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Ein Ferienhaus mitten in den Bergen - der perfekte Ort für ein Verbrechen? Officer Rick Campbell versucht, herauszufinden, was es damit auf sich haben könnte - und stößt relativ schnell auf einzelne Hinweise, die ihn Stück für Stück zur Lösung des Falles führen. Sechs Freunde aus der Schweiz unternehmen einen Ausflug in die Rocky Mountains. Unter ihnen befindet sich auch der labile Raphael Keller, der gerade aus der Psychiatrie entlassen wurde. Doch statt Freude und geselligem Miteinander, entwickelt sich die Reise schnell zu einem Albtraum...
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Seitenzahl: 239
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein Ferienhaus mitten in den Bergen – der perfekte Ort für ein Verbrechen? Officer Rick Campbell versucht, herauszufinden, was es damit auf sich haben könnte – und stößt relativ schnell auf einzelne Hinweise, die ihn Stück für Stück zur Lösung des Falles führen.
Sechs Freunde aus der Schweiz unternehmen einen Ausflug in die Rocky Mountains. Unter ihnen befindet sich auch der labile Raphael Keller, der gerade aus der Psychiatrie entlassen wurde. Doch statt Freude und geselligem Miteinander, entwickelt sich die Reise schnell zu einem Albtraum…
Niklas Quast wurde am 7.3.2000 in Hamburg-Harburg geboren und wuchs im dörflichen Umland auf. Nachdem er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann absolvierte, arbeitet er nun in einem Familienbetrieb und widmet sich nebenbei dem Schreiben.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Der Blick aus dem Fenster war so idyllisch, wie ihn Officer Rick Campbell selten zuvor gesehen hatte. Hinter dem Ferienhaus schloss sich eine saftige, grüne Wiese an, hinter der wiederum direkt ein glasklarer, vermutlich eiskalter Gebirgssee folgte. Noch dazu strahlte die Sonne vom strahlend blauen Himmel. Nichts, aber auch rein gar nichts deutete darauf hin, dass hier schreckliche Dinge geschehen waren - zumindest auf den ersten Blick. Campbell wandte sich von der trügerischen, wunderschönen Szenerie ab und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Das war jedoch weitaus leichter gesagt, als getan. Er öffnete das Fenster, welches sich direkt neben dem Tisch, an dem er Platz genommen hatte, befand, und gewährte so der frischen Luft Einlass. Heute war eigentlich Sonntag, sein freier Tag - was eben auch bedeutete, dass er sich, nicht, wie in den letzten Tagen, mit Begleitung im Ferienhaus aufhielt, sondern komplett allein vor Ort war. Es war ihm schon immer schwergefallen, abzuschalten und sich selbst herunterzufahren, wenn er nebenbei an einem Fall arbeitete. Noch dazu war eben dieser Fall der Schwerste, den er hatte - er war zwar noch nicht lange im Dienst, hatte jedoch bereits einiges erlebt. Er seufzte laut, stützte sich mit seinen Händen auf der Tischplatte ab und kam so auf die Beine. Sie hatten das Haus bisher noch nicht wirklich gründlich auf den Kopf gestellt, sondern waren in den letzten Tagen nur oberflächlich vorgegangen, und das wollte er mit dem heutigen Tage ändern. Der Parkettboden fühlte sich rutschig unter seinen Füßen an, er war jedoch schon fast klinisch rein, und das, obwohl er nicht gereinigt worden war. Die Tatsache, dass eben aufgrund dessen kaum Spuren im Haus zu finden gewesen waren, hatte der Spurensicherung, die bisher nur ganz kurz im