Daniela und der Klassenschreck - Marie Louise Fischer - E-Book

Daniela und der Klassenschreck E-Book

Marie Louise Fischer

3,9

Beschreibung

Wie gegensätzlich können zwei Mädchen eigentlich sein? Um zwei solche Mädchen geht es in diesem Buch. Daniela ist aufgeweckt, hübsch, beliebt, Klassensprecherin und eine tolle Sportlerin, dafür sehr schlecht in der Schule. Sabine, die Neue in der 3. Klasse, ist optisch eine graue Maus, wirkt arrogant und patzig, ist dafür ehrgeizig und Klassenbeste. Und – unnötig zu sagen – findet Turnen "blöd". Mit ihrem hochnäsigen Auftreten hat sie in der neuen Klasse keinen leichten Stand und sorgt für Streit. Erst als Daniela sich entschließt, sich um Sabine zu kümmern, ändert sich auch das Verhältnis der beiden. Allmählich können sie sich "zusammenraufen", helfen sich gegenseitig und werden endlich richtige Freundinnen.-

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Marie Louise Fischer

Daniela und der Klassenschreck

Saga Egmont

Daniela und der Klassenschreck

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1961 by F. Schneider Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719398

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Die Neue

Das Gebäude der Dorotheen-Schule war geräumig, modern und freundlich. Ein großes, lichtes Treppenhaus führte zu den breiten Gängen, die Fenster waren groß, die Wände bunt gestrichen. Es gab fröhliche Mosaiken und Trinkwasserbrunnen.

Sabine Kern hatte Zeit genug, alles zu betrachten. Sie stand im Flur, die Hände in die Taschen ihres zu kleinen Regenmantels gebohrt, und wußte nicht recht, was sie mit sich anfangen sollte. Die Schulmappe hatte sie neben sich auf den Brunnenrand gestellt.

Es war der erste Schultag nach den großen Ferien, wenige Minuten vor Unterrichtsbeginn. In den Gängen und aus den offenen Klassenzimmern schallte fröhlicher Lärm. Immer noch kamen Schülerinnen angelaufen, atemlos und vergnügt. Sabine beachtete niemand.

Ein Gefühl von Unbehagen, ja von Angst legte sich auf ihr Herz. Mit aller Kraft kämpfte sie dagegen an. Alles war hier freundlich und gepflegt. Das Dorotheen-Lyzeum war viel schöner als ihre alte Schule, der düstere Backsteinbau, in dem es immer muffig und staubig gerochen hatte. Bestimmt würden auch die neuen Klassenkameradinnen nett zu ihr sein. Warum sollten sie nicht? Nein, es gab wirklich nichts zu fürchten.

Aber trotz dieses beruhigenden Gedankens konnte sie nicht verhindern, daß ihr Herz heftig klopfte.

Lehrer kamen über den Gang, dann wurde „Achtung!“ gerufen und „Guten Morgen!“ — Eine Klassentür nach der anderen klappte zu.

Es klingelte zum zweiten Male. Der Unterricht begann. Nur Dr. Leonhardt, der Klassenlehrer der Dritten, ließ auf sich warten.

Aus dem Schulzimmer tönte noch immer fröhliches Durcheinander und Gelächter, aus dem sich eine helle, trompetende Stimme deutlich hervorhob. Offensichtlich gab eine Schülerin, die Sabine sofort als „Angeberin“ einschätzte, ihre Ferienerlebnisse zum besten. Sie redete von Segelbootpartien, Motorbootfahrten, Picknicks, Minigolf und Rollschuhlaufen, und die unfreiwillig lauschende Sabine fing immer wieder Wortfetzen auf wie: „Ihr macht euch keine Vorstellung, Kinder … teuflisch schön, sage ich euch! … also, Grado ist wirklich … das war das Höchste!“

Das Mädchen an der Tür drehte sich um und sah den Gang hinunter, ob Dr. Leonhardt schon käme. Dabei fiel ihr Blick auf Sabine, die an ihrer ohnehin schon blitzblanken Brille herumputzte.

„Na, was willst du denn hier?“ fragte die Wächterin der dritten Klasse; sie war ein zierliches, braunlockiges Mädchen und hieß, wie Sabine später erfuhr, Carola Müller.

„Ich warte!“ Sabine war bei der unvermuteten Anrede errötet. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, machte sie ein betont mürrisches Gesicht.

