Das größte Verbrechen - Sascha Raubal - E-Book

Das größte Verbrechen E-Book

Sascha Raubal

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Beschreibung

Der alles entscheidende Kampf steht an. Fieberhaft bereiten die Menschen in Or sich auf den Angriff des Erhabenen vor, während Mikail in Wolnosch Hilfe organisiert. Doch wieder einmal haben sie den Feind unterschätzt. Tiru zeigt erneut seine Verschlagenheit, aber auch seine Gnadenlosigkeit, und alle Vorkehrungen erweisen sich als sinnlos. Ein gemetzel scheint unvermeidlich.

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EPUB
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Seitenzahl: 286

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sascha Raubal

DIE ABARTIGEN

BAND 12

DAS GRÖSSTE VERBRECHEN

Fantasy

In dieser Serie bereits erschienen:

Band 1 – Karawane nach Cood

Band 2 – Der Prozess

Band 3 – Die Freien

Band 4 – Kampf um Or

Band 5 – Flüchtlinge

Band 6 – Neuland

Band 7 – Die Stimme Gottes

Band 8 – Waldland in Flammen

Band 9 – Donnerechsen

Band 10 – Todesklippen

Band 11 – Invasion

Inhaltswarnung:

Erneut zeigt Tiru seine Menschenverachtung. Aber wer die vorigen Bände gelesen hat, kommt hier auch klar.

Die Abartigen 12 – Das größte Verbrechen

1. Auflage 2025

© 2025 Sascha Raubal

Escherstr. 21, 82390 Eberfing

eMail: [email protected]

ISBN: 978-3-384-58496-0

Covergestaltung und Innenteilillustrationen:

Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)

Druck und Distribution im Auftrag :

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Mikail

Kapitel 2: Loris

Kapitel 3: Mikail

Kapitel 4: Loris

Kapitel 5: Mikail

Kapitel 6: Loris

Kapitel 7: Mikail

Kapitel 8: Loris

Kapitel 9: Mikail

Kapitel 10: Loris

Kapitel 11: Mikail

Kapitel 12: Loris

Kapitel 13: Mikail

Kapitel 14: Loris

Kapitel 15: Mikail

Kapitel 16: Loris

Kapitel 17: Mikail

Kapitel 18: Loris

Kapitel 19: Mikail

Kapitel 20: Loris

Kapitel 21: Mikail

Kapitel 22: Loris

Kapitel 23: Mikail

Danke

Der Autor

1

Wieder einmal standen sie vor dem Großen Rat. Gestern erst hatte Garik dem hochgeehrten Gremium gehörig den Kopf gewaschen. Mikail musste immer noch darüber schmunzeln, wie der Knirps das angestellt hatte. Was hatten sie sich geziert! Obwohl offensichtlich war, dass es nicht einfach nur darum ging, der Stadt Or zu Hilfe zu eilen, die bald vom größenwahnsinnigen Tiru mit seinem Heer angegriffen werden sollte. Ihnen musste längst klar sein, dass die Freien auch um ihre eigene Freiheit kämpften, ihr Überleben sogar. Dennoch hatten sie alles so hingestellt, als ginge es um die großmütige Unterstützung der ungeliebten Städter, um die Mikail und seine Freunde baten – und das wohl nach dem Geschmack der Ratsmitglieder nicht demütig genug.

Mikail hatte schon befürchtet, er müsse seinen Freund Loris, seine Familie, die ganze alte Heimat im Stich lassen, nachdem er doch sein Versprechen gegeben hatte. Dann war Garik aufgetaucht und hatte dem Rat rotzfrech erklärt, sie seien alles Feiglinge und ließen ihre eigenen Verwandten einfach sterben. Was ja auch stimmte, immerhin waren die Freien nicht nur Nachfahren der vor Generationen vertriebenen sogenannten Abartigen, sondern stammten zu einem großen Teil auch ganz direkt aus einer der Städte. Ja, man hatte sie wegen ihrer Andersartigkeit ausgesetzt, aber vielen von ihnen war klar, dass ihre Eltern das nur unter Zwang getan hatten. Selbst Garik mit seinen jetzt gerade mal acht Jahren hatte das begriffen. Immer mehr hatten sich der Forderung angeschlossen, Or zu helfen, bis schließlich der Saal tobte vom Ruf »Freie oder Feiglinge«. Ein großartiges Gefühl war das gewesen.

Nun also, einen Tag später, hatte man sie wieder herbestellt. Diesmal hatte eine Frau jenseits der sechzig mit auffallend heller Haut den Vorsitz. Sie stellte sich als Soha vor und sah streng, aber nicht unfreundlich auf die Gruppe hinab.

»Nach den gestrigen Ereignissen«, hob sie an, »können wir wohl nicht leugnen, dass das Volk der Freien eure Sache unterstützt. Da wir dieses Volk vertreten, ist es nun also unser Auftrag, die Hilfe für Or mit euch gemeinsam zu organisieren.«

Sie wies auf das Publikum, das diesmal bei weitem nicht so zahlreich war wie am Vortag. »Dies sind die Clanräte aller Clans, die sich derzeit in oder sehr nahe bei Wolnosch befinden.«

Mikail sah nochmal genauer hin. Ah, ja, da blitzte die bunte Echsenhaut Anischas hervor, daneben saß der kleine Dagur, der ihm fröhlich winkte, und eins weiter Connor. Auch der Rest des Clanrates war dort oben vertreten, bis auf Jekarina natürlich, die hier unten neben ihm stand und ihre Freunde auf den Rängen mit erhobener Hand grüßte.

