Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern - Valentina May - E-Book

Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern E-Book

Valentina May

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Beschreibung

Gut Abendroth ist Miriams ganze Leidenschaft. Jahrelang hat sie hart gearbeitet, um dem Gestüt wieder zu seinem alten Glanz zu verhelfen. Doch dann scheint es das Schicksal nicht gut mit ihr zu meinen: Ein mysteriöser Fremder stellt ihr nach, und sie hat einen Reitunfall. Nur ein Zufall, oder hat es jemand auf sie abgesehen? Geschockt und geschwächt flüchtet Miriam zu ihrer Freundin Susanne an die Nordsee. Hier will sie sich erholen, die malerische Landschaft genießen und gemütliche Abende vor dem Kamin verbringen, bis Miriam auf ihren unheimlich charmanten Nachbarn Robert trifft. Bald knistert es heftig zwischen den beiden. Doch dann taucht auch an ihrem Urlaubsort ihr unbekannter Verfolger auf …

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Kurzbeschreibung:

Gut Abendroth ist Miriams ganze Leidenschaft. Jahrelang hat sie hart gearbeitet, um dem Gestüt wieder zu seinem alten Glanz zu verhelfen. Doch dann scheint es das Schicksal nicht gut mit ihr zu meinen: Ein mysteriöser Fremder stellt ihr nach, und sie hat einen Reitunfall. Nur ein Zufall, oder hat es jemand auf sie abgesehen? Geschockt und geschwächt flüchtet Miriam zu ihrer Freundin Susanne an die Nordsee. Hier will sie sich erholen, die malerische Landschaft genießen und gemütliche Abende vor dem Kamin verbringen, bis Miriam auf  ihren unheimlich charmanten Nachbarn Robert trifft. Bald knistert es heftig zwischen den beiden. Doch dann taucht auch an ihrem Urlaubsort ihr unbekannter Verfolger auf  …

Valentina May

Das Erbe der Abendroths

Winterdämmern

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2017 by Valentina May

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg 

Lektorat: Cathérine Fischer

Korrektorat: Tatjana Weichel

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-907-7

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

1.

Mit jedem Schritt, den sie sich von Abendroth entfernte, fühlte sie sich befreiter. Gleichzeitig schlich sich Wehmut in Miriams Gedanken. Vielleicht war dieser Ausritt ihr letzter. Die Vorstellung, das Gut aufgeben zu müssen, schmerzte sie.

Nichts währt für die Ewigkeit, waren die Worte ihrer Mutter gewesen. Deprimierende Worte, weil sie hingegen fest an Beständigkeit geglaubt hatte, wenn man sich nur darum bemühte. Das Leben hatte sie eines Besseren belehrt. Die Gefahr war zunächst durch den neuen Sponsor für einen Sommer abgewendet worden, aber die Erhaltung des Gutes verschlang Unsummen, die sie zwangen, sich nach weiteren Sponsoren umzusehen. Es bedeutete, stets um den Bestand zu kämpfen. Oft fehlte ihr die Kraft, darum zu ringen, und die Familientradition wurde zu einer Bürde. Es fühlte sich unwirklich an. Nie hatte sie sich hilfloser gefühlt. Ihr Herz hing an Abendroth, ihr Schweiß und Blut steckten in diesen Mauern. Seit Mutters Tod lastete die ganze Verantwortung auf ihren Schultern, auch wenn Jenny und Dave sie nach allen Kräften unterstützten. Manchmal wünschte sie sich, alles hinter sich zu lassen, wenigstens für eine kurze Weile. Ein Ausritt war genau das Richtige.

Der wolkenlose Himmel versprach einen sonnigen Tag. Sie sattelte ihre Fuchsstute Fairy. Ein Pferd mit ausgeglichenem Gemüt, das brav dem Reiter gehorchte und selten scheute. Ihr Schwager Dave hatte sie vor den frostharten Böden gewarnt, doch sie schlug seine Worte in den Wind. Als erfahrene Reiterin wusste sie um die Gefahren. Außerdem wollte sie sich heute nicht die Vorfreude nehmen lassen und schwang sich in den Sattel. Mit keinem anderen Pferd als mit Fairy hätte sie es gewagt, bei dieser Witterung einen Ausritt zu unternehmen.

In gemütlichem Tempo schritt die Stute den Waldweg entlang und schnaubte zufrieden.

Die Stille, die sie umgab, der Zauber reifüberzogener Büsche und Bäume war Balsam für Miriam und erinnerte sie an Großmutters märchenhafte Erzählungen über Feen, wenn sie in den Wintermonaten in der Küche des Herrenhauses vor dem Kachelofen gesessen hatten. Der Gedanke daran ließ Miriam lächeln.

Im Vorbeireiten rupfte Fairy mit dem Maul Hagebutten von einem Strauch, die wie gezuckerte Früchte aussahen.

Der Weg nach oben zum Wald war hart, aber eben, sodass sie die Stute mit leichtem Druck in ihre Flanken zum Traben aufforderte.

Wie oft hatte sie sich gewünscht, Paul würde sie auf einen ihrer Ausritte begleiten? Aber ihr Mann teilte ihre Liebe zu Pferden nicht. „Was soll ich denn mit einem überdimensionalen Säugetier zwischen meinen Beinen?“ Damit hatte er alle weiteren Fragen im Keim erstickt.

Miriam klopfte der Stute sanft auf den Hals, als sie brav den Weg bergauf trabte. Eiskristalle hingen im Fell des Tieres, und auch Miriams Wangen brannten von der kalten Luft. Dennoch fühlte sie sich zum ersten Mal seit Langem gelöst. Die Probleme schienen meilenweit entfernt zu sein.

In gemächlichem Tempo durchquerten sie den Wald und erreichten die Sommerweiden. Miriam plante sie zu umrunden, um auf dem parallel verlaufenden Feldweg den Rückweg anzutreten. Doch der Anblick der Weide verlockte sie dazu, von ihrem Vorhaben abzuweichen, um auf dem von Raureif überzogenen Grün einen Galopp zu wagen.

Aus der Ferne erkannte sie einen grünen Geländewagen, der hinter der Sommerweide parkte. Er stand genau auf der planierten Stelle, an der im vergangenen Jahr ein Teil der Weide vom Starkregen weggespült worden war. Dave hatte dort die Erde abtragen lassen und den Hang mit einer Betonmauer abgefangen. Viele in der Umgebung nutzten nun den Platz zum Parken, während sie mit ihren Hunden Gassi gingen. Vermutlich auch der Fahrer des Geländewagens.

Der Untergrund der Weide erwies sich ebenfalls als eben. Als Miriam mit der Zunge schnalzte, fiel Fairy bereitwillig in den Galopp. Miriam lachte über das ausgelassene Buckeln ihres Pferdes. Nichts konnte ihre Laune in diesem Moment trüben.

Fairy war so aufgekratzt, dass sie nur schwer von einer langsameren Gangart zu überzeugen war. Autotürenklappern weckte erneut Miriams Neugier, weshalb sie ans Ende der Wiese ritt, um einen Blick auf den Geländewagen zu werfen. Kaum hatte sie den Anfang der neuen Umzäunung erreicht, zerschnitt ein Knall die Stille. Fairy bäumte sich wiehernd auf. Im Überraschungsmoment glitt Miriam der Zügel aus der Hand. Instinktiv krallte sie sich in der Pferdemähne fest. Für einen flüchtigen Moment schien es, als würde Fairy sich beruhigen, doch auf der vereisten Grasnarbe am Hang rutschte die Stute seitlich weg, geriet erneut in Panik und vollführte einen Riesensatz. Ehe Miriam es sich versah, wurde sie aus dem Sattel geschleudert und wirbelte durch die Luft. Halt suchend ruderte sie mit den Armen, doch der Untergrund kam in rasantem Tempo auf sie zu. Aus dem Augenwinkel fing sie den Blick des Fremden mit dem Geländewagen auf, der erschrocken zu ihr emporblickte. Er war ihr seltsam vertraut. Jede Grübelei wurde durch die Furcht vor dem bevorstehenden Aufschlagen verdrängt. Miriam sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Aus der Ferne hörte sie das Trommeln der Pferdehufe, dann ein qualvolles Wiehern. Jeder andere Gedanke erstarb, als sie auf den Boden knallte und das Bewusstsein verlor.