Haus gewesen war, Kopfzerbrechen bereitet. In den kommenden Tagen würden die Kollegen zwar einen neuen Versuch starten, doch für Campbell war jede einzelne Minute ohne neue Erkenntnisse eine verschenkte. Es brannte ihm einfach unter den Nägeln, etwas herauszufinden - hier und jetzt, heute, an seinem freien Tag. Er wusste nicht, ob die Tatsache, dass er noch keine Familie und somit keine Verpflichtungen hatte, die entscheidende war, weshalb er sich so in seinen Job hineinkniete. Sie spielte auf jeden Fall eine Rolle, noch dazu war es allerdings die Leidenschaft, die er seit frühen Kindstagen für den Beruf empfand, die ihn antrieb. Er ließ seinen Blick erneut schweifen, ehe er für einen kurzen Moment die Augen schloss. Er versuchte, sich gedanklich ein paar Tage zurückzuversetzen, um so neue Erkenntnisse zu gewinnen - doch er scheiterte. Es war komplett still im Inneren der Ferienwohnung, einzig und allein der leichte Wind, der durch das geöffnete Fenster ins Wohnzimmer wehte, bildete die Geräuschkulisse. Was, zur Hölle, ist nur mit euch passiert? Er wandte sein Blick in die Richtung der Bilder der vermissten Personen, und ließ sich die Namen zum gefühlt tausendsten Mal durch den Kopf gehen. Malea Brunner. Valentina Häfliger. Zoe Langensand. Noah Demuth. Raphael Keller. Laurin Wiss. Doch auch dieses Mal brachten ihm die Namen der Schweizer Reisegruppe keine Erkenntnisse, sie standen viel mehr wie düstere Botschaften im Raum. Da bisher auch keine Leichen gefunden worden waren, galten sie alle noch immer als vermisst, doch die Erfahrung, die Campbell bisher gesammelt hatte, sagte ihm etwas anderes. Niemand wird einfach so vom Erdboden verschluckt. Es ist etwas passiert - nur was? Gedankenverloren streifte sein Blick weiter durch die Gegend, durch jeden noch so kleinen Winkel des Raumes. In der oberen Ecke hatte sich etwas Staub im Netz eines Weberknechts verfangen, selbiger hielt sich in direkter Nähe auf und krabbelte über die weiße Wand. Campbell sah dem Tier dabei zu, wie es fast schon ziellos über den weißen Untergrund lief. Wenn ich dich nur befragen könnte… voller Konzentration betrachtete Campell das Tier, doch selbst ein paar Sekunden später hatte der Weberknecht nicht zu ihm gesprochen. Der einzige Zeuge, den ich habe, spricht nicht mit mir. Ganz großes Kino. Fast ein bisschen enttäuscht ließ er sich wieder auf den unbequemen Stuhl sinken. Die Einrichtung der Ferienwohnung war zwar recht altmodisch und bequem, das traf jedoch nicht auf die Stühle zu, die um den Esstisch herumstanden. Campbell ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen und beugte sich nach vorne. Er griff nach dem Notizblock, der sich direkt vor ihm befand, nahm den Kugelschreiber in die Hand, und machte sich daran, alles niederzuschreiben, was er bereits wusste.
Ein paar Tage zuvor…
»Es ist wirklich schön, dass du auch mit dabei bist.«
Valentina warf Raphael direkt nach ihren Worten ein warmes, freundliches Lächeln zu.
»Und wie!«, kam es vom Fahrersitz, auf dem Noah Platz genommen hatte, und auch Malea stimmte der Aussage kurze Zeit später zu.
Sie hatten sich zwei Autos mieten müssen, um die Strecke vom nahegelegenen Denver International Airport bis in die Rocky Mountains zurücklegen zu können. Raphael freute sich zwar über die Worte, die Valentina ausgesprochen hatte, fühlte sich jedoch trotzdem so, als wäre er nicht ganz bei der Sache.