„Auf was?“ fragte Carola weiter.

Sabine war nahe daran, eine patzige Antwort zu geben. Dann aber besann sie sich eines Besseren. „Ich bin neu“, sagte sie, „ich meine, wir sind erst zugezogen …“

„Welche Klasse?“

„Drei A.“

„Da bist du richtig. Komm rein!“

Sabine hätte es unbedingt vorgezogen, erst mit dem Lehrer zusammen ihren neuen Schulkameradinnen gegenüberzutreten. Aber sie wußte nicht, wie sie das erklären sollte. „Ich möchte doch lieber …“, sagte sie unsicher.

Aber die andere ließ sie gar nicht zu Ende sprechen. „Na, geh schon!“ sagte sie und gab ihr einen sanften Puff. Dann riß sie die Tür weit auf und schrie ins Klassenzimmer hinein: „Eine Neue! Achtung, Kinder! Wir kriegen eine Neue!“ Sofort verstummte der Lärm. Alle Augen richteten sich auf Sabine.

Ein schlankes, braungebranntes Mädchen mit honigblonden Locken hüpfte von dem Stuhl, auf dem es bisher gestanden hatte, sah Sabine kritisch an und sagte: „Ich bin Daniela Wilde, Dany genannt, Klassensprecherin der Drei A … Und wie heißt du?“

„Sabine Kern.“

„Sabine? Hm, ganz nett“, sagte Daniela gönnerhaft. „Wozu brauchst du das Fahrrad?“

„Fahrrad?“ gab Sabine verständnislos zurück.

„Na, ich meine das Gestell, das du da auf der Nase hast!“ Die anderen lachten über Danielas Witz.

„Das ist meine Brille“, sagte Sabine sofort.

„Wirklich? Ich hatte gedacht …“ Danielas blaue Augen funkelten vergnügt. Auf ihren braunen Wangen erschienen zwei runde Grübchen. „Na, laß man“, fügte sie begütigend hinzu, als sie sah, daß Sabine in hilflosem Zorn Tränen in die Augen stiegen, „jedenfalls, mit dem Ding da wirst du kaum in die erste Handballmannschaft hineinkommen! Oder trägst du die Brille beim Turnen gar nicht?“

„Ich bin vom Turnen dispensiert“, sagte Sabine.

„Was?“ Daniela riß die Augen auf.

„Ich brauche nicht mitzuturnen“, sagte Sabine betont, „falls du das besser verstehst.“

„Mensch, da schlägt’s doch dreizehn! Du brauchst nicht mitzuturnen? Na, wieso denn? Warum denn nicht?“ Sie wandte sich an die anderen: „Habt ihr schon je so was erlebt?“

„Mein Herz ist nicht gesund“, sagte Sabine hochmütig, aber mit zitternden Lippen.

Danielas Gesicht wechselte sofort den Ausdruck. Sie war ganz bestürzt. „Du bist krank? Verdammt, das ist aber eine Gemeinheit! Tut mir leid, wirklich. Das konnte ich ja nicht ahnen.

„Du brauchst mich gar nicht zu bemitleiden“, sagte Sabine heftig, „aus dem blöden Turnen habe ich mir nie etwas gemacht!“

„Turnen findest du blöd? Na, sag einmal, also, da hört sich doch alles auf! Turnen ist doch eine Wucht! Geräteturnen und Handball … und Schwimmen. Weißt du überhaupt, daß wir ein richtiges Schwimmbad in der Schule haben? Na, da staunst du, was? Jetzt tut’s dir vielleicht doch leid, daß …“

„Ich pflege meine Zeit mit nützlicheren Beschäftigungen zu verbringen“, sagte Sabine kalt.

Daniela machte vor Erstaunen den Mund weit auf, klappte ihn wieder zu. „Na so was!“ sagte sie dann und schüttelte den Kopf, daß ihre blonden Locken flogen. „Nun verrate uns mal … was nennst du denn zum Beispiel nützlich?“

„Lernen!“

„Lernen! Oho! Hahahahaha!“ Daniela brach in ein wild begeistertes Gelächter aus, in das die anderen jubelnd einstimmten. „Habt ihr’s gehört? Lernen hat sie gesagt! Na so etwas!“ Daniela schüttelte sich vor Lachen. Allmählich bekam sie wieder Luft und sagte, immer noch von einem Ohr bis zum anderen grinsend: „Hat dir eigentlich schon jemand gesagt, daß du einen ausgewachsenen Vogel hast?“

Sabine wurde der Antwort enthoben. Dr. Leonhardt trat, einen Stapel Bücher unter dem Arm, ins Zimmer. Er kam unangemeldet. Carola hatte nicht aufgepaßt. Alle sausten auf ihre Plätze.