2.

Langsam sickerte ein gleichmäßiges Geräusch in Miriams Bewusstsein, das sie nicht zuordnen konnte. Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf eine weißgestrichene Zimmerdecke. Nur allmählich registrierte ihr Hirn, dass sie in einem Krankenhausbett lag, dessen Gitter zu beiden Seiten zu ihrem Schutz hochgezogen waren. Sie drehte den Kopf zur Seite. Ein stechender Schmerz im Nacken ließ sie zusammenzucken und die Halskrause verhinderte, dass sie sich auf die Seite drehen konnte. Miriam zwang sich, ruhig zu atmen, bis der Schmerz verebbt war. Danach überprüfte sie ihre Glieder. Es schien zwar nichts gebrochen, aber jeder Knochen in ihrem Leib schmerzte. Selbst das Atmen war eine Qual.

Als sie sich auf ihre Hand stützte, um sich hochzudrücken, piekte etwas. Eine Kanüle mit Schlauch steckte im Handrücken. Der Schmerz hinter ihrer Stirn brachte sie dazu, sich zurücksinken zu lassen. Krampfhaft versuchte sie sich ins Gedächtnis zurückzurufen, weshalb sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Der Ausritt mit Fairy! Sie schloss die Augen und versuchte sich zu besinnen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Nach und nach kehrten jedoch die Erinnerungsbilder zurück. Sie hörte die dumpfen Schläge der Pferdehufe auf dem gefrorenen Boden, spürte die kalte, klare Luft und die Bewegungen des Tieres unter ihr. Dann der Knall, der ihr durch Mark und Bein gefahren war und das Pferd erschreckt hatte. Ihre Hände begannen zu zittern und krallten sich in die Bettdecke. Noch einmal durchlebte sie die Furcht. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür und eine blonde Frau im weißen Kittel trat an ihr Bett.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie lächelnd. Auf der Anstecknadel an ihrem Revers stand ihr Name. Miriam kniff die Augen zusammen, aber die Buchstaben verschwammen zu grauen Schlieren.

„Ich … ich weiß nicht“, stammelte sie. „Was fehlt mir?“

„Sie hatten wirklich einen Schutzengel, Frau Lessmann. Ich bin Schwester Hilke. Schleudertrauma, Gehirnerschütterung und ein paar Stauchungen und Prellungen. Zum Glück ist nichts gebrochen.“ Die Schwester nahm vorsichtig Miriams Hand und prüfte, ob die Kanüle noch richtig saß.

„Wie lange bin ich denn schon hier?“

„Seit gestern.“

„Und … mein … Pferd?“ Miriam schluckte hart.

Die Miene der Schwester wurde ernst. „Ihr Schwager meinte, dass es eingeschläfert werden musste. Mehr weiß ich leider nicht. Wie gesagt, Sie haben riesiges Glück gehabt. Ihre Schwester kommt später eventuell noch einmal vorbei. Sie hat die ganze Nacht an Ihrem Bett gesessen. Ruhen Sie sich jetzt ein wenig aus.“

Die Worte der Schwester zogen an Miriam vorbei. Fairy war tot. Durch ihre Schuld. Tränen schossen in ihre Augen.

Schwester Hilke klopfte Miriam tröstend auf die Schulter. „Machen Sie sich keine Vorwürfe. Unglück schläft nicht.“

Miriam starrte vor sich hin. Es fiel ihr schwer, das Geschehene zu begreifen. Warum war sie Daves Rat nicht gefolgt? Ihr egoistisches Handeln hatte Fairy das Leben gekostet.

Die Schwester nahm schweigend ihre Hand, während Miriam um ihr Pferd weinte. Erst nachdem die Tränen versiegt waren, ließ die Schwester sie allein.

Miriam schloss die Augen. Sie sehnte sich nach Pauls Gesellschaft und nach ihren Kindern. Aber die Stunden schlichen dahin, und niemand schaute nach ihr.

Vor dem Schichtwechsel sah Schwester Hilke noch einmal bei ihr vorbei.

„Ach, Schwester, war mein Mann auch schon hier? Oder meine Kinder?“ Die Frage hatte ihr auf der Zunge gebrannt.

Die Schwester betrachtete sie mit gerunzelter Stirn und schien zu überlegen, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Nein, er war noch nicht hier, und Ihre Kinder auch nicht. Daran könnte ich mich erinnern. Haben Sie schon auf Ihrem Handy nachgeschaut, ob ein Anruf eingegangen ist?“ Die Schwester lief zum Tisch an der gegenüberliegenden Wand und reichte ihr anschließend das Handy. Während sie danach die Kissen aufschüttelte, suchte Miriam vergeblich nach einem Anruf.

Immer, wenn sie Paul brauchte, war er nicht da.

„Vielleicht tröstet es Sie, dass eine Frau Susanne Lenz mehrmals auf der Station angerufen hat, weil Sie nicht ans Handy gegangen sind.“ Schwester Hilke tätschelte mitfühlend ihre Hand.

„Ja, danke“, antwortete Miriam und rang sich ein Lächeln ab. „Ich werde sie nachher gleich anrufen.“

Nachdem die Schwester gegangen war, zögerte Miriam einen Moment, bevor sie schließlich Susannes Nummer wählte.

Es dauerte eine Weile, bis ihre Freundin endlich abhob. Ihre fröhlich klingende Stimme hob auch Miriams Laune. Wie schaffte Susanne es nur trotz allem, was ihr in ihrem Leben widerfahren war, stets gut gelaunt und optimistisch zu sein? Miriam beneidete sie darum. Susannes Ehe hatte nur knapp ein Jahr gedauert. Es klang fast wie ein Klischee, denn Susanne hatte ihren Mann Gordon mit seiner Sekretärin in flagranti erwischt. Seitdem wollte ihre Freundin sich nicht mehr dauerhaft binden. Zwar gab es den einen oder anderen Mann in ihrem Leben, doch für mehr als eine flüchtige Beziehung schien es nicht auszureichen. Im Jahr ihrer Scheidung verlor Susanne auch noch ihre Eltern und ihren Job. Sanne, wie Miriam sie liebevoll nannte, ließ sich dennoch nicht unterkriegen. Nach einigen Misserfolgen arbeitete sie nun als Wirtschaftsassistentin in einem großen Hamburger Unternehmen und genoss das Leben, einschließlich der Männer, in vollen Zügen.

„Hallo Sanne, ich bin’s, Miri.“

„Mensch, wie geht es dir, Liebes? Was machst du denn für Sachen? Ich bin froh, dass du dich endlich meldest. Jenny hat mir erzählt, was geschehen ist. Das ist ja furchtbar!“

„Ja, ist es.“ Miriam konnte und wollte jetzt nicht über ihre Stute sprechen, weil sie sonst erneut in Tränen ausgebrochen wäre. Das hätte Susanne dazu veranlasst, sich sofort ins Auto zu setzen und zu ihr zu fahren.

Ihre Freundin verstand Miriams Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Irgendwann, wenn du dir das von der Seele reden willst, bin ich für dich da.“

„Ich weiß. Danke dir.“ Ihre Freundin drängte sie nie. Eine der Eigenschaften, die Miriam sehr an ihr schätzte.

„Und wie ist es im Krankenhaus? Hast du schon allen Krankenpflegern und Ärzten den Kopf verdreht?“, versuchte sie ihre Freundin ein wenig aufzuheitern. Ein Kichern folgte, in das Miriam einstimmte. Typisch ihre Freundin. Es war richtig gewesen, sie anzurufen. Ihre gute Laune war ansteckend, und Miriam fühlte sich gleich etwas gelöster.