»Die letzten drei Jahre waren wirklich hart. Ich bin froh, es endlich geschafft zu haben.«
Besagte Zeit in der Psychiatrie hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt, die einzelnen Tage wie Jahre. Seine Verfassung war dabei ähnlich einer Achterbahnfahrt gewesen - es hatte Tage gegeben, an denen er sich gut durchgeschlagen hatte, und wiederum andere vereinzelte, die er in der Weichzelle verbracht hatte. Er erinnerte sich nicht gerne an die Momente, in denen er zu einer Gefahr für seine Mitmenschen geworden war - er hatte es nie beabsichtigt, jemanden zu verletzen, sondern hatte viel zu oft die Kontrolle über sich verloren. Mittlerweile befand er sich allerdings über dem Berg, ja, er war geheilt - etwas, was er nie gedacht hätte, war geschehen. Sein Psychiater, Dr. Fischer, hatte tatsächlich den Schalter in seinem Kopf, von dem Raphael gedacht hatte, dass er unzugänglich gesichert war, umgelegt. Vor einem halben Jahr war er wieder nach Hause, in seine kleine Wohnung im beschaulichen Aarau, gekommen, und jetzt stand eben der Urlaub in die USA an. Noch vor zwei Monaten hatte er gezweifelt, ob es das Richtige für ihn sein würde, doch nun war er davon vollends überzeugt. Im Inneren des Autos war es ein bisschen stickig, woraufhin er das Fenster herunterkurbelte. Seine Finger zitterten ein wenig, er fühlte sich irgendwie nervös, schaffte aber, das kurz darauf abzulegen. Noch vor zwei Jahren war er eine tickende Zeitbombe gewesen, jeder kleinste Auslöser hätte für eine Explosion sorgen können - was ja auch mehrfach passiert war. Die Verletzungen, die er sich an Tagen, an denen er keine Kontrolle über sich gehabt hatte, zugefügt hatte, waren ein Teil von ihm - die Narben würden ihn sein ganzes Leben lang begleiten, doch damit hatte er sich abgefunden. Er war froh, dass ihn sein Freundeskreis dabei unterstützt hatte. Während seiner Zeit in der Psychiatrie war es ihm zwar nicht dauerhaft gelungen, den Kontakt zu jedem zu halten, doch seit er sich wieder frei draußen bewegen konnte, konnte er auf jeden einzelnen seiner Freunde bauen. Er befand sich gemeinsam mit Noah, Valentina und Malea im Auto - Laurin und Zoe, die seit zwei Jahren zusammen waren, fuhren das andere und hielten sich auf der Straße direkt hinter ihnen. Die Berge kamen immer näher und wurden dadurch auch mit jedem Meter imposanter. Der Himmel über ihnen war zwar bedeckt, es sah allerdings nicht nach Regen aus. Viel mehr wirkte es so, als würde sich die Wolkendecke im Laufe des Tages noch lichten und Platz für die Sonne machen. Raphael freute sich auf den Moment, an dem sie ihr Ziel erreichen würden, auch, wenn das noch etwas länger als eine Stunde dauern würde. Sowohl der Flug, als auch der bisher zurückgelegte Teil auf dem Highway hatten ihn enorm geschlaucht, und er bewunderte Noah dafür, dass dieser noch in der Lage war, den Mietwagen zu fahren. Raphael selbst hatte seinen Führerschein vor etwa vier Jahren verloren, nur ein halbes Jahr, nachdem ihm selbiger überhaupt erst ausgestellt worden war. Das war auch eines der vielen Dinge gewesen, welches ihn letztendlich komplett aus den Fugen geworfen hatte. Doch diese Zeit war endgültig vorbei, er würde es bald wieder versuchen wollen - zumindest nahm er sich das vor. Etwa eine halbe Stunde später fuhren sie vom Highway ab. Nun war das Ziel zwar nicht mehr so weit entfernt, doch es würde aufgrund der unebenen Gebirgsstraßen noch eine Weile dauern.
»Hast du mal 'n Bier für mich?«
Maleas Stimme weckte Raphael aus seinen Gedankengängen, denen er wieder mal viel zu lange hinterhergehangen war, auf.
»Klar. Moment.«
Er öffnete die Kühltasche, die zur Ausstattung des Mietwagens gehörte, und holte eine der Dosen heraus, mit denen sie sich in einem Supermarkt in Denver eingedeckt hatten. Das Bier war natürlich um einiges günstiger gewesen, als am Flughafen, und das, obwohl sich der Laden nur wenige Meter entfernt befunden hatte. Raphael reichte Malea ein gekühltes Bier herüber und bediente sich daraufhin auch selbst. Eines würde er sich durchaus erlauben können, und er nahm sich vor, sich Zeit mit dem Getränk zu lassen.
»Möchtest du auch?«, fragte er Valentina, die aus dem Fenster geschaut und die Berge beobachtet hatte.
»Nein, danke. Vielleicht später.«
»Jetzt oder nie!«, meinte Malea freudig und öffnete die Dose, woraufhin ein leises Zischen ertönte. Raphael tat es ihr gleich und zog die Lasche auf. Das Bier war eiskalt und schmeckte fantastisch, Raphael nahm einen großen Schluck und lehnte sich dann wieder zurück. Die Straße wurde derweil ein wenig unebener, der Mietwagen holperte über jedes einzelne Schlagloch. »Meine Güte, was ist das nur für eine Piste?«, meinte Noah laut und klopfte einmal auf das Lenkrad.
