Das Auge der Verdammnis - Niklas Quast - E-Book

Das Auge der Verdammnis E-Book

Niklas Quast

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Beschreibung

Die Gewinner eines Casino-Gewinnspiels, unter ihnen auch die achtundzwanzigjährige Gabrielle Linden, treffen sich zu einer exquisiten Party in der noblen Baker-Villa, die einen besonderen Ruf in der Gegend hat. Doch der Abend verläuft anders als geplant - denn tief im Inneren des Anwesens befindet sich Das Auge der Verdammnis. Für Gabrielle beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, und schon bald ist das Seil zwischen Realität und Wahnvorstellung zum Zerreißen gespannt

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Zum BUCH

Die Gewinner eines Casino-Gewinnspiels, unter ihnen auch die achtundzwanzigjährige Gabrielle Linden, treffen sich zu einer exquisiten Party in der noblen Baker-Villa, die einen besonderen Ruf in der Gegend hat. Doch der Abend verläuft anders als geplant – denn tief im Inneren des Anwesens befindet sich das Auge der Verdammnis. Für Gabrielle beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, und schon bald ist das Seil zwischen Realität und Wahnvorstellung zum Zerreißen gespannt…

Zum AUTOR

Niklas Quast wurde am 7.3.2000 in Hamburg-Harburg geboren und wuchs im dörflichen Umland auf. Nachdem er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann absolvierte, arbeitet er nun in einem Familienbetrieb und widmet sich nebenbei dem Schreiben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

1

Gabrielle brauchte nicht lange für den Weg bis zur Spielbank. Genau genommen musste sie nur zwei Straßen überqueren, an dem leerstehenden Gebäude, welches gerade zum Verkauf stand, und dem geschlossenen Café vorbei - dann war der Weg auch bereits geschafft. Je näher sie der Einrichtung kam, desto nervöser wurde sie. Alles in ihr fing an zu kribbeln und es fiel ihr schwer, an etwas anderes zu denken. Seit drei Jahren hatte sie jetzt schon Woche für Woche an der Verlosung teilgenommen, und gestern war es endlich geschehen. Sie hatte doch tatsächlich den Jackpot gewonnen! In dem Moment, in dem der ältere Mann am anderen Ende der Leitung ihr Glück verkündet hatte, hatte sich alles surreal für sie angefühlt. Sie hatte die gute Nachricht eine Weile lang verkraften müssen, ehe sie wieder zum Telefon gegriffen und die Nummer von Arlo, ihrem besten Freund, gewählt hatte. Sie teilte nahezu alles mit ihm, im Grunde hatten sie keine Geheimnisse voreinander. Für eine Beziehung hatte es allerdings nie gereicht, wobei Gabrielle auch nicht mit Sicherheit sagen konnte, woran das letzten Endes gelegen hatte. Wahrscheinlich war einfach nie der passende Moment gekommen. Wir kennen uns halt seit dem Sandkasten, dachte sie. Und da ihr Arlo die letzten Jahre oft mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte, musste sie ihm auch mal etwas zurückgeben. Sie konnte ihn hinter der nächsten Hausecke bereits unter dem gelben Lichtkegel einer Laterne erkennen. Er trug dasselbe Outfit wie immer - eine Cap auf dem Kopf, einen lässigen, eine Nummer zu großen schwarzen Pullover mit weißer Schrift und Schuhe, die ihm schon von den Füßen fielen. In dem Punkt war Arlo seit jeher etwas eigen gewesen, er hatte seine Lieblingsklamotten und machte keinen Hehl daraus, indem er sie nahezu jeden Tag trug.

»Hey, du bist ja überpünktlich.«

Arlo hatte sie nicht kommen sehen, er drehte sich um und sah ihr überrascht in die Augen.

»Warst du gar nicht arbeiten heute?«

»Ich durfte früher gehen.«

Sie fuhr sich durch die Haare und strich sie etwas zur Seite. Das Licht hier war schlecht, weshalb Arlo ihre neue Haarfarbe wahrscheinlich noch gar nicht zur Kenntnis genommen hatte. Sie war auf seine Meinung gespannt, auch, wenn er diese vermutlich gewohnt lässig in zwei bis drei Worten kundgeben würde.