„Guten Morgen, meine Damen“, sagte der Klassenlehrer, „bitte setzen! Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, aber … leider … Nun, wir wollen uns nicht lange mit Vorreden aufhalten. Beginnen wir lieber!“

„Er hat verschlafen“, hörte man ein sehr deutliches Flüstern.

Sabine fuhr herum. Sie hatte die Stimme von Daniela Wilde erkannt. Sicher hatte Dr. Leonhardt es auch gehört. Jetzt würde Daniela was erleben.

Aber Sabines Erwartungen erfüllten sich nicht.

Dr. Leonhardt sagte nur — und fast schien es, als ob er dabei ein Schmunzeln unterdrückte —: „Du kannst dir deine Randbemerkungen sparen, Dany! Aber ich verzeihe dir, weil ich weiß, daß es in der menschlichen Natur liegt, von sich auf andere zu schließen.“

Die Klasse lachte, und Daniela, der der Hieb gegolten hatte, lachte mit.

„Sie werden’s nicht glauben, Herr Doktor“, sagte sie, „aber ich bin in den Ferien mal um fünf Uhr morgens aufgestanden … großes Ehrenwort!“

„In den Ferien … das kann ich mir vorstellen!“ sagte Dr. Leonhardt, ohne über den reichlich ungezwungenen Ton, den Daniela anschlug, auch nur eine Sekunde überrascht zu sein.

Er wandte jetzt sein Augenmerk auf Sabine, die in der Nähe der Tür stehengeblieben war. „Na, was ist mit dir, junge Dame?“ fragte er. „Ich nehme an, du bist die Neue. … Möchtest du nicht den Mantel ausziehen? Oder bist du noch nicht sicher, ob es dir hier bei uns gefällt?“

Sabine wurde rot, und wieder lachten alle.

„Ich habe nicht gewußt“, stotterte Sabine, „ich meine … ich dachte …“ Sie ärgerte sich über Dr. Leonhardt, der auf ihre Kosten Witze riß, über das Gelächter der anderen und über ihre eigene Unsicherheit. Hastig zog sie ihren Mantel aus und hängte ihn an einen Haken an der Hinterseite des Klassenzimmers. Sie trug darunter ein Schottenkleid, das einmal sehr schön gewesen, inzwischen aber allzuoft gewaschen und verlängert worden war.

„Na, wo wollen wir dich denn hinsetzen?“ fragte Dr. Leonhardt nachdenklich und ließ seinen Blick über Tische und Stühle, über blonde, braune und schwarze Köpfe streichen.

Eine angstvolle Sekunde lang glaubte Sabine, daß er den Platz neben Daniela, die in der letzten Reihe saß, für sie räumen lassen würde.

Aber Dr. Leonhardt tat nichts dergleichen. „Irene Kubalski“, sagte er zu einem langaufgeschossenen, mageren Mädchen, das ganz vorne saß, „wie wär’s, wenn wir beide das neue Schuljahr mit einem Experiment beginnen würden? Glaubst du, ich kann es wagen, dich von nun an aus den Augen zu lassen?“

„Bestimmt, Herr Doktor!“ Irene sprang strahlend auf.

„Hoffen wir’s“, sagte Dr. Leonhardt trocken. „So eine lange Latte wie du gehört wirklich nicht nach vorne.“

Irene holte ihre Mappe unter dem Tisch vor und verzog sich vergnügt nach hinten.

„So, da ist von nun an dein Platz, Sabine!“ Dr. Leonhardt warf einen Blick in sein Notizbüchlein und fügte hinzu: „Sabine Kern heißt du doch, nicht wahr?“

„Ja, Herr Doktor!“

„Der Herr Direktor hat mir dein Zeugnis gezeigt, Sabine!“ Dr. Leonhardt klappte sein Notizbuch wieder zu, steckte es ein. „Ganz hervorragend. Betragen sehr gut und das meiste andere auch. Ich glaube, einige aus unserer Klasse könnten sich an dir ein Beispiel nehmen!“

„Hört! Hört!“ rief Daniela halblaut.

