Das einzige Problem - Muriel Spark - E-Book

Das einzige Problem E-Book

Muriel Spark

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Beschreibung

Es beginnt wie eine moderne Ehekomödie, es endet wie ein Kriminalroman: Die tragische Geschichte des begüterten Privatgelehrten Harvey Gotham, der sich mit Mitte Dreißig nach Frankreich aufs Land zurückzieht, um ein Buch über Hiob zu schreiben, während er im Leben das Prinzip des Bösen erforscht.

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Muriel Spark

Das einzige Problem

Roman

Aus dem Englischen von Otto Bayer

Diogenes

Doch ich wollte gern zu dem Allmächtigen reden und wollte rechten mit Gott

Hiob, 13,3

Erster Teil

Erstes Kapitel

Er fuhr auf der Straße von Saint-Dié nach Nancy im französischen Departement Meurthe; die Straße war schnurgerade und fast weiß und führte zwischen dichten Nadel- und Birkenwäldern hindurch. Er fand den Graspfad zur Rechten, den er gesucht hatte. Anders als erwartet. Aber es kommt ja immer anders, dachte er. Dabei hätte Edward Jansen jetzt nicht mehr genau sagen können, was er erwartet hatte; er versuchte es, aber das Bild, das er sich gemacht hatte, schwand angesichts der Wirklichkeit dahin wie ein Traum beim Aufwachen. Er bog auf den Pfad ein, zweigte nach links ab und hielt an. Jetzt hätte er sich ganz gern erinnert, wie er sich das kleine Haus vorgestellt hatte, bevor er es sah, aber auch davon war nichts mehr da.

Er blieb noch eine Weile im Wagen sitzen und betrachtete den alten grünen Gartenzaun und das geschlossene Törchen zu einem verwilderten kleinen Garten. Kein sichtbarer Pfad führte mehr zu dem steinernen Häuschen, einer Art Pförtnerhaus mit losen Ziegeln auf dem Dach und dunklen, ungepflegten Fenstern. Etwas abgesetzt davon standen zwei Schuppen aus vermoderndem Holz. Auf Edwards Seite führte ein breiterer Weg vermutlich zum Château, für das er sich im Augenblick jedoch nicht interessierte. Es entging ihm aber nicht, daß die Fahrrinnen auf diesem Weg von Gras überwachsen waren, offenbar selten benutzt; und dennoch war das Gras auf diesem Weg grüner als das auf dem Grundstück vor ihm, hinter dem Törchen. Wenn seine Frau bei ihm gewesen wäre, hätte er sie darauf aufmerksam gemacht und es einen Wesenszug Harvey Gothams genannt, des Mannes, den er hier besuchen wollte; nach seiner Theorie – zu wenig fundiert, um sie öffentlich zu vertreten, aber mit Ruth konnte er darüber sprechen – beeinflußten Menschen nämlich die sie umgebende natürliche Vegetation, egal ob sie Hand daran legten oder nicht; er würde sagen, daß manche Menschen ihre Umwelt allein durch psychische Kräfte fruchtbar oder zur Wüste machten. Wenigstens in diesem Fall würde Ruth ihm zustimmen, denn offenbar mochte sie Harvey beim besten Willen nicht leiden. Es war schon so weit gekommen, daß alles, was Harvey tat oder sagte, und wenn es nur ein Gutenachtgruß war, ihn für ihre Begriffe nur noch immer schlechter machte. Gewiß konnte man so oder so gute Nacht sagen, aber Edward fragte sich denn doch, ob in dem, was er und Ruth über Harvey, den sie ja nicht so gut kannte wie er, untereinander sagten und dachten, nicht doch ein gut Teil Dämonologie steckte. Jedenfalls hatten sie sich zu zweit ein Bild von Harvey zusammengefügt, das sie in der Öffentlichkeit nicht vorgeführt hätten. Eben darum hatte Edward es nur fair gefunden, allein hierher zu kommen, obwohl er zuerst erwartet hatte, Ruth würde mitkommen. Sie hatte gemeint, das könne sie sich nicht antun. Vielleicht könnte ich ja auch etwas fairer gegenüber Harvey sein, hatte Edward gedacht.

