sterben.

Heute steht euch noch eine weitere Aufgabe bevor, allerdings erst später, kurz bevor ihr euren Schlafplatz erreichen werdet.

Folgt einfach dem, was auf der Karte geschrieben steht, und ihr werdet heute Abend ohne Probleme das Lager erreichen.«

Der Brief war zu Ende, Tim nahm das Blatt herunter und legte es zusammengefaltet wieder auf den Boden. Ein plötzlich aufkommender Wind trug es mit sich, jedoch konnte Fynn, der am Schnellsten von allen war, es aufhalten. Er steckte es in seine Jackentasche, setzte sich auf das Eis und sagte:

»Wie ich schon sagte, du musst dich auf alle Fälle von Dave und Ruby fernhalten. Er hat es auf dich abgesehen, und ich glaube, dass er dich sogar töten würde, wenn er die Möglichkeit dazu bekommen würde. Er hasst dich. Aber…«

Er zögerte, sagte dann:

»Ich stehe auf deiner Seite.«

»Wir auch«, sagte Tim, woraufhin Matthew und Sophia nickten.

»Bei uns weißt du es ja schon«, meinte Jonas und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Wir stehen hinter dir.«

Cassie lächelte ihn nur an, Oskar deutete dies als Zeichen der Zustimmung.

»Danke für eure Unterstützung«, sagte er dann.

»Ich glaube, ich werde sie brauchen.«

Fynn stand nun auf und sagte:

»Wir müssen langsam weiter, damit wir bis heute Abend den Schlafplatz erreicht haben. Seid ihr bereit?«

Oskar nickte, blickte die anderen an, und sagte dann: »Ja. Wir können los.«

Sie standen auf und folgten Fynn zum Rest der Gruppe. Oskar versuchte, den Blickkontakt mit Dave zu vermeiden, doch es gelang ihm nicht. Wenn Blicke töten könnten…, dachte er. Ruby schaute ihn ebenfalls ziemlich abschätzig an, und er wünschte sich in diesem Moment, dass die beiden sich einfach in Luft auflösen und verschwinden würden. Allerdings wusste er auch, dass dieser Wunsch ihm wohl kaum erfüllt werden würde, weshalb er versuchte, mit der Situation klarzukommen. Die Gruppe setzte sich langsam in Bewegung, und als Oskar seinen Blick hob, merkte er, dass Ian genau auf ihn zu ging.

»Hey«, sagte er.

»Gratulation, Oskar. Du hast es den beiden gezeigt. Ich bin übrigens Ian.«

Oskar blickte ihn direkt an. Seine kurzen, schwarzen Haare hingen ihm im Gesicht und klebten an seiner Stirn.

»Wem soll ich was gezeigt haben?«, fragte er.

»Na Dave und Ruby. Die beiden, die sich gemeinsam mit Lucy komplett vom Rest der Gruppe fernhalten wollten.«

»Man kann es ihnen nicht verübeln«, gab Oskar zurück.

»Es ist eine extrem stressige Situation, und jeder nimmt das ganze anders auf.«

»Nun«, meinte Ian.

»Ich für meinen Teil musste mich auch erstmal an das Ganze gewöhnen. Das fiel mir nicht gerade leicht, aber mittlerweile habe ich mich zumindest ein bisschen mit der Situation abgefunden. Und… ich möchte auf eure Seite. Natürlich nur, wenn das okay für euch ist.«

Cassie, die mittlerweile neben Oskar stand, sagte: »Klar. Je weniger sich dem Feind anschließen, desto besser.«

»Bezeichnest du sie schon als Feind?«, fragte Oskar verwirrt.

Cassie blickte ihn an, nur ein flüchtiger Blick, doch Oskar sah, dass sie es todernst meinte.

»Natürlich. Du hast doch gehört, was Fynn zu dir gesagt hat.«

Oskar wusste, dass sie recht hatte, wollte es aber nicht glauben.