Dr. Leonhardt hob die Augenbrauen. „Wem der Schuh paßt, der zieht ihn an! Ja, gerade an dich habe ich dabei gedacht, Dany! Übrigens würde es mich in diesem Zusammenhang interessieren: Was haben denn deine Eltern zu deinem Zeugnis gesagt?“

Daniela war nahe daran, verlegen zu werden, obwohl das im allgemeinen nicht ihre Art war. Aber sie faßte sich schnell und schürzte die vollen Lippen. „Och, nichts … Besonderes.“

„Wirklich nicht?“

„Na, gefreut haben sie sich gerade nicht“, gab Daniela zögernd, aber doch ehrlich zu. Sie sah Dr. Leonhardt aus ihren großen blauen Augen treuherzig an. „Ich habe versprochen, daß ich mich bessern werde!“

„Na, da lassen wir uns mal überraschen!“

„Überhaupt“, sagte Daniela, die gern das letzte Wort hatte, rasch, „im Turnen, Singen, Zeichnen und in Handarbeit … bin ich doch prima!“

„Zweifellos. Weil das die Fächer sind, die dir leichtfallen und die dir Freude machen! Aber lernen heißt, sich Mühe geben. Schreib dir das hinter die Ohren.“

Daniela hatte schon den Mund geöffnet, um entgegenzureden. Aber sie kam nicht mehr dazu.

Dr. Leonhardt sagte energisch: „Setz dich jetzt, Dany. Genug davon.“ Er ging zum Lehrertisch, nahm Platz, faltete die Hände und überblickte die Klasse.

Ein Teil der Mädchen hatte die Nasen gesenkt, die anderen blickten ihn aufmerksam und mit betonter Bravheit an. Alle hatten begriffen, daß das, was er Daniela gesagt hatte, auch für sie selber galt.

Nur Sabines Augen hinter der Brille leuchteten. Sie mußte die Lippen zusammenpressen, um ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. Aber sie hatte sich zu früh gefreut.

„Sabine, da ist übrigens noch etwas, über das ich mit dir sprechen möchte“, sagte Dr. Leonhardt. „In deinem Zeugnis steht, daß du vom Turnen befreit bist.“

Sabine schnellte empor. „Ja, Herr Doktor“, sagte sie strahlend, „ich habe ein schwaches Herz. Das Attest …“

„Stimmt. Trotzdem … Wie wär’s, wenn du dich noch mal untersuchen lassen würdest?“

„Aber … aber warum denn?“ sagte Sabine fassungslos. „Das Attest … es gilt doch für zwei Jahre!“

„Weiß ich. Aber immerhin, es besteht doch die Möglichkeit, daß sich dein …“ Dr. Leonhardt räusperte sich, „Gesundheitszustand inzwischen überraschend gebessert hat, nicht wahr?“

„Nein, das glaube ich nicht!“ sagte Sabine entsetzt.

„Wer weiß. Eine Untersuchung beim Amtsarzt kann jedenfalls nicht schaden.“

Sabine war den Tränen nahe. Sie haßte die Turnstunde, sie hatte sie seit jeher gehaßt. Sie konnte nicht turnen, und sie wollte nicht turnen. Sie war so glücklich gewesen, ein Attest vorweisen zu können. Sie hatte geglaubt, die Turnerei überstanden zu haben, und jetzt sollte alles vergeblich gewesen sein?

„Herr Doktor, ich …“, stammelte sie, „aber ich weiß doch genau, daß es mir noch nicht besser geht!“

„Meine liebe Sabine“, sagte Dr. Leonhardt ernsthaft, „ich muß mich über dich wundern! Mir scheint fast, du empfindest deine Krankheit als etwas Wünschenswertes. Du klammerst dich geradezu daran. Wirklich sonderbar. Das bringt mich auf einen Gedanken. Ich werde euch ein zweites Aufsatzthema geben.“ Er stand auf, trat zur Wandtafel und nahm ein Stück Kreide in die Hand. Das erste lautete wie jedes Jahr „Ferien“ — er schrieb das Wort in großen, deutlichen Buchstaben auf die Tafel. „Das ist ein reines Erlebnisthema und wird den meisten von euch sicher gut liegen. Für die anderen aber möchte ich vorschlagen, daß sie sich mal mit folgendem Problem beschäftigen: ,Gesundheit und Krankheit’!“ Er fuhr mit der Kreide über die Tafel, dann legte er das Stück weg, wischte sich die Hände an seinem Taschentuch sauber. „So, das wär’s!“ Er trat ans Lehrerpult. „Wir werden uns in diesem Jahr mit dem Drama ,Wilhelm Tell’ von Friedrich von Schiller beschäftigen. Ich habe euch den Text mitgebracht. Bitte, Susanne, verteil die Texte.“