Und doch saß er nun hier vor Harveys Haus in seinem Wagen und stellte fest, wieviel grüner das Gras überall anders war als in der unmittelbaren Nähe des Cottage. Edward stieg aus und knallte die Autotür zu, um zu sehen, ob sich daraufhin an der dunklen Eingangstür oder wenigstens an einem der Fenster des Hauses etwas tat. Dann ging er zum Törchen. Es wurde von einer rostigen Drahtöse zugehalten, die er aushakte. Er öffnete das knarrende Törchen, ging zur Haustür und klopfte. Es war zehn nach drei, und Harvey erwartete ihn; der Besuch war ja abgemacht. Aber er klopfte, und nichts rührte sich. Auch das war typisch. Er ging um das Haus herum und suchte nach einem Auto oder Motorrad, das Harvey doch wohl besaß. Hinterm Haus fand er einen breiten Pfad, eine Art Zufahrt, die von der Hintertür weg in den Wald führte und von der Straße aus nicht zu sehen gewesen war. Ein Motorrad fand er nicht, dafür einen einigermaßen neuen, hellbraunen kleinen Renault unter einem binsengedeckten Schutzdach. Harvey war demnach wohl zu Hause. Seine Haustür war die Hintertür, also klopfte Edward nun daran. Harvey öffnete sofort und machte wie immer ein Gesicht, als wollte er sagen, er habe damit sein möglichstes getan.

»Du hast dir die Haare nicht schneiden lassen«, sagte er.

Edward hatte die Antwort parat wie ein aufgewärmtes Fertiggericht, so oft schon hatte er Harvey dem Sinne nach immer wieder dasselbe geantwortet: »Es sind meine Haare, nicht deine. Und es ist mein Bart, nicht deiner.« Mit diesen Worten trat Edward ins Haus, und Harvey konnte ihm nur noch den Weg freigeben.

Man wußte bei Harvey immer nur bis zu einem bestimmten Punkt, wie man mit ihm dran war. »Was willst du der Welt mit so einem Poncho in deinem Alter beweisen, Edward?« fragte er. Im Wohnzimmer schob er ein paar Stühle aus dem Weg. »Und mit deinen Haaren bis runter auf den Rücken«, sagte er.

Edward trug das Haar wirklich schulterlang. »Ich lasse es mir für eine Filmrolle wachsen«, sagte er und wünschte sogleich, er hätte gar keine Erklärung abgegeben, denn es waren schließlich seine Haare, nicht Harveys. Rote Haare.

»Hast du eine Rolle?«

»Ja.«

»Was tust du dann hier? Warum bist du nicht bei den Proben?«

»Die Proben fangen erst am Montag an.«

»Wo?«

»Elstree.«

»Elstree.« Harvey sprach das Wort so aus, als hörte noch jemand zu – als wollte er dessen Aufmerksamkeit auf eben dieses Wort lenken: Elstree, und was man sich dabei auch immer denken mochte.

Edward wünschte sich zwanzig Minuten in der Zeit zurück, als er die Straße von Saint-Dié nach Nancy entlangfuhr und das Frühlingswetter fühlte. Frühlingswetter, blühende Kirschbäume und all das knospende Grün an der Straße von Saint-Dié hatten ihn aufgerichtet, während es hier in Harveys Zimmer nichts gab, an dem er sich hätte aufrichten können. Beinahe hätte er gefragt: »Was mache ich hier?« Doch er ließ es sein, denn die Frage wäre ja rein rhetorisch gewesen. Er war wegen Effie gekommen, seiner Schwägerin und Harveys Frau.

»Dein Telegramm war zu lang«, sagte Harvey. »Fünf Wörter hättest du dir sparen können.«

»Wie ich sehe, bist du beschäftigt«, sagte Edward.