„Ja, klar … Was denkst du von mir? Erstens bin ich schon vierzig und zweitens glücklich verheiratet!“ Miriam lachte etwas gezwungen. Wenn Susanne wüsste, dass Paul sich weder bei ihr gemeldet noch sie im Krankenhaus besucht hatte. Die Freundin hatte sich nie Mühe gegeben zu verbergen, dass sie Paul nicht sonderlich mochte. Seltsamerweise war nur Melanie mit ihm klargekommen.

„Na und? Du glaubst doch nicht etwa, dass Paul keiner anderen Frau hinterhersieht?“

Susannes Worte versetzten Miriam einen Stich. Es gab Momente, in denen sie sich das ebenfalls gefragt hatte. Neulich hatte er von der Maklerin geschwärmt, die ihm seinen Juwelier-Laden vermittelt hatte. Ob Paul sie überhaupt noch attraktiv fand? Es war schon eine Zeit her, dass sie das Gefühl gehabt hatte, von ihm begehrt zu werden. Miteinander geschlafen hatten sie auch schon lange nicht mehr. Oft genug hatte sie sich gefragt, ob hinter seinen vielen Terminen vielleicht doch eine andere Frau stecken könnte. Aber immer, wenn sie ihn anrief, saß er mit Geschäftsfreunden in einem Restaurant, wie sie aus den Hintergrundgeräuschen und den Gesprächsfetzen schloss. Nichts deutete auf ein heimliches Date hin. Sie hätte auf jeden Fall gespürt, wenn er ihr untreu gewesen wäre.

„Auch wenn er attraktiven Frauen hinterherschaut, muss das nicht bedeuten, dass er mich betrügt“, verteidigte sie ihren Mann.

Susanne seufzte in den Hörer. „Hoffentlich hast du recht. Ich lege jedenfalls für keinen Mann mehr die Hand ins Feuer seit meiner Scheidung vom ach so treuen Gordon!“

„Verstehe ich doch.“ Susanne war durch die Hölle gegangen. Sie hatte Gordon sehr geliebt.

„Ich will nicht, dass es dir einmal genauso ergeht wie mir, Miri.“

Susannes Fürsorge war wirklich rührend. „Danke, dass du dir solche Gedanken um mich machst …“

„Na, hör’ mal. Du bist meine beste Freundin!“

Während sie sich noch etwas weiter unterhielten, fühlte Miriam sich immer besser, sodass sie für eine Weile ihren Kummer vergaß.

„Eines muss ich dir unbedingt noch erzählen“, warf Susanne ein, als sie sich dem Ende ihres Gespräches näherten.

„Na, nun bin ich aber gespannt.“ Sicher würde Susanne wieder eine Anekdote aus ihrer neuen Heimatstadt Hamburg zum Besten geben. Es musste wirklich eine aufregende Stadt sein, nach allem, was ihre Freundin dort erlebte. Manchmal beneidete sie Susanne um ihr ungebundenes Leben. Andererseits würde sie ihre Familie und Abendroth für nichts und niemanden in der Welt verlassen.

„Ich habe einen neuen Nachbarn. Nicht in Hamburg, sondern in Duhnen an der Nordsee, wo mein Ferienhaus steht. Ein Traumtyp, sage ich dir.“ Susanne seufzte. Das klang fast so, als hätte sich ihre Freundin tatsächlich verliebt.

„Du gerätst ja richtig ins Schwärmen. Pass bitte auf, dass du dich nicht Hals über Kopf in den verknallst. Einen zweiten Gordon brauchst du nun wirklich nicht in deinem Leben.“ Sie gönnte Susanne ein neues Glück, aber nur mit dem Richtigen.

„Wenn ich nicht diese Erfahrungen mit Gordon gemacht hätte, würde ich mit diesem Schnuckelchen vielleicht wirklich etwas anfangen. Andererseits … mein Singleleben erfüllt mich. Keiner, der mir Vorschriften macht. Das ist viel wert. Ich finde Robert einfach attraktiv. Na und? Ich könnte mir vorstellen, dass er dir auch gefallen könnte.“

„Robert?“

„Na, mein Nachbar. Ich schick dir schnell ein Foto aufs Handy, von unserer letzten Strandparty.“ Miriam rollte die Augen. Andere Männer interessierten sie nicht die Bohne, sie hatte Paul, das reichte ihr. Dennoch fehlte Miriam es manchmal, dass ihr Mann sie nie voller Verlangen in die Arme zog, wie er es früher getan hatte. Paul betrügen? Kam für sie dennoch nicht infrage.

Pling! Miriams Handydisplay zeigte den Eingang einer Nachricht an.

„Schon angekommen?“ Susanne kicherte.

Miriam wusste, dass ihre Freundin nicht eher lockerlassen würde, bis sie sich nicht zu diesem Mr Wunderbar vom Nordseestrand geäußert hatte. Zugegeben, ein wenig neugierig war sie schon darauf, wie dieser Nachbars-Typ aussah. Sie öffnete die Nachricht. Was sie danach sah, verschlug ihr die Sprache. Der Kerl war hollywoodreif. So hätte sie sich Susannes Nachbarn nicht vorgestellt. Er ähnelte einem kalifornischen Sänger in jungen Jahren, für den ihre Mutter einst geschwärmt hatte. Miriam musste schlucken. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. So attraktiv, war er für Frauen ihres und Susannes Alters zu jung. Männer wie er sahen sich nicht nach älteren Frauen um, sondern nach Zwanzigjährigen mit perfekten Bikinifiguren ohne Cellulite oder Schwangerschaftsstreifen. Da konnte selbst die junggebliebene Susanne nicht mithalten. Wenn sie sich mit der Freundin verglich, kam sie sich vor wie ein graues Hausmütterchen. Hoffentlich war Sanne nicht schon über beide Ohren in den Kerl verliebt.

Miriam betrachtete noch immer fasziniert das Foto. Der offene Blick, das warme Lächeln. Sehr anziehend. Kein Gesicht war perfekt, auch seines nicht. Seine Nase war etwas zu schief geraten und über seine Oberlippe zog sich der helle Strich einer Narbe. Dennoch minderte es keinesfalls seine Attraktivität. Hör’ auf zu fantasieren! Andere Männer waren grundsätzlich tabu. Selbst wenn sie nicht verheiratet wäre, käme ein weitaus jüngerer Mann für sie nie infrage. Ihre Freundin musste sich diesen Nachbarn ganz schnell aus dem Kopf schlagen, wenn sie nicht unglücklich werden wollte.

„Ja, ganz nett das Foto“, log Miriam.

„Ganz nett? Robert sieht nicht nur heiß aus, er ist auch sehr warmherzig. Etwas, das Paul, offen gesagt, fehlt. So unfreundlich, wie er immer ist.“

„Das liegt nur an dem vielen Stress.“ Miriams Verteidigung klang selbst in ihren Ohren lahm.

„Dass du immer Entschuldigungen für deinen Mann hast! Der hat es nicht verdient, vor allem wenn man bedenkt, wie er immer mit dir umspringt. Du wirst doch nicht etwa nach deinem Krankenhausaufenthalt gleich wieder in die Arbeit auf dem Gut einsteigen? Du könntest ein paar Tage zu mir kommen.“ Ihre Freundin hatte gut reden, sie konnte die Beine hochlegen, wenn ihr danach war. Aber sie als Leiterin des Gutes war für alles verantwortlich. Freizeit war ein Fremdwort. Selbst wenn sie einmal nicht für den Betrieb arbeitete, gab es genügend familiäre Pflichten zu erledigen. Als Miriam darüber nachdachte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie und Paul kaum Zeit miteinander verbrachten. Seit Mutters Erkrankung waren sie nicht einmal mehr gemeinsam in den Urlaub gefahren. Jedes Jahr das Gleiche: Paul und die Kinder waren ein paar Tage irgendwo an die Ostsee gereist, während sie zu Hause das Gut geleitet hatte. Auch wenn Dave ihr eine Menge Arbeit abgenommen hatte, die Entscheidungen waren ihr Ressort gewesen.