»Ihr seht, es sind sehr viele Clans anwesend«, fuhr Soha fort, »weit mehr als sonst. Das dürfte in absehbarer Zeit zu Problemen führen, da Wolnosch nicht auf eine derartige Zahl an Einwohnern ausgelegt ist. Die Speicher sind voll, die Clans tragen natürlich zur Versorgung bei, doch lange wird das nicht gutgehen.«

Eine Frau mit vogelartigen Augen hob die Hand. Soha erteilte ihr mit einem knappen Nicken Sprecherlaubnis.

»Du hast recht, es sind mehr als doppelt so viele Clans hier wie sonst«, erklärte die Frau, »aber ich weise darauf hin, dass ein großer Teil unserer Leute in wenigen Tagen mit Mikail nach Or aufbrechen wird. Etwa die Hälfte der Bevölkerung, wenn ich das richtig abschätze. Danach sind kaum mehr Menschen hier als üblich.«

»Das ist durchaus korrekt «, stimmte Soha zu. »Allerdings werden dann vor allem die jungen, gesunden und starken Mitglieder der Clans aufbrechen, während Kinder und Alte zurückbleiben. Generell all diejenigen, die im Kampf keine große Hilfe sein werden, aber auch auf dem Feld und bei der Jagd nicht die Nützlichsten sind.«

»Vielen Dank auch«, scholl es aus dem Publikum. »Fangen wir jetzt an, einander wie die Städter in Nützliche und weniger Nützliche aufzuteilen?« Ein Mann mit stark verkrümmtem Rückgrat stand da und starrte die Ratsfrau herausfordernd an.

»So war das nicht gemeint«, wiegelte die schnell ab. »Du weißt, wir erkennen in jedem seinen Wert als Mensch, ganz egal, wo seine Stärken und Schwächen liegen. Wenn es jedoch um körperliche Arbeit geht, kann nun einmal nicht jeder gleich viel leisten. Das ist doch keine Herabwürdigung.«

Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung und setzte sich wieder. Besänftigt schien er nicht.

»Zudem«, nahm Soha den Faden wieder auf, »müssen wir denen, die in diesen Kampf ziehen, Proviant mitgeben. Nahrung, die wir dann nicht für die Zurückbleibenden zur Verfügung haben.«

»Das hält sich in Grenzen«, widersprach Jekarina, ohne lange um Erlaubnis zu bitten. »Da, wie du selbst sagst, die jungen, schnellen und starken Freien losziehen werden, können wir uns sehr gut unterwegs alleine versorgen. Ein wenig nehmen wir mit, ja, aber wir haben auch noch die Jagd. Macht euch da mal keine Sorgen. Wenn wir weg sind, sollten die Vorräte von Wolnosch und die Herden der Clans problemlos reichen.«

»Nun ja«, erwiderte Soha, »immerhin müssen wir auch noch mehrere Hundert Flüchtlinge aus dem Waldland mit durchfüttern, nicht wahr?«

Tonio erhob sich und trat einen Schritt vor. »Wenn ich hierzu etwas sagen dürfte?«

Soha erteilte ihm das Wort.

»Nach allem, was ich gehört habe«, begann der Kräuterkundige in seiner bedächtigen Art, »hat man meinen Landsleuten bislang Nahrung, Kleidung und Wasser gebracht, ihnen aber keine Möglichkeit gegeben, selbst für ihr Auskommen zu sorgen. Ist das richtig?«

»Nun, ich denke, es war sehr großzügig von uns, sie mit allem zu versorgen, was sie brauchen.«

Mikail kannte seinen Freund gut genug, um die Bitterkeit hinter seinem weiterhin höflichen Lächeln zu erkennen. Das, was Soha eben gesagt hatte, war ja auch eine bodenlose Frechheit gewesen. Doch Tonio hatte in den vielen Jahren bei Tiru gelernt, seine Gefühle gut zu verbergen.

»Natürlich war es sehr großzügig«, gestand er zu. »Ich bitte das nicht als Kritik oder gar Beschwerde aufzufassen. Worauf ich hinauswill ist, dass mein Volk ebenfalls aus Bauern und Jägern besteht. Sicher, auch sie haben Alte und Kinder bei sich, aber selbst die sind bei uns harte Arbeit gewöhnt. Wenn es also etwas zu tun gibt, Jagd, Fischfang, was auch immer, werden sie sicher gerne bereit sein, mit anzupacken. Ich denke, eure Felder können bei diesem Wetter nicht bearbeitet werden, aber Jekarina erzählte mir, dass nicht weit von Wolnosch ein Meer liegt. Die Flüchtlinge sind zwar eher an kleine Gewässer gewöhnt, da sie nicht aus dem Süden unseres Landes stammen, doch auch unter ihnen gibt es Fischer. Mit ein wenig Anleitung wären sie bestimmt eine große Hilfe.«

Soha wechselte ein paar Worte mit anderen Ratsmitgliedern, bevor sie antwortete. »Das ist ein guter Gedanke. Wir werden jemanden zu ihnen senden, der ihnen ein entsprechendes Angebot unterbreitet. Jedoch hatten wir gehofft, dass die Männer – von den Frauen kann man es wohl nicht erwarten – mit in den Kampf gegen ihren früheren Unterdrücker ziehen.«