 

Effie war nicht gerade Edwards Herzblatt, aber Ruth sorgte sich um sie. Vor langer Zeit hatte er mit der schönen Effie einmal eine Affäre gehabt, aber die gehörte der Vergangenheit an. Er war Ruth zuliebe gekommen. Von neuem mußte er sich sagen, daß er für Ruth fast alles tun würde.

»Was ist das für eine Nummer?« fragte Harvey. »Du bist mir irgendwie nicht du selbst, Edward.«

Edward hatte das Gefühl, daß Harvey ihn immer verdächtigte, Theater zu spielen.

»Ich weiß nicht, ob ich für Schauspieler im allgemeinen sprechen kann, wirklich nicht«, sagte Edward. »Ich denke, daß meine eigene Erfahrung die Natur meines Berufs widerspiegelt. Für mich selbst kann ich jedenfalls sprechen. O ja, das kann ich. Ich weiß nämlich, wann ich auf der Bühne stehe und wann nicht. Den Unterschied kennen nicht alle Schauspieler. Die meisten spielen im Leben besser als auf der Bühne.«

Edward ging in das kleine Wohnzimmer, das Harvey mit den allernotwendigsten Dingen zum Leben eingerichtet hatte, um sich hier seiner selbstgestellten Aufgabe zu widmen. Dabei standen die abgewetzten grünen Sessel, aus deren Polstern die Füllung quoll, und der sehr kleine Arbeitstisch mit den darauf gestapelten Papieren und Schreibutensilien (er schrieb mit der Hand) in keinem Verhältnis zu dem Projekt. Harvey wollte doch nur ein Thema studieren und eine Abhandlung darüber schreiben, einen Essay. Wozu dieser spektakuläre Verzicht auf materielle Dinge? Weiß der Himmel, wo er sich sein Mobiliar überall hergeholt hat, dachte Edward. Vom Wohnzimmer sah man weiter in eine Küche mit einem Tisch und einem Laib Brot und einer Kaffeetasse darauf. Wie erzählerische Malerei aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wahrscheinlich gab es oben noch weitere bewohnbare Zimmer. Edward setzte sich auf Harveys Geheiß. Von seinem Platz aus sah er durchs Fenster auf eine Leine, an der Babywäsche hing. Von einem Baby war aber im Haus nichts zu sehen, woraus Edward schloß, daß die Wäsche nichts mit Harvey zu tun hatte; wahrscheinlich gehörte sie seiner Aufwartefrau, die ihre Kindersachen zum Waschen mitbrachte.

Harvey sagte: »Ich bin sehr beschäftigt.«

»Ich bin wegen Effie gekommen«, sagte Edward.

Harvey ließ sich mit der Antwort viel Zeit. Das macht er immer, dachte Edward, wenn er wichtig tun will.

»Ach so, Effie«, sagte Harvey endlich und wirkte mit einemmal erleichtert; dann lächelte er sogar, als wollte er sagen, er habe schon gefürchtet, mit einem wirklich wichtigen Problem konfrontiert zu werden.

 

Harvey hatte Effie seinerzeit auf einer italienischen autostrada sitzenlassen, etwa vor einem Jahr, als sie – Ruth, Edward, Effie, Harvey und Nathan, einer von Ruths Studenten – auf dem Weg von Bologna nach Florenz waren. Sie hatten zum Tanken angehalten; Effie und Ruth gingen auf die Toilette und kamen zu dem noch immer in der Schlange stehenden Auto zurück. Es war spätnachmittags an einem kühlen, ziemlich wolkigen Apriltag, keinem dieser heißen italienischen Tage, an denen man das Gefühl hat, bei jedem Halt etwas trinken oder ein Eis essen zu müssen. Es war reine Verzehrlust, die Harvey – oder vielleicht war es Nathan – fragen ließ, ob sie sich etwas vom Büffet holen sollten; dieses gehörte zu einer großen Kette und hielt in seinen riesigen Schaufensterauslagen Strohkörbe und Töpfereien aus Hongkong und phantasievoll geformte Flaschen mit italienischen Likören feil. Es hieß: »Was sollen wir uns holen gehen?« – »Ein Sandwich, einen Kaffee?« – »Nein, ich mag diese ekligen Sandwichs nicht mehr.« Effie ging mal sehen, was es zu kaufen gab, und kam mit Schokolade zurück. »O ja, darauf habe ich gerade Lust.« – Sie hatte zwei große Tafeln mitgebracht. Der Tank war inzwischen gefüllt. Edward bezahlte das Benzin. Effie nahm neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz. Sie waren alle wieder im Wagen, und Edward fuhr los. Effie begann die Schokolade aufzuteilen und herumzureichen. Nathan, Ruth und Harvey, die hinten saßen, nahmen alle ein Stück. Auch Edward nahm ein Stück, und Effie steckte sich selbst eins in den Mund.