»Na das ist doch super. Dann lass uns mal deinen Gewinn abholen.«

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, welches Gabrielle direkt erwidern musste. Sein Lachen war ansteckend, und auch in diesem Moment musste sie daran denken, was sie schon zusammen durchgemacht hatten. Sie waren in den letzten Jahren sprichwörtlich durch dick und dünn gegangen. Im Inneren der Spielbank herrschte eine stickige Luft. Viele Menschen hatten sich an verschiedensten Automaten niedergelassen und versuchten dort immer wieder ihr Glück. Das meiste davon ist Betrug, dachte Gabrielle. Sie hatte vor etwa einem halben Jahr eine Reportage im Fernsehen gesehen, die ziemlich große Wellen geschlagen hatte - es war um Spielautomaten gegangen und um das Prinzip, wie sie funktionierten. Allerdings war den Leuten, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt ihr tristes Dasein fristeten, bereits anzusehen, dass viele von ihnen schon jahrelang dabei

waren und sich Haus und Hof verspielt hatten. Sie wusste nicht, wo sie hingehen musste, weshalb sie einfach auf einen Schalter zuging, an dem eine Frau hinter einer Glasscheibe saß. Sie war gerade dabei, Jetons zu sortieren, bis sie ihren Kopf hob.

»Guten Abend. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Gabrielle holte den Gewinnschein mit dem freigerubbelten Feld, auf dem ihre Kombination stand, aus ihrer Tasche hervor. »Ich habe bei der Verlosung gewonnen.«

Die Frau musterte den Schein kurz und hob dann ihren Blick. Von der einen auf die andere Sekunde stahl sich ein freundliches Lächeln auf ihr Gesicht.

»Ich gratuliere ganz herzlich. Den Gewinn können Sie sich im Keller abholen.«

Sie nahm den Gewinnschein entgegen und reichte stattdessen eine knallgelbe Plastikkarte, auf der das Logo des Casinos zu sehen war, durch die Durchreiche.

»Danke«, sagte Gabrielle zu der Frau und drehte sich um.

Der Weg in den besagten Keller war gut ausgeschildert, an der hinteren Wand ging es zehn Treppenstufen herunter. Hinter einem weiteren Schalter saß ein Mann, der sein Gesicht jedoch hinter einem aufgeschlagenen Magazin verborgen hielt. Als er Gabrielle und Arlo ankommen sah, musterte er sie mit fragendem Blick.

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gerne meinen Gewinn abholen.«

Gabrielle wedelte mit der gelben Plastikkarte umher, die in etwa Größe eines Ausweises hatte. Der Mann senkte das Magazin, zog jedoch nur eine Augenbraue hoch. Auf seinem Glatzkopf prangte eine große Warze, aus der ein einzelnes Haar in die Luft wuchs.

»Der Gewinn für diese Woche wurde bereits abgeholt«, meinte er nur.

»Von einer Frau namens…«

Er drehte sich kurz um und suchte eine Notiz, die er wenig später gefunden hatte.

»Gabrielle Linden.«

»Das kann nicht sein.«

Gabrielle griff erneut in ihre Hosentasche und zog ihr Portemonnaie heraus, aus dem sie dann ihren Ausweis zutage förderte.

»Gabrielle Linden bin nämlich ich.«

Triumphierend sah sie den Mann an, doch der verzog erneut keine Mine und sagte einfach nur:

»Tut mir leid, Miss, aber der Gewinn wurde bereits abgeholt. Da muss eine Verwechslung vorliegen.«

»Sie sehen doch auf dem Ausweis, dass ich Gabrielle Linden bin.«

Gabrielle verstand die Welt nicht mehr. Wer soll bitte in meinem Namen meinen Gewinn abgeholt haben? Zumal ich ja gestern angerufen wurde? Sie schüttelte den Kopf. Wenige Sekunden später kam ihr dann eine Idee.

»Wie sah denn die Frau aus, die den Gewinn abgeholt hatte?

Und wann soll das überhaupt gewesen sein?«

»Laut der Notiz meines Kollegen war das gestern. Er ist aber heute nicht da, weshalb ich ihn nicht fragen kann.«

»Ich würde gerne den Geschäftsführer sprächen.«

Gabrielle hatte die Faxen dicke. Der Mann, mit dem sie sprach, wirkte auf sie nicht wirklich kompetent und einfach nur unfreundlich.