»Dann bleiben immer noch die Frauen. Harte Arbeit, besonders Feldarbeit, ist ihnen nicht fremd. Sie werden sicher gerne dabei helfen, die Hiergebliebenen zu versorgen, während deren Angehörige und Freunde für ihre Freiheit kämpfen. Es ist ja in ihrem eigenen Interesse, dass Tiru endgültig besiegt wird. Dann können sie in eine befreite Heimat zurückkehren.«

Mikail musste ein Grinsen unterdrücken. Tonio spielte mit den Vorbehalten dem Waldvolk gegenüber und dem Wunsch vieler Freier, die Fremden sollten doch schnell wieder dahin verschwinden, wo sie herkamen. Er bot diesen Leuten einen Köder. Mal sehen, ob sie ihn schluckten. Wenn ja, war das eine wunderbare Gelegenheit, dass Freie und Waldvolk sich endlich näher kennenlernten, zusammenarbeiteten und feststellten, dass Menschen anders, vielleicht auch seltsam und trotzdem sehr nett sein konnten.

Wieder besprach sich Soha mit ihren Ratskollegen. Täuschte sich Mikail, oder sandte ihm Vasanti unauffällig ein aufmunterndes Lächeln. Mit dem Federflaum im Gesicht war das auf die Entfernung nicht so einfach zu erkennen.

Die versammelten Clanräte auf jeden Fall schienen die Idee zu begrüßen. Einzelne Satzfetzen, die er aufschnappte, legten das zumindest nahe. Man war der Ansicht, das hätte schon viel früher geschehen sollen. Na fein, es ging doch. Mikail erinnerte sich, dass Loris in Tasik-Hutan einmal davon berichtet hatte, was er in den Schriften der Ahnen gelesen hatte. Es war wohl eine gängige Vorstellung in der ersten Welt gewesen, dass Menschen, die sich nicht allzu wohlgesonnen waren, sich plötzlich zusammenschlossen, wenn eine Bedrohung von außen kam. Allerdings war nicht ganz klar, wie realistisch diese Idee war. Einerseits hatten sie sich oft genug erst recht zerstritten, wenn sie hätten zusammenhalten müssen, andererseits hatten wohl in Friedenszeiten die verschiedenen Völker sich einander angenähert und große Bündnisse geschaffen. Die Menschen waren ein seltsames Volk, das wurde Mikail immer mehr klar, nachdem er sein beschauliches Zuhause auf dem elterlichen Hof verlassen hatte.

»Nun gut«, erklärte Soha schließlich. »Deine Argumente sind stichhaltig. Und du musst dein Volk ja am besten kennen. Wir werden also diejenigen Waldleute, die nicht mit in den Kampf ziehen, bitten, bei der Versorgung der Allgemeinheit mitzuhelfen. Das sind doch so einige helfende Hände.

Damit kommen wir zu den aktuellen Entwicklungen. Meldereiter sind gestern Abend aus den Bergen eingetroffen und haben interessante Neuigkeiten mitgebracht. Darüber wollten wir nicht nur euch, sondern über die Clanräte das ganze Volk informieren.« Sie wandte sich jemandem hinter dem Rat zu. »Twan? Bitte.«

Ein Mann mit Vollbart trat um die Ratsmitglieder herum und grüßte in die Runde, um dann zu ihnen hinunterzugrinsen. »Jekarina, meine Hübsche, endlich sehen wir uns mal wieder.«

Die Riesin lachte kurz auf. »Du Halunke! Mit dir hab ich immer noch ein Hühnchen zu rupfen. Oder, besser gesagt, einen ganzen Geier.«

Ach ja, Twan. Der hatte Mikail damals den Weg verraten, auf dem er vom Berglager aus Or noch rechtzeitig erreichen konnte, um die Stadt vor den Donnerechsen zu warnen. Das hatte nicht nur ihn in Gefahr gebracht, sondern am Ende auch Joti das Leben gekostet. Beides nahm Jekarina ihrem Jugendfreund sehr übel.

»Egal welchen Vogel«, ging Soha dazwischen, »den rupft ihr später. Twan, bitte berichte!«

Der Meldereiter nickte und begann: »Wir waren auf der Südseite der Berge unterwegs, ziemlich nah an der Stelle, wo der Odonla in die Ebene fließt. Erst zwei Tage vorher hatten uns Boten erreicht, die uns vor diesem Tiru und seinen Gestalten gewarnt haben. Da sie auf dem Weg waren, alle Clans zu informieren, gaben wir ihnen die Meldungen, die wir eigentlich noch verteilen wollten. Wir selbst blieben dort, wo wir diese enorme Menge Menschen auf jeden Fall gut sehen mussten, wenn sie den Fluss entlang hochkam. Das ist vor vier Tagen passiert.«

»Da sind sie an den Bergen angelangt?«, fragte Mikail.