„Sanne, wie stellst du dir das vor? Ich leite einen Gutshof!“

„Jeder ist entbehrlich. Jetzt sind doch Jennifer und Dave da. Du kannst ihnen beruhigt alles überlassen.“

Genau das war der springende Punkt. Miriam befürchtete, dass ihr Abendroth immer mehr entglitt.

„Sanne, dein Angebot ist wirklich lieb, aber sobald ich zu Hause bin, werde ich mich gleich wieder in die Arbeit stürzen.“

„Versprich’ mir, dass du dir wenigstens ein paar Tage Auszeit gönnst! Und wenn du es dir anders überlegen solltest, kannst du gern mein Ferienhaus nutzen, um dich zu erholen.“

„Danke, aber ich denke, dass ich das nicht brauche. Vielleicht komme ich in der Sommersaison, wenn hier auf dem Gut Pause ist.“ Miriam hatte ihre Freundin bereits zweimal an der Nordsee besucht, in dem kleinen, gemütlichen Reetdachhäuschen, nur wenige Schritte vom Strand entfernt. Wenn die Verantwortung für das Gut nicht wäre, hätte sie Susannes Angebot wahrscheinlich angenommen.

„Das wäre wirklich schön. Aber das glaube ich erst, wenn du wirklich da bist.“

Die beiden Freundinnen sprachen noch eine Weile über Gut Abendroth, über Miriams Kinder und Susannes Job, bis Miriam sich erschöpft fühlte und das Telefonat beendete.

Als sie das Handy in die Schublade zurücklegte, war sie müde, ihr Kopf schmerzte, aber sie fühlte sich aufgeheitert.

Kurz darauf schlief sie sein und träumte von Susannes Nachbarn, wie er sie küsste. Als Miriam später aufwachte, schüttelte sie den Kopf über diesen unmöglichen Traum. Alles nur wegen Susanne!

3.

Wann war sie zum letzten Mal glücklich gewesen? Ihr Telefonat mit Susanne im Krankenhaus vor drei Wochen hatte Miriam sehr nachdenklich gestimmt. So sehr, dass sie schon die wildesten Träume hatte, in denen auch der attraktive Nachbar der Freundin eine entscheidende Rolle spielte. Sicher lag es nur daran, dass sie Paul vermisste. Wie gern hätte sie sich jetzt an ihn geschmiegt, wo draußen der Schneesturm ums Haus fegte. Fröstelnd streckte Miriam ihre Hände zum Kamin vor. Das Feuer konnte sie zwar wärmen, aber nicht die Kälte aus ihrem Herzen vertreiben. Sie war es satt, sich ständig einsam zu fühlen, sie wollte mit Paul wieder glücklich sein wie am Anfang ihrer Beziehung. Dazu musste sie ihr Leben ändern. Raus aus dem täglichen Einerlei mit den ganzen Verpflichtungen, wenigstens für eine Weile. Sie hätte Susannes Vorschlag, sie zu besuchen annehmen sollen. Zusammen mit Paul. Doch war sie sich nicht so sicher, dass ihr Mann sich von seinem neu eröffneten Laden loseisen konnte.

Seit Mutters Tod vor einem halben Jahr war er ständig von früh bis spät unterwegs, dass sie fast glaubte, allein in diesem riesigen Herrenhaus zu leben. Paul war ständig gereizt, dass sie Probleme lieber für sich behielt, wenn sie keinen Streit haben wollte.

Wären Jennifer und Dave nicht stets für sie da gewesen, vor allem nach dem Unfall, hätte sie nicht gewusst, wie es mit dem Gut weitergehen sollte. Oft genug hatte sie wegen der beiden das schlechte Gewissen geplagt, denn ihretwegen hatten sie sogar die Flitterwochen verschoben.

Nicht nur Paul, sondern auch die Kinder beschritten eigene Wege, verbrachten immer mehr Zeit mit ihren Freunden als auf dem elterlichen Hof. Ihre jüngste Schwester Stephanie wohnte in Berlin, zu weit weg, als dass sie sich mit ihr einfach treffen hätte können. Am Telefon war sie oft kurz angebunden.

Miriam sah durchs Fenster. Bei Jennifer und Dave brannte noch Licht. Sie war froh, mit Jennifer Waffenstillstand geschlossen zu haben, auch wenn es noch immer an ihr nagte, dass Mutter ursprünglich ihrer Schwester das Gut zugedacht hatte. Sie war Jenny dankbar dafür, dass sie das Erbe abgelehnt und ihr Abendroth überlassen hatte.

Miriam zog die Knie an den Körper und griff nach dem Glas Rotwein, das neben ihr auf dem Tisch stand. Die letzten Jahre mit Mutters Krankenpflege und die Führung des Gutes hatten ihr alles abverlangt und sie ausgelaugt. Sie hatte auf dem Hof gerackert, von früh morgens, bis es dunkel wurde, bis ihre Hände von Schwielen übersät gewesen waren. Alles nur, um Abendroth vor dem Bankrott zu bewahren. Das Riesenloch im Etat, das sie ihrer Mutter zu verdanken hatte, und der Kampf ums Gut im vergangenen Jahr hatten ihr zum Schluss die letzte Kraft geraubt. Miriam hatte immer geglaubt, dass ihre Kinder in ihre Fußstapfen treten würden. Doch weder ihr Mann Paul noch Sina oder Tobi zeigten wirkliches Interesse an dem Gut. Wozu opferte sie sich überhaupt auf? Ihr war klar, sollte ihr etwas zustoßen, würde ihre Familie Abendroth verkaufen. Das Gut in fremder Hand? Allein Gedanke daran schmerzte.

Draußen heulte noch immer der Sturm ums Haus und rüttelte an den Fensterläden. Das Gebälk des alten Herrenhauses knarrte in allen Ecken. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. Waren das nicht Schritte oben im ersten Stock? Sie drängte sich tief in die Ecke des Maxisofas und zog die Decke bis zum Kinn hinauf. Paul würde sie auslachen, wenn er sie jetzt so sehen könnte.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Kurz nach Mitternacht. Er hatte doch in der SMS geschrieben, dass er spätestens gegen zehn zu Hause wäre. Vielleicht war er in einer Schneewehe stecken geblieben oder von der glatten Straße in einen Graben gerutscht? Sie neigte stets dazu, sich Horrorszenarien auszumalen und erntete dafür immer seinen Spott.

Der Sturm blies immer heftiger Schneeflocken gegen die Scheiben. Durch die starken Schneefälle herrschte seit gestern im gesamten Osnabrücker Land Verkehrschaos.

Dabei war die Region erst im vergangenen Herbst von einem Sturm gebeutelt worden. Abendroth war auch betroffen gewesen. Noch heute zahlte sie für die Schadensreparaturen.

Nicht auszudenken, wenn noch mehr Schäden dazukamen. Das Dach der sanierungsbedürftigen Scheune könnte unter der Schneelast nachgeben. Nur nicht schwarzsehen!

Wenig später flauten die Sturmböen überraschend ab. Es herrschte Stille, nur das Feuer knisterte. Miriam goss Rotwein in ihr Glas nach und nippte daran. Weil ihr der Wein zu süß war, wollte sie das Glas zurückstellen.