Raphael versuchte, durch die Lücke der beiden Vordersitze hindurch einen Blick durch die Windschutzscheibe zu werfen. Noah hatte definitiv nicht übertrieben, die Straße war zwar noch befahrbar, aber sehr schlecht. Eine nervenzehrende Dreiviertelstunde später hatten sie ihr Ziel schließlich erreicht. Das Ferienhaus lag direkt hinter einem Bergsee, und selbst der Anblick, den sie von ihrem Parkplatz aus hatten, war fast ein bisschen magisch. Die Sonne hatte sich mittlerweile auch durch die Wolkendecke gekämpft und warf einige ihrer Strahlen auf die Wasseroberfläche, welche an einigen Stellen glitzerte. Noah stellte den Motor ab und parkte das Auto direkt neben dem Haus. Malea öffnete als erste die Tür und stieg aus, woraufhin der Rest der Gruppe ihr folgte. Raphael trank den letzten, kleinen Schluck Bier aus, und ließ die leere Dose erstmal im Innenraum des Toyotas liegen. Er fühlte sich gut, der leichte Wind sorgte dafür, dass der Schweiß auf seinem Körper getrocknet wurde. Laurin und Zoe waren in der Ferne auch schon zu sehen, und hatten kurze Zeit später ebenfalls auf dem Schotterplatz direkt neben dem Ferienhaus geparkt.
»Wir können ja sogar vielleicht heute noch eine kleine Wanderung starten«, meinte Valentina, während sie ihre Tasche aus dem Kofferraum nahm.
Noah hatte die Koffer von Malea und ihr bereits ausgeladen, einzig und allein der von Raphael befand sich neben seinem Rucksack noch im Inneren. Die nächste Stunde verbrachte die Gruppe damit, das Ferienhaus zu beziehen und dort die Koffer auszupacken. Es gab drei Doppelzimmer, neben Laurin und Zoe schliefen Raphael und Noah und Malea und Valentina in einem Raum. Während er seinen Gedanken nachhing, räumte er den linken Bereich des großen Schranks, der sich an der Stirnseite des Raumes befand, ein. Das gesamte Haus war in einem rustikalen Stil gehalten, der Parkettboden hatte denselben, dunklen Farbton wie die Möbel. In dem Moment, in dem Raphael gerade seine T-Shirts im untersten Fach deponiert hatte, ging die Tür des Zimmers auf und Noah trat in den Raum. Seine braunen Haare klebten ihm an der Stirn, und er trug einen abgekämpften Ausdruck im Gesicht - warf Raphael jedoch ein Lächeln zu, als sich ihre Blicke trafen. Und genau dieses Lächeln passte so verdammt gut zu ihm, ja, es war fast sein Markenzeichen geworden. Raphael war sich sicher, dass er noch nie zuvor in seinem Leben jemanden gesehen hatte, der, so wie Noah, dauerhaft ein fast ansteckendes Lächeln im Gesicht trug. Demzufolge war er auch einer der freundlichsten und offensten Menschen, denen Raphael je begegnet war.
»Ich glaube, die Mädels haben den Service richtig genossen.« Noah grinste, noch breiter als zuvor.
»Valentina hat vermutlich Ziegelsteine eingepackt, so schwer, wie ihr Koffer war. Bei Malea ging es einigermaßen.«
»Hast du etwa keine Ziegelsteine dabei?«, fragte Raphael und zog eine Augenbraue hoch.
»Dieses Mal habe ich sie leider vergessen.«
Noah wandte sich ab und öffnete seinen Koffer, den er auf dem Bett abgelegt hatte. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür und Malea trat in den Raum.
»Da ist eine Spinne im Wohnzimmer.«
Raphael musste aufgrund ihrer Worte grinsen. Malea hatte Panik vor allem, was klein war und sich kriechend über den Boden bewegte.
»Und?«, fragte Noah.
»Dann haben wir eben noch einen Mitbewohner.«
»Du weißt doch, dass ich die nicht leiden kann.«
Malea klang ungeduldig, und Noah ließ sie extra noch eine Weile lang zappeln, ehe er meinte:
»Na gut. Ich komme ja schon.«
Raphael entschied sich dazu, ihm zu folgen - das Wohnzimmer hatte er bisher noch nicht in Augenschein genommen, und jetzt war der Moment dazu gekommen, diesen Umstand zu ändern.