Ein rundliches Mädchen mit einem dicken roten Zopf, das seinen Platz neben Sabine in der ersten Reihe hatte, sprang auf und nahm den Stapel kleiner Bücher vom Tisch.

„Heute wollen wir uns erst einmal mit dem Leben und der Persönlichkeit des Dichters befassen. Ich nehme nicht an, daß eine von euch … ja, Dany?“

„Schiller hatte Gedichte geschrieben und Theaterstücke“, sagte Daniela. „Er ist sehr berühmt. Er war mit Goethe befreundet.“

„Na, immerhin!“ Dr. Leonhardt sah sich um. „Sabine?“

„Friedrich von Schiller ist 1759 in Marbach am Neckar geboren“, erklärte Sabine, „er sollte Militärarzt werden, aber das paßte ihm nicht. Sein erstes Stück hieß ,Die Räuber’ … und … Schiller war auch vom Turnen befreit!“ platzte sie heraus.

„Was du nicht sagst!“ Dr. Leonhardt schmunzelte. „Soll das etwa heißen, daß du dich für einen kleinen Schiller in der Westentasche hältst?“

„Nein“, sagte Sabine, „das natürlich nicht. Aber … ich bin überzeugt, daß Turnen für geistige Menschen nicht wichtig ist.“ Sie warf den Kopf zurück und sah sich herausfordernd in der Klasse um.

Ein paar Mädchen kicherten unterdrückt. Daniela starrte Sabine verblüfft mit offenem Mund an.

„Zu diesem Thema ließe sich allerhand sagen“, erklärte Dr. Leonhardt ruhig, „aber ich möchte dir jetzt nur eine einzige Frage stellen: Wann ist Schiller gestorben?“

„1805“, sagte Sabine wie aus der Pistole geschossen.

„Er ist also, wie du dir selber ausrechnen kannst, nicht älter als sechsundvierzig Jahre geworden. Euch scheint das vielleicht ziemlich alt, in Wirklichkeit ist es sehr jung. Er wurde nur ein paar Jahre älter, als ich es heute bin. Viele Jahre seines Lebens ist er krank gewesen, er ist sozusagen von einer Krankheit in die andere gefallen. Die meisten seiner Dramen sind unter unendlichen Anstrengungen und Schmerzen entstanden. Glaubst du allen Ernstes, Sabine, daß Schiller selber seine Krankheit als etwas Gutes empfunden hat?“

„Das nicht, aber …“

„Grade wenn man keine sehr gesunde körperliche Verfassung hat, meine liebe Sabine, muß man etwas für sich tun. Dany zum Beispiel könnte man ruhig vom Turnen befreien, ohne daß es ihr etwas schaden würde. Sie würde auch ohne Turnunterricht genügend Gelegenheit zum Laufen, Springen, Klettern und Tanzen finden, aber bei dir ist das etwas anderes.“

„Ja, aber ich kann es nicht!“ rief Sabine mit zitternder Stimme. „Ich bekomme so furchtbares Herzklopfen nach der kleinsten Anstrengung. Wirklich, Herr Doktor, Sie müssen mir glauben!“

„Ich bin kein Arzt, meine liebe Dame. Mit mir brauchst du darüber nicht weiterzureden. Geh gleich heute nachmittag zum Amtsarzt. Das Gesundheitsamt ist in der Breiten Straße; Sprechstunde, glaube ich, ab vierzehn Uhr. Dann werden wir’s ja erfahren. Und nun wieder zu unserem Dichter!“

Nichts als Ärger

Als Sabine mittags aus der Schule kam und die fünf Treppen zu der kleinen Mansardenwohnung emporgestiegen war, wurde sie von ihrer Mutter fröhlich begrüßt.