»Am Abend, ja«, bestätigte Twan. »Sie haben ihr Lager aufgeschlagen und sind dann ausgeschwärmt, wohl, um auf die Jagd zu gehen. Wir sind ihnen mit unseren Böcken natürlich einfach davongeritten, haben uns auch nicht sehen lassen. Am nächsten Morgen sind wir am Gebirgsrand anderen Reitern begegnet, die kamen aus Hirotos Clan. Der große Gestreifte, einige von euch dürften ihn kennen. Wir haben kurz mit ihnen geredet, dann sind sie gleich wieder umgekehrt, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Bei der Gelegenheit haben wir erfahren, dass Hiroto bereits hässliche Bekanntschaft mit dem Gesindel gemacht hat. Sie haben ihn überfallen, es gab viele Tote. Allerdings kamen ihm ein paar Städter und sogar ein ziemlich kräftiger Kerl aus diesem Waldland da im Westen zu Hilfe. Von denen soll ich übrigens einen Gruß ausrichten.«

Loris, Kossula und die anderen. So weit waren sie also gekommen. Mikail musste einfach fragen: »Geht es ihnen gut?«

»Laut Hirotos Clansleuten: ja. Er zieht hinter ihnen her nach Or. Das heißt, eigentlich dürfte er schon angekommen sein, denke ich. Die Reiter sagten, der Clan zieht wesentlich schneller als sonst. Und sie haben weitere Clans alarmiert, die kommen auch dorthin.«

Mikail fühlte, wie Jekarina ihm die Hand auf die Schulter legte und drückte. Er sah zu ihr hoch und in ein strahlendes Lächeln. Ja, das waren verdammt gute Nachrichten.

»Wie auch immer«, kehrte Twan zu seinem Bericht zurück, »wir sind dann auf dem schnellsten Weg hierher gekommen. Also, zwei andere und ich. Die restlichen beiden sind geblieben, um das Ganze zu beobachten. Das ist ja ein Wahnsinn, diese Masse an Leuten. Die sieht man selbst von den Gipfeln einiger weiter innen gelegenen Berge noch.«

»Was schätzt du«, fragte Vasanti, »wann sie Or erreichen werden?«

»Bei der Reisegeschwindigkeit?« Twan lachte auf. »Die machen schon am späten Nachmittag Halt, um ihr Lager aufzuschlagen und noch zu jagen. Morgens brauchen sie ewig, um wieder in Marsch zu kommen. Und dann sind sie auch nicht allzu schnell unterwegs, weil sie kaum Wagen und Lasttiere haben. Die meisten müssen eine Menge Zeug zu Fuß schleppen. Also, ich denke, das sind noch zwei Wochen, bis die Or erreichen.«

Zwei Wochen. Das klang beruhigend. »Und wie lange werden wir von hier aus brauchen?«, fragte Mikail.

»Zu Fuß oder auf Pferden?«

Mikail sah Soha an. »Kriegen wir für alle Pferde?«

Sie nickte zögerlich. »Ich hoffe es. Euer Weg ist weit, und ihr müsst durch das ganze Gebirge. Jetzt, zur Regenzeit, ist das nicht ungefährlich. Am liebsten würde ich allen Steinböcke geben, wie Twan einen reitet, aber davon haben nur die Meldereiter ein paar. Anders gesagt: Wer kein Pferd hat, braucht eigentlich gar nicht erst loszuziehen.«

»Das bekommen wir schon hin«, ließ sich Connor vernehmen. »Die Wagen stehen gut hier, wir brauchen die Gäule nicht.«

Bei den Freien nutzte man oft Pferde sowohl zum Reiten als auch um Wagen zu ziehen. In Or hatte man das ziemlich klar getrennt, aber die zähen Tiere der Freien kamen mit beiden Aufgaben gut klar.

»Wir benötigen um die tausend, das ist dir klar?«, fragte Soha den Clanführer.

»Natürlich. Das klingt nach sehr vielen. Aber ich denke aus Sicht eines einzelnen Clans. Mein Clan hat genug Pferde für diejenigen von uns, die mit Mikail nach Or ziehen werden. Und das sieht bei jedem Clan, dem ich bisher begegnet bin, ähnlich aus. Solltest du wissen, bist doch selbst im Clanrat.«

Das stimmte allerdings. Der Große Rat setzte sich aus Mitgliedern von Clanräten zusammen, die gerade in Wolnosch lagerten. Dazu kam immer ein Vertreter des sogenannten Wolnosch-Clans, der einzigen an einem festen Ort lebenden Freien. Mikail bedauerte, dass Liv diesen Posten nicht mehr hatte. Sie war voll und ganz auf seiner Seite.

»Außerdem kann man zwei leichte Leute durchaus auf einen kräftigen Gaul setzen«, ergänzte Twan. »Und Läufer kommen problemlos zu Fuß klar, wenn der Rest reitet. Sollte also gehen. Dann würde ich sagen … acht Tage.«

»Wenn Tiru zwei Wochen braucht und wir acht Tage«, überlegte Mikail laut, »müssen wir also in spätestens vier Tagen hier los. Aber je früher, desto lieber.«

»Sag das nicht«, widersprach der Meldereiter. »Wir sollten auf jeden Fall nicht zu früh aus den Bergen kommen. Wenn wir vor ihm sind oder genau auf ihn treffen, bemerkt er uns.«

»Wenn wir vor ihm da sind?«

Twan lachte. »Natürlich! Tausend Pferde zur Regenzeit, was meinst du, wie die den Boden aufwühlen? Da weiß der Kerl doch gleich, dass was nicht stimmt. Und er sieht, von wo die Spuren kommen. Dann weiß er, wo er uns findet – also Wolnosch.«

Da hatte er recht. Verdammt. »Also müssen wir unsere Reise gut planen, um ihm dann in den Rücken zu fallen.«

»Außerdem«, ergänzte Soha, »brauchen wir schon noch ein paar Tage, um alles zu organisieren. Unsere Schmiede sind bereits dabei – auf euer Betreiben hin, wie ich erfahren habe – möglichst viele Pfeil- und Speerspitzen herzustellen. Zwar helfen die Schmiede der Clans jetzt mit, sodass die Essen Tag und Nacht glühen, dennoch sind Werkstätten, Holzkohle und Stahl nur in begrenzten Mengen verfügbar. Alle tun, was sie können, aber ihr solltet jeden Tag nutzen, bevor ihr aufbrechen müsst.«

Das war nicht von der Hand zu weisen.