Jeder seiner Schritte sorgte dafür, dass der Parkettboden unter seinen Füßen alle möglichen Geräusche von sich gab. Eine Wendeltreppe führte sie wieder in den unteren Wohnbereich. Die Fensterfront ermöglichte einen traumhaft schönen Ausblick auf den See, von dem sich Raphael jedoch ein paar Sekunden später lösen konnte. Valentina stand an der Wand und hielt ihren Blick auf eine Stelle gerichtet. Als Noah sie erreicht hatte, meinte er:
»Das ist doch keine Spinne. Das ist nur ein Weberknecht!« Er lachte.
»Der tut uns doch rein gar nichts.«
Raphael, der sich ein wenig im Hintergrund hielt, spürte, wie ihm der Kopf zu schwirren begann. Das ist nur ein Weberknecht. Die Worte, die Noah aussprach, und die im ersten Moment recht harmlos wirkten, bereiteten ihm enormes Unwohlsein. Er hielt es für den Moment nicht mehr im Ferienhaus aus, es fühlte sich an, als würden die Wände um ihn herum immer näher zusammenrücken und ihn zerquetschen wollen. Er presste sich Zeige- und Mittelfinger beider Hände auf die Schläfen, verließ den Wohnbereich und trat aus dem Ferienhaus ins Freie.
Vor einiger Zeit…
Dicke Regentropfen prasselten gegen das Fenster, der Himmel zeigte sich heute grau in grau. Raphael wandte sich von dem tristen Ausblick ab und setzte sich aufs Bett. Heute war wieder einer seiner schlechteren Tage - er wusste noch nicht mal, woran genau das lag, doch er hatte es einfach im Gefühl. Lustlos schob er das Tablett mit seinem Frühstück, welches ihm vor vier Stunden gebracht worden war, in eine Ecke des Raumes. Er fühlte sich wie im Knast, gefangen in den vier Wänden seines öden Zimmers. Die einzigen Menschen, die er in den letzten Tagen gesehen hatte, waren seine Betreuer gewesen - seit einer geschlagenen Woche hatte er keinen Besuch von seinen Angehörigen mehr bekommen, und so langsam fühlte sich das richtig schlecht an. Kurze Zeit später, er hatte seinen Kopf gerade zu Boden gerichtet und sein Gesicht in seinen Händen vergraben, hörte er, wie sich die Zimmertür nach einem kurzen Klopfen öffnete. So war es die letzten Male immer gewesen, von dem Tag an, an dem er die Tür einmal nicht von selbst geöffnet hatte. Direkt danach war die Situation mit dem Pfleger eskaliert, und Raphael erinnerte sich nicht gerne daran, wie er dem Mann mit einem gezielten, festen Schlag die Augenhöhle gebrochen hatte. Man hatte ihn an einen Ort gebracht, an dem er immer wieder mit sich selbst konfrontiert worden war - in die Weichzelle. Dort hatte sich die Einsamkeit nach ein paar Stunden so schlimm angefühlt, dass er einfach nur schreien musste. Generell war seine Situation ziemlich verzwickt: jedes Mal, wenn er das Gefühl hatte, auf dem Pfad der Besserung angelangt zu sein, kam ihm immer irgendeine Kleinigkeit in den Weg, die ihn derart aus der Bahn warf, dass er es nicht immer schaffte, damit zurechtzukommen.
»Guten Morgen, Raphael.«
Die Stimme des Pflegers klang warm und freundlich. Raphael hatte seinen Namen vergessen, er wusste nur noch, dass der Mann recht neu war und seinen Vorgänger abgelöst hatte. »Morgen.«
Er hielt sich möglichst kurz, und hoffte, dass der Mann nicht darauf aus war, ihn in ein längeres Gespräch zu verwickeln - denn dazu war er heute absolut nicht in der Stimmung. Er wollte allein sein, auch, wenn ihn das quälte - vielleicht wollte er sich selbst auch bewusst leiden lassen, doch die Gegenwart des Pflegers tat ihm nicht gut.