Dann drehte sie sich mit dem Mund voll Schokolade um und sagte zu Harvey auf dem Rücksitz: »Gut, nicht? Ich hab sie gestohlen. Magst du noch ein Stück?«

»Was hast du?« fragte Harvey. Ruth äußerte sich ähnlich, und Edward sagte, das glaube er nicht.

»Warum sollen wir nicht zugreifen?« meinte Effie. »Diese Multis und Monopolunternehmen bereichern sich an uns, während zwei Drittel der Welt Hunger leiden.«

Sie riß die zweite Tafel auf, stopfte sich zornig noch einen Riegel in den Mund und ereiferte sich, mit vollen Backen die gestohlene Schokolade kauend, weiter über die hungernden zwei Drittel der Welt.

»Mit Stehlen machst du es für sie und für uns alle nur noch schlimmer«, sagte Edward.

»Stimmt«, sagte Ruth, »das macht es wirklich für alle nur schlimmer. Außerdem ist es unehrenhaft.«

»Das weiß ich nicht«, meinte Nathan.

Aber Harvey wollte gar nichts weiter hören. »Fahr mal rechts ran«, sagte er. Sie fuhren mit hundert Stundenkilometern, aber er hatte die Hand an der Klinke der hinteren Tür, und das auf der gefährlichen Straßenseite. Edward fuhr rechts ran. Er wußte jetzt nicht mehr, wie sie es Harvey damals ausgeredet hatten, gleich auf der autostrada auszusteigen; er saß jedenfalls schweigend auf dem Rücksitz, während Effie weiter Schokolade aß und derweil über das kapitalistische System herzog. Von den andern wollte niemand mehr von der Schokolade haben. Kurz vor der nächsten Ausfahrt sagte dann Harvey: »Fahr da raus, ich muß mal.« Er ging zur Toilette, und sie warteten auf ihn. Währenddessen hatte Edward die ganze Zeit den Verdacht, daß er nicht wiederkommen würde, und als eine Minute um die andere verging, stieg er aus, um nachzusehen. Er sah Harvey gerade noch auf den Beifahrersitz eines Lastwagens steigen, und fort war er.

Unterwegs verloren sie den Lastwagen irgendwo bei Florenz aus den Augen. Für Effie war durch Harveys Verschwinden der Urlaub verdorben. In ihrer Wut schimpfte sie so lange über ihn, bis Ruth mit der stets aufreizenden Frage konterte: »Wenn er so schlecht ist, warum ärgert es dich dann so, daß er weg ist?« Die andern waren noch einen Tag oder zwei verstimmt und betreten, aber dann fanden sie sich ab. Schließlich waren sie auf Urlaub. Edward lehnte es zwei Wochen lang ab, über das Thema auch nur zu reden; sie fuhren die toskanische Küste entlang und machten da und dort Station. Es hätte eine wunderschöne Reise sein können, wenn nur Effie nicht so wütend und traurig gewesen wäre.

Bis zu dem Tag, an dem Edward ihretwegen zu ihm nach Frankreich fuhr, hatte sie nichts mehr von Harvey zu sehen bekommen. Kinder hatten sie nicht, und er war einfach aus ihrem Leben verschwunden und hatte sie mit allen seinen Sachen und der Stromrechnung und den tausend Alltagsdingen eines Ehelebens sitzenlassen. Alles wegen eines Riegels Schokolade. Und doch wieder nicht.