Was hätte ich tun sollen?, fragte er sich noch einmal, doch er gab es auf. Er hätte es Dave nur recht machen können, wenn er Lucy die Kiste überlassen hätte, was wiederum sein Todesurteil bedeutet hätte. Du hast alles richtig gemacht, redete er sich ein, doch glauben konnte er es wieder nicht. Er schob den Gedanken beiseite und drehte sich wieder zu den anderen. Fynn leitete den Weg an der Spitze, dahinter gingen Dave und Ruby. Hinter ihnen folgten drei Jungen und fünf Mädchen, die er allesamt vom Namen her nicht kannte. Dahinter hielten sich Tim, Matthew und Sophia auf, hinter ihnen er, Ian, Cassie, Jonas und Nora.

Nun waren sie nur noch neunzehn, und der nächste Tod stand noch heute bevor, bei der nächsten Aufgabe, das konnte Oskar sich bereits denken. Der Gedanke daran, dass es dieses Mal vielleicht jemanden treffen könne, den er mochte, bereitete ihm Magenschmerzen. Er öffnete seine Wasserflasche, trank einen Schluck und bot Cassie etwas an.

»Nein, danke. Behalte du mal den Rest.«

»Ich brauche ihn aber nicht. Nimm schon.«

»Na gut.«

Cassie trank den letzten Schluck aus und Oskar warf die leere Flasche auf den Boden. Es war ihm egal, er machte sich keine Gedanken mehr über das, was er tat.

»Hast du dich mittlerweile erholt?«, fragte Cassie plötzlich.

»Erholt?«, fragte Oskar zurück.

»Na von dem kalten Wasser. War bestimmt nicht angenehm, oder?«

»Das Handtuch war angenehm beheizt. Ich denke, ich werde es überleben.«

»Zum Glück.«

Sie lächelte. Oskar lächelte zurück. Sie setzten sich wieder in Bewegung, die Landschaft zog an ihnen vorbei, doch Oskar glaubte nicht wirklich, dass sie vorankamen. Alles sah gleich aus, die Eisberge erstreckten sich in unregelmäßigen Abständen in den Himmel. Der Wind war schneidend kalt, doch durch seine dicke Winterjacke fror Oskar kaum, der Stoff hielt die Kälte zumindest etwas fern. Lediglich an seinen Fingerspitzen war ihm trotz der Handschuhe kalt. Die restliche Zeit sagte kaum jemand etwas, es gab aber ja auch nichts zu besprechen. Ab und an, vielleicht jede Stunde, machten sie eine kurze Pause an einem geeigneten Ort, gingen aber nach wenigen Minuten wieder weiter. Selbst während der Pausen herrschte größtenteils schweigen, doch kurz bevor sie von ihrer Pause aufbrachen, sagte Tim:

»Hey. Schaut mal.«

Er zeigte auf die Menge rund um Fynn. Oskar zählte die Jugendlichen und kam auf acht Jungen und acht Mädchen. Dave und Ruby waren nirgends zu sehen. Oskar blickte in alle möglichen Richtungen, doch er entdeckte sie nicht.

»Was ist denn?«, fragte Cassie.

»Dave und Ruby«, sagte Oskar nur.

»Sie sind verschwunden.«

In dem Moment, in dem er seinen Satz aussprach, kam Fynn auf ihn zu.

»Merkwürdig«, sagte er.

»Während der letzten Pause mussten sie sich auf den Weg gemacht haben.«

»Ist doch egal«, meinte Tim.

»Vermissen wird die keiner - zumindest ich nicht.«

»Ich auch nicht. Aber sie gehören genauso zur Gruppe wie du und alle anderen auch. Sie müssen auch die Aufgaben erfüllen, die wir zu erfüllen haben«, sagte Fynn »Was meinst du, sollten wir nach ihnen suchen?«, fragte Tim.

»Ach was«, murmelte Sophia.

»Lasst sie doch, sie hatten sicherlich ihre Gründe.«

»Das ist egal«, sagte Fynn.

»Sie müssen sich ihren Aufgaben stellen. Wenn sie bis heute Abend, wenn wir das Schlaflager erreicht haben, nicht bei uns sind, sollten ein paar von uns losziehen und sie suchen.«

»Das klingt gut«, meinte Tim.