»Na schön!« Jekarina klatschte in ihre riesigen Pranken, dass der ganze Saal zusammenschrak. »Dann nutzen wir mal schon diesen Tag. Alles Wichtige ist gesagt, packen wir’s an, oder?«

Ja, dachte Mikail, packen wir’s an.

2

»Reife Leistung.« Hiroto stand vor dem bereits zur Hälfte gefluteten Graben und blickte hinüber auf die Mauer aus Sandstein, die sich an dessen Rand zwei Meter hoch erhob. Wassergraben und Mauer bildeten ein erstes Hindernis, das Krieger wie Tiere ausbremsen sollte. Der Abstand von knapp zehn Metern reichte Kossulas Ansicht nach, damit niemand diese kleine Mauer als Absprungpunkt nutzen konnte, um über die eigentliche, fünf Meter hohe Stadtmauer zu setzen. Nicht mal ein Tiger sollte das schaffen. Und Karren oder andere Hilfsmittel wie damals am Palast in Tasik-Hutan konnten sie so auch nicht heranschaffen.

»Ja, ist eine Menge Arbeit«, antwortete Loris. »Aber man glaubt gar nicht, wie schnell Leute arbeiten können, wenn es um ihr Leben geht. Drei Tage, und wir haben ein Drittel fertig. Das schaffen wir problemlos, bis Tiru hier anrückt. Vor allem, da der Rat nun doch endlich eingesehen hat, wie viel die Hilfe deiner Leute wert ist. Wir können euch gar nicht genug für eure Mitarbeit danken.«

»Ist ja auch in unserem Sinn. Wenn ihr untergeht, sind wir die Nächsten.«

Ja, das schon. Trotzdem war Loris den Freien unendlich dankbar, dass sie den ungeliebten Städtern so tatkräftig zur Seite standen. Inzwischen lagerten bereits zehn Clans in der weiteren Umgebung Ors. Unglaublich! Daraus musste doch etwas Gutes werden – wenn dieser Irrsinn mit Tiru erst einmal vorbei war.

»Wir hoffen«, erklärte er, »dass sich keiner so hinter der Mauer verstecken kann, dass man ihn von oben nicht mehr unter Beschuss nehmen kann, während er sie womöglich beschädigt. Und sollte doch jemand sowas versuchen, hat Damir ein paar gemeine Überraschungen vorbereitet.«

»Wir auch.« Der Clanführer grinste frech. »Damirs und deine Ideen für Fallen im Wald waren nicht schlecht, unsere Jäger hatten da aber noch ein paar nette Tricks auf Lager. Wenn diese Krieger meinen, sich in eurem Stadtwald breitzumachen, bereuen sie es.«

»Und ihr wisst genau, wo die Dinger sind, und weicht ihnen aus?«

»Natürlich. Jeder neu ankommende Clan wird abgefangen und eingewiesen.«

»Ihr seid sicher, dass eure Familien da draußen besser aufgehoben sind als hinter unserer Mauer?«

Hiroto schnaubte. »Als wenn deine Leute uns in der Stadt haben wollten. Aber ja, sie sind gut untergebracht. Wir bauen unsere Lager ein ganzes Stück entfernt auf, teils in den Bergen, teils draußen in der Ebene. Da, wo wir uns auskennen. Wir fühlen uns hinter Mauern einfach nicht wohl.«

»Aber dieser kleine Talkessel, in dem ich mal übernachtet habe …«

»Ist eine Ausnahme. Meist bleiben wir in der Ebene und nutzen nur die Schmieden und Backöfen dort und natürlich das Frischwasser. Lediglich kurz vor einer großen Dürre zieht sich der ganze Clan dorthin zurück. Wenn die Tiere langsam unleidlich werden.«

»Diesmal ist es aber ein schlechter Platz, was?«

»Schlechter geht’s kaum. Da kommen wir ja nicht weg. Stell dir vor, der schickt einen Haufen Leute mit Bögen da hoch auf das umgebende Plateau, die können uns abschießen wie die Kaninchen.«

»Ihr könntet euch in die Tunnel zurückziehen.«

»Und sitzen dann da in der Falle. Nein, lass mal, wir wissen schon, was wir tun.«

»Na schön, hast ja recht.«

Eine Weile standen sie schweigend da und betrachteten den Wassergraben. Wenige Dutzend Meter entfernt waren Frauen und Männer damit beschäftigt, ihn zu verlängern. Lachen scholl herüber, trotz der harten Arbeit und des miesen Wetters. Den Mann kannte er doch, der da mit dem bepelzten Freien Steine aus dem Graben wuchtete, wo sie von zwei Frauen entgegengenommen wurden. Ach ja, die gutgenährte Frau da war Ailen, die Bäckerin. Und nun erkannte er auch Bertil, ihren Gefährten. Fröhlich scherzend arbeiteten sie mit den beiden Freien zusammen. Ein schönes Bild. Keine Scheu, keine Vorbehalte, ein friedliches Miteinander. Es ging doch!

Weiter entfernt gab es eben ein dumpfes Rumpeln. Gasi und die anderen Pulvermeister aus den Bergwerken sprengten den Sandstein, auf dem die Stadt stand und der sich unter der Erde weit in die Ebene hinein erstreckte, bis in gut einen Meter Tiefe auf. Danach musste man nur noch die Brocken herausholen und gleich nebenan zu der neuen Mauer aufschichten.