Das laute Schrillen des Telefons ließ Miriam erschrocken zusammenfahren, sodass der Wein fast übergeschwappt wäre. Ihr Herz trommelte wie wild. Paul! Sie stellte das Glas weg und humpelte in den Flur zur Konsole, auf dem das Telefon stand. „Lessmann.“ Stille am anderen Ende der Leitung. Vielleicht hatte sich jemand verwählt? „Hallo?“ Oder war durch den Sturm die Verbindung gestört? „Paul, bist du das? Dann sag’ doch was!“ Wieder erhielt sie keine Antwort, was sie ärgerte. Sie wollte gerade auflegen, als sie das Keuchen vernahm. Es hörte sich nicht nach Paul an. Angst kroch eisig ihren Rücken hinauf. „Das ist ein ganz blöder Scherz. Ich lege jetzt auf.“ Das Herz schlug Miriam bis zum Hals. Ein Klicken in der Leitung verriet, dass der andere ihr zuvorgekommen war. Welch übler Telefonstreich. Und wenn es doch Paul gewesen war, der schwer verletzt irgendwo lag und nicht reden konnte? Nein, der würde sie eher auf dem Handy anrufen.

Miriam schleppte sich mit dem Telefon in der Hand zum Sofa zurück und wählte Pauls Handynummer. Das Rauschen in der Leitung ließ sie aufgeben. Sie verzichtete auch auf eine weitere Nachricht.

Kaum saß sie wieder auf dem Sofa, klingelte das Telefon erneut. Miriam zögerte eine Weile, bevor sie sich entschied, abzunehmen. Und wenn es doch Paul war? Dieses Mal meldete sie sich nicht, sondern lauschte nur. Sie hörte den Anrufer wieder nur keuchen. Leg’ auf! Wie gerne würde sie ihrer inneren Stimme folgen, doch sie konnte es nicht. Ein eisiger Schauder rann ihr Rückgrat hinab, als er zu pfeifen begann. Woher kannte er das Gute-Nacht-Lied, das Mutter ihnen immer vorgesungen hatte. Miriam zitterte am ganzen Leib. „Jakob? Jakob, bist du es?“, flüsterte sie ins Telefon. Der Anrufer legte einfach auf. „Jakob“, flüsterte sie, während sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln.

Im selben Augenblick krachte etwas im Obergeschoss auf den Boden. Erschrocken schrie Miriam auf. Das Telefon glitt ihr aus der Hand und polterte auf den Boden. Dann war es still. Einbrecher? Aber sie hatte doch vorhin selbst geprüft, ob alle Fenster geschlossen waren. Das machte sie immer, wenn sie allein zu Hause war. Dann fiel ihr der Nebeneingang ein, den sie nicht kontrolliert hatte!

Leise und zitternd erhob sich Miriam vom Sofa, humpelte zur Küche, griff sich ein Messer aus der Schublade und lief weiter zum Vorratsraum, aus dem die Tür in den Garten hinausführte. Ihr Herz klopfte wie wild. Jede Faser ihres Körpers war angespannt. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass die Tür geschlossen war. Keine einzige Schneeflocke, kein Wassertropfen war hereingeweht. Für endgültige Gewissheit drückte sie vorsichtig die Klinke herunter und atmete erleichtert aus. Doch sie hatte im obersten Stockwerk etwas gehört. Für einen Moment erwog sie, nachzusehen. Doch weil sie nicht die Mutigste war, verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Von der Küche schlich sie zur Treppe in der Diele und blickte angstvoll hinauf, während ihre Hand an der Wand den Lichtschalter suchte. Als sie ihn fand und drückte, gab es einen leisen Knall, und es blieb dunkel. Miriam presste die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien. War nur eine Sicherung herausgesprungen oder hatte sie jemand manipuliert? Mit dem Messer noch immer in der Hand schlich sie rückwärts ins Wohnzimmer zurück, hob das Telefon auf und wählte mit zittrigen Fingern Jennifers Nummer. Drüben in deren Wohnung war bereits alles dunkel. Es missfiel ihr, Schwester und Schwager mitten in der Nacht zu stören, aber ihre Furcht überwog. Während das Rufzeichen ertönte, ging das Gepolter von Neuem über ihr los. Miriam zuckte zusammen, das Messer in ihrer Hand zitterte. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis sich Jennifer endlich schlaftrunken meldete.

„Miri? Ist was passiert? Es ist mitten in der Nacht.“

„Im Haus … über mir … es hat laut gepoltert. Ich glaube, jemand ist bei uns … eingebrochen …“, flüsterte sie in den Hörer.

„Warum lässt du Paul nicht nachsehen?“ Der Vorwurf in Jennifers Stimme war nicht zu überhören.

„Weil er noch nicht zurück ist“, flüsterte Miriam weiter und hörte Jennifer am anderen Ende scharf Luftholen. Obwohl ihre Schwester nicht weiter nachfragte, fühlte Miriam sich gedrängt, das Fernbleiben ihres Mannes zu erklären. „Er ist bei einem Geschäftsessen in Herford.“

„Du hast doch die Türen und Fenster alle geschlossen?“

Miriam antwortete nicht, sondern lauschte, als sie über sich Schritte hörte.

„Was ist? Bist du noch dran, Miri?“, fragte Jennifer hörbar genervt.

„Ja … ja, habe ich. Er muss im Obergeschoss eingebrochen sein. Vielleicht über den Balkon in meinem Schlafzimmer. Glaubst du mir etwa nicht?“ Miriam sah zur Decke auf. Über ihr aus dem Schlafzimmer tönte ein dumpfes Rollen.

„Okay, wir sind gleich bei dir“, versprach Jennifer seufzend und legte auf.

Wenn es ein Einbrecher war, musste sie damit rechnen, dass er auch nach unten kam. Sie dachte an die letzte Folge der Fernsehsendung Aktenzeichen XY, in der eine Frau von einem Einbrecher überwältigt und umgebracht worden war. Sie schauderte. Mit dem Küchenmesser in der Hand fühlte sie sich etwas sicherer. Auf Zehenspitzen näherte sie sich der Treppe, stoppte und schaute wieder ins Dunkel hinauf. Miriam hielt den Atem an. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie glaubte, der Einbrecher könne es hören. Nichts war zu erkennen.

Jennifer wäre sicher nicht davor zurückgeschreckt, auch im Dunkeln hinaufzugehen und nachzusehen. Sie war schon immer die Mutigste der Abendroth-Schwestern gewesen. Herrgott, Miriam, dagegen bist du wirklich feige!

Erst vor kurzem war Jennifer einem Einbrecher auf den Scheunenboden gefolgt. Allein und unbewaffnet! Miriam beschloss, lieber auf Jennifer zu warten. Die Minuten zogen sich zäh dahin. Schritte oben an der Treppe erschreckten sie so sehr, dass sie einen Satz rückwärts machte und ins Taumeln geriet. Ein stechender Schmerz schoss ihr durchs Bein. Fast hätte sie das Messer fallen lassen. Ihre eiskalten Finger krallten sich fester um den Griff und hielten es zur Verteidigung vor den Körper. Sollte der Einbrecher doch kommen, sie würde sich wehren. Miriam kniff die Augen zusammen und suchte im Dunklen vergeblich nach einer Kontur, bevor sie all ihren Mut zusammenraffte. „Kommen Sie herunter! Ich bin bewaffnet! Und die Polizei habe ich auch alarmiert!“ Letzteres war zwar gelogen, aber es beruhigte sie irgendwie.

Keine Antwort. Kein Geräusch, bis auf den tosenden Sturm draußen. Ein plötzliches Scharren über ihr ließ sie erstarren. Etwas polterte die Treppe herunter direkt auf sie zu. Mit einem Aufschrei sprang Miriam entsetzt nach hinten und prallte gegen einen Körper. Erschrocken schrie sie auf. Ein eisiger Luftzug streifte ihren Nacken.

„Was zum Teufel treibst du hier, Miriam?“ Paul klang halb verwundert, halb verärgert. Miriam drehte sich nicht um, sondern deutete die Treppe hinauf. Auf der untersten Stufe lag Tobias’ Football. „Da … da oben ist jemand. Er hat … den Ball … heruntergestoßen“, stotterte sie und schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals.