»Ich bin dabei.«

»Lasst uns das dann zu gegebener Zeit klären, wenn es wirklich dazu kommen sollte. Aktuell sehe ich noch keine Gefahr.«

Sie setzten ihren Weg fort. Als Fynn sich wieder an die Spitze der Gruppe begeben hatte und außer Hörweite war, drehte Tim sich um und sagte: »Es war doch klar, oder? Ich meine das mit Dave und Ruby. «

»Aber warum sollten wir dann nach ihnen suchen?«, fragte Oskar.

»Sie haben sich dazu entschieden, sich von der Gruppe zu trennen. Aber das geht nicht. Verdammt, ich habe keine Ahnung, warum und aus welchem Zweck wir hier sind. Aber sie haben die Aufgaben genauso zu erfüllen wie wir auch.«

Er machte eine kurze Pause.

»Was denkst du würde passieren, wenn beim nächsten Duell irgendjemand gegen Dave oder Ruby antreten muss?«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, murmelte Oskar.

»Na also. Wir sollten sie auf alle Fälle suchen, bevor uns diese Frage beantwortet wird.«

Tim wandte sich ab und konzentrierte sich wieder auf den Weg, der vor ihnen lag. Oskar ließ sich das, was Tim gerade gesagt hatte, durch den Kopf gehen. Tim hatte Recht, das wusste er, aber er wollte es nicht wahrhaben. Stellten Dave und Ruby eine Gefahr für ihn dar? Ich sollte aufpassen, dachte er. Und nicht alleine losziehen. Mich nicht vom Rest der Gruppe entfernen...

Er schüttelte die Gedanken ab und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf etwas Wichtigeres. Auf den Weg.

Der Himmel war immer noch strahlend blau, er wurde von keiner einzigen Wolke gesäumt. Das Licht der Sonne war extrem grell, es brannte in den Augen. Er ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen. Zu seiner linken befanden sich Eisberge und Höhlen in einigem Abstand. Zu seiner rechten bloß freie Fläche, so weit sein Blick reichte. Sie können sich also nur in den Bergen versteckt haben…, dachte er. Woanders war ihnen kein Schutz geboten, man hätte sie noch viele Kilometer weit entfernt sehen können. Nein, dachte sich Oskar. Nein, nein, nein. Nicht daran denken. Nicht jetzt.

»Alles in Ordnung?«, fragte Cassie auf einmal.

Ihre Stimme holte ihn aus seinen Gedanken in die Realität zurück. Die Gruppe hatte ihren Weg kurz unterbrochen, viele sahen ihn an. Oskar blickte Cassie verwirrt an.

»Ja. Wieso?«

»Du hast eben ziemlich laut aufgeschrien. Hast du Schmerzen?«

Deswegen also die ganzen Blicke, dachte Oskar. Er fand die Situation furchtbar unangenehm und errötete.

»Nein, alles gut. Ich habe nur… nachgedacht.«

Ein Großteil der Gruppe wandte sich wieder ab und setzte ihren Weg fort. Oskar blieb mit Cassie, Jonas und Nora zurück.

»Ist wirklich alles okay? Du hast doch nicht bloß nachgedacht.

Du hast richtig laut geschrien… uns kannst du es erzählen«, meinte Cassie.

Jonas und Nora nickten, und Oskar überlegte, was er ihnen überhaupt sagen konnte.

»Ach es war nichts. Ich habe bloß einen Albtraum gehabt.«

»Worum ging es?«, fragte Cassie.

»Nicht so wichtig. Bloß um Dave und Ruby«, erwiderte er knapp.

Jonas lachte.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Fast die ganze Gruppe steht hinter dir.«

»Uns eingeschlossen«, ergänzte Nora.

»Ich danke euch für die Unterstützung. Wirklich.«

Oskar lächelte, die anderen erwiderten sein Lächeln. Der Rest der Gruppe hatte sich bereits abgesetzt, sie mussten an Tempo zulegen, um sie einzuholen. Fünf Minuten später stoppte Fynn an der Spitze. Er rief:

»Alle mal herkommen. Hier liegt wieder ein Umschlag. Es gibt eine neue Botschaft.«

Sie bildeten schnell einen Kreis um Fynn, der den Umschlag schon geöffnet hatte und den Zettel in der Hand hielt. Er las vor, laut und deutlich:

»Jugendliche. Aufgrund dessen, dass zwei von euch sich von der Gruppe entfernt haben, gibt es eine Planänderung.«

Fynn machte eine Pause, Oskar konnte nicht erwarten, dass er weitersprach.