»Der sitzt vor ihnen.«

Er deutete auf seine Visitenkarte, die ihm aus der Brusttasche heraushing.

»Ich kann ihnen allerdings eine Alternative vorschlagen, wenn sie wollen. Morgen feiert der Veranstalter der Verlosung eine Party mit allen Gewinnern des letzten Jahres in seiner Villa - sie sollten dort ja auf ihre Namensvetterin stoßen.«

Er kramte ein kleines Flugblatt hervor, auf dem die Adresse und die Uhrzeit der Feier standen, und reichte es ihr herüber.

»Vielen Dank«, murmelte Gabrielle und drehte sich zu Arlo um. »Hast du morgen Zeit?«, fragte sie ihn im Rausgehen.

»Klar. Wir fahren dorthin.«

Er hatte alles von dem Gespräch mitbekommen und wirkte fest entschlossen.

»Vielen Dank für ihre Mühe«, sagte Gabrielle, meinte es aber nicht wirklich so.

Der Alte nickte ihr nur mürrisch zu und sagte kein Wort mehr. Gemeinsam mit Arlo verließ sie den Keller und ging die Treppenstufen hinauf, die wieder in den Eingangsbereich führten. Gabrielle schwirrten während des Weges tausende Gedanken im Kopf herum, es fiel ihr schwer, klar zu denken. Was geht hier vor sich? Sie musste dringend in Erfahrung bringen, wer ihr hier so übel mitspielte, bevor das vielleicht noch einen ganz anderen Rahmen einnehmen würde.

»Irgendwie echt 'ne Frechheit«, murmelte Arlo, als sie das Casino verlassen hatten.

»Ich kann mir das auch nicht erklären. Du kannst mir glauben, dass ich definitiv noch nicht da war und meinen Gewinn abgeholt habe.«

»Natürlich glaube ich dir das. Aber ich denke, wir sollten uns das Ganze morgen mal ansehen. Was sagst du?«

Gabrielle fand die Einladung zur Party der Gewinner durchaus verlockend, irgendwie jedoch sträubte sich auch etwas in ihr dagegen, diesen Ort zu besuchen. Diejenige, die sich als Gabrielle Linden ausgibt und in meinem Namen meinen Gewinn eingesackt hat, wird sich zu einhundert Prozent auch dort befinden.

»Es geht um viel Geld«, murmelte sie.

»Weißt du... ansonsten wäre mir das ja egal. Aber das sind immerhin zehntausend Dollar. Wir müssen wohl oder übel dorthin.«

»Was steht denn auf dem Flyer drauf?«, fragte Arlo.

Gabrielle ging ein paar Schritte voraus, bis sie die nächste Laterne erreicht hatte. Dort faltete sie den Zettel, den sie seitdem sie das Casino verlassen hatten in der Hand getragen hatte, auseinander und betrachtete ihn näher.

»Carpenter Street Nummer dreizehn«, las Arlo vor und zog eine Augenbraue hoch.

»Das ist doch in der Nähe des Waldes, wenn ich mich nicht täusche.«

Gabrielle zuckte mit den Schultern. Sie kannte sich in der direkten Umgebung nicht so gut aus, schon gar nicht, wenn es auf die Straßennamen ankam. Arlo hingegen war eine wahre Koryphäe auf dem Gebiet.

»Ja, da muss es sein. Ich hole dich morgen gegen neunzehn Uhr ab, okay?«

Gabrielle nickte. Sie wollte jetzt nur noch nach Hause, und hoffte, dass Arlo sich nicht wieder zu ihr einladen würde – sie mochte ihn zwar und war ihm dankbar, dass er sie begleitete, doch sie wollte den Schock jetzt erst einmal verarbeiten und ihre Gedanken rechtzeitig sammeln, bevor sie am nächsten Tag die Party aufsuchen würden.

»Ich bin noch mit Gloria verabredet«, sagte er, nicht ohne ein Grinsen im Gesicht.

Gabrielle konnte das, was er sagte, gar nicht glauben.

»Die Gloria?«

Ungläubig blickte sie ihn an.