„Na, meine Große, wie war’s in der Schule?“ fragte sie und strich sich mit dem Handrücken eine Locke ihres dunklen Haares aus der Stirn. „Stell dir vor, was für ein Glück …“ Aber dann sah sie Sabines Gesicht. „Was hast du?“ fragte sie erschrocken. „Ist etwas passiert?“

„Gar nichts!“ Sabine sah ihre Mutter nicht an. Sie setzte ihre Mappe zu Boden, zog sich den Regenmantel aus.

„Aber Sabine, mir kannst du doch nichts vormachen. Hat es Ärger gegeben?“

„Nein“, sagte Sabine; aber sie konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme bebte.

„Doch, natürlich. Mich kannst du nicht täuschen.“ Frau Kern zog die Tür zur Wohnküche ins Schloß, denn drinnen saßen die beiden Buben, die nicht alles mit anhören sollten. „Erzähl mir’s!“

„Da gibt’s nichts zu erzählen!“ Sabine zuckte die Achseln. „Sie waren gemein zu mir … alle.“

„Das kann doch nicht sein!“

„Wenn du mir nicht glaubst, was hat es denn dann für einen Sinn, dir etwas zu erzählen?“

„Bitte, Sabine, sei vernünftig. Du bist noch fremd in der Klasse, da ist es doch selbstverständlich, daß … daß es eben eine Weile dauert, bis sie dich in ihren Kreis aufnehmen, die anderen Mädchen, meine ich. Ach herrje, hättest du bloß auf mich gehört! In diesem alten Kleid konntest du auch keinen guten Eindruck machen. Warum hast du es nicht zugelassen, daß ich dir etwas Neues, Schickes nähe?“

„Weil es hinausgeworfenes Geld gewesen wäre“, sagte Sabine mürrisch. „Wie oft soll ich dir das noch erklären. Du hast grade genug zu tun gehabt mit dem Umzug.“

„Ja, das stimmt.“ Frau Kerns Augen strahlten schon wieder. „Aber es hat sich gelohnt, Sabine, ich habe recht gehabt. Nicht nur, daß unsere neue Wohnung viel billiger ist, ich habe schon Kundschaft. Was sagst du jetzt? Frau Müller vom zweiten Stock hat sich ein Kleid bei mir bestellt. Was ganz Tolles, ein Cocktailkleid. Wir ziehen heute nachmittag zusammen los und kaufen einen Stoff ein.“

„Gratuliere!“ sagte Sabine. Ihre Stimme klang freudlos.

Frau Kern nahm ihre kleine Tochter in die Arme. „Mach doch nicht so ein Gesicht, Liebling! Sei doch ein bißchen vergnügt! Ich weiß, es war alles sehr schwer für dich … Vaters Tod, und daß es uns jetzt nicht mehr so gut geht wie früher. Aber es hat doch keinen Zweck, dauernd darüber nachzugrübeln. Das hilft nichts, wir müssen uns abfinden. Oder glaubst du, daß Vater sich freuen würde, wenn du so schlecht gelaunt bist?“

„Ich bin nicht schlecht gelaunt“, sagte Sabine.

„Um so besser. Dann komm jetzt rein. Es gibt Erbsensuppe und hinterher eine Überraschung. Schokoladenpudding!“ Frau Kern öffnete die Tür und ging voraus in die Wohnküche. Sabines Brüder, der neunjährige Kaspar und der siebenjährige Hannes, saßen am Tisch und machten Schularbeiten.

„He, Sabine“, sagte Kaspar, „gut, daß du kommst. Ich habe heute was schrecklich Verzwicktes aufbekommen! Bitte erklär mir doch mal …“

„Ich denke nicht daran!“

„Na hör mal, Sabine, du könntest doch wirklich …“, sagte Frau Kern.

„Warum soll ich? Kaspar kann ruhig seinen Kopf selber anstrengen. Mir hilft auch niemand.“

Kaspar sprang auf. „Na so was! Und wer putzt dir die Schuhe, und wer …“

„Bitte, Kaspar, schrei nicht so!“ sagte die Mutter. „Sabine hat Ärger in der Schule gehabt, deshalb ist sie jetzt schlechter Laune. Nach dem Essen wird sie dir auch bei deinen Schularbeiten helfen. Und jetzt macht den Tisch frei, damit wir essen können!“

Die Buben räumten ihre Schulsachen weg. Behutsam verteilte Kaspar die Teller auf dem Tisch, Sabine das Besteck und Hannes, der Jüngste, die Servietten, wie sie es seit langem gewohnt waren.