»Somit steht nun schon Aufgabe zwei an. Ihr findet hinter den Eisbergen ein paar Waffen. Begebt euch dahin.«

Fynn steckte den Zettel in seine Jackentasche und ging in Richtung der Berge. Die anderen folgten ihm, und wenig später hatten sie einen kleinen Holzschuppen erreicht, direkt neben den Bergen. Fynn öffnete die Tür und trat ein. Oskar folgte ihm und ließ seinen Blick durch das Innere schweifen. Ein Waffenarsenal, alles von Gewehren über Karabiner bis hin zu Messern in großen und kleinen Ausführungen.

»Nehmt jeder eine Waffe, aber überlegt nicht zu lange. Ich habe das Gefühl, dass wir nicht allzu viel Zeit verschwenden sollten.«

Fynn machte eine kurze Pause und sagte dann:

»Setzt euch einmal, bitte.«

Die Gruppe setzte sich auf den harten Holzboden, während Fynn zu der mit Waffen bestückten Wand schritt. Er nahm ein Maschinengewehr hinunter und legte es vor sich auf den Boden.

»Das nehme ich«, sagte er.

Niemand widersprach. Er ging erneut zu der Wand, nahm sich einen großkalibrigen Revolver heraus und brachte ihn in den Kreis. Er legte ihn genau vor Oskar ab.

»Der ist für dich.«

Oskar hob seinen Blick, sah Fynn genau in die Augen.

»Was? Ich kann damit nicht einmal umgehen.«

»Ach was. Das ist gar nicht so schwer. Außerdem brauchst du eine Waffe, mit der du dich verteidigen kannst.«

Oskar widersprach ihm nicht, er sah ein, dass Fynn damit recht hatte. Erneut ging dieser zu der Wand, nahm eine kleine Pistole hinunter und gab sie einem Jungen, dessen Namen Oskar bisher noch nicht kannte.

»Hier, Louis.«

Louis nahm die Pistole entgegen und steckte sie sich in den Gürtel. Er war ein wenig kleiner als Oskar und hatte kurze, dunkelblonde Haare. Nun hingen noch zwei Revolver an der Wand.

»Wer braucht noch einen? Wer fühlt sich in der Lage, einen zu bedienen?«

Ein Mädchen hob die Hand, sie hatte langes, schwarzes Haar.

»Hier«, rief sie.

»Okay, Annie.«

Er gab ihr den Revolver, und fragte, wer den letzten haben wollte.

»Ich nehme ihn«, meinte Tim, als niemand die Hand hob.

»Okay. Du weißt, wie man damit umgeht?«, fragte Fynn.

»Ja. Ich kenne den Umgang mit den Revolvern, aber frag mich nur nicht, woher. Darauf könnte ich dir keine Antwort geben.«

»Kannst du mir zeigen, wie es geht? Nur sowas wie… eine kurze Einweisung?«, fragte Oskar.

Fynn drehte sich um, für einen Moment herrschte direkter Blickkontakt zwischen beiden. Doch bevor Fynn antworten konnte, kam Louis ihm zuvor: »Ich kann es dir zeigen. Der Umgang mit den Dingern ist mir sehr vertraut.«

Sein Lächeln wirkte ansteckend. Oskar grinste zurück.

»Okay, super.«

»Geht dazu am besten nach draußen, aber erst gleich. Der Brief war noch nicht zu Ende, er geht noch weiter. Ich lese den Rest jetzt vor«, sagte Fynn.

Es wurde schlagartig ruhiger im Raum, alle warteten darauf, dass er weiterlas.