„Wie? Da oben ist jemand?“

„Wenn ich es dir doch sage! Ein Einbrecher.“

„Der einen Football nach unten wirft?“ Er nahm sie nicht ernst, das ärgerte sie.

Paul trat vor und sah sie an, als würde er an ihrem Verstand zweifeln. Dann schweifte sein Blick über ihre Schulter zu Sofa und Tisch. Eine steile Falte auf seiner Stirn erschien. Sie ahnte, was er entdeckt hatte.

„Wie viel hast du getrunken?“ Er beugte sich herab und schnüffelte an ihr.

Seine Frage brachte sie auf. Er konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass sie zu tief ins Glas geschaut hatte! „Einen Schluck nur.“ Pauls Miene drückte Zweifel aus. Er schaffte es doch immer wieder, sie zu verunsichern und ihr ein schlechtes Gewissen zu vermitteln.

„Wer weiß, ob du nicht bereits eine Flasche geleert hast.“ Es war immer dasselbe, Paul glaubte ihr nicht. Wütend wollte sie sich gerade zu ihm umdrehen, als ein graues Fellknäuel die Treppe herunterraste und an ihnen vorbei ins Wohnzimmer schoss. Schuftel, der graue Kater, der vor zwei Tagen wegen des Kälteeinbruchs eine geschützte Bleibe im Stall gefunden hatte. Die Katze musste sich unbemerkt hereingeschlichen haben, als sie am Nachmittag ihre Stiefel draußen vor der Tür vom Schnee abgeklopft hatte. Miriam atmete auf.

„Sag mal, bist du jetzt völlig durchgeknallt? Wegen der dämlichen Katze machst du hier solch einen Aufstand? Was hat das Vieh im Haus zu suchen? Spielst du wieder die Samariterin für bedürftige Tiere? Du weißt doch ganz genau, dass ich diese Katzenviecher nicht ausstehen kann!“, brüllte Paul und nieste anschließend. Die Eiskristalle auf Kragen und Schultern seines anthrazitfarbenen Wollmantels rieselten auf den Boden.

Ehe Miriam etwas darauf erwidern konnte, hörte sie hinter ihnen die Stimmen von Jennifer und Dave.

„Ach, Paul, du bist auch mal zu Hause.“ Jennifer gab sich keine Mühe, ihre Abneigung zu verbergen.

„Was wollt ihr denn hier?“, blaffte Paul die beiden an.

„Sie sind hier …, weil … weil ich sie angerufen habe. Wegen der Geräusche“, erklärte Miriam.

„Die ein blödes Katzenvieh verursacht hat!“, rief Paul aus und lachte hämisch.

„Und? Hast du noch was gehört, Miri?“, wandte sich Dave in mildem Tonfall an Miriam, bevor er Paul mit abweisendem Blick musterte.

Auch Jennifer zog verärgert die Stirn kraus.

Miriam schüttelte den Kopf und wollte sich Schwester und Schwager erklären, aber ein warnender Blick Pauls ließ sie verstummen. Eigentlich hatte sie Jennifer auch von dem Anruf und ihrer Vermutung erzählen wollen, aber in Gegenwart ihres Mannes und in der spannungsgeladenen Atmosphäre verschob sie ihr Vorhaben auf später.

„Nun bin ich ja da.“ Paul versperrte Dave den Weg, als dieser in die Diele treten wollte. Miriam fing Daves wütenden Blick auf und legte ihre Hand auf Pauls Arm, weil sie eine Eskalation befürchtete. „Paul, bitte …“

Dave sah abfällig grinsend zu Paul herab, der Miriams Hand unwirsch abschüttelte.

„Ihr könnt wieder in eure Wohnung gehen.“ Paul zog die Eingangstür weiter auf und schob Jennifer am Ellbogen in Richtung Ausgang. Miriam sah Daves warnenden Blick, der sie das Schlimmste befürchten ließ. Der aufbrausende Paul war nur selten zu stoppen und ihr Schwager würde sich nichts gefallen lassen. Sie trennte Paul und Jennifer. „Ganz lieben Dank an euch, dass ihr gekommen seid. Aber wie ihr seht, ist Paul nun eingetroffen. Die Geräusche haben sich aufgeklärt. Die stammten übrigens von dem grauen Kater. Ich muss ihn vorhin wohl versehentlich hineingelassen haben.“

Jennifer und Dave standen unschlüssig an der Tür. „Miri, ist das wirklich in Ordnung, wenn wir gehen?“ Jennifer sah sie mit sorgenvoller Miene an. Miriam wollte gerade etwas erwidern, als Paul ihr zuvorkam.

„Was soll denn nicht in Ordnung sein? Es gibt nichts, womit wir nicht allein fertig werden könnten. Wenn ich euch also bitten dürfte, endlich mein Haus zu verlassen …“, Paul unterstrich den Hinauswurf der beiden mit einer Geste.

Dave presste wütend die Lippen zusammen. Für einen Moment schien es, als wolle er Paul packen, um ihm die Faust ins Gesicht zu schlagen.

„Es ist wirklich alles okay, Jenny. Lass uns morgen weiterreden“, versicherte Miriam ihrer Schwester und hoffte inständig, dass sie nicht weiter nachforschen würde. Morgen würde sie ihrer Schwester endlich auch von dem Anruf erzählen.

„Okay …“ Jennifer schien noch immer nicht überzeugt zu sein.

„Ihr müsst euch wirklich keine Sorgen machen. Paul wird zur Sicherheit noch einmal alles kontrollieren.“ Ihr Mann schien weniger begeistert von dieser Idee zu sein. Obwohl Miriam wütend auf Paul war, rang sie sich ein Lächeln ab. Jennifers Blick schweifte forschend zwischen Paul und ihr hin und her.

„Du kannst uns jederzeit anrufen, Miri.“

Miriam schämte sich für ihr abweisendes Verhalten im vergangenen Jahr, während sich ihre Schwester immer loyal verhalten hatte.

„Danke nochmals, Jenny, Dave. Es tut mir leid, dass ich euch geweckt habe. Wenn ich gewusst hätte, dass Paul gleich da ist, hätte ich …“

Die Miene ihres Ehemanns verfinsterte sich.

„Schon gut, kein Problem. Also, wir gehen dann mal wieder hinüber.“ Ein letzter abweisender Blick von Dave an Paul, dann verließen die beiden das Haus.

Kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, explodierte ihr Mann.

„Sag mal, wieso rufst du ausgerechnet diese Erbschleicherin an?“

„Paul, wie kannst du so etwas sagen? Das ist sie doch gar nicht.“

„Ach, nein, ist sie nicht? Das sehe ich aber ganz anders. Und du solltest es auch tun!“

„Es war doch allein Mutters Entscheidung, ihr das Gut zu vererben“, verteidigte sie ihre Schwester. Miriam erinnerte sich nur zu gut daran, welch herber Schlag es auch für sie gewesen war, bei der Testamentseröffnung zu erfahren, dass Mutter Abendroth lieber ihrer Schwester anvertrauen wollte als ihr. Sie war enttäuscht und wütend auf Jennifer gewesen. Doch jetzt war sie längst darüber hinweg.

„Eine Entscheidung, die du sofort hättest anfechten müssen! Es wäre besser gewesen, ihr gleich die Tür zu weisen!“, donnerte Paul. „Die hat sich all die Jahre weder um deine Mutter noch um Abendroth gekümmert und jetzt spielt sie sich als Gutsherrin auf, obwohl sie das Erbe abgelehnt hat. Schmeiß die und ihren arroganten Ehemann endlich vom Hof, bevor sie sich hier festnisten und dich hinauskatapultieren!“

Miriam trat erschrocken zurück. Pauls finsterer Blick jagte ihr Furcht ein. Erneut lebten die alten Zweifel wieder auf. War sie zu blind, um etwas zu erkennen? Dave hatte ihr in den schweren Jahren stets zur Seite gestanden, und Jennifer unterstützte sie bei der Suche nach Sponsoren.