Loris hörte über dem stetigen Rauschen des Regens, der seit zwei Tagen leicht, aber gleichmäßig fiel, seinen Namen. Er blickte zur großen Mauer hinauf. Eine Frau stand da und winkte ihm. Als sie einmal kurz die Kapuze des Umhangs hob, den sie gegen den Regen umgelegt hatte, erkannte er sie.

»Meine Mutter will was.«

»Wenn Mami ruft, sollte man folgen«, gab Hiroto lachend zurück und schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken. Beinahe hätte ihn das in den Graben befördert. Der Clanführer strotzte nur so vor Muskeln. Gerade eben noch fing er sich ab.

»Hoppla, entschuldige!« Der Gestreifte lachte noch lauter. »Ich wollte dich nicht schwimmen schicken.«

»Ach, wäre auch nicht wild gewesen«, gab er schulterzuckend zurück. »Nass bin ich eh schon. Wir sehen uns.«

Hiroto hob die Hand zum Gruß und ging zu seinem Pferd, das in der Nähe stand und gemächlich am saftigen Gras zupfte. Loris dagegen wandte sich dem breiten Steg zu, der momentan noch über den Graben zum Haupttor führte. Hier würden sie die neue Mauer erst ganz zum Schluss hochziehen, wenn Tiru schon fast da war.

»Du verbringst viel Zeit mit diesen Abartigen«, empfing Mona ihn, kaum dass er durch das Tor trat.

»Hiroto ist ein Freund«, gab er unwirsch zurück. Immer noch klebte Mutter an den ahnenverfluchten Reinheitsgesetzen. Selbst jetzt, wo die Freien ihnen halfen und sogar ihr Leben für Ors Bürger riskieren wollten, wich sie nicht von ihrer Abscheu und der beleidigenden Bezeichnung ab.

Wenigstens reagierte Mona diesmal nur mit einem bedeutsamen Seufzen und unterließ ihre üblichen Tiraden.

»Dein anderer Freund, dieser Abel …«

»Ja?«

»Er macht sich hier nicht gerade beliebt.«

»Inwiefern?«

»Nun.« Sie zögerte einen Moment. »Er singt in verschiedenen Gasthäusern und, wenn das Wetter mal mitspielt oder er einen trockenen Unterstand hat, auf den Plätzen der Stadt.«

»Das könnte daher kommen, dass er Sänger ist.«

Mona schnaubte. »Du weißt, was das Problem ist. Die Texte, die er singt.«

»Ach so?« Loris sah sie herausfordernd an. »Du meinst, er bringt in seinen Liedern seine Meinung zum Ausdruck?«

»Unüberhörbar.«

»Und das ist warum genau ein Problem?« Ehe sie antworten konnte, hob er die Hand. »Nein, warte! Lass mich die Frage anders formulieren. In Kuvunja, nachdem Tiru die Stadt unter seine Kontrolle gebracht hatte, haben sie ihn eingesperrt und wollten ihn umbringen, weil ihnen seine Texte nicht gefielen. Welche Strafe erwartet ihn denn hier, wenn er sich so … unbeliebt macht?«

»Jetzt mach aber mal halblang!«, blaffte sie ihn an. »Du weißt ganz genau, dass in Or jeder seine Meinung frei äußern darf. Das ist ein Grundpfeiler jeder zivilisierten Gesellschaft, und du wirst weder mir noch dem Rat unterstellen, dieses Recht zu missachten.«

Er atmete einmal tief durch. »Na schön, entschuldige. Aber warum beschwerst du dich dann bei mir?«

»Ich beschwere mich nicht, ich warne dich. Es gibt Leute, die deinem Freund lieber heute als morgen das Maul stopfen wollen. Das war ein Zitat. Du weißt, ich würde mich solcher Formulierungen nicht bedienen.«

»Wen zitierst du denn?«

»Bestimmte Gruppen, die immer lauter murren, weil Abel überall so laut seine Ansichten verbreitet. Unter anderem die Schlauberger, die euch neulich nicht in die Ratshalle lassen wollten.«

»Ach ja, die.« Loris erinnerte sich nur zu gut. Ein rundes Dutzend dieser Leuchten hatten Kossula und die beiden Freien, die mit nach Or gekommen waren, nicht zu der Ratssitzung vorlassen wollen, zu der man sie geladen hatte. Abartige hätten im Ratsgebäude nichts verloren, es sei schon schlimm genug, dass man sie überhaupt in der Stadt dulde und so weiter. Der Rat – Mona eingeschlossen – hatte ihnen Manieren beigebracht. Aber nun waren sie natürlich erst recht wütend.