»Dies war Aufgabe zwei, also kein direktes Duell. Das Duell findet heute Abend erst statt, vor dem Schlaflager. Ihr könnt somit jetzt euren Weg fortsetzen.«

Fynn legte das Blatt weg und sagte dann: »Ich verteile jetzt die restlichen Waffen. Ihr beide könnt schonmal rausgehen, schießen üben.«

»Super, dann bis gleich.«

Oskar und Louis verließen den Raum wieder durch die Tür und betraten das Eis. Ein schneidend kalter Wind wehte ihnen entgegen, Oskar spürte, wie sein Gesicht zu frieren begann.

»Lass uns hinter die Berge gehen und versuchen, irgendetwas ins Visier zu nehmen. Dadurch lernt man das Zielen und Schießen einfacher.«

Sie umrundeten den nächsten Eisberg und duckten sich hinter ihn. Louis stand wieder auf und blickte über die Kante des Vorsprunges. Nach ungefähr einer halben Minute duckte er sich wieder und sagte:

»Okay. Ich habe einen Punkt gefunden.«

Oskar stand auf und blickte in die Landschaft. Außer freier Fläche konnte er nichts erkennen, bis auf… einen Punkt, weit in der Ferne. Fast wie ein Haus.

»Was ist das?«, fragte Oskar.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ja unser Schlaflager oder so.«

»Das könnte sein. Aber meinst du ich sollte wirklich schießen?«

Louis lachte auf.

»Selbst wenn du das Ziel treffen solltest, würde nichts passieren. Es ist einfach viel zu weit weg.«

Oskar blickte durch das Visier. Er versuchte, den Revolver gerade zu halten, es gelang ihm aber nicht wirklich. Louis half ihm, er zeigte Oskar die richtige Stellung, und lenkte seine Hände in die richtige Richtung. Sein warmer Atem schlug ihm in den Nacken und Oskar spürte, wie er eine Gänsehaut bekam.

»Und jetzt musst du nur noch den Abzug betätigen.«

Oskar drehte sich um und blickte ihn direkt an.

»Und wie...«

»Es ist ganz einfach«, sagte Louis.

»Du musst nur ziehen.«

Oskar versuchte es, und kurz darauf erfüllte ein ohrenbetäubender Lärm die Luft. Außerdem war der Rückstoß, den der Schuss ausgelöst hatte, so stark, dass er den Halt verlor, ausrutschte, und auf den Boden fiel. Louis lachte auf und beugte sich dann zu ihm runter.

»Alles klar? Dein Sturz sah ziemlich witzig aus, aber ich hoffe, du hast dich nicht verletzt.«

Oskar grinste, stand auf, und klopfte sich den Schnee von der Hose.

»Ich muss ziemlich blöd ausgesehen haben.«

»Quatsch. Du warst gar nicht mal so schlecht. Versuchen wir es noch einmal. Besser gesagt du.«

Oskar schwankte zu dem Vorsprung, stützte sich etwas ab und hob seinen Revolver vom Boden auf. Er spürte einen leichten Schmerz in seiner Steißbeingegend, war sich jedoch sicher, dass dieser bald wieder vergehen würde.

»Jetzt nochmal dasselbe wie eben, nur mit etwas mehr Treffsicherheit.«

Oskar mochte Louis, ihm gefielen seine aufmunternden Worte und die Herangehensweise. Er blickte durch das Visier, zielte genauer, verharrte einen Moment, bereitete sich auf den Lärm und auf den Rückstoß vor und drückte dann erneut den Abzug.

Erneut kippte er leicht nach hinten, konnte sich aber dieses Mal auf den Beinen halten.

»Das war doch schon viel besser. Probiere es jetzt nochmal, und dann reicht das erstmal, denn wir sollten nicht zu viel Munition verschießen. Wer weiß, wozu wir sie noch brauchen werden.

Die Waffen stellen sie uns ja nicht umsonst zur Verfügung.«

Oskar drehte sich zu ihm um.

»Sie?«, fragte er.

»Ja, sie. Die, die uns hierhergebracht haben.«

»Ach so«, murmelte Oskar.

Er blickte erneut durch das Visier, zielte wieder auf den ominösen Punkt in der Ferne.

»Jetzt wirds was«, flüsterte Oskar.