»Wie geht es Ihnen heute?«
»Könnte deutlich besser sein.«
»Kommen Sie mit? Das Wochengespräch mit Dr. Fischer steht an.«
Raphael rollte mit den Augen. Obwohl sich der Zyklus immer wiederholte, hatte er das Gespräch heute tatsächlich vergessen. Seufzend erhob er sich von seinem Bett und folgte dem Pfleger über den Trakt in Richtung Treppenhaus. Seine Knie zitterten, und er war am ganzen Körper nervös - woher das Gefühl nun plötzlich gekommen war, wusste er allerdings nicht. Sie gelangten durch das Treppenhaus ins Untergeschoss, dorthin, wo das Büro von Dr. Fischer war. Raphael kannte den Weg in- und auswendig, dennoch wich ihm der Pfleger nicht von der Seite, bis sie direkt vor der Tür angekommen waren. Ohne, dass sie überhaupt klopfen mussten, öffnete sich die Tür nur den Bruchteil einer Sekunde später. Dr. Fischer empfing ihn wie immer mit einem Lächeln, und bat ihn, hineinzutreten. Der Pfleger verabschiedete sich mit knappen Worten, und als Raphael vernahm, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, stieg das Unwohlsein mit jeder weiteren Sekunde.
»Raphael, setzen Sie sich gerne.«
Er deutete auf den gepolsterten Stuhl, auf dem Raphael schon zahlreiche Stunden verbracht hatte. Die Anwesenheit des Oberarztes hatte ihn immer verunsichert, jedes einzelne Mal hatte er sich vorgenommen, seine Haltung zu bewahren, war daran jedoch gescheitert. Und im Grunde genommen war das auch ein Grund dafür, weshalb er in letzter Zeit, wenn überhaupt, nur minimale Fortschritte machte. Raphael nahm also kommentarlos auf dem Stuhl Platz und atmete tief durch. Da die Gespräche immer gleich abliefen, wusste er schon, auf welche Frage er sich einstellen musste - kurz darauf sprach Dr. Fischer diese auch schon aus, im selben Wortlaut, wie er es jedes Mal tat.
»Erzählen Sie mir, wie es Ihnen geht.«
Raphael hasste diese Frage einfach nur. Sie war so verdammt oberflächlich, dass sich seine Nackenhaare aufstellten, wenn er bloß daran dachte. Egal, was er darauf antwortete, alles hörte sich falsch an. Deshalb entschied er sich für dieselbe Leier, die er dem Arzt jedes Mal entgegenbrachte.
»Könnte besser sein.«
»Haben Sie das Gefühl, dass sich ihr Zustand seit unserer letzten Sitzung verbessert hat?«
Dr. Fischer setzte einen konzentrierten, fast schon streng wirkenden Blick auf - das tat er jedes Mal, wenn er diese Frage stellte, vermutlich war sein Schema da bei jedem Patienten gleich. Anfangs hatte Raphael sich davon einschüchtern lassen, das tat er jetzt jedoch nicht mehr.
»Ich fühle mich diese Woche nicht so, als hätte ich Fortschritte gemacht.«
Er versuchte, nicht gelangweilt zu klingen - letzten Endes konnte Dr. Fischer in seiner Rolle als diplomierter Psychiater nichts dafür, dass er einer der schwereren Fälle zu sein schien. Raphael mochte dem Mann nicht absprechen, dass er sich bemüht hatte, doch seines Erachtens nach waren die Bemühungen nie wirklich intensiv oder gar tiefgründig gewesen. Jeder, der sich mit ihm auseinandersetzte, hatte es immer an der Oberfläche versucht, und war dort dann hängengeblieben.
»Das ist bedauerlich. Haben Sie denn das umgesetzt, was ich Ihnen letzte Woche nahegelegt hatte?«
Dr. Fischer hob seinen Kopf von der Patientenakte und sah ihn mit einem bohrenden Blick an. Raphael überlegte ein paar Sekunden lang, und ließ sich dann zu einer Lüge hinreißen - das tat er allerdings nur, weil er von dem Arzt genervt war und jegliche Hoffnungen darauf, dass man ihn helfen könne, verloren hatte.
»Ja, habe ich. Es hat alles nicht funktioniert.«
Raphael war es egal, ob der Arzt ihm seine Lüge anmerken würde - und fragte sich im nächsten Moment, ob es taktisch klug gewesen war, das Gespräch in diese Richtung zu lenken.
»Ich glaube Ihnen nicht, Raphael.«
Die schonungslose Ehrlichkeit des Arztes überraschte ihn nicht, brachte ihn aber schon ein kleines bisschen in die Bredouille. Raphael stützte sich auf den Lehnen des Stuhls auf und stand auf, was Dr. Fischer kurz darauf auch tat.
»Setzen Sie sich doch bitte wieder.«
Raphael hätte seinen Worten gerne Folge geleistet, doch er konnte es einfach nicht. Zwischen ihm und dem Oberarzt befand sich einzig und allein dessen Schreibtisch, hinter dem sich der Mann jedes Mal fast ein bisschen versteckte.
»Nein, ich werde mich nicht setzen.«
»Sie wissen aber, dass ich dann den Sicherheitsdienst rufen muss, oder?«
»Das ist mir sowas von egal.«
Raphael ließ seine rechte Hand auf die Platte des Schreibtisches sausen, was einen lauten Knall im Inneren erzeugte. Er sah noch, wie Dr. Fischer den roten Knopf betätigte, und hörte, wie nur Sekunden später die Tür in seinem Rücken geöffnet wurde. Raphael senkte seinen Blick in Richtung der Tischplatte, und sah, wie ein Weberknecht über die weiße Oberfläche huschte und direkt hinter der Schreibtischlampe verschwand. Kurz darauf wurde er bereits unsanft an den Armen gepackt.
»Kommen Sie mit.«
Aufgrund der Tatsache, dass Raphael bereits jemanden verletzt hatte, ging man mit ihm alles andere als sanft um. Der Griff des Sicherheitsmannes war fest und bestimmt. Obwohl Raphael wusste, dass es keine gute Idee war, sich zu wehren, versuchte er es, woraufhin der Griff noch fester wurde, und der zweite Sicherheitsmann zur Hilfe eilte. Gegen zwei Männer solchen Kalibers hatte er natürlich keine Chance, dennoch steckte er nicht auf und intensivierte seine Bemühungen, ja, zappelte wie ein Wahnsinniger.
»Ich hoffe, dass wir nächste Woche endlich mal wieder ein Gespräch führen können«, waren die letzten Worte, die er von Doktor Fischer hörte, ehe die Tür vor ihm ins Schloss fiel und die Sicherheitsmänner ihn über den Flur in Richtung seines Zimmers zerrten.
Kurze Zeit später warf Officer Campbell einen Blick auf seinen Notizblock. Er hatte zwar mehrere Seiten füllen können, was jedoch nichts zu bedeuten hatte - die Dinge, die dort standen, waren überwiegend belanglos. Es fühlte sich für ihn an, als wäre die Lösung zum Greifen nah, er musste also irgendetwas übersehen haben – aber was sollte das sein? Es gibt nicht wirklich einen Ansatz, auf den ich bauen kann. Mein Gefühl täuscht mich diesbezüglich wohl. Seufzend stand er auf und beschloss, ein paar Schritte zu gehen. Dabei hoffte er auf einen erleuchtenden Gedanken, der jedoch auch nicht kam, als er das Wohnzimmer verlassen hatte und sich auf der Veranda wiederfand. Die frische Luft sorgte dafür, dass er sich zumindest ein wenig besser fühlte, doch auch sie half ihm nicht dabei, klare Gedanken zu fassen. Von außen betrachtet wirkte das Ferienhaus fast ein wenig urig, die Holzfassade war an vielen Stellen bereits von Moos überzogen und die Dielenbretter waren ziemlich morsch. Daher gaben sie bei jedem Schritt, den er setzte, auch ein nervtötendes Knarzen von sich, was jedoch schon bald zur Normalität geworden war. Officer Campbell versuchte nun, die Rückseite des Hauses von verschiedenen Winkeln aus zu betrachten. Links auf der Veranda, direkt unter einer hervorstehenden Dachschräge, befanden sich vier sorgfältig gestapelte Plastikstühle, auf denen er jedoch auch keine Spuren entdecken konnte. Der Ort wirkte gänzlich verwaist, absolut gar nichts deutete darauf hin, dass sich die Reisegruppe aus der Schweiz noch vor wenigen Tagen hier aufgehalten hatte. Alles, was sich noch im Haus befand, wurde von der Spurensicherung konfisziert. Was erwarte ich denn eigentlich, hier zu finden? Er ärgerte sich in diesem Moment darüber, dass er einfach nicht zur Ruhe kam, und denjenigen, die sowieso tiefer in den Fall involviert waren, die Arbeit überließ. Ich muss für mich selbst einfach etwas finden, was dem Fass den Boden ausschlägt. Doch was, zur Hölle, soll das sein? Er entschied sich dazu, noch nicht direkt ins Haus zurückzukehren, sondern zunächst auf der Veranda Platz zu nehmen. Er setzte sich daher auf die Bodendielen und hielt seinen Blick weiterhin auf den See gerichtet. Obwohl es recht windig war, war das Wasser komplett ruhig – zumindest aus der Ferne. Obwohl er das bereits zuvor getan hatte, schloss er seine Augen für einen Moment und sortierte seine Gedanken. Die Sonnenstrahlen, die direkt auf sein Gesicht prallten, fühlten sich gut an – ja, dieses Ferienhaus befand sich wirklich mitten in der Idylle, allerdings auch ziemlich weit weg von der Zivilisation. Was vielleicht zum Verhängnis geworden ist, denn irgendetwas ist hier gottverdammt nochmal passiert. Ein paar Sekunden später stand er wieder auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und machte sich daran, ins Haus zurückzukehren. Er hatte keine neuen Erkenntnisse sammeln können und hatte einfach nicht die Geduld dazu, auf eine Eingebung zu warten – aus dem einfachen Grund, dass er zu angespannt war, und es ihm unter den Fingern brannte, etwas herauszufinden. Er befand sich gerade an der Schwelle zum Wohnzimmer und hatte die Glastür, die ins Innere führte, bereits aufgestoßen, als ihm etwas ins Auge sprang. Was zur Hölle? Er spürte, wie sein Herz plötzlich schneller zu schlagen begann, ging auf die Knie, und richtete seinen Blick in eine der zahlreichen Lücken zwischen den Dielenbrettern, unter denen er etwas entdeckt hatte, was seine Aufmerksamkeit unmittelbar in Beschlag genommen hatte.
»Ist alles okay bei dir?«
Die Worte drangen zunächst nur verschwommen zu ihm hervor – doch als Raphael sich umdrehte, konnte er Valentina direkt hinter sich ausmachen. Auf den ersten Blick schien sie die Einzige zu sein, die ihm gefolgt war, nachdem er aus dem Haus geflüchtet war.
»Ja, ich hatte nur gerade eine Art Flashback. Dieser Weberknecht hat etwas in mir ausgelöst.«
»Magst du darüber sprechen?«
Ihre Stimme drang sanft zu ihm herüber. Raphael vergewisserte sich noch ein weiteres Mal, dass ihnen niemand mehr gefolgt war, und meinte dann:
»Okay.«
Er atmete einmal tief durch, ehe er das, was er erlebt hatte, relativ oberflächlich schilderte. Valentina hörte aufmerksam zu, und an ihrem Gesicht konnte Raphael ablesen, dass sie sich wirklich für das interessierte, was er in der Psychiatrie erlebt hatte. Sie unterbrach ihn auch nicht und stellte keine Zwischenfragen, bis er seine Erzählung beendet hatte.
»Die Zeit hat mich ziemlich gebrandmarkt«, murmelte er zum Abschluss.
»Ich fühle mich zwar besser, doch die negativen Dinge, die ich erlebt habe, kommen immer mal wieder stoßweise an die Oberfläche.«
Valentina legte ihm eine Hand auf die Schulter, woraufhin Raphael zusammenzuckte. Die Wärme, die sie ausstrahlte, fühlte sich ziemlich gut an.
»Das tut mir wirklich leid«, murmelte sie, und ihre Stimme klang auch so, als würde sie das ernst meinen.
»Du kannst mit mir über alles sprechen, ja?«
Raphael nickte. Er war in diesem Moment einfach nicht fähig dazu, darauf etwas zu erwidern, da es sich anfühlte, als würde sich in seinem Hals ein gigantischer Kloß befinden, den er einfach nicht vertreiben konnte.
»Danke«, brachte er schließlich doch hervor, woraufhin er ein Lächeln von Valentina erntete.
»Wir sollten zurück zu den anderen, bevor sie sich Sorgen machen«, meinte sie.
»Kommst du mit?«