Ruth und Edward waren sich einig, daß etliches zu dieser Trennung von Harvey und Effie zusammengekommen sein mußte.

Edward beneidete Harvey zutiefst, ohne genau zu wissen, worum. Oder er befaßte sich nur lieber nicht allzu eingehend mit der Möglichkeit, daß auch er ganz gern so einfach auf und davon gegangen wäre, wenn Ruth nicht Ruth und sie beide nicht immer so schön einer Meinung gewesen wären. Wenn Harvey von seiner Ehesprach, hatte man immer das Gefühl, er dächte an etwas ganz anderes, und er sprach auch nur davon, wenn jemand anders davon anfing. Und dann war es immer so, als ob dieser andere da etwas angesprochen hätte, was für sein Leben völlig ohne Belang war, so daß er immer zuerst ein erstauntes Gesicht machte, dann die Stirn runzelte, sich mit Macht zu konzentrieren schien und schließlich das scheinbar abwegige Thema ungeduldig fallenließ. »Schien« und »scheinbar« – aber man kann ja nur nach dem äußeren Schein gehen, dachte Edward. Woher sollte er denn wissen, daß Harvey nicht nur schauspielerte, wie er es seinerseits Edward so oft unterstellte? In gewisser Weise schauspielern wir doch alle.

 

Harvey wurde jetzt geselliger, nachdem er das Thema Effie irgendwie vom Tisch gebracht hatte. Er mußte gewußt haben, daß Edward irgendwann auf Effie zu sprechen kommen würde, ja daß er sogar nur deswegen gekommen war. Oder vielleicht nicht nur. Er und Edward waren alte Freunde. Harvey schenkte ihm einen Drink ein, und Edward versuchte fürs erste nicht mehr auf Effie zu sprechen zu kommen.

»Erzähl mir von dem neuen Film«, sagte Harvey. »Wie heißt er? Was für eine Rolle spielst du darin?«

»Er heißt Die Haßliebe. Das ist aber nur der Arbeitstitel. Ich glaube kaum, daß er sich als Film unter diesem Titel verkaufen läßt. Aber er basiert auf einem Roman, der Die Haßliebe heißt. Und davon handelt der Film eben auch. Es geht um ein Ehepaar und einen andern Mann, einen Bruder, zwischen den beiden. Ich spiele den andern, also den Bruder.« (Hörte Harvey überhaupt zu? Er hatte sich umgedreht und blickte in das andere Zimmer hinüber.)

»Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann Haßliebe«, sagte Harvey, indem er sich endlich wieder zu Edward umwandte. »Das Element ›Liebe‹ darin verdient einfach nicht diesen Namen. Letzten Endes schrumpft doch alles zu reinem, simplem Haß zusammen. Liebe schließt unter anderm den Wunsch nach Wohlergehen und geistiger Freiheit dessen ein, der geliebt wird. Liebe hat etwas Objektives. Haßliebe ist zwanghaft, besitzergreifend. Sie kann böse ausgehen.«

»Na schön«, meinte Edward, »aber Haßliebe ist ein häufig vorkommendes menschliches Problem. Ein sehr wichtiges Problem, das kannst du nicht leugnen.«

»Sie ist nur Teil des größeren Problems«, sagte Harvey nach einer Weile. Edward wußte schon, worauf Harvey hinauswollte, und war’s zufrieden, nun, da er hier mit seinem alten Freund bei einem Gläschen zusammensaß. Es war das Problem des Leidens, wie es in der Bibel im Buch Hiob behandelt wurde. Es war das, weswegen Harvey in erster Linie hierher aufs französische Land gekommen war, um dieses Thema fern von seinem Familienunternehmen und seinen Freunden zu studieren.