Er wartete noch einen Augenblick ab, bereitete sich auf die Erschütterung vor, und betätigte den Abzug. Louis applaudierte, und sagte dann, als der Lärm vorbei war:

»Das war klasse, die Kugel ist im Schnee genau an der Stelle eingeschlagen, wo sie einschlagen sollte. Du scheinst ein Naturtalent zu sein.«

Er grinste.

»Lass uns nun wieder zu den anderen gehen. Ich denke, wir sollten unseren Weg fortsetzen.«

Oskar und Louis betraten wieder die Hütte, die anderen blickten sie an.

»Okay, seid ihr bereit? Können wir weiter?«, fragte Fynn.

Er klang ungeduldig.

»Ja. Er kann nun die Grundlagen«, sagte Louis.

Oskar suchte Cassie, Jonas und Nora und fand sie etwas abseits der anderen.

»Was habt ihr für Waffen?«, fragte er.

»Nur so ein kleines Taschenmesser«, sagte Jonas.

»Und du?«

Er blickte Cassie an.

»Auch. Es gab kaum noch andere.«

Tim kam mit Matthew und Sophia. Seinen Revolver hatte er in der Hand, die Mündung war auf den Boden gerichtet. Matthew und Sophia trugen ebenfalls Taschenmesser bei sich, es waren alle dieselben.

»Und? Ich habe gehört, du kannst jetzt schießen?«

Tim lachte.

»Ja, es war gar nicht so schwer, wie ich gedacht hatte.«

»Vielleicht liegt es ja auch am guten Trainer«, sagte Louis, der nun mitten auf die Gruppe zukam. Er trug ein breites Grinsen im Gesicht.

»Eigenlob stinkt«, murmelte Sophia kaum hörbar.

»Ach was«, meinte Louis und grinste noch breiter.

Fynn öffnete die Tür, und ein Teil der Gruppe trat bereits nach draußen.

»Es geht los«, sagte Oskar.

»Wir sollten den Anschluss nicht verlieren.«

Auf der Suche

Der Rest der Gruppe rund um ihn trat ebenfalls hinaus ins Freie.

Oskar hielt seinen Revolver fest in der Hand, während er den aderen folgte. Louis hatte recht gehabt, der Punkt, auf den sie in der Ferne gezielt hatten, musste ihr Schlaflager gewesen sein, denn der Weg führte sie in ebendiese Richtung. Fynn leitete sie genau in diese Richtung. Er war noch ziemlich weit, die Wanderung war aber nicht anstrengend, sondern eher langweilig. Es ging immer nur geradeaus und die Landschaft veränderte sich nicht.

»Denkt ihr, das hier ist echt?«, fragte Tim.

»Wie meinst du das?«

»Vielleicht ist das ja gar nicht die Natur hier. Vielleicht sind wir ja in einem bestimmten Gebiet, welches extra für uns entworfen wurde«, meinte Tim.

»Das ist nur eine Vermutung«, murmelte Jonas.

»Ja. Aber es ist ja immerhin möglich, oder?«

»Möglich ist alles«, murmelte Nora.

»Ich würde denen auch alles zutrauen.«

Sie kamen dem Punkt in der Ferne immer näher. Bald war es nicht mehr bloß ein schwarzer Punkt, die Konturen wurden immer sichtbarer. Es war definitiv ein größeres Gebäude, und weit entfernt war es auch nicht mehr. Der Tag war ziemlich weit vorangeschritten, es wurde schon langsam dunkler am Himmel.

Etwa zehn Minuten später hatten sie das Haus erreicht. Eine Herberge!, dachte Oskar. An der Eingangstür stand ein Wachposten, der mit einer schwarzen Rüstung gekleidet war und eine Sonnenbrille trug, weshalb man nicht viel von seinem Gesicht erkennen konnte. Oskar kam das merkwürdig vor. Der Mann war bewaffnet, er hielt einen großen Revolver in der Hand.

»Da seid ihr ja. Ihr wurdet schon erwartet. Geht rein und folgt den Anweisungen. Wer das nicht tut, der wird sofort erschossen. Überlegt euch gut, was ihr macht.«