»Wieso haben die denn Zeit, Ärger zu machen?«, fragte er. »Jeder, der einigermaßen arbeitsfähig ist, sollte dabei sein, die Verteidigung aufzubauen.«

»Oh, sie arbeiten schon mit. Aber nachher gehen sie in die Gasthäuser oder wo immer Abel auch singt und wiegeln die Leute auf. Manche hören auf sie, andere halten zu Abel. Es fehlt nicht mehr viel, und die Bürger gehen aufeinander los.«

»Das dürfte Abel nicht abschrecken«, stellte er lakonisch fest. »Schon in Kuvunja hat er seine Lieder gesungen, auch, als Tirus Anhänger gegen ihn Stimmung gemacht haben. Wie gesagt, er hat sogar in Kauf genommen, dass man ihn einsperrt und umbringt. Meiner Ansicht nach ist es Aufgabe des Rates, in der Stadt für Ruhe zu sorgen. Das Gesetz garantiert jedem, seine Meinung frei zu äußern. Das hast du mir eben erst bestätigt. Er nimmt dieses Recht in Anspruch, und wenn ihn jemand dafür zusammenschlagen will oder was auch immer, ist es Aufgabe des Rates, die Ordnung und Sicherheit in Or zu garantieren.«

Monas Lippen bildeten wieder einmal einen schmalen Strich. Was er da sagte, passte ihr gar nicht. »Du meinst, wir sollen ein paar kräftige Männer von den Bauarbeiten an den Verteidigungsanlagen abziehen, damit sie einen Sänger beschützen?«

Ärgerlich. Da hatte sie recht, momentan brauchten sie wirklich jeden.

»Na schön«, gab er nach. »Ich werde mal mit ihm reden. Er ist heute Abend bei uns zum Essen, zusammen mit Damir, Liping und Jordis.«

»Mehr erwarte ich nicht.« Sie zwang ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, wandte sich ab und marschierte in die Stadt davon.

Loris sah ihr nach und seufzte. Als hätte er nichts Wichtigeres zu tun.

Abends war an Mitenas Küchentisch kein Platz mehr frei. Neben den vier aus Kuvunja kam auch noch Kossula zum Essen. Loris hatte sich als Kriegskommandant etwas frei genommen und beim Kochen mitgemacht. So gab es einen großen Topf voll kräftiges Gulasch, dazu Gemüse und Graupen.

»Und das ist bei euch ein normales Essen?«, fragte Kossula kauend. »Sowas haben sie uns Leibgardisten gegeben. Das einfache Volk bekommt kaum mal Fleisch zu sehen.«

Mitena lachte. »Ach na ja, jeden Tag leisten wir uns das auch nicht. Aber Toivo, der Vater von Mikail, hat zur Feier der guten Nachrichten ein Schwein geschlachtet und uns ein paar Kilo vorbeigebracht. Gerade recht, wenn man Gäste hat.«

Genau genommen hatten sie ihn kaum davon abhalten können, ihnen die halbe Sau zu schenken. Über die vielen guten Neuigkeiten – dass Mikail nicht nur noch lebte, sondern sogar zum neuen Herrscher des Waldlandes aufgestiegen war und vor allem eine wunderbare Frau gefunden hatte – waren Toivo, Pilar und Tomasch in Freudentränen ausgebrochen. Sie hatten Loris umarmt – Pilar ihn regelrecht abgeküsst – und sich wer weiß wie oft dafür entschuldigt, wessen sie ihn verdächtigt hatten. Inzwischen wussten sie, dass er sie damals nicht verraten hatte, um Dürrekommandant zu werden.

Nur mit dem Hinweis darauf, dass Mikails Bruder Tomasch schließlich ein ganzes Pferd und reichlich Vorräte geopfert hatte, um dem zu Unrecht des Mordes verdächtigten Loris zur Flucht zu verhelfen, hatte er die Dankesbezeugungen eindämmen können. Was hätten Mitena und er zu zweit auch mit einer halben Sau anfangen sollen? Fleisch, dessen Gewicht sie beide zusammen auf die Waage brachten. Schließlich hatte Toivo ihnen freigestellt, sich die Stücke auszusuchen, die sie haben wollten, und den Rest an die Metzgerin Livia verkauft, eine bildhübsche junge Frau in der Nachbarschaft.

»Dann komme ich gerne öfter zu euch.« Kossula löffelte den letzten Rest aus seiner Schale und schielte auffällig zum Topf hinüber.

»Schon klar.« Loris stand auf, nahm die Schale, und füllte eine dritte Portion ein. Er wusste ja, dass jemand mit Kossulas Konstitution – extrem schnellen und noch dazu starken Muskeln – einen enormen Verbrauch hatte.

Als er wieder Platz genommen hatte, fasste er Mut und sah Abel direkt an. »Ich hab gehört, du singst überall in der Stadt?«

An Abels Stelle antwortete Mitena mit einem Auflachen. »Das kannst du wohl sagen. Und alle Mädels, die grad nichts zu tun haben, hängen an seinen Lippen.«

»Ja, das kenne ich schon aus Kuvunja«, stimmte Loris in das Lachen mit ein. »Da bestand sein Publikum auch hauptsächlich aus den jungen Dingern.«

»Na und?« Abel zuckte schmunzelnd die Schultern. »Die wissen meine Kunst wenigstens zu würdigen. Anders als gewisse Banausen …«

Loris streckte ihm die Zunge raus. »Das wirst du mir ewig vorhalten, was? Dass ich den tieferen Sinn deiner höchst philosophischen Texte nicht begriffen hab.«

»Natürlich. Das kränkt das empfindsame Gemüt des Künstlers.«

Eine bessere Gelegenheit würde es wohl nicht geben. »Blöderweise fühlen sich aber jetzt auch ganz andere gekränkt«, erklärte er vorsichtig. »Die verstehen sehr wohl, was du eigentlich sagen willst, und sie sind ziemlich stinkig deswegen.«

»Na, diese zurückgebliebenen Deppen hatten wir ja auch in Kuvunja«, lautete die lapidare Antwort. »Manche lernen’s vielleicht noch, andere eben nicht.«