»Ja, die, mit der wir in einer Klasse waren. Du musst zugeben, sie war schon immer verdammt heiß.«

Die Attraktivität konnte Gabrielle ihr nicht absprechen, doch Gloria war nie wirklich die hellste Kerze auf der Torte gewesen. Genauer gesagt war sie ziemlich dumm – und in Gabrielles Augen nicht mehr als ein billiges Flittchen.

»Habt ihr ein Date?«

Sie wollte ihre Abneigung gegenüber Gloria nicht zwingend kundtun – sie war einfach froh, wenn sie mit ihr nichts mehr zu tun haben musste.

»So etwas in der Art... ja, vielleicht«, antwortete Arlo ausweichend.

»Wir sehen uns auf jeden Fall morgen um Punkt sieben. Okay?« »Okay.«

Zum Abschied umarmten sie sich flüchtig, ehe sie getrennte Wege gingen. Gabrielle brauchte zehn Minuten, bis sie ihre Wohnung erreicht hatte – allerdings hatte sie auch einen kleinen Abstecher beim Kiosk eingelegt und sich dort eine Flasche Weißwein geholt. Zuhause angekommen, zog sie ihre Lederjacke aus, hängte sie an den Haken und suchte direkt die Küche auf. Da sie keine Weingläser besaß und generell nur selten mit Alkohol in Berührung kam, nahm sie sich ein normales Glas aus dem Schrank, öffnete die Flasche und schenkte es sich voll. Sie schaltete das Radio ein, die Stille, die in ihrer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand herrschte, war zu bedrückend, als dass sie diese irgendwie ertragen konnte. Da sie in einer kleinen Seitenstraße wohnte, hörte sie auch keine Autos vorbeifahren – an normalen Tagen sicher ein Segen, doch heute war ihr jedes Geräusch recht. Doch selbst, nachdem sie das Fenster gröffnet hatte, war es komplett still draußen, obwohl der Abend ja noch nicht mal besonders weit fortgeschritten war. Während Arlo Zeit mit Gloria verbringt, sitze ich hier allein in meiner Bude und trinke Wein. Schon ein trauriges Leben. Sie nahm einen Schluck, musste sich jedoch zwingen, das Getränk herunterzuschlucken. Der Wein schmeckte überhaupt nicht, doch sie baute einfach darauf, dass er nach ein bis zwei Gläsern seine Wirkung entfaltet haben und ihr zu Kopf gestiegen sein würde. Nachdem sie das erste Glas geleert hatte, musste sie wieder an das Flugblatt denken. Im Licht der Laterne war nicht alles gut lesbar gewesen, weshalb sie aufstand, in den Flur ging und das Blatt aus ihrer Jackentasche herauskramte. Sie schob die Obstschale, die auf dem Küchentisch stand, ein Stück zur Seite und faltete das grüne Blatt auseinander, um erneut das zu lesen, was dort geschrieben stand.

Die große Party der Gewinner in der Baker Villa!

Adresse: 13th Carpenter Street

Einlass: 19:30 Uhr

Beginn: 20:00 Uhr

Neben einem exquisiten Dinner mit Blick auf die Stadt und das Gebirge wird es eine Pool-Party und eine Fete in gehobenem Ambiente geben. Bringen Sie eine Menge Freude und Spaß mit, denn der Abend wird fantastisch! Das Auge der Verdammnis erwartet Sie bereits.