„Wach endlich auf! Deine Schwester trifft mit Dave alle Entscheidungen über das Gut. Allein. Selbst deine Pferdezucht hat sie unter Kontrolle. Meinst du, das würde sie tun, wenn sie sich nicht davon verspräche, eines Tages die Leitung des Gutes zu übernehmen?“

„Ich sagte dir doch, sie wird sich jetzt nur noch um ihre Patienten kümmern.“

„Wer’s glaubt, wird selig. Die gehen subtil vor. Dass sie das Erbe ausgeschlagen hat, war doch berechnet! Mensch, Miri, merkst du denn nicht, was sie vorhat?“ Paul hatte sie damals auch vor Melanie gewarnt. Aber sie hatte seine Bedenken nicht hören wollen. Dass sie Melanie auf dem Gut viel zu oft freie Hand gelassen hatte, hätte sie fast Abendroth gekostet. Das durfte und würde ihr kein zweites Mal passieren.

Sie musste wachsamer sein, das hatte sie aus der Sache mit Melanie gelernt. „Ich brauche Jennys und Daves Hilfe, wenn ich das Gut nicht verlieren will!“

Paul schnaubte und winkte ab. „Ach, glaub’ doch, was du willst. Du bist die geborene Verliererin.“ Der Vorwurf gerade aus dem Mund ihres Mannes traf Miriam tief. Mühsam kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen.

„Genau das habe ich jetzt gebraucht. Anstatt mich zu unterstützen, höre ich von dir nur Vorwürfe! Danke, Paul.“ Mit Tränen in den Augen wandte sie sich um und hinkte die Treppe hinauf, wo sie sich im Badezimmer einschloss. Dort setzte sie sich auf den Badewannenrand und heulte leise vor sich hin.

Wenig später hörte sie Paul die Treppe heraufkommen. Vor der Badezimmertür blieb er stehen und lauschte, bevor er die Klinke herunterdrückte. Miriam starrte auf die Tür und befürchtete weitere Sticheleien von ihm. Stattdessen ging er schweigend davon, und sie atmete auf. Nachdem sie die Tränenspuren in ihrem Gesicht mit kaltem Wasser einigermaßen beseitigt hatte, lief sie zur Korbtruhe hinüber, die vor dem Fenster stand, und setzte sich. Vorsichtig schob sie die Gardine beiseite, um die Schneeflocken zu beobachten, die sanft durch die Dunkelheit herabschwebten. Es besaß etwas Beruhigendes. Drüben bei Jenny und Dave brannte noch Licht. Miriam dachte daran, dass sie ihrer Schwester eigentlich von dem Anruf erzählen wollte. Sie erinnerte sich an Katharina Jelenow, die behauptet hatte, Jakob würde noch leben. Fest hatte sie geglaubt, dass es sich dabei nur um einen perfiden Scherz handeln konnte, aber seit heute war sie sich nicht mehr sicher. Was würde Jenny dazu sagen? Entschlossen zückte sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer von Schwager und Schwester.

Es dauerte nur wenige Rufzeichen, bis ihre Schwester sich meldete. „Keller.“ Jenny klang müde.

„Sorry, Jenny, ich bin’s noch mal“, flüsterte sie. Vielleicht stand Paul irgendwo auf dem Flur und lauschte. Sie wollte nicht, dass er etwas von ihrem Gespräch erfuhr.

„Was ist passiert? Habt ihr euch wieder gestritten?“

Miriam seufzte. „Ja, das Übliche. Du kennst doch Paul. Aber deshalb rufe ich nicht an.“

„Okay, warum dann?“ Jennifer gähnte laut.

„Ich wollte dir eigentlich vorhin schon davon erzählen, aber dann stand Paul plötzlich in der Tür. Ich hatte einen seltsamen Anruf. Eigentlich noch einen, aber der Letzte ist der Grund, weshalb ich dich mitten in der Nacht noch einmal nerve.“

Stille am anderen Ende der Leitung, nicht einmal ein Atmen.

„Bist du noch dran, Jenny?“, flüsterte Miriam und schielte zur Tür, als sie ein Geräusch auf dem Flur vernahm. Sie lauschte, aber es blieb still.

„Ja. Ich bin hundemüde.“ Jennifer gähnte schon wieder. „Wann denn?“

„So gegen Mitternacht, ich weiß es nicht mehr genau.“

„Und was für Anrufe? Hat sich einer einen Telefonstreich erlaubt?“

„Nein.“ Mit wenigen Sätzen beschrieb sie die Anrufe. „Ich … ich glaube, es … es war Jakob.“

Miriam hörte, wie Jennifer scharf die Luft einzog. „Wie kommst du darauf? Hat er etwas gesagt? Konntest du seine Stimme erkennen?“, fragte Jennifer aufgeregt. „Am Keuchen kannst du das nicht unbedingt festmachen.“

„Stimmt, aber er hat nicht nur gekeucht … sondern … er hat … das Gute-Nacht-Lied gepfiffen, das Mutter uns immer vor dem Einschlafen vorgesungen hat.“

Jennifer stieß den Atem aus. „Bist du dir sicher? Das muss aber noch lange nichts heißen. Vielleicht wusste jemand davon und wollte dir nur einen Schrecken einjagen.“

„Mein Bauchgefühl sagt nein. Wer sonst sollte davon wissen? Höchstens Stephanie, und die würde sich nie einen solch bösen Scherz mit uns erlauben.“ Miriam fühlte sich erleichtert, mit der Schwester offen darüber reden zu können.

Jennifer verstand sie. „Gut, angenommen, es ist Jakob gewesen … und die Jelenow hätte wirklich recht. Wieso hat Jakob sich dann nie bei uns gemeldet? Weshalb lässt er uns im Glauben, er sei tot?“ Die Enttäuschung war deutlich bei Jennifer herauszuhören.

„Ich … ich weiß es nicht. Ich habe mir auch schon darüber den Kopf zerbrochen. Was ist, wenn er sich nach all den Jahren nicht traut, zu uns Kontakt aufzunehmen? Vielleicht hatte er lange Zeit sein Gedächtnis verloren. So etwas kommt doch vor.“ Miriam hatte erst neulich einen Bericht im Fernsehen über Patienten gesehen, die an Amnesie litten. Bei manchen war das Erinnerungsvermögen erst nach Jahren zurückgekehrt, bedingt durch ein Trauma.

„Ja, vielleicht hast du recht. Er könnte eine Zeit lang unter Nomaden gelebt haben, ohne zu wissen, wer er ist, bis sein Gedächtnis zurückgekehrt ist.“

Es gab vielerlei Möglichkeiten, und es war müßig, darüber zu spekulieren. Miriam sah plötzlich alles klar vor Augen, ihren im Schnee vergrabenen Bruder, wie er von Einheimischen gerettet und in ein Bergdorf gebracht worden war. Auf einem mit Fellen ausgestatten Lager hatte er vor sich hingedämmert, während ihn die Einheimischen pflegten. Er konnte sich an gar nichts erinnern. Auch Jennifer schien ihren Gedanken nachzuhängen, denn sie schwieg.

„Du solltest noch einmal mit dieser Katharina Jelenow reden.“

„Ja, das sollte ich vielleicht. Danke, dass du mir von dem Anruf erzählt hast. Ich mag es zwar noch immer nicht glauben, aber ich schließe auch nicht aus, dass Jakob noch lebt. Doch dafür will ich Beweise.“

„Wenn du meine Unterstützung brauchst, Jenny, ich bin immer für dich da.“

„Danke. Das weiß ich. Jetzt sollten wir endlich schlafen. Gute Nacht.“

Nachdem sie sich gegenseitig eine gute Nacht gewünscht hatten, legte Miriam auf. Nachdenklich starrte sie in die Dunkelheit hinaus.