»Nur machen sich einige Leute Sorgen, dass das in Gewalt ausarten könnte.«

Abel legte den Löffel in die Schale und sah Loris mit hochgezogenen Brauen an. »Und von diesen Leuten sollst du mir wohl sagen, dass ich vorsichtiger sein und nicht mehr singen soll, oder?«

»Du weißt, ich unterstütze deine Texte«, widersprach Loris. »Du hast vollkommen recht damit. Aber wie gesagt, es gibt Befürchtungen, dass es zu Gewalt kommt. Einige Sturköpfe sind schon ziemlich angefressen, dass sie plötzlich gezwungen sind, mit den Freien zusammenzuarbeiten. Du hast erlebt, was das für Figuren sind, neulich vor der Ratshalle. Die sind durchaus in der Lage, auf dich loszugehen. Ich hab dir, glaub ich, mal erzählt, wie man mich damals zusammengeschlagen hat. Kurz, bevor Sandor mir den Mord anhängte. Solche Schwachköpfe, die alles niederprügeln, was ihnen nicht passt, gibt’s leider überall.«

»Dann werde ich es drauf ankommen lassen.« Abel sah ihm fest ins Gesicht. »In Kuvunja bin ich ganz andere Risiken eingegangen. Ich sehe, dass meine Botschaft ankommt. Immer mehr Leute machen sich Gedanken. Selbst Ältere kommen zu mir und sagen, dass ich recht habe. Wir dürfen die Veränderten nicht länger als Abartige beschimpfen und so behandeln, als seien sie keine richtigen Menschen. Besonders jetzt, wo die Freien uns helfen. Das muss ich ausnutzen. Wenn ich dafür Prügel beziehe, ist es mir das wert.«

»Und was ist, wenn das Ganze in eine große Schlägerei ausartet? Dann kommen noch andere zu Schaden.«

»Loris.« Abel schüttelte genervt den Kopf. »Wenn ich den Mund halte, weil so ein paar Spinnern meine Meinung nicht passt, dann haben die doch gewonnen. Gönnst du denen diesen Sieg wirklich? Oder willst du, dass sich deine Heimat in eine bessere Richtung bewegt?«

Da konnte er schlecht widersprechen. »Dann müssten wir dich irgendwie beschützen. Aber alle kräftigen Männer, die dazu geeignet wären, werden schon für die Bauarbeiten gebraucht.«

»Und die wollen sich das Gejaule auch nicht dauernd anhören«, warf Kossula in seiner üblichen, ruppigen Art ein. Er erntete dafür nur einen beleidigten Seitenblick des Sängers.

»Ich hätte da eine Idee«, meldete sich Mitena zu Wort.

Loris war sofort ganz Ohr. Seine Liebste war klug, es lohnte sich immer, ihr zuzuhören.

»Ich bin absolut Abels Meinung, wir dürfen diesen Figuren nicht nachgeben. Es kann nicht sein, dass sich das ganze Volk von Or von ein paar lauten Dummköpfen herumkommandieren lässt. Aber natürlich will auch niemand, dass man dich, Abel, zusammenschlägt oder gar Schlimmeres. Und eine Schlägerei zwischen denen und deinen Bewunderern können wir erst recht nicht riskieren. Aber … wie schon gesagt, diese Bewunderer bestehen hauptsächlich aus jungen Mädchen. Und nicht mal diese Idioten werden es wagen, offen gegen vierzehn-, fünfzehnjährige Mädels vorzugehen. Außerdem, wie du bereits sagtest, sind inzwischen immer mehr Ältere auf deiner Seite. Auch alte Leute zu verprügeln werden sie sich nicht trauen. Also müssen wir nur dafür sorgen, dass ständig genug von ihnen um dich herum sind. Die einen sind noch zu jung, um allzu lange bei den Arbeiten mitzuhelfen, die anderen schon zu alt. Sie haben also Zeit.«

»Alte und halbe Kinder als Leibgarde?« Kossula lachte. »Auf sowas kann man nur hier bei euch kommen.« Er kratzte sich die Stoppelhaare. »Aber so, wie ich eure Leute hier kennengelernt habe … ja, könnte funktionieren.«

»Wird funktionieren«, verbesserte ihn Mitena. »Ich gehe gleich morgen in die Stadt und spreche mit ein paar Menschen. Das bekommen wir schon hin.«

Loris war wieder einmal verdammt stolz, die Liebe dieser Frau errungen zu haben.

3

Von einem der Hügel, die unweit von Wolnosch begannen und sich bis zum Rand des Gebirges erstreckten, ließ Mikail den Blick über die Ebene schweifen. Sein Pferd tänzelte etwas nervös unter ihm, doch das war in Ordnung. Es hatte wahrscheinlich noch nie so viele Artgenossen auf einem Haufen gesehen. Um die tausend, genau konnte er es nicht sagen, standen dort, dazu über hundert Esel und Maultiere, die mit Waffen, Proviant und sogar Brennholz beladen waren. Die Reiter hatten jeweils ein kleines Zelt dabei, das sie nachts vor dem ständigen Regen schützen sollte, der immer wieder in Schnee und Graupel überging – Begriffe, die Mikail erst hier in Wolnosch gelernt hatte. Sie alle waren wegen der Kälte in dicke Kleidung gehüllt. Drüben, auf der Südseite der Berge, konnten sie die gegen etwas leichtere, aber immer noch regenfeste Sachen tauschen, doch je höher sie in den nächsten Tagen kamen, desto eisiger würde es erst einmal werden.