Gabrielle runzelte die Stirn und las den letzten Satz erneut. Das Auge der Verdammnis erwartet Sie bereits. Bei diesen unheimlichen Worten zog sich ihr Magen zusammen. Direkt hinter dem Punkt, der den Satz beendete, war eine kleine Zeichnung zu sehen. Ebendiese war ihr zuvor, im schlechten Laternenlicht auf der Straße vor dem Casino, noch nicht aufgefallen. Das ist das Auge der Verdammnis. Sie nahm das Flugblatt in die Hand und führte es sich näher vor Augen. Die Zeichnung war so klein, dass sie im schlechten Licht vorhin unmöglich erkennbar gewesen sein konnte. Arlo hat es auch nicht gesehen... oder einfach für unwichtig gehalten, keine Ahnung. Sie hatte vorhin, während er den Text vorgelesen hatte, keine Regung in seinem Gesicht vernommen, weshalb er es wohl überlesen haben musste. Sonst stand auf dem Blatt nichts Interessantes geschrieben, weshalb sie es weglegte und sich wieder dem Wein zuwandte. Die Situation belastete sie doch mehr, als sie zugegeben hätte – dabei hatte der Tag doch so gut angefangen, die Vorfreude darauf, den Gewinn am Abend abzuholen, hatte alles andere überlagert. Im Radio lief gerade Eye of the Tiger, als sie sich das dritte Glas einschenkte. Auge des Tigers oder Auge der Verdammnis? Ratlos stellte Gabrielle die halbvolle Flasche Weißwein in den Kühlschrank, leerte das Glas und begab sich ins Wohnzimmer. Es fiel ihr bereits schwer, gerade zu gehen, weshalb sie sich an der Wand abstützen musste. Sie setzte sich auf die Couch, schaltete den Fernseher an und zappte sich durch die Kanäle, bis sie schließlich bei einer Datingshow hängengeblieben war, die gerade erst angefangen war. Die Zeit verging sehr schnell, und als die Sendung beendet war, war es bereits nach dreiundzwanzig Uhr. Ich sollte langsam mal schlafen gehen. Die Wirkung des Alkohols hatte in der Zwischenzeit nachgelassen, sie hatte sich auch nicht mehr nachgeschenkt, sondern es stattdessen bei Wasser aus dem Wasserhahn belassen. Der Weg ins Schlafzimmer war nicht besonders weit, und heute hatte sie auch irgendwie keine Lust mehr, den Liebesroman, den sie gerade las, weiterzulesen. Stattdessen knipste sie ihre Nachttischlampe direkt aus, als sie sich unter der Bettdecke befand, und schloss die Augen.

2

Gabrielle hatte nicht besonders gut geschlafen und war daher froh, dass die Nacht relativ schnell vorbei war. Das Frühstück ließ sie am heutigen Tage aus, eine Eigenschaft, die eigentlich so gar nicht zu ihr passte. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und checkte, ob eine SMS eingegangen war. Das war nicht der Fall, selbst Arlo hatte sich noch nicht bei ihr gemeldet. Vermutlich ist der immer noch mit Gloria beschäftigt. Sie konnte bei dem Gedanken daran nur grinsen. Sie begab sich wieder ins Wohnzimmer und setzte sich an den kleinen Schreibtisch, auf dem ihr Laptop stand. Sie klappte ihn auf, loggte sich ein und startete das Internet. Ihr Ziel war es, mehr über das Auge der Verdammnis herauszufinden – selbst über Nacht hatte sie das Objekt, welches ganz klein auf dem grünen Flugblatt abgedruckt war, verfolgt. Nach einer halben Stunde gab sie die Suche jedoch ohne Erfolg auf und versuchte sich stattdessen mit einer ausgiebigen Dusche abzulenken. Irgendwie funktionierte aber auch das nicht so wirklich. Als sie wieder im Flur vorbeiging, fiel ihr auf, dass sich auf der Einkaufsliste bereits einige Sachen angesammelt hatten. Sie seufzte, zog sich ihre Lieblingsjacke, die aus Leder, die sie sich vor gar nicht allzu langer Zeit in einem exquisiten Klamottenladen geholt hatte, an, nahm ihren Autoschlüssel mit und machte sich auf den Weg in die Tiefgarage. Bis zum nächsten Supermarkt waren es zwar bloß fünf Minuten Fußweg, doch sie hatte heute absolut keine Lust, die Einkäufe zu schleppen, weshalb sie die paar Meter mit ihrem Dacia fuhr. Auf dem Parkplatz herrschte reges Treiben, was an einem Samstagvormittag ja aber auch kein großes Wunder

war. Gabrielle hatte trotzdem relativ schnell eine passende Parklücke entdeckt – blickte sich jedoch nicht noch ein weiteres Mal um, ehe sie in diese einbog, weshalb sie das Unglück nicht mehr verhindern konnte. Von rechts war eine ältere, stämmige Frau mit einem Einkaufswagen unbemerkt immer nähergekommen – und es hatte bereits eine kleine Berührung gereicht, um sie zu Fall zu bringen. Erschrocken stellte Gabrielle sofort den Motor ab und stieg aus.