Harvey war ein reicher Mann. Er war Mitte Dreißig und arbeitete an einer Monographie über das Buch Hiob und das darin behandelte Problem. Denn er konnte sich nicht damit abfinden, daß ein gütiger Schöpfer, der sein wunderbar köstliches Licht über die Erde goß und mächtig an allen Enden war, die unsäglichen Leiden in dieser Welt nachsehen konnte; daß Gott alles Leiden zuließ und darum in logischer Konsequenz seiner Allmacht dessen eigentlicher Urheber war; dies mit der Existenz Gottes in Einklang zu bringen, vermochte er nicht, wenn davon auszugehen war, daß Gott gut sei.

»Es ist überhaupt das einzige Problem«, hatte Harvey immer gesagt. Nun glaubte Harvey aber an Gott, und das eben war es, was ihn quälte. »Es ist überhaupt das einzige Problem, über das sich zu diskutieren lohnt.«

 

Ein knappes Jahr nach Harveys Verschwinden hatte Effie ihn in Saint-Dié aufgespürt. Sie war nicht selbst zu ihm gekommen, hatte ihm aber mehrmals über seinen Anwalt geschrieben und gefragt, was denn nun los sei. Sie erklärte ihm auch, wie sie an seine Adresse gekommen sei; ehe sie den Brief zur Post brachte, las sie ihn Edward vor, und er fand, sie hätte diesen Teil besser weglassen sollen, denn sie war ganz einfach daran gekommen, wenn auch durch eine Hinterlist, der Harvey gewiß nicht viel Charme abgewinnen würde; außerdem kompromittierte sie, indem sie den Trick preisgab, eine harmlose, wenngleich dumme Person, und diese Tatsache würde Harvey kaum entgehen. Wo es um Effie ging, war sein Moralempfinden immer besonders wach.

»Erzähl ihm lieber nicht, wie du an seine Adresse gekommen bist, Effie«, sagte Edward. »Er wird dich skrupellos finden.«

»Das tut er auch so schon«, sagte sie.

»Na, dann ist das hier womöglich noch das Tüpfelchen auf dem i. Du mußt es ihm doch nicht erzählen.«

»Ich will ihn nicht zurück.«

»Du willst nur sein Geld«, sagte Edward.

»Mein Gott, Edward, du weißt ja nicht, wie das war, mit ihm zu leben.«

Edward konnte es sich vorstellen, aber er sagte: »Wie das ist, mit jemandem zusammenzuleben … so etwas kann man doch nicht verallgemeinern.«

»Er ist reich«, sagte sie. »Und verwöhnt.« Effie hatte einen Liebhaber, den Elektronikfachmann Ernie Howe. Sie war sehr hübsch, und man konnte nicht erwarten, daß sie den Versuchungen, die ihr auf Schritt und Tritt winkten, Jahr um Jahr widerstehen würde. Sie war eine richtige Schönheit. Ernie Howe war ebenfalls ein gutaussehender Mann, aber er hatte nicht das Geld, das Harvey hatte und an das Effie gewöhnt war. Er hatte allerdings eine recht gute Stelle, und Edward vermutete, daß Effie, die ihrerseits bei einer Werbeagentur arbeitete, mit dem schlichteren Leben an seiner Seite vielleicht sogar zufrieden gewesen wäre, wenn sie Ernie geliebt hätte. Nur weil sie jetzt ein Baby erwartete, glaubte sie, daß sie Harvey dazu bringen könnte, sich mit einer großzügigen Abfindung von ihr scheiden zu lassen. Und für Edward sprach nichts dagegen.

Harvey hatte auf Effies Briefe nie geantwortet. Sie schrieb ihm weiter über seinen Anwalt. Sie berichtete ihm von ihrer Affäre und sprach auch von Scheidung.