Sie verließ das Bad und vergewisserte sich drüben im Schlafzimmer, dass Paul tief und fest schlief, bevor sie sich unten in die Küche begab, um den Kater zu suchen. Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinunter.

Miriam entdeckte das Tier, als sie das Licht einschaltete und seine Augen es reflektierten. Ängstlich hockte er unter dem Regal. Miriam kniete sich vor ihn und redete beruhigend auf ihn ein. Erst nach einiger Zeit schob sich der graue Fellkörper unter dem Regal hervor und strich ihr schnurrend um die Beine.

Miriam hob ihn auf den Arm und streichelte ihn sanft. „Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Ich kann dich ja verstehen, dass du es bei der Kälte auch warm haben möchtest, aber sich einfach einschleichen geht nicht“, sprach sie zu ihm. Der Kater hob den Kopf und miaute, als hätte er alles verstanden.

Eine halbe Stunde später rollte sich das Tier nach einem ausgiebigen Mahl auf einer Decke zusammen, die Miriam im Hauswirtschaftsraum für ihn ausgebreitet hatte. Sie blieb noch ein wenig bei ihm. Er schnurrte ihre Grübeleien samt trüber Gedanken fort. Wenn Paul wüsste, dass sie die Katze hier untergebracht hatte, würde er das Tier eigenhändig an die eisige Luft setzen. Miriam verspürte eine seltene Verbundenheit zu dem Kater, die sie sich nicht erklären konnte.

Irgendwann, als ihr vor Müdigkeit immer wieder die Augen zufielen, humpelte sie ins Schlafzimmer hinauf. Doch den ersehnten Schlaf fand sie nicht, sondern wälzte sich im Bett grübelnd hin und her, bis sie in den frühen Morgenstunden endlich einschlief.

4.

Als Miriam am nächsten Morgen aus ihrem kurzen, mit Albträumen behafteten Schlaf erwachte, schlief Paul noch tief. Sie sah zum Fenster. Es hatte zu schneien aufgehört. Ein roter Streifen am Horizont kündigte den Sonnenaufgang an. In den Stallungen brannte bereits Licht. In den letzten Wochen, in denen sie ihre Verletzungen auskuriert hatte, war Dave als Erster durch die Ställe gegangen, während sie für Paul und die Kinder Frühstück zubereitet hatte. Nach seinem gestrigen Verhalten verspürte sie jedoch keine Lust, mit ihm zu frühstücken. Stattdessen zog es sie in den Stall. Miriam liebte den Geruch von Heu und Stroh und das leise Schnauben der Pferde, wenn sie sie beim Eintreten begrüßten. Jetzt war es Zeit, sich den täglichen Aufgaben des Gutes selbst zu widmen. Lange genug hatte sie Jennifer und Dave die Arbeit überlassen. Die Aussicht, endlich wieder den Rundgang zu unternehmen, beschwingte sie.

Draußen war es so eisig, dass sich ihre Nase nach wenigen Atemzügen eingefroren anfühlte und ihr Atem in weißen Wolken vor dem Mund schwebte. Dennoch besaß die gefrorene Welt um sie herum einen gewissen Zauber, mit den Eiszapfen an der Dachrinne, die in den ersten Sonnenstrahlen des Tages wie Diamanten schimmerten, und den Zweigen im weißen Frostmantel.

Miriam quälte sich mit den Krücken über das vereiste Hofpflaster. Immer wieder rutschte sie weg, aber sie erreichte den Stall sturzfrei. Von drinnen hörte sie bereits das ungeduldige Scharren der Pferdehufe. Voller Vorfreude, endlich nach langer Abwesenheit wieder die Stallungen betreten zu können, lief sie schneller. Dave schaufelte bereits den Hafer vom Futterwagen in die Tröge der Pferde. Das war immer ihre Aufgabe gewesen. Eine Weile blieb sie im Türrahmen stehen und ließ den Blick durch den Stall schweifen. Mein Gott, wie sehr hatte ihr das alles hier gefehlt. Als Dave sie bemerkte, sah er auf.

„Hallo, Miri. Warum hast du nichts gesagt, dann hätte ich dich über den Hof geführt, du sollst dich doch noch schonen.“ Es klang besorgt. Doch Paul hatte erfolgreich Zweifel in ihr gesät, ob Daves Fürsorge wirklich echt war.

„Meine Schonzeit ist vorbei. Ich möchte mich wieder mehr um das Gut und die Pferde kümmern.“

Dave zog die Brauen hoch. „Aber übernimm dich bitte nicht. Dein Unfall war kein Pappenstiel …“ Er klang jetzt wie ihr Vater einst. Es schien fast so, als würde sie ihn stören.

„Mir geht es wirklich viel besser. Ich habe euch in den letzten drei Wochen viel zu viel zugemutet mit dem ganzen hier“, fiel sie ihm ins Wort.

„Das war doch selbstverständlich für uns.“ Dave lehnte sich an die Box. Miriam glaubte, einen Anflug von Mitleid in seinem Blick zu erkennen, als sein Blick zu ihren Krücken glitt. Mitleid konnte sie nicht ausstehen.

„Außerdem konnte ich proben, ob ich auch ohne dich klarkomme mit dem Ganzen.“ Er zwinkerte ihr grinsend zu. Die wollen sich das Gut nur unter den Nagel reißen, tönte Pauls Stimme wieder in ihrem Kopf. Sie forschte in Daves Miene. Sein Blick wirkte offen und ehrlich wie immer und zerstreute ihr Misstrauen. Sie durfte sich von Paul nicht so beeinflussen lassen.

„Ich bin euch dafür auch wirklich sehr, sehr dankbar. Doch ich muss wieder etwas tun, bevor mir noch die Decke auf den Kopf fällt. Ich habe das hier alles sehr vermisst“, antwortete sie lächelnd.

Dave schwieg und blickte wieder auf ihre Krücken, bevor er sie mit dem Ausdruck von Zweifel ansah.

Wahrscheinlich denkt er, dass ich nicht mal schaffe, den Stall zu durchlaufen. Aber da hat er sich getäuscht, das würde sie ihm beweisen. Wenn sie die Zähne zusammenbiss, würde es schon gehen. „Also, dann werde ich mal mit meinem Rundgang beginnen.“ Entschlossen setzte sie ihre Krücken vor.

Es war ein seltsames Gefühl, als sie durch die Boxengasse lief. Mit einem Mal fühlte sie sich wie eine Fremde. Vielleicht lag es daran, dass sich einiges geändert hatte. Die Tränkeanlage war neu, von Jenny und Dave ausgesucht. Die Pferdehalfter hingen nicht mehr wie sonst an den Boxentüren, und die Pferde hatten zum großen Teil die Boxen gewechselt. Das alles hatten ihre Schwester und Schwager nicht mit ihr abgesprochen. Ärger stieg in ihr auf. Sie hörte, dass Dave ihr folgte, was sie noch mehr aufbrachte.

„Ich … ich kann dich gern begleiten. Ich habe eh gleich meine Runde fertig“, bot er an. Miriam stoppte und schüttelte den Kopf. Diesen ersten Rundgang nach langer Zeit wollte sie allein absolvieren. „Danke, Dave, aber ich schaff’ das schon.“

„Okay. Wenn du mich brauchst, ruf’ einfach.“

Es war ja nicht das erste Mal, dass sie Blessuren davongetragen hatte und trotzdem ihren Verpflichtungen nachkam. Das schien er vergessen zu haben. „Deine Fürsorge in Ehren, aber du brauchst mich nicht wie ein rohes Ei zu behandeln. Ich bin keine Vollinvalidin. Wenn du dich erinnerst, habe ich sogar im vergangenen Jahr mit einem Steißbeinbruch longiert und Reitunterricht gegeben. Ich bin hart im Nehmen, wie du wissen solltest.“

Dave nickte. „Verstehe, ich wollte dich nicht bevormunden. Also dann … viel Spaß.“