»Können Sie nicht gucken?«

Die Frau war ziemlich aufgebracht. Sie hielt sich das Knie und trug einen schmerzverzerrten Blick im Gesicht. Der Einkaufswagen war ihr aus den Händen gerutscht und erst durch einen gegenüberstehenden, roten Ford gestoppt worden, der jetzt eine leichte Delle in der Kofferraumklappe hatte. Scheiße, dachte Gabrielle. Wie konnte mir das nur passieren? Sie war mit der Situation komplett überfordert, beugte sich zu der Frau nach unten und versuchte, ihr auf die Beine zu helfen.

»Die Arztrechnung zahlen Sie, das schwöre ich Ihnen!«

Sie wollte sich gar nicht beruhigen, und Gabrielle hatte das Gefühl, der Situation nicht mehr lange standhalten zu können. Sie war den Tränen nahe, da sie einfach komplett überrannt worden war.

»Ist alles in Ordnung?«

Sie drehte sich um und erblickte einen Mann in einem gelben Anzug vor sich. Es handelte sich um einen Angestellten des Supermarktes – oder den Filialleiter, das war für Gabrielle auf den ersten Blick nicht ersichtlich.

»Diese Schlampe hat mich einfach so umgefahren!«

»Hey, zügeln Sie ihren Ton, bitte.«

Der Mann sah die alte Frau scharf an, woraufhin diese ihren Blick senkte.

»Verdammt, ich habe seit Wochen diese Knieprobleme. Jetzt kann ich gar nicht mehr aufstehen.«

»Brauchen Sie einen Notarzt?«

»Ich fürchte schon.«

Der Mann nestelte an seiner Hemdtasche herum, zog ein kleines Handy hervor und wählte den Notruf. Als er erfolgreich einen Krankenwagen angefordert hatte, drehte er sich zu Gabrielle und sagte:

»Und Sie warten bitte noch hier, bis der Notarzt eingetroffen ist, Miss...«

»Linden«, sagte Gabrielle.

»Gabrielle Linden.«

»Miss Linden. Danke für Ihre Kooperationsbereitschaft. Ich muss dann wieder an die Arbeit.«

Um nicht komplett im Weg zu stehen, stieg Gabrielle nach kurzer Rücksprache mit der verletzten Frau in ihren Wagen und parkte in einer anderen, freien Parklücke – dieses Mal auch ohne Zwischenfall. Sie blieb noch eine Weile im Auto sitzen, einfach nur, um ihre Gedanken ordnen zu können. Hoffentlich hat die Frau sich nicht schlimm verletzt. Sie hatte einfach nur einkaufen fahren wollen, und ein Moment der Unachtsamkeit hatte ausgereicht, um ihren kompletten Tagesplan auf den Kopf zu stellen. Verdammt, verdammt, verdammt. Hätte ich meinen Arsch einfach bewegt und wäre die fünf Minuten zu Fuß gegangen, wäre das alles nicht passiert. Bis zum Eintreffen der Sanitäter dauerte es eine gefühlte Ewigkeit. Als diese dann endlich da waren, nahm ein Mann ihre Daten auf, ehe sie schließlich verschwinden durfte. Sie gab der Frau einen Zettel mit ihrer Nummer und versprach ihr, für alle entstandenen Schäden aufzukommen, was die alte Dame wenigstens etwas besänftigte. Direkt danach schnappte sie sich selbst einen Einkaufswagen und trat in den Markt hinein. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, weshalb sie ihre Einkäufe schnell erledigte und darauf verzichtete, mehr Zeit als nötig dort zu verbringen. In der Backwarenabteilung holte sie sich ihr verspätetes Frühstück für zuhause – eine Puddingtasche und einen Donut mit Keksstücken. Als sie schließlich wieder in der Tiefgarage angekommen war, schaltete sie den Motor aus und atmete tief durch. Das Auge der Verdammnis... Kurze Zeit später hatte sie ihr Frühstück bereits verzehrt, und machte sich daran, ihre Wohnung zu putzen. Zum einen war das dringend mal wieder an der Zeit – der Staub hatte sich in den letzten Wochen doch ziemlich zahlreich angesammelt. Und zum anderen war es einfach Ablenkung, und die war ihr in diesem Moment mehr als nur willkommen. Sie drehte die Musik laut auf, was dafür sorgte, dass zwanzig Minuten später ein Klopfen ertönte. Verwundert legte Gabrielle den Putzlappen zur Seite und öffnete die Tür.