Schließlich konnte sie sich auf völlig ungeplante Weise seine Adresse in Saint-Dié beschaffen. Allerdings hatte sie seinen Anwalt aufgesucht, um die Adresse von ihm zu erbitten. Er antwortete jedoch, er könne lediglich ihre Briefe weiterleiten. Effie ging nach Hause, schrieb einen Brief und brachte ihn, weil das schneller ging als mit der Post, am nächsten Tag persönlich wieder zu dem Anwalt. Dort gab sie ihn der Vorzimmerdame mit der Bitte um Weiterleitung. Die Frau hatte einen ordentlichen kleinen Stapel bereits frankierter Briefe auf dem Schreibtisch liegen. Effie folgte einer plötzlichen Eingebung und sagte unvermittelt: »Wenn Sie wollen, kann ich die Briefe für Sie einwerfen, denn ich komme sowieso am Briefkasten vorbei.«

»Oh, das wäre aber nett«, sagte das einfältige Ding, »ich muß nämlich zum Briefeinwerfen immer eine Bushaltestelle weiter gehen.« Schnell schrieb sie also Harveys Adresse auf den Umschlag und übergab Effie lächelnd die Briefe. Und obwohl Edward zu ihr sagte: »Du solltest Harvey nicht erzählen, wie du an seine Adresse gekommen bist; das ärgert ihn und kann dir nur schaden; und gegenüber dem armen Mädchen in der Kanzlei ist es auch nicht fair«, schrieb sie ihm dennoch direkt und erzählte ihm von ihrer kleinen List. »Um so eher wird er einsehen, wie dringend es ist«, sagte sie.

Aber Harvey antwortete noch immer nicht.

So kam es, daß Edward nun ihretwegen diese Reise gemacht hatte. Nebenbei erhoffte Edward sich auch einen Kredit. Bis er von den Filmleuten die vereinbarte Gage bekam, war er knapp bei Kasse.

 

Während ihres gemeinsamen Studiums hatten Edward und Harvey sich stets einander anvertraut. Harvey hatte Edwards Vertrauen seines Wissens nie in dem Sinne gebrochen, daß er andern etwas weitererzählt hätte; aber er hatte die Angewohnheit, Edward immer im unpassendsten Moment etwas unter die Nase zu reiben; das war ärgerlich und bereitete Edward einiges Unbehagen, zumal es Harvey stets gefiel, ihn an Dinge zu erinnern, die er irgendwann einmal gesagt hatte und eigentlich gern vergessen hätte. Anscheinend pickte Harvey sich dazu eigens die abfälligen Bemerkungen heraus, die Edward vor so langer Zeit, nämlich vor zehn oder zwölf Jahren, einmal von sich gegeben hatte, zum Beispiel damals, als er etwas wenig Nettes über Ruth gesagt hatte, was seinerzeit vielleicht witzig geklungen hatte, wahrscheinlich aber gar nicht so gemeint gewesen war. Selten erinnerte Harvey ihn dagegen an die ernstgemeinten Lobeshymnen, die er über andere, auch über Ruth, auszuschütten pflegte. Wieviel Gutes und Schönes war ihm zum einen Ohr hinein- und zum andern gleich wieder hinausgegangen; wieviel Häßliches, Gehässiges, Unreifes, Frivoles und Kritteliges aus Edwards Mund hatte er dagegen in sein Gedächtnis eingespeichert! Edward kam es so vor, als hebe Harvey von diesem vor langer Zeit einbezahlten Kapital immer dann die Zinsen ab, wenn es ihn am härtesten traf; er nannte das einen Vertrauensbruch ganz besonderer Art. Harvey würde das natürlich abstreiten und sagen, er habe nun einmal ein sehr gutes Gedächtnis, und seine Erinnerungen seien heilsam, denn Edward habe nun einmal die Neigung, sich selbst etwas vorzumachen, und im Endergebnis seien die unbequemen Wahrheiten der Vergangenheit stets besser als die bequemen Illusionen.

Und zweifellos hatte Harvey oft recht. Seine kalte Seite war fraglos etwas rein Persönliches und in Edwards Augen nicht einmal unvereinbar mit Harveys ungewöhnlicher Gutmütigkeit und seinen gelegentlichen Anwandlungen von Großzügigkeit. Und mit seinen Moralvorstellungen. Wohl ganz besonders mit seinen Moralvorstellungen.