„Ich habe heute nachmittag keine Zeit“, sagte Sabine, „erstens habe ich selber ’ne Menge auf, und zweitens muß ich in die Stadt.“

„Aber wieso denn?“ sagte Kaspar. „In die Stadt! Wenn ich das schon höre! Das ist doch alles bloß Wichtigmacherei!“

„Denk, was du willst!“ Sabine setzte ihr hochmütigstes Gesicht auf.

„Bitte, Sabine, sag schon!“ bettelte Hannes. „Was willst du in der Stadt? Willst du vielleicht was einkaufen? Eine Überraschung?“

„Ach was. Auf so etwas kannst auch nur du kommen!“

„Was willst du dann in der Stadt?“ Die Mutter verteilte Erbsensuppe in die Teller aus einer großen Terrine. „Nun red schon, Sabine!“ mahnte sie. „Du weißt, Geheimnistuerei kann ich nicht leiden!“

„Ich muß zum Amtsarzt.“

„Schon wieder? Du warst doch erst vor ein paar Monaten. Ich dachte, dein Attest gelte für zwei Jahre!“

„Aber unser Klassenlehrer will es nicht anerkennen!“

„Quatsch!“ sagte Kaspar. „Das muß er doch. Wenn jemand ein Attest hat …“

„Er tut’s eben nicht. Wenn du so übergescheit bist, mein lieber Bruder, ich stelle dir frei, mal zu ihm zu gehen und mit ihm zu sprechen.“

„Ach, wie ärgerlich für dich, Sabine“, sagte Frau Kern mitfühlend, aber dann hellte sich ihr Gesicht sogleich wieder auf. „Wer weiß, vielleicht hat sich deine Gesundheit inzwischen wirklich gebessert. Das wäre mir eine große Beruhigung.“

„Mutter! Hast du immer noch nicht begriffen? Sabine will doch gar nicht gesund sein. Sie will sich bloß vorm Turnen drücken!“ rief Kaspar.

„Also, bitte, Kaspar, ich verbiete dir solche Bemerkungen! So etwas sähe Sabine gar nicht ähnlich.“ Frau Kern setzte sich zu Tisch. „Ich wünsche euch allen einen guten Hunger!“

Auch die Kinder rückten ihre Stühle heran und nahmen Platz.

Während der Mahlzeit kümmerte sich niemand um Sabine, und sie war froh, daß man sie in Ruhe ließ. Essen war für Kaspar und Hannes immer eine Beschäftigung, die sie voll und ganz in Anspruch nahm.

Erst als auch der letzte Rest des Schokoladenpuddings vertilgt war, standen sie auf. Hannes, der zwei Wochen mit einer Halsentzündung im Bett gelegen hatte und gestern zum erstenmal aufgestanden war, wurde ins Jungenzimmer geschickt. Er sollte sich ausruhen. Kaspar bekam den vollen Mülleimer in die Hand gedrückt, den er unten im Hof in die Mülltonnen ausleeren sollte. Sabine mußte ihrer Mutter beim Geschirrtrocknen helfen.

Als Frau Kern mit ihrer Tochter allein war, fragte sie behutsam: „Sei mal ehrlich, Sabine, die Sache mit dem Amtsarzt … ist das der Ärger, den du in der Schule gehabt hast?“

„Nicht nur.“

„Was denn sonst noch?“

Sabine nahm den Teller, den die Mutter auf die Abtropfplatte gestellt hatte, und begann ihn blankzureiben. „Du weißt doch, wie sie sind“, sagte sie.

„Nein, das weiß ich nicht!“ sagte Frau Kern. „Zu meiner Zeit … als ich noch in die Schule ging, da hatte ich eine Menge dicker Freundschaften! Daß es auf der alten Schule ein bißchen schwer für dich war, das habe ich ja verstanden. Aber ich hatte gedacht … ich hatte so gehofft, Sabine, du würdest hier ein paar nette Freundinnen finden.“

„Wozu? Was soll ich damit?“

„Ich bitte dich, red doch nicht so daher! Man braucht Freundinnen, um … um …“ Frau Kern fand nicht gleich die richtigen Worte.