»Sie können nicht einfach so laut Musik hören. Das ist, gerade in der Mittagszeit, Lärmbelästigung!«

Mr. Walters, ein Herr älteren Semesters, der sich in der Wohnung als Hausmeister sah, obwohl er nichts dergleichen war, stand auf ihrer Fußmatte und hatte eine gewaltige Zornesröte im faltigen Gesicht. Seine krumme Nase, die direkt unter seinen Tränensäcken im Gesicht prangte, verstärkte den strengen Blick des Mannes.

»Kommt nicht wieder vor«, murmelte Gabrielle.

»Das will ich auch hoffen.«

Empört stapfte der Mann wieder die Treppenstufen hinauf, die zu seiner Wohnung führten. Diese lag direkt über der von Gabrielle, sie war dem Mann jedoch bisher noch nicht oft begegnet – eben, weil sie sich meist an die Regeln im Haus gehalten hatte. Sie drehte das Radio komplett aus, da sie jetzt keine Lust mehr auf Musik und noch weniger auf eine weitere Auseinandersetzung mit irgendeinem Menschen hatte. Ihr Kopf schwirrte, was vermutlich noch vom Wein am Vortag lag. Was für ein beschissener Tag bisher. Die Aussichten darauf, dass dieser besser werden würde, waren nicht zwangsläufig gegeben. Sie hoffte trotzdem, dass es ihr gelingen würde, das Beste daraus zu machen – doch die Gedanken an die Mission am Abend waren allgegenwärtig.

Die kommenden Stunden verbrachte sie mit Fernsehen, obwohl es heute draußen recht warm und angenehm war, verspürte sie nicht den Drang, einen Fuß vor die Tür setzen zu müssen. Vermutlich würde sie, sobald sie das Haus verließ, eh wieder in das nächste Unglück hineinstolpern - so, wie es bisher am heutigen Tage eben gewesen war. Während sie auf der Couch lag, wurde sie langsam müde, und als es schließlich achtzehn Uhr wurde, spürte sie, wie sie immer mal wieder kurz wegnickte. Es gab aber auch einfach nichts Interessantes im TV, weshalb sie selbigen ausschaltete und sich stattdessen ein passendes Dress aussuchte. Was ist das eigentlich für ein Anlass?, fragte sie sich. Eine Party, zu der ich strenggenommen nicht eingeladen bin und auf der sich meine Namensvetterin tummelt, die nicht nur dieselbe Identität wie ich hat, sondern mir meinen Gewinn stiehlt. Eigentlich, das wusste Gabrielle, hätte sie schon längst die Polizei einschalten sollen. Doch vermutlich würden die sie sowieso nur für verrückt halten, weshalb sie gar keinen weiteren Gedanken daran verschwendete. Zudem war sie ja nicht ganz allein, Arlo würde an ihrer Seite sein und sie begleiten, wofür sie ihm schon dankbar war. Die letzte Dreiviertelstunde verging wie im Flug, ehe es dann um kurz vor sieben an der Tür kleingelte. Gabrielle schnappte sich ihre Lederjacke, sprühte im Vorbeigehen noch einen Schwung Haarspray in ihre Frisur und verließ ihre Wohnung. Kurz, bevor sie die Tür hinter sich zuschlug, fiel ihr ein, dass sie mal besser den Schlüssel vom Schlüsselbrett mitnehmen sollte. Als sie das dann getan hatte, grinste sie in sich hinein. Vielleicht habe ich meine Pechsträhne jetzt ja durchbrochen. Als sie die Tür öffnete und sah, wer dort vor ihr stand, wäre sie am liebsten gar nicht erst rausgegangen. Entgegen ihrer Erwartungen war es nicht Arlo, der geklingelt hatte, sondern Gloria. Sie sah noch genauso aus wie damals - lange Haare, tiefes Dekolletee, und so hohe Absätze, dass kein normaler Mensch darauf laufen können würde. Zudem trug sie einen auffälligen, pinken Lippenstift. Sie sah eben, zumindest in den Augen der meisten Männer, um Welten besser aus als Gabrielle.