Edward erzählte immer viel von sich und Harvey in jungen Jahren, und das auch vor Leuten, die sie gar nicht kannten. Aber kaum jemand hört aufmerksam den Erinnerungen eines Menschen zu, der es im Leben nicht weit gebracht hat; irgendwie muß immer das Endergebnis einer Lebensgeschichte deren Erzählung rechtfertigen. So blieb bei Edwards Freunden nur der Eindruck hängen, daß er mit den Gedanken immerzu bei Harvey war. Edward wünschte, daß einmal irgend etwas in seinem Leben geschehen möge, worüber er Harvey vergessen und sich seinem Einfluß entziehen könne. Er dachte: Das kann nur durch eine große Veränderung in meinem Leben geschehen. Die Scheidung von Ruth, die aber undenkbar ist (und wieso denke ich trotzdem daran?). Oder ein großer Erfolg als Schauspieler; etwas jedenfalls, was ich nicht habe.

 

Nun saß er also hier in Harveys Cottage in Frankreich und sagte schließlich: »Ich bin hauptsächlich wegen Effie hier. Ruth macht sich Sorgen um sie, große Sorgen. Ich bin Ruth zuliebe gekommen.«

»Ich erinnere mich«, sagte Harvey, »wie du einmal, nachdem du Ruth gerade geheiratet hattest, zu mir gesagt hast: ›Ruth ist eine Pfarrersfrau und wird es immer sein.‹«

Edward war bestürzt. »Ach, das war doch nur Getue. Du weißt doch, wie das damals war.«

Damals war Edward Vikar gewesen und hatte mit seiner Pfarrgemeinde so erfolgreich Theaterstücke aufgeführt, daß er in anderen Pfarreien landauf, landab sehr gefragt war. Nicht lange, und er sah ein, daß er eigentlich zum Schauspieler und nicht zum Vikar, nicht zum künftigen Pfarrer geboren war. Ihn interessierten nur seine Predigten, und auch die nur, weil er da oben auf der Kanzel eine kleine Bühne für sich und ein Publikum hatte. Die Gemeinde war von seiner Stimme und seinem Vortrag sehr angetan. Als er sein Amt niederlegte, hieß es in den meisten Briefen, die er bekam: »Ihre Predigten waren immer so aufrichtig«, oder: »Man merkte, daß Ihnen jedes Wort aus dem Herzen kam.« Das stimmte eigentlich auch. Und dennoch lag ihm bei der Predigt immer mehr an der Form als am Inhalt. Er sagte also den Wohltätigkeitsaufführungen, darunter Ein Sommernachtstraum, aufgeführt in der einen kühlen Sommernacht seiner Vikarszeit, für immer Lebwohl.

Er spielte im Repertoiretheater, dann jene Hauptrolle (in The Curate’s Egg) im West End und war im Moment, da er hier saß und Effies wegen (und hauptsächlich Ruth zuliebe) mit Harvey redete, gerade dabei, seinen beengten und beschwerlichen Weg als Filmschauspieler zu gehen. »Beengt« nannte Edward seine Schauspielerkarriere deshalb, weil ihm zu oft die Rolle eines Priesters, Expriesters oder Sozialarbeiters zugewiesen wurde. Nun aber hatte man ihm in dem Film mit dem Arbeitstitel Die Haßliebe zu seiner Freude eine andere Rolle übertragen; da spielte er einen zynischen Gelehrten, einen Philosophen. Durch das Hineindenken in diese Rolle fühlte er sich in der Diskussion Harvey so ebenbürtig wie noch nie, und so brachte er mit der aus der Rolle erwachsenen Selbstsicherheit das Gespräch wieder auf Effie.

»Sie will die Scheidung«, sagte er und wartete die unvermeidlichen paar Sekunden auf Harveys Antwort.

»Ich halte sie nicht davon ab.«

»Sie will wieder heiraten, denn sie erwartet ein Kind von Ernie Howe. Und du weißt genau, daß sie dir deswegen geschrieben hat.«