Crethrens - Die Festung von Ghiron Nagh - Niklas Quast - E-Book

Crethrens - Die Festung von Ghiron Nagh E-Book

Niklas Quast

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Beschreibung

Nach den Geschehnissen in der Eiswüste, die jeden einzelnen verändert haben, landen die Überlebenden mit einem Helikopter in einer verlassenen Stadt. Sie finden eine Karte und entscheiden sich dazu, zwei Orte aufzusuchen: eine mittelalterliche Festung und die unterirdische Stadt Ghiron Nagh. Alles scheint nach Plan zu laufen - bis das Schicksal wieder gnadenlos zuschlägt...

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Zum BUCH

Nach den Geschehnissen in der Eiswüste, die jeden einzelnen verändert haben, landen die Überlebenden mit einem Helikopter in einer verlassenen Stadt. Sie finden eine Karte und entscheiden sich dazu, zwei Orte aufzusuchen: eine mittelalterliche Festung und die unterirdische Stadt Ghiron Nagh. Alles scheint nach Plan zu laufen – bis das Schicksal wieder gnadenlos zuschlägt…

Zum AUTOR

Niklas Quast wurde am 7.3.2000 in Hamburg-Harburg geboren und wuchs im dörflichen Umland auf. Nachdem er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann absolvierte, arbeitet er nun in einem Familienbetrieb und widmet sich nebenbei dem Schreiben.

Inhaltsverzeichnis

Die verlassene Stadt

Blutzeichen

Das Gegengift

Simon und die Festung

Simon und die Festung, Teil 2

Ghiron Nagh

Auf sich allein gestellt

Gemeinsame Ziele

Das Festungsdach

Tief im Wald

Was zuvor geschah…

Tief in einer Eiswüste erwacht Oskar inmitten einer Gruppe Jugendlicher, zu der auch Cassie, Jonas und Nora gehören, mit denen er sich schnell anfreundet. Durch einen Brief erfahren sie, dass sie Probanden eines Projektes sind, das in drei Testphasen unterteilt ist. Anfangs stehen mehrere „Duelle“ an, bei denen immer nur die Hälfte der Teilnehmer überleben kann. Die Gruppe muss mit den Witterungsbedingungen klarkommen und schlägt sich durch die Eiswüste. Oskar verliebt sich in Cassie und auch zwischen Jonas und Nora entwickelt sich eine Beziehung. Am ersten Abend begibt sich Oskar gemeinsam mit Jonas und ein paar anderen zu einer Rettungsmission, bei der sie mit den „Crethrens“, etwa drei Meter großen Eismonstern, die ein tödliches Gift in sich tragen, konfrontiert. Ein Junge namens Fynn wird bei der Mission verletzt und stirbt einen Tag später auch daran. Ein Mädchen namens Ruby offenbart sich schon früh als „Maulwurf“ innerhalb der Gruppe – sie wurde von der Organisation, die hinter dem Projekt steht, unter die Jugendlichen gemischt um die Geschicke der Gruppe zu lenken. Doch sie soll nicht die einzige sein: Jonas, der sich zu einem guten Freund von Oskar entwickelt hat, offenbart spät seine wahre Identität und gibt Preis, dass er ebenfalls als Maulwurf agierte. Zudem verrät er den Grund dafür, dass sich die Gruppe schon anfangs so vertraut vorkam : bevor sie in der Eiswüste ausgesetzt worden waren, besuchten sie alle das Royal Militarity College in Adelaide, eine Militärschule in Australien. Im Gegensatz zu Ruby hat er sich jedoch auf die Seite der Gruppe geschlagen und geht gemeinsam mit den anderen gegen die Organisation vor. Schließlich kommt es zum finalen Showdown, bei dem Jonas die Gruppe zwar retten kann, selbst aber durch ein Unglück das Leben verliert. Die Überlebenden, acht an der Zahl, fliehen mit einem gestohlenen Helikopter und lassen die Eiswüste hinter sich.

Die verlassene Stadt

Die Eiswüste unter ihnen wurde immer kleiner. Die Berge verschwanden nach und nach, und zu dem Weiß des Schnees gesellte sich schon bald ein tristes Grau. Es dauerte ein paar Stunden, bis Schnee und Eis komplett verschwunden waren, und Oskar beobachtete aufmerksam das, was nun in der Ferne auf sie zukam.

»Was ist los?«, fragte Cassie und beugte sich über ihn, um einen Blick aus dem Fenster werfen zu können.

Sie gähnte, rieb sich die Augen und lächelte.

»Wir sind raus aus dem Eis«, sagte Tim.

»Das sehe ich auch. Aber was ist das da vorne?«

Aus der Landmasse vor ihnen hatte sich mittlerweile eine Stadt erhoben. Am Horizont waren einige Hochhäuser zu erkennen, Wolkenkratzer, deren Türme hoch in den Himmel ragten.

»Da ist eine Stadt!«

Tim klang erleichtert.

»Schaut ganz nach Zivilisation aus. Versuch mal, irgendwo dort zu landen.«

»Ja. Ich glaube auch, dass das die richtige Entscheidung ist.«

Es dauerte noch einige Zeit, bis sie die Stadt erreicht hatten. Tim hielt nach einem Landeplatz Ausschau, während Oskar sich umdrehte und die hintere Reihe ansah, in der Louis, Annie, Willow und Ian saßen.

»Was meint ihr?«, fragte er die Gruppe.

»Klingt gut«, schrie Louis gegen den Lärm des Helikopters an.

»Ich habe Wahnsinnshunger.«

»Dafür benötigen wir Geld«, warf Willow in den Raum.

»Mach dir darüber keinen Kopf.«

Louis griff in seine Jackentasche und förderte ein Bündel Scheine zutage.

»Wo hast du die her?«, fragte Oskar verblüfft.

»Das ist egal. Ich habe sie halt einfach.«

Er grinste.

»Ich versuche mal, da drüben zu landen.«

Oskar drehte sich wieder nach vorne und sah, dass Tim auf das Dach eines vor ihnen stehenden Hochhauses zeigte.

»Gute Idee. Ich kann schon langsam nicht mehr sitzen.«

Der Landevorgang klappte reibungslos, ein paar Minuten später öffnete Oskar bereits die Tür und stieg aus dem Helikopter aus. Er zog sofort seine Jacke aus, es war viel wärmer als zuvor. Die Sonnenstrahlen fühlten sich wunderbar auf seiner nackten Haut an und wärmten ihn direkt auf.

»Das ist herrlich«, sagte Ian.

»Ja. Unfassbar.«

Während die anderen in der Nähe des Helikopters blieben, entfernte sich Tim etwas und suchte nach einer Tür, die sie in das Gebäude führte.

»Kommt mal her! Ich glaube, dass wir hier reinkommen.«

Oskar, Cassie, Louis, Ian, Willow, Nora und Annie legten ihre Jacken auf der Sitzfläche im Inneren ab und gingen in Tims Richtung. Er stand vor einer grauen Tür.

»Sie ist offen. Was denkt ihr?«

»Lasst uns rein. Wir müssen gucken, ob wir andere Menschen finden. Nur dann haben wir eine Chance, zurück dorthin zu kommen, wo wir herkommen.«

Tim öffnete die Tür. Vor ihnen tat sich ein Treppenhaus auf, welches in einen tieferen Teil des Gebäudes führte. Oskar folgte ihm die Stufen hinunter. Eine Glastür führte sie nach draußen, Tim beugte sich vor, drehte sich nach links und nach rechts, um zu prüfen, ob sich irgendwo jemand befand.

»Keine Spur von Leben.«

Cassie runzelte die Stirn.

»Aber wie kann das sein? Das ist doch eigentlich nicht möglich.«

Oskar schluckte. Dass sich dort niemand befand, ließ ihn nachdenklich werden. Ist das vielleicht eine Falle? Er wollte dem Gedanken nicht nachhängen, merkte aber, wie es zwangsläufig in diese Richtung ging. Nein, das kann nicht sein. Das darf einfach nicht sein. Er schüttelte den Kopf und versuchte, die positiven Dinge zu sehen. Wir sind endlich weg aus dieser Hölle. Ich muss mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Auf die Gegenwart. Wir alle haben die Eiswüste überlebt.

»Abwarten«, sagte Louis.

»Ich denke, uns wird bald jemand über den Weg laufen.«

Sie gingen die Straße entlang und hielten stets Ausschau nach anderen Personen. Zwei Häuser weiter entdeckten sie eine Bäckerei.

»Lasst uns was essen«, rief Ian.

Sie betraten das leerstehende Gebäude. Tim ging zur Kasse, umrundete den Tresen und suchte im Verkaufsraum nach einer Bedienung.

»Hier ist niemand.«

»Wenigstens gibt es trotzdem etwas zu essen«, meinte Louis und deutete auf einen Korb voller Brötchen.

»Langt zu. Wir wissen nicht, was uns in nächster Zeit erwartet.« Sie aßen. Der Korb leerte sich rasch, und Oskar genoss es, endlich wieder seinen Magen füllen zu können. In letzter Zeit hatte er sein Hungergefühl komplett ignoriert, es hatte andere, wichtigere Dinge gegeben, auf die er sich hatte konzentrieren müssen. Jetzt habe ich zumindest die Ruhe, mal wieder etwas zu essen. Das ist doch schonmal was. Wir befinden uns nicht mehr in direkter Lebensgefahr und können mal tief durchatmen. »Schon merkwürdig, dass die Brötchen noch frisch sind«, murmelte Cassie.

»Es muss also vor kurzer Zeit noch jemand hier gewesen sein.« In einem Kühlschrank fanden sie noch einige Wasserflaschen. Oskar nahm einen kleinen Schluck und bewahrte sich den Rest für später auf. Etwa zehn Minuten darauf verließen sie die Bäckerei wieder und setzten ihren Weg durch die Stadt fort. Es fühlte sich merkwürdig an, durch die verwaisten Straßen zu gehen, und Oskar hoffte sehnlichst, dass sie bald einer Menschenseele begegnen würden.

»Hast du einen Plan?«, fragte er Tim, der sich an die Spitze gesetzt hatte und die anderen führte.

»Ja. Ich möchte zur Stadtgrenze. Irgendwie habe ich im Gefühl, dass wir dort etwas finden.«

»Was sollen wir denn finden?«

»Ich weiß es nicht. Wir müssen uns überraschen lassen.«

»Na toll«, murmelte Nora.

»Etwas anderes bleibt uns nicht«, fügte Tim den bereits gesagten Worten hinzu.

»Wir könnten auch einfach abhauen von hier«, meinte Annie.

»Mir behagt dieser Ort nicht.«

Tim drehte sich um und blickte ihr in die Augen.

»Und wo willst du hin? Zurück in die Eiswüste?«

Annie antwortete nicht darauf, sondern zuckte nur mit den Schultern. Sie passierten mehrere Läden, entdeckten jedoch nichts, was auch nur im Entferntesten auf Leben hinwies. Oskar wäre schon froh gewesen, eine zerbrochene Fensterscheibe oder etwas anderes zu sehen, was nicht zu diesem Ort passte. Doch da war nichts. Er trank einen weiteren Schluck aus seiner Flasche, die sich stetig leerte. Die Sonnenstrahlen brachten ihn zum Schwitzen, obwohl es nicht besonders heiß war.

Die Sonne sank derweil allmählich tiefer. Oskar wusste nicht, wie spät es war, er hatte keine Uhr bei sich. Er schätzte jedoch anhand des Sonnenstands, dass der Abend bald kommen würde. »Ich denke, wir sollten langsam einen Ort aufsuchen, an dem wir die Nacht verbringen«, meinte Cassie schließlich.

Tim nickte.

»Das wäre mir auch lieber. Es wird, glaube ich zumindest, bald dunkel.«

Etwa zweihundert Meter weiter entdeckten sie einen kleinen Eingang, der sie zu einer Herberge führte. Ein Leuchtschild mit der Aufschrift „Zimmer frei“ prangte an der Front.

»Das sieht doch gut aus«, murmelte Tim.

»Lasst uns dort rein. Da können wir da auch unser weiteres Vorgehen besprechen.«

Sie traten durch den kleinen Eingang. Auch im Inneren der Herberge hielt sich kein anderer Mensch auf. Es war totenstill.

»Hallo?«

Oskar wusste, dass es vergebens war, er sprach diese Worte mehr aus Reflex. Niemand antwortete. Er hatte auch nichts anderes erwartet, drehte sich dennoch zu Cassie um und sah ihr tief in die Augen.

»Was ist verdammt nochmal hier los?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht.«

»Ziemlich wenig«, scherzte Tim und zog einen der zahlreichen Sessel von einem Glastisch.

»Setzt euch.«

Oskar und die anderen nahmen ebenfalls Platz.

»Schaut, hier ist eine Karte.«

Nora deutete auf die Wand direkt hinter ihnen. Dort hing eine riesige Karte, auf der ein Stadtplan zu sehen war.

»Sehr schön.«

Tim lächelte.

»Dann lasst uns mal nachgucken. Wir befinden uns zurzeit hier.«

Er fuhr mit seinem Finger über die Karte, bis er einen roten Punkt erreicht hatte.

»Genau im Zentrum. Wow, das scheint echt eine riesige Stadt zu sein.«

Er überlegte einen Moment, blickte von links nach rechts und versuchte, irgendwelche Anhaltspunkte auf der Karte auszumachen.

»Seht!«

Nora war die erste, die etwas entdeckt hatte. Sie deutete auf eine Stelle am Rand, einem schwarzen Gebäude, das wie eine Burg aussah.

»Was ist das?«

Tim ging zu Nora und warf einen näheren Blick auf das, was sie ihm zeigte.

»Das sieht ja interessant aus. Und es scheint in Anbetracht des Maßstabs gigantisch zu sein.«

»Hier ist auch was Interessantes«, murmelte Louis und zeigte auf etwas, was genau am anderen Ende der Karte auszumachen war.

»Das sieht aus wie irgendetwas Unterirdisches. Scheint aber ebenfalls riesig zu sein. Und ansonsten…«

Tim suchte die gesamte Karte mehrmals ab, fand jedoch nichts Interessantes mehr.

»War es das auch schon. Wir haben zwei interessante Punkte auf der Karte. Was meint ihr?«

Oskar und Cassie tauschten einen kurzen, aber vielsagenden Blick.

»Zwei Orte also. Beide nacheinander zu erkunden wäre nicht wirklich sinnvoll, oder was meint ihr? Das würde Tage in Anspruch nehmen und ich habe keine Lust, ewig hier zu bleiben. Das ist alles ziemlich unheimlich«, meinte Cassie.

»Was willst du uns damit sagen?«

Tim sah sie fragend an.

»Es wäre eine gute Idee, wenn wir uns in zwei Gruppen aufteilen.«

Schweigen herrschte, jeder einzelne dachte für sich ihren Vorschlag durch. Tim war der erste, der sich zu Wort meldete.

»Ich gebe dir recht.«

»Ich bin auch dafür«, murmelte Oskar.

»Allerdings müssen wir irgendwie in Kontakt bleiben. Haben wir Funkgeräte?«

»Ja. Allerdings habe ich sie im Helikopter gelassen, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass wir uns allzu weit voneinander entfernen«, antwortete Tim.

»Wo hast du die her?«

»Sie befanden sich bereits an Board. Ich habe direkt gewusst, dass sie uns weiterhelfen könnten, habe sie dann aber vergessen.«

»Okay. Dann sollten wir sie heute noch holen, damit wir morgen rechtzeitig loskommen. Ich würde das übernehmen«, sagte Oskar.

»Ich begleite dich.«

Cassie lächelte ihn an. Sofort verspürte er wieder dieses Kribbeln im Bauch, ein Gefühl, welches ihm nur allzu bekannt war und welches für ihn das beste auf der Welt war.

»Gute Idee. Wir kümmern uns derweil um einen Plan. Aber beeilt euch am besten, es wäre gut, wenn ihr zurück seid, bevor es dunkel wird.«

»Das kriegen wir hin. Und ihr überlegt euch einen guten Plan.« Oskar und Cassie verließen die Lobby der Herberge und traten wieder auf die Straße.

»Was denkst du?«, fragte Cassie ein paar Schritte später.

»Ach es wäre einfach zu schön gewesen, endlich in Freiheit zu leben. Verstehst du?«

»Ja natürlich. Aber ich glaube, wir kommen der Freiheit immer näher.«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Es ist alles so verdammt kompliziert.«

Oskar senkte seinen Blick auf den Asphalt und spürte die Hitze, die von ihm ausging.

»Wenigstens sind wir mal komplett unter uns. Das erste Mal überhaupt.«

Sie lächelte erneut.

Oskar wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, spürte aber, wie er errötete.

»Ja.«

Mehr brachte er nicht hervor. Cassie rückte etwas näher an ihn heran und legte ihm einen Arm auf die Schulter.

»Warte mal.«

Er stoppte, drehte sich um und spürte direkt ihre warmen, feuchten Lippen auf seinen. Er genoss das Gefühl, schloss die Augen und versuchte, den Moment möglichst lange auskosten zu können. Doch ein paar Sekunden später hatten sich ihre Lippen wieder von seinen gelöst, und sofort bekam Oskar das Gefühl, dass etwas fehlte. Es fühlte sich an, als wäre sie verschwunden und würde niemals wiederkommen.

»Ich liebe dich, Cassie.«

Die Worte verließen seinen Mund, und er war froh, sie endlich ausgesprochen zu haben. Es fühlte sich an, als würde sich eine tonnenschwere Last von seinen Schultern lösen.

»Ich liebe dich auch. Ich bin wahnsinnig froh, dich an meiner Seite zu haben.«

»Danke.«

Er spürte, wie Tränen in seinen Augen aufstiegen. Es waren Tränen der Erleichterung, aber er wollte diesen Moment der Schwäche nicht zulassen und wischte sie mit seinem Ärmel fort. »Lass uns jetzt die Funkgeräte suchen. Wenn wir zu lange wegbleiben, machen sich die anderen vielleicht Sorgen.«

»Und das wollen wir nicht.«

»Richtig.«

Cassie streckte ihre Hand aus, Oskar ergriff sie. Gemeinsam durchquerten sie die Straßen, kamen wieder an der Bäckerei vorbei, an der sie zuvor noch Halt gemacht hatten. Die Dämmerung setzte ein, es wurde langsam dunkler. Das Hochhaus, auf dessen Dach der Helikopter stand, kam immer näher. Schon bald hatten sie es erreicht, Oskar öffnete die Glastür, die ins Gebäude führte, und betrat vor Cassie das Treppenhaus.

»Ich bin gespannt, ob wir hier jemals noch Menschen antreffen werden.«

»Ich wäre fast erleichtert, wenn das so kommen würde. Diese riesige Stadt, komplett ohne Zivilisation… mir kommt das ganz und gar nicht geheuer vor.«

Oskar nickte und öffnete die Tür, die sie auf das Dach führte. Das letzte bisschen Tageslicht ließ den schwarzen Hubschrauber wie den Schatten eines lauernden Tieres wirken, das nur darauf wartete, sie anzugreifen.

»Welchen Ort findest du interessanter?«, fragte Cassie, während Oskar die Funkgeräte aus dem Helikopter holte. Sie lagen auf der Rückbank, es waren vier Stück.

»Was meinst du?«

»Auf der Karte. Welchen Weg würdest du wählen?«

Oskar überlegte. Beide Orte lagen weit hinter der Stadtgrenze. »Mich interessiert generell beides. Ich kann mich nicht entscheiden und wäre mit allem einverstanden.«

»Ich auch. Hoffentlich legen sie uns in eine Gruppe.«

Oskar spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Was, wenn sie genau das nicht tun? Wenn ich mich vielleicht schon morgen für immer von ihr verabschieden muss… Er konnte den Gedanken nicht ertragen und versuchte, ihn fortzubekommen. Ich werde alles dafür tun, dass es nicht so kommt.

»Das wird schon passieren. Und falls nicht, haben wir beide da immer noch ein Wörtchen mitzureden. Aber lass uns jetzt am besten zurück. Wir sind schon viel zu lange unterwegs.«

Tim sah den beiden noch etwas nach und widmete sich dann wieder dem Stadtplan, der vor ihm an der Wand hing.

»Wir werden zwei Vierergruppen bilden. Gibt es irgendwelche Wünsche?«

Er sah jeden nacheinander an.

»Ich finde auf jeden Fall, dass beide Gruppen jemanden brauchen, der in der Lage ist, die anderen zu führen. Jede Gruppe braucht einen starken«, meinte Willow.

»Dafür kommen für mich nur du und Oskar infrage.«

Tim lächelte verlegen.

»Das klingt zumindest schonmal nach einem Plan. Seid ihr alle damit einverstanden?«

Es folgte zustimmendes Nicken. Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden.

»Dann bilden Oskar und ich die Führung der beiden Teams. Ich denke, wenn wir schon von Oskar sprechen, sollten wir Cassie auch in seine Gruppe stecken. Und Willow, ich möchte natürlich auch, dass du dann mit mir mitkommst.«

»Danke«, sagte sie und grinste.

»Ich gehe mit Oskar«, sagte Louis.

»Ich auch«, meinte Annie.

Ian sah Nora kurz an und fragte:

»Wäre das für dich dann okay, wenn wir mit Tim gehen?«

»Ja.«

»Gut, das ging ja schnell. Nun müssen wir nur noch entscheiden, welches Team welchen Weg einschlägt. Willow, Nora und Ian, wohin möchtet ihr?«

»Zur Festung.«

Ian wirkte entschlossen.

»Ich habe das Gefühl, dass unsere Chancen dort besser sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein riesiges Bauwerk komplett leer steht.«

»Wenn das alles stimmt, was auf der Karte steht«, warf Nora ein.

»Davon gehe ich aus. Guck dir doch alles an, was wir bisher gesehen haben. Das Hochhaus…«

Ian schob seinen Sessel ein Stück zurück, stand auf, und trat vor die Karte.

»Dort steht der Helikopter.«

Er deutete auf das Dach.

»Hier sind wir vorhin entlanggegangen.«

Sein Finger fuhr über die Karte, folgte der Straße, die dort abgebildet war.

»Es passt einfach alles bisher. Hier ist die Herberge, und nur ein paar Straßen weiter…«

»Okay. Du hast mich überzeugt.«

Nora lächelte.

»Seid ihr damit einverstanden, Louis und Annie?«

Ian wandte sich an die beiden, die bisher das Geschehen aufmerksam und still verfolgt hatten.

»Klar. Oder?«

Louis sah Annie an, diese nickte.

»Ich hoffe, dass Oskar und Cassie damit auch einverstanden sind. Aber das wird schon. Wir sollten jetzt nur noch auf die beiden warten und uns dann auf die Zimmer begeben.«

Der Rückweg kam Oskar deutlich kürzer vor als der Hinweg. Die Funkgeräte ließen sich direkt einschalten, die Akkus war vollgeladen, und als Oskar sah, wie das kleine Display aufleuchtete, atmete er erleichtert auf. Wenig später hatten sie die Herberge wieder erreicht.

»Da seid ihr ja endlich wieder.«

Tim stand auf.

»Wir haben die Gruppen bereits eingeteilt. Ich hoffe, ihr seid damit einverstanden.«

Er wiederholte nochmal alles, was sie eben in Abwesenheit der beiden besprochen hatten, und meinte dann:

»Lasst uns jetzt den Tag beenden. Ich wünsche euch eine gute Nacht.«

Sie teilten sich auf und gingen in die Zimmer. Es waren Einzelzimmer, Oskar verabschiedete sich von den anderen und legte sich auf sein Bett. Er zog seine Klamotten aus, betrat das Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser fühlte sich gut an auf seiner Haut, er spürte, wie er sich die gesamten Geschehnisse der letzten Tage von seinem Körper wusch. Während er sich von dem heißen Strahl berieseln ließ, dachte er an Cassie. Er sah, wie sie vor ihm stand. Spürte ihre Nähe, ihren vertrauten Geruch… und während er die Augen schloss, hörte er plötzlich ein Klopfen. Zunächst dachte, er habe es sich in seiner Sehnsucht nach Cassie nur eingebildet, wurde jedoch eines Besseren belehrt, als das Geräusch nach dem dritten Mal von einer Stimme begleitet wurde.

»Oskar?«

Die Stimme gehörte eindeutig nicht zu Cassie. Es war Louis. Oskar stellte das Wasser ab, schob die Kabinentür auf und trat aus der Dusche. Er wickelte sich ein Handtuch um und rief:

»Ja?«

»Darf ich reinkommen?«

»Kleinen Moment.«

Oskar war verwundert, so spät noch Besuch zu bekommen, war zugleich jedoch auch froh, sich mit jemandem unterhalten zu können. Es fühlte sich irgendwie nicht ganz richtig an, an diesem Ort allein zu sein. Er trocknete sich ab, zog sich frische Sachen an, die er zuvor in einem der Schranke im Zimmer gefunden hatte und öffnete die Tür.

»Habe ich dich gestört?«, fragte Louis nach einem zögernden Blick auf die nassen Haare von Oskar.

»Nein, alles gut. Ich war gerade fertig. Komm rein.«

Louis betrat den Raum und setzte sich auf die Couch.

»Was führt dich zu mir? Kann ich dir was zu trinken anbieten?«

»Da würde ich nicht Nein sagen.«

Oskar holte eine Flasche Mineralwasser aus einem kleinen Kühlschrank und stellte zwei Gläser auf den Tisch.

»Nichts Besonderes. Ich wollte mich einfach nur ein bisschen mit dir unterhalten.«

»Ich bin gespannt, was uns die nächsten Tage erwartet. Wie geht es dir eigentlich?«

»Ich habe mich zum Glück wieder einigermaßen erholen können. Bis auf einige Ausnahmen habe ich die Kopfschmerzen überwunden.«

»Das freut mich sehr.«

Oskar sagte das nicht nur einfach so, er freute sich wirklich für Louis. Dieser rang sich nun ein Lächeln ab und trank dann einen Schluck Wasser.

»Ich bin so verdammt froh, dass ihr uns gerettet habt.«

»Wir sollten darüber jetzt nicht mehr nachdenken. Wir haben zumindest einen Großteil überstanden, denke ich. Was uns die nächsten Tage erwartet, kann ich natürlich nicht sagen, aber ich kann mir auf alle Fälle vorstellen, dass es nicht so grausam sein wird wie in der Eiswüste.«

»Ich hoffe es. Ich würde es nicht verkraften, jetzt noch irgendjemanden aus der Gruppe zu verlieren. Besonders dich nicht.« Louis senkte den Kopf. Oskar sah ihn näher an.

»Was meinst du damit?«

»Du bist mir besonders wichtig geworden in der gesamten Zeit.

Und das nicht nur als Anführer, Oskar.«

Er trank sein Glas aus, stand auf und sagte:

»Ich sollte besser gehen, es ist schon spät. Wir sehen uns morgen.«

Zum Abschied lächelte er erneut und schloss dann die Tür hinter sich. Oskar blieb noch einen Moment auf der Couch sitzen, und versuchte, die letzten Worte von Louis verstehen zu können. Du bist mir besonders wichtig geworden. Nicht nur als Anführer… Er schaltete das Licht aus und legte sich auf sein Bett. Die Matratze war sehr bequem, er schlug seine Bettdecke zurück, lag mit offenen Augen in der Dunkelheit und starrte die Decke an. Er dachte so lange über das nach, was Louis ihm gesagt hatte, bis er irgendwann eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen wurde Oskar durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Er stöhnte auf, schlug die Bettdecke zurück und stand auf.

»Wer ist da?«

»Ich bin‘s.«

Cassies sanfte Stimme ließ ihn direkt wach werden. Er öffnete die Tür, umarmte sie und fragte:

»Sind die anderen auch schon wach?«

»Ja, sie frühstücken alle schon. Ich sollte dich wecken.«

»Okay. Ich ziehe mich eben an.«

Fünf Minuten später hatte auch Oskar die anderen erreicht. Er wurde mit freundlichen Blicken empfangen und beobachtete jedes einzelne Gesicht. Tim und Ian sahen besonders motiviert aus, Nora wirkte eher nachdenklich, und bei den anderen konnte er keine besondere Reaktion feststellen. Er setzte sich auf den freien Stuhl zwischen Cassie und Louis, nahm sich ein Brötchen vom Tisch und schnitt es auf.

»Ist schon merkwürdig, dass hier alles so aussieht, als wäre es genau für uns vorbereitet, oder? Die frischen Klamotten in den Schränken habt ihr sicherlich auch schon gesehen. Dann noch die Brötchen… ich traue diesem Ort nicht. Wir sollten schleunigst verschwinden«, meinte Tim.

»Ja, du hast recht. Wir sollten allerdings erst alle nötigen Vorbereitungen treffen. Aber das machen wir nach dem Frühstück«, sagte Nora.

Und das taten sie dann auch. Jede Gruppe bekam zwei Funkgeräte, und sie versuchten, Verbindung zueinander aufzubauen, was auch gelang. Tim, Ian, Oskar und Louis nahmen jeweils eines der Geräte an sich.

»Wir sind bereit.«

Tim drehte sich zu Oskar, Cassie, Louis und Annie um.

»Passt auf euch auf. Wir werden das schaffen. Wenn ihr einen Ausweg gefunden oder irgendwie sonstigen Erfolg haben solltet, müsst ihr uns sofort kontaktieren.«

»Na klar. Hoffen wir mal das Beste.«

Sie verabschiedeten sich voneinander und gingen getrennte Wege.

Tim, Willow, Ian und Nora passierten die Straßen und hielten sich ganz an den eingeprägten Weg.

»Ich bin wirklich gespannt, ob das was bringt. Allerdings haben wir ja auch keine andere Möglichkeit«, sagte Nora.

»Wir müssen es probieren. Ich habe zumindest das Gefühl, dass wir hier einen Ausweg finden werden. Eine Antwort auf alle Fragen«, entgegnete Tim.

»Glaubst du, sie haben etwas damit zu tun?«

»Wer?«

»Abigail und Ruby.«

»Ich weiß es nicht. Ich habe beim Fliegen den Kurs verfolgt und bin dann hier gelandet, da wir nicht mehr viel im Tank hatten. Kann schon sein, dass das alles genau so kalkuliert ist.«

»Das kannst du laut sagen«, murmelte Ian.

In der Stadt wurde es immer wärmer. Die Sonnenstrahlen fühlten sich gut an, Tim schloss die Augen und genoss zumindest für einen kleinen Moment das wohlige Gefühl, welches sich in ihm ausbreitete. Er wurde jedoch schnell wieder in die Realität geholt, als er Willows Atem in seinem Nacken spürte und eine Gänsehaut bekam.

»Ich hoffe, du weißt, wo wir lang müssen?«

»Natürlich.«

Tim hatte sich den Weg genauestens eingeprägt, was allerdings auch nicht allzu schwer gewesen war. Sie mussten eine lange Zeit geradeaus gehen und erst hinter der Stadtgrenze einen anderen Weg einschlagen. Diese Festung liegt so weit außerhalb. Das könnte ein verdammt langer Weg werden.

Die Zeit verging nicht besonders schnell und der Weg war extrem eintönig. Einige Zeit später, Tim konnte nicht sagen, wie viel vergangen war, hörte er einen Knall. Dieser war nicht besonders laut und der Ursprung klang ziemlich weit entfernt.

»Was war das?«, fragte Willow verwundert.

»Ich weiß es nicht. Moment.«

Er schaltete das Funkgerät ein.

»Oskar?«

Stille. Fünf Sekunden später hörte er ein Rauschen und bekam prompt eine Antwort.

»Ja? Alles okay bei euch?«

»Bei uns schon.«

Er hielt kurz inne.

»Habt ihr die Explosion auch gehört?«

»Ja, aber sie klang ziemlich weit entfernt. War nicht in unserer Richtung.«

»Sehr gut. Aber trotzdem beunruhigend, irgendjemand muss die ja ausgelöst haben.«

»Ja.«

Eine kurze Pause entstand.

»Wir melden uns später wieder. Gebt uns sofort Bescheid, wenn irgendwas passiert ist.«

Damit beendete er das Gespräch.

Oskar steckte das Funkgerät wieder weg und sah Cassie, Louis und Annie an.

»Wir müssen aufpassen. Ich weiß nicht, was hinter dieser Explosion steckt, aber wir sollten ab jetzt alle die Augen offenhalten.«

»Ich habe auch nie geglaubt, dass wir hier wirklich vollkommen alleine sind. Denkt ihr, das war ein Zeichen?«, fragte Cassie.

»Kann gut sein«, murmelte Annie.

»Dann würde nur die Frage aufkommen: für was?«

»Wenn das wirklich so sein sollte, dann werden wir das herausfinden. Kommt.«

Louis lächelte.

»Ich bin gespannt, was uns erwartet.«

Im Gegensatz zu den anderen, deren Weg sie zunächst bis zur Stadtgrenze an Hochhäusern und Querstraßen vorbeiführte, passierten Oskar, Cassie, Louis und Annie mittlerweile bereits abschüssigeres Gelände. Der Asphalt wies einige Risse auf, Unkraut bahnte sich hier und da seinen Weg an die frische Luft.

»Sind wir hier überhaupt richtig?«, fragte Cassie.

»Ich meine, das konnte man auf der Karte…«

»Ja, sind wir«, unterbrach Louis sie.

»Ich habe die halbe Nacht die Karte und unseren Weg einstudiert. Wir werden, bis wir die Stadtgrenze erreicht haben, einen steinigen und schweren Abschnitt vor uns haben. Dann haben wir unser Ziel aber auch schon erreicht.«

Oskar bewunderte Louis. Hat er sich wirklich, nachdem er gestern Abend noch bei mir war, die Karte angeguckt und den Weg geplant? Er erinnerte sich daran, wie erschöpft er selbst und wie enorm sein Bedarf nach Schlaf gewesen war.

»Und das kannst du dir alles merken?«, fragte Cassie verwundert.

»Das ist doch nicht viel.«

Louis winkte ab.

»Wir müssen auf jeden Fall dem Weg folgen.«

Stille machte sich wieder breit. Oskar und Louis übernahmen die Führung und gingen über den unebenen Weg. Zu dem spröden Asphalt gesellten sich nun auch noch teils riesige Steine, die den Weg an einigen Stellen versperrten. Gerade, als Oskar sich zu den anderen umdrehte und Cassie tief in die Augen sah, bemerkte er etwas auf dem Boden. Einen kleinen, weißen Zettel. Er bückte sich, hob ihn auf, und hörte zeitgleich eine zweite Explosion. Diese sorgte dafür, dass er das Gleichgewicht verlor und plötzlich einen heftigen Schmerz spürte. Der Lärm war um ein Vielfaches lauter als zuvor, beinahe ohrenbetäubend. Der Ursprung war relativ schnell auszumachen: es war das Hochhaus, auf dem sie den Helikopter abgestellt hatten. Eine gigantische Wolke aus Staub verschluckte das komplette Gebäude, es fiel in sich zusammen und ließ nur noch einen riesigen Schutthaufen übrig.

»Oskar?«

Er hörte Cassies Stimme nur verschwommen, konnte zunächst nicht sagen, aus welcher Richtung sie gekommen war. Als er jedoch die Augen öffnete, entdeckte er sie. Das blonde Haar klebte an ihrer Stirn und sie sah ziemlich besorgt aus.

»Was ist passiert?«

Oskar richtete sich auf.

»Du hast dein Bewusstsein für einen kurzen Moment verloren. Das Hochhaus, auf dem wir den Helikopter abgestellt haben, ist explodiert.«

Er rieb sich seine Augen und versuchte, das, was Cassie ihm sagte, zu verstehen.

»Was? Aber wieso bin ich…?«

»Es war irgendwas im Boden«, sagte Louis, ohne Oskar ausreden zu lassen.

»Es ist zeitgleich passiert. Fast wie ein kleines Erdbeben.«

»Und dabei bist du dann umgefallen und mit dem Kopf auf dem Boden gelandet. Es ist aber nur eine kleine Platzwunde.«

»Wie lange ist das her?«

»Etwa zwei Minuten.«

Cassie lachte auf.

»Du warst nicht lange weg.«

Oskar rieb sich mit der Hand über die schmerzende Stelle und spürte direkt flüssiges Blut. Er zuckte zusammen und erinnerte sich, dass das dieselbe Stelle gewesen war, an der er sich bereits im Schiffswrack in der Eiswüste verletzt hatte.

»Zeig mal.«

Er drehte sich um und ließ die anderen die Wunde begutachten.

»So etwas wie ein Verband wäre nicht schlecht. Aber den haben wir hier leider nicht.«

Oskar bemerkte plötzlich etwas in seiner linken Hand. Er hatte seine Hand zur Faust geballt, öffnete diese, und sah einen weißen, zusammengeknüllten Zettel.

»Was hast du da?«, fragte Cassie.

»Kurz, bevor ich umgekippt bin, habe ich den Zettel gesehen. Ich konnte ihn noch aufheben, danach habe ich aber mein Bewusstsein verloren.«

»Was steht da drauf?«

Oskar entfaltete das Papier und las die Buchstaben, die dort mit blauer Tinte geschrieben standen.

Ich muss zur Festung. Früher oder später. Mittlerweile hat es angefangen zu regnen, aber ich werde nicht nass, weil ich mich unter einem Felsvorsprung versteckt habe. Wo die anderen sind, weiß ich nicht. Ich habe sie das letzte Mal vor zwei Tagen gesehen, und ich glaube, sie sind mittlerweile tot. Ich kann es allerdings nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, doch wenn ich genau nachdenke, bin ich mir fast sicher, dass das stimmt. Ich werde meinen Weg zur Festung jetzt antreten müssen. Überhaupt in diese Richtung zu gehen war eine verdammt dumme Idee, aber jetzt habe ich keine andere Wahl.

Folgt mir zu der Festung, wenn ihr den Weg antretet. Ich habe euch eine heiße Spur hinterlassen.

Simon, Überlebender der zweiten Testphase

Stille. Oskar ging erneut den Text durch, versuchte, irgendwelche Zusammenhänge daraus zu ziehen, schaffte es jedoch nicht.

»Testphase. Scheiße«, murmelte Louis.

»Da stecken wieder Abigail und die anderen dahinter. Erinnert ihr euch noch an den allerersten Brief, den wir in der Eiswüste bekommen haben? Dort stand etwas von drei Testphasen.«

»Aber das ist doch unmöglich«, meinte Cassie.

»Wir haben Ruby in der Höhle zurückgelassen und Abigail gefesselt.«

»Denkt ihr wirklich, dass das die einzigen sind?«

Annie, die seit langer Zeit mal wieder etwas gesagt hatte, sah die anderen an.

»Wenn die schon von mehreren Testphasen sprechen, können die das doch gar nicht alles alleine bewerkstelligen. Die Leute eingeschlossen, die wir außer Gefecht gesetzt haben.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, murmelte Oskar.

»Und du hast recht. Wir hatten aber wohl alle einfach dieses Gefühl der Sicherheit als wir aus der Eiswüste geflüchtet sind.« Cassie wirkte ratlos.

»Lasst uns erstmal weiter. Ich denke, es wird nur eine von mehreren Botschaften gewesen sein.«

Sie setzten ihren Weg fort. Es wurde derweil immer wärmer, die Sonnenstrahlen erwärmten den sowieso schon aufgeheizten und rissigen Asphalt, der sie weiter in braches Land führte. Irgendwann, Oskar konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, sah er einen Schatten am Horizont.

»Seht!«

Er deutete auf den schwarzen Schemen in der Ferne.

»Das kann aber noch nicht unser Ziel sein«, murmelte Louis.

»Laut der Karte…«

»Ist doch egal«, unterbrach ihn Cassie.

»Es kann ja auch irgendwas anderes sein.«

Sie war deutlich erleichtert darüber, wenigstens etwas entdeckt zu haben, wirkte zugleich aber auch ein wenig unsicher. Sie beugte sich zu Oskar herüber und flüsterte:

»Das sieht mir ganz nach einem Felsvorsprung aus.«

Er wusste direkt, auf welches Thema sie hinauswollte.

»Meinst du, das hat was mit dem Brief zu tun?«

»Ich kann es mir kaum anders vorstellen. Und schau dir mal den Himmel an.«

Plötzlich, es war Oskar zuvor gar nicht aufgefallen, sah er eine dunkle Wolkenfront, genau dort, wo sich der Schatten in der Ferne befand.

»Regnet es da etwa?«

»Sieht ganz danach aus.«

Die Entfernung des Schattens war schwer abzuschätzen, das einzige, was Oskar wusste, war, dass der Weg bis dahin noch weit war.

»Kommt.«

Er wischte sich den Schweiß mit seinem Handrücken von der Stirn.

»Lasst uns vor dem Gewitter den Felsunterstand erreicht haben. Ich bin gespannt, was uns dort erwartet.«

Sie waren weiterhin keiner Menschenseele begegnet. Tim führte Willow, Ian und Nora durch die Straßen. Sie folgten ihm. Es herrschte schon seit geraumer Zeit eine beklemmende Stille., niemand wusste, was er sagen konnte, um die Stimmung innerhalb der Gruppe ein wenig aufzulockern. Ein paar Minuten später stoppte Tim, drehte sich zu den anderen um und meinte:

»Habt ihr Durst? Oder Hunger?«

Er deutete auf einen Supermarkt zu ihrer rechten. Wie auch alle anderen Gebäude wirkte er auf den ersten Blick verlassen.

»Sehr gute Idee.«

Nora entfernte sich von der Gruppe und ging auf die Tür des Ladens zu.

»Hier klebt ein Zettel«, murmelte sie, nachdem sie die Glastür betrachtet hatte, die in das Geschäft führte.

»Was steht denn da drauf?«, fragte Tim.

»Dieser Supermarkt ist das Tor zur Hölle. Betretet ihn und bedient euch - das, was dann passiert, ist ein kleiner Vorgeschmack auf das, was euch noch erwarten wird.«

»Das steht da wirklich?«

Ian lachte.

»Das ist ja mal absolut lächerlich.«

Er stellte sich neben Nora und legte eine Hand auf die Klinke.

»Halt!«, rief Tim, kurz bevor Ian sie öffnen konnte.

»Was hast du vor?«

»Na was wohl? Ich will in den Laden rein und uns was holen.«

»Nein.«

Nora stellte sich ihm in den Weg.

»Hast du nicht gehört, was ich gerade vorgelesen habe?«

»Doch natürlich. Aber du willst mir doch nicht ernsthaft sagen, dass du an diesen Quatsch glaubst?«

Er schob Nora zur Seite, ohne eine Antwort abzuwarten. Tim und Willow blieben stehen und sahen zu, wie er die Tür öffnete und in den Laden eintrat. Als die Glastür wieder ins Schloss fiel, zuckte Nora zusammen.

»Da ist jemand. Da ist jemand drin!«

Sie zog an dem Griff, öffnete die Tür wieder und lief in den Laden. Tim und Willow folgten ihr.

»Ian?«

»Ja?«

Nora atmete tief durch.

»Hast du das auch gesehen?«

»Ja. Das kam von einer Leinwand. Kommt mal her!«

Sie folgten der Stimme, und hatten Ian schon bald in eine der hinteren Ecken des Gebäudes entdeckt.

»Ist das ein Film?«

»Sieht so aus.«

Dann dröhnte eine Stimme durch die Lautsprecher.

»Blut, Leid und Tod, das erwartet euch an eurem fest eingeplanten Ziel. Tretet ein in einen Ort des absoluten Grauens…«

Der Bildschirm wurde dunkel und die Stimme ebbte langsam ab. Dann war ein Schrei zu hören. Tim zuckte zusammen, die Stimme war bis tief in seine Glieder eingedrungen.

»Es wird noch etwas dauern, bis ihr das Ziel erreicht. Ihr dürft aber nicht aufgeben, denn neben Gewalt und Tod erwartet euch auch die Freiheit, wenn ihr den Weg erst einmal geschafft habt.«

Das Bild brach wieder ab, und als nach einer Minute nichts weiter passiert war, waren sich alle sicher, dass das Video nun endgültig beendet war.

»Das klang echt beunruhigend.«

Nora war die erste, die etwas sagte.

»Aber hört zu. Es scheint tatsächlich einen Ausweg zu geben.« Ian wandte sich an die anderen und sah sie in dem schwachen Licht an, was von draußen kam.

»Wir müssen denen in dem Fall einfach vertrauen. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Und wenn es dort wirklich einen Ausweg gibt, werden wir die anderen zu uns holen. Wir haben ja weiterhin die Funkgeräte bei uns und können sie jederzeit kontaktieren.«

»Ja, da hast du recht«, flüsterte Nora.

»Aber was, wenn das ganze einfach zu gefährlich ist? Dieser kurze Moment, das ganze Blut, diese Festung. Ich weiß wirklich nicht, ob es die richtige Entscheidung ist, dort hinzugehen.«

»Ich verstehe euch beide«, meinte Tim.

»Aber Nora, wir sollten es wenigstens versuchen. Eine andere Möglichkeit wird uns nicht bleiben.«

»Aber was, wenn wir damit unser Leben riskieren? Das können wir doch nicht machen.«

Ian unterbrach sie.

»Seit wir in der Eiswüste aufgewacht sind haben wir unser Leben riskiert und waren in ständiger Gefahr! Ich bin einmal beinahe gestorben, wurde mit Louis in den Käfigen gefangen gehalten, aber verdammt, ich habe es überlebt! Ich will es denen einfach zeigen. Ich habe keine Lust mehr, mich ständig unterdrücken zu lassen. Wir müssen da jetzt verdammt nochmal durch, sonst nimmt das alles kein Ende! Denk an alle, die wir auf dem Weg verloren haben. Denk an Jonas! Er hätte genau das gleiche gewollt.«

Ian schluckte, als er sah, wie Nora sich wegdrehte.

»Er war ein guter Mensch.«

Er ging auf Nora zu und legte einen Arm um sie. Sie ließ es geschehen.

»Wir müssen für ihn weiterkämpfen. Nur so haben wir eine Chance, das alles zu überleben.«

Nora nickte.

»Ja, du hast recht.«

Aus ihrer Stimme konnte man hören, dass ihr Tränen in den Augen standen.

»Es tut mir leid, Nora. Ich hätte das nicht erwähnen dürfen.«

»Alles gut.«

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Ich muss versuchen, damit klar zu kommen.«

Blutzeichen

Es dauerte eine knappe halbe Stunde, bis Oskar, Cassie, Louis und Annie den Felsunterstand erreicht hatten. Das Wetter hatte sich mittlerweile nicht gebessert, ganz im Gegenteil, der Himmel hatte sich stetig verdunkelt. Immer mehr Wolken zogen auf, und es sah stärker nach Regen aus.

»Lasst uns hier eine Pause einlegen. Wir sollten den Regen abwarten. Außerdem macht mich dieser Ort neugierig«, sagte Oskar.

Er umrundete den Felsen und betrachtete ihn genau. An der Rückseite entdeckte er eine Nische, direkt daneben waren in dem Stein ein paar Einkerbungen zu erkennen.

»Seht euch das mal an.«

Er deutete auf die Zeichen, fühlte mit seinen Fingern die feinen Linien nach.

»Was soll das sein?«, fragte Louis.

»Ich glaube, da steht irgendetwas geschrieben.«

Oskar beugte sich vor und versuchte, die Zeichen näher zu erkennen.

»Ich bin mir sicher, dass da irgendwas steht. Es ist aber nicht in unserer Sprache… ich kann es nicht entziffern.«

»Lass mich mal sehen.«

Louis schob Oskar zur Seite und begutachtete nun selbst die mysteriösen Linien im Felsen.

»Diese Schriftzeichen sind mir fremd.«

Gerade, als er seinen Satz beendet hatte, sah er die ersten Regentropfen. Es wurden schnell mehr, und nach wenigen Sekunden prasselte ein starker Dauerregen auf den spröden Untergrund um sie herum. Es wurde schlagartig kälter, Oskar streckte eine Hand in den Regen und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

»Lasst uns etwas von dem Zeug essen, was wir mitgenommen haben.«

Er nahm den Rucksack von den Schultern und packte ein paar Brote aus. Jeder griff sich außerdem eine der mitgenommenen Wasserflaschen und trank einen Schluck.

»Dieser Unterstand hier war nicht auf der Karte zu sehen«, sagte Louis einige Zeit später, als sie bereits aufgegessen hatten und kurz davor waren, ihren Weg fortzusetzen.

»Er hätte da eigentlich draufstehen müssen. Ich meine sonst ist hier doch nur karges Land.«

»Moment.«

Annie zog aus ihrer Hosentasche eine kleine Karte hervor. Louis blickte sie ungläubig an.

»Wo hast du die her? Warum hast du nichts gesagt?«

»Ich habe sie in der Herberge gefunden.«

Annie öffnete die Karte.

»Der Unterstand ist tatsächlich nicht zu sehen. Merkwürdig.«

Louis grinste.

»Sag ich doch.«

Annie lächelte zurück.

»Ich habe es nie angezweifelt.«

»Wo ist der Eingang, zu dem wir müssen?«

Louis sagte zunächst nichts, sah sie einfach nur an.

»Na ja«, murmelte er dann.

»Er ist auf der Karte einfach nur mit einem schwarzen Punkt gekennzeichnet.«

Louis deutete darauf.

»Was ist, wenn das hier der Eingang dazu ist?«, fragte Oskar in die entstandene Stille hinein.

»Das kann eigentlich nicht sein.«

Oskar entfernte sich von den anderen und fühlte die Linien erneut mit den Fingern nach. Er spürte seltsame Vibrationen, sie schienen vom Stein zu kommen und erfüllten seinen gesamten Körper.

»Oskar? Was